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Die Abendmahlzeit war still beendet worden; der große eichene Tisch wurde abgeräumt, das Fenster mit den Butzenscheiben im Erker der altdeutschen Speisestube geöffnet, damit erfrischende Luft hereinströme und das Gemach vom letzten Dunst der Speisen reinige. An der dunkeln getäfelten Decke zuckten die Flammen des Lüsterweibchens. Draußen rauschte die Isar und der Regen strömte wie eine Sündflut hernieder, klatschte auf die wildwogenden Gebirgswasser und erfüllte die Straße mit grauen Pfützen. Von der Mariahilfkirche in der Au klangen die Abendglocken herüber, so verweint, so tieftraurig wie ein grauzerwühltes Chopin'sches Notturno...
Schweigend hatte sich die Familie mit den Gästen aus der Provinz, dem fränkischen Deputierten, einem alten Freund des Hauses, dem Schwiegersohne, einem Nürnberger Fabrikanten, dem jugendlichen Reallehrer, einem hoffnungsvollen Verehrer der einzigen Tochter des Hauses, der schönen, blonden, achtzehnjährigen Elsa, ihres Zeichens Musikschülerin – in den Salon zurückgezogen, den nur eine schwere Draperie von der altdeutschen Speisestube trennte. Bloß der Großvater, jetzt noch eine hohe, rüstige Gestalt, einst betriebsamer Bierbrauer von außerordentlicher Geschäftstüchtigkeit, war in der Speisestube zurückgeblieben, um in seinem ledergepolsterten Armstuhle sein gewohntes Dämmerstündchen zu verträumen. Sein Sohn, der Herr dieses behaglichen Heims und Direktor eines Bankgeschäfts, hatte dem Alten nochmals stumm die Hand gedrückt und sich mit den andern entfernt. Die Enkelsöhne Franz und Paul, vortreffliche Gymnasialschüler, waren nicht zum Abendtisch erschienen; bei der Nachricht von der schaudervollen Katastrophe in Schloß Berg waren sie sofort an den Starnberger See gefahren.
Elsa kam aus dem Salon zurück: »Ach, Großvater, ich kann heute nicht spielen, es ist zu entsetzlich.« Dann beugte sie sich zum Erkerfenster hinaus, ihre hervorquellenden Tränen mischten sich mit den Regentropfen; Isarrauschen und Glockengeläute erfüllten sie mit Schauder. Sie trat zurück: »O dieses Nachtlied des Wahnsinns! O der unglückliche König!«... Schluchzend warf sie sich dem Großvater an die Brust; der holte tief Atem und sprach: »Ja, Kind, solche Pfingsten habe ich in meinen sechsundachtzig Jahren nie erlebt; je älter man wird, desto unglaublicher erscheinen alle Dinge und Verhältnisse. Wie furchtbar das Herzeleid und die Verzweiflung, einen solchen König in solchen Tod zu hetzen! Des Himmels Ratschlüsse sind unerforschlich und dieser Welt Weisheit ist Torheit vor Gott... Ich versteh's nicht, ich versteh's nicht...«
Lebhafte Bewegung und lautes Gespräch im Salon: Franz war soeben mit dem letzten Zuge aus Starnberg zurückgekehrt. Er hat die Unglücksstätte besichtigt, die Leiche des Königs und v. Guddens gesehen – und berichtet jetzt in atemloser Hast. Er hat auch einen Pack neuer Extrablätter mitgebracht. Das ganze Haus ist aufs neue in Aufruhr.
»Wo ist Paul?« fragt plötzlich die Mutter.
»Er war nicht fortzubringen. er wollte bis zur Einsargung und Aussegnung des Königs bleiben und mit dem Leichenzug gehen. Jetzt sind sie unterwegs, nach Mitternacht treffen sie in München ein; wißt Ihr, die Straße durch den großen Forst, Reiter und Fackelträger, dann der Leichenwagen vierspännig, alles schwarz, dann die Geistlichen... alles in tiefdunkler Nacht durch den Wald... wie ein Gespensterzug... der tote König... ich hab' ihn gesehen, wie er dalag auf dem einfachen Bett, mit dem wunderschönen Gesicht, so friedlich, so majestätisch... und so... heut nacht bringen sie ihn in seine Residenz...«
Schluchzen unterbrach seine verworrene Erzählung. Der gute Jüngling, vom Schmerz bei der Erinnerung an die furchtbaren Geschehnisse überwältigt, weinte laut auf. In tiefster Ergriffenheit saß die Familie da. Als hätte das Schicksal an die Pforte des eigenen Hauses gepocht, als hätte ein teures Familienmitglied in Nacht und Grauen geendet, so schauderten die Herzen bei dieser Königstragödie. Nun hatte der Tod diesen weltscheuen, so lange in geheimnisvoller, einsamer Höhe thronenden König mit einem Schlag zum Gast eines jeden Bürgerhauses gemacht, zum beweinten Liebling eines jeden Herzens!
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Die nächsten Tage brachten neue Gäste: alte Freunde aus Franken und aus Preußen. Sogar die Köchin und der Hausdiener wurden in dieser Trauerwoche von Landsleuten aufgesucht, die weit aus dem Gebirge und aus dem Allgäu zu Fuß nach München gepilgert kamen. Die Stadt wimmelte. Und in dieser ungewöhnlichen Bewegung der ergreifend hervorstechende Zug tief inniger Trauer und Ratlosigkeit. Straßen und Plätze ein schwarzwogendes Menschenmeer, besonders in der Nähe der Residenz. Berittene Gendarmen und Militär hielten mühsam die Ordnung aufrecht. Es kam zu unerquicklichen Szenen vor dem Kaiser- und Kapellentor der Residenz: Tausende von Menschen aus allen Teilen des Landes harrten von frühester Morgenstunde bis zur einbrechenden Nacht auf Einlaß, um den toten König auf dem Paradebett zu sehen und zu beweinen.
Während in der Tagespresse der reinmenschliche Gesichtspunkt allmählich vom politischen verdrängt, und der Zusammenhang der Katastrophe mit der Einsetzung der Regentschaft und allen Maßnahmen, die ihr vorausgegangen, in einer Weise