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Manon

1803

 

Mancher Deutsche, der um das Jahr 1800 in Paris war, erinnert sich vielleicht, unweit des Louvre ein Frauenzimmer gesehen und gehört zu haben, die des Abends, gewöhnlich auf der Seite nach dem Carousselplatz, zwischen einem Haufen von rohen und behauten Steinen saß, und das Mitleid der Vorübergehenden durch ihr Spiel und ihren Gesang in Anspruch nahm.

Ich fand sie dort eines Abends von einem kleinen Kreise von Zuhörern umgeben. Ich wollte vorübergehen; die sanfte klagende Stimme hielt mich fest; ich blieb stehen. Das Lied ging eben zu Ende; niemand trat aus dem Kreise; alles blieb still und schien erwartungsvoll aufzuhorchen. Das Gesicht der Sängerin war mit einem schwarzen Schleier bedeckt; eine Guitarre ruhte in ihrem Arm. Neben ihr saß eine alte Frau, eine Untertasse auf dem Schooß haltend, worin sich die milden Gaben der Zuhörenden sammelten.

In leisen Accorden fing die Guitarre wieder an; die schwache, aber angenehme Stimme fiel ein. Sie sang das Schicksal des Unglücklichen, der von Allem verlassen sein Brod von fremder Hand erbittet, mit welchem Ausdruck! mit welcher Innigkeit! Töne wie diese, die unter dem schwarzen Schleier hervordrangen, waren mir fremd aus einer französischen Kehle. Ich fühlte mich im Innersten bewegt.

Als es neun Uhr geschlagen hatte, stand die Sängerin auf und ging. Ich folgte. Es war eine schlanke Gestalt. Sie eilte mit ihrer Begleiterin über den Pontneuf nach der Vorstadt St. Germain, und schlüpfte in einer kleinen Straße in ein altes Haus hinein. Ich stand einige Augenblicke unschlüssig, ob ich ihr folgen sollte; Mitleiden und Neugierde siegten: ich kroch ihr die dunkeln steilen Treppen bis in das fünfte Stockwerk nach. Hier öffnete sie ein kleines Stübchen, in welchem eine Lampe brannte, und trat hinein, ohne mich bemerkt zu haben.

Da ich laut sprechen hörte, näherte ich mich der Thüre, als sie plötzlich sich öffnete, und die alte Frau, eine Lampe in der Hand, vor mir stand. Meine Verlegenheit war nicht geringer, als ihr Schreck. Sie wich ein paar Schritte zurück; ich nahm mich zusammen, und folgte ihr, einige Entschuldigungen hervorstotternd. Meine Sängerin war bei meinem Anblick aufgesprungen, und kam mir ängstlich entgegen. Ich sagte ihr, wie mich der Gesang aufs innigste gerührt, und die Hoffnung, ihr vielleicht nützlich seyn zu können, mich bewogen hätte, ihr nachzufolgen. Sie machte eine kleine Verbeugung. – Monsieur – fing sie an, und schien im Begriff, mir Dank zu sagen; aber plötzlich, als ob sie sich anders besänne, rief sie sich selbst unterbrechend aus: nein, nein, mir kann Niemand helfen! hastig ergriff sie meine Hand, und führte mich an ein Bett, worin ich jetzt erst einen jungen Mann erblickte, der, ohne mich zu bemerken, emsig mit etwas beschäftigt war, das vor ihm auf der Decke lag. Ich sah hin; es waren allerlei kleine Figuren aus Papier geschnitten, die er sich zu ordnen bemühte. Manon, Manon, rief er mit heiserer Stimme, doch ohne seine Beschäftigung zu unterbrechen. Sie trat zu ihm, und strich ihm mit der Hand die schwarzen Haare aus der Stirne: was willst du, mein armer Martinet? – »Du mußt mir einen neuen Kaufmann machen. Dieser wird heute septembrisirt mit seiner Frau; auch die kleine Iphigenia muß dran.« – Er schlug die Augen in die Höhe, und sah Manon mit einem stieren Blick und fürchterlichem Grinsen an. Ich wendete mich schaudernd von ihm weg.

Sehen Sie, sprach Manon, dieser Unglückliche da ist mein Mann, mein Wohlthäter! O man ist schrecklich mit ihm umgegangen. Er hat gelitten wie sein Erlöser. Auch jetzt hat man ihn mir nehmen wollen, fuhr sie fort; aber ich werde ihn nur mit meinem Leben verlassen.

Nein, mein armer Martinet, Manon verläßt dich nicht! – Sie setzte sich an sein Bett, und küßte seine Hand.

Ich sah mich in dem Stübchen um. Das Bette ließ kaum noch Raum für einen Tisch, und zwei alte Stühle. Hinter dem Bette stand ein Betpult, über welchem ein Kruzifix und einige Heiligenbilder hingen.

»Sie werden neugierig seyn, fing Manon wieder an, zu wissen, was uns in diesen Zustand gebracht hat, und ich habe nichts zu verschweigen. Meines Mannes Vater war ein Kaufmann in der Straße St. Honoré, der diesem einzigen Sohne mit seiner Handlung ein beträchtliches Vermögen zu hinterlassen dachte. Ich wohnte mit meiner Mutter in dem anstoßenden Hause. Wir lebten von Nähen und Waschen. Mein armer Martinet lernte mich kennen; es sind nun bald zehn Jahre; es war an einem Sonnabend – ich werde den Tag nicht vergessen – ich ging bei seinem Hause vorüber mit einem Körbchen, worin feine Wäsche lag. Er kam eben aus dem Hause. Das Körbchen wurde mir im Gedränge aus der Hand gerissen; die Wäsche fiel auf die Erde; er sprang hinzu und half sie mir wieder auflesen. Ich wollte ihm danken; er sprach einige freundliche Worte mit mir; ich ging, er blieb stehen, und beim Umbiegen um die Straßenecke bemerkte ich, daß er noch auf demselben Flecke stand und mir nachsah. – Die Bekanntschaft war gemacht; wir sahen uns öfter, und er gewann mich lieb.

Seinen Aeltern war es nicht zu verdenken, daß sie den Umgang mit mir strafbar fanden. Sie waren so reich, und ich ein so armes Mädchen. Auch ist Gott mein Zeuge, daß ich nicht den Willen hatte, ihn für mich zu behalten. Wie oft habe ich ihn mit Thränen gebeten, seinen Aeltern zu gehorchen, und mich zu lassen, ob es gleich mein Abgott war! – Ach diese Güte, diese Liebe! – Wenn er zu uns kam, dann setzte er sich in den großen Lehnstuhl, – es ist derselbe, auf dem Sie sitzen – und ich mich zu seinen Füßen auf jenes kleine Tabouret. Ich sah ihm in die großen schwarzen Augen oder auf die freundlichen Lippen, wenn er sprach; ich drückte seine Hände an meine Brust; ich unterbrach ihn mit einem schnellen Kusse, und wir vergaßen dann oft unser Gespräch, und alles um uns her. In dieser ganzen Zeit habe ich wenig gebetet. Mein Herz litt keinen andern Gedanken, als an ihn; ja, ich machte mir beinahe ein Verbrechen daraus, wenn mich einmal auf einen Augenblick etwas anders beschäftigt hatte. Es war, als ob ich ihm dadurch etwas entzöge.« –

Der Wiederschein dieser schönen Zeit schien ihre blassen Wangen zu röthen. Sie warf einen Blick nach dem Bett, und verhüllte ihr Gesicht mit dem Schnupftuche.

»Ich will kurz seyn, fuhr sie nach einer Pause fort. »Meine gute Mutter starb. Gott nahm sie zu sich, damit sie das Elend ihres Kindes nicht sähe. – Martinets Aeltern wollten mit Gewalt erzwingen, was ihre Güte nicht vermocht hatte: da verließ er das väterliche Haus, beredete mich mit ihm zu gehen. Wir bezogen ein kleines Zimmer im entlegensten Theile dieser Vorstadt. Der Vater wollte nichts mehr von seinem Sohne wissen; aber wir verloren den Muth nicht. Mein Mann gab Unterricht im Zeichnen und in der Musik; ich stickte und nähte. – So lebten wir kümmerlich bis ins Jahr 1793, und wußten kaum etwas von der Revolution, als um diese Zeit meines Mannes Vater als verdächtig angeklagt und gefänglich eingezogen wurde. – Sie sind fremd, mein Herr; Sie wissen nicht, was dies damals zu bedeuten hatte. – Seine Frau wollte sich nicht von ihm trennen. Mein armer Martinet eilte hin, als er es erfuhr, erhielt die Erlaubniß mit seinen Aeltern zu sprechen. Das Unglück macht weich. Vater und Sohn versöhnten sich. Auch mir vergönnte man, sie zu besuchen; ich brachte ihnen täglich etwas zu essen. – O mein Gott! die armen alten Leute! Sie waren es besser gewohnt. – Manchmal wenn ich des Morgens hinkam, knieten sie beide in einem Winkel, und beteten mit Inbrunst; dann gingen sie mir entgegen, und umarmten mich und wollten mir danken, aber das ertrug ich nicht: ich warf mich vor ihnen nieder, ich umschlang ihre Kniee, und wir weinten mit einander.

Im August wurden sie nach der Abtei gebracht, und wir durften sie nicht mehr sehen. Unterdessen hatte mein Mann alles versucht, um ihre Freiheit zu erhalten, es war vergebens. – Den 2. September kam das Gerücht von der Ermordung der Gefangenen. Martinet eilte zitternd nach der Abtei – Gott der Barmherzigkeit! Ich habe nur Worte und Thränen. – Als er hinkommt, da bringen die Henker seinen Vater geführt! Er dringt in den Kreis, er umklammert seinen Vater, er stürzt den Mördern zu Füßen: man mißhandelt ihn, man wirft ihn zu Boden, und sein Vater mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester, die ihn nicht verlassen wollten, werden vor seinen Augen niedergemetzelt. Ein paar mitleidige Nachbarn nehmen sich seiner an; sie bringen ihn mir ins Haus, blutend, ohne Leben. – Kaum aber hatte er die Augen wieder aufgeschlagen, da kam die Mörderrotte, riß ihn mit Gewalt aus meinen Armen, und vergönnte mir nicht einmal, sein Schicksal zu theilen. – Ach, ich spreche nur kalte Worte! – Wohin man ihn gebracht hatte, erfuhr ich nicht; ich hielt ihn für todt. Ein hitziges Fieber warf mich nieder; vier Wochen lag ich ohne Bewußtseyn. Als ich wieder besser ward, und die Erinnerung des Vergangenen zurückkehrte, wie oft habe ich da zu Gott gefleht, daß er mir den Tod senden möchte; aber der Allmächtige wußte besser, was mir gut war. Ich mußte ja noch meines armen Martinets Pflegerin seyn.

Es war im Juni des folgenden Jahres, da bringt ein Bekannter mir die Nachricht, daß mein Mann noch lebe, und bald seine Freiheit wieder erhalten werde. In dem Augenblicke waren alle Leiden vergessen; ich frage, ich verlange auf der Stelle zu ihm gebracht zu werden, mit Thränen in den Augen bittet mich der Mann, meine Freude zu mäßigen, verspricht mir bald weitere Nachricht, und läßt mich zwischen ungeduldiger Sehnsucht und ängstlicher Erwartung schwankend zurück. – Einige Tage darauf klopfte es an meiner Thüre; derselbe Freund tritt herein. Erschrecken Sie nicht, ruft er mir zu; die Thüre öffnet sich noch einmal; es ist mein unglücklicher Martinet, blaß, hager, mit verworrenen Haaren. Ich schreie laut auf, ich werfe alles von mir, was ich in den Händen hatte, ich fliege auf ihn zu; er sieht mich starr an. Manon, schreit er mit verzerrten Zügen und schlägt ein gräßliches Gelächter auf. – Er hatte den Verstand verloren! – Jetzt wissen Sie genug. Meine Zunge ist Eis, aber hier,« indem sie sich heftig an die Brust schlug, »hier – –«

Sie kniete am Bette nieder, und verbarg das Gesicht.

Ich legte meine Börse auf den Tisch, drückte ihr die Hand, und ging schweigend und mit zerrissenem Herzen.

Eine kleine Reise entfernte mich auf einige Wochen aus Paris. Am andern Morgen nach meiner Rückkehr eile ich, die arme Manon zu besuchen. Ich klopfe an die Thüre; niemand antwortet; ich öffne sie: die alte Frau sitzt vor dem Bette; über das Bett ist ein weißes Tuch gebreitet. – Wo ist Manon? – Sie schläft, antwortete die Alte weinend, und schlug das Tuch zurück. – Sie schlief den Schlaf, von dem kein Erwachen ist. Der oft vergebens gerufene Erretter hatte sie endlich erbarmend in seine Arme genommen. Die Augen waren geschlossen; auf den Lippen hatte die befreite Seele noch ein leichtes Lächeln zurückgelassen. Ihr Antlitz war, wie Tasso sagt, ein nächtlicher, doch heiterer Himmel. Gerus. liber. C. XII. 81.

Die Alte erzählte mir, daß der arme Martinet vor wenig Tagen gestorben sey. – Seine treue Manon war ihm bald gefolgt.


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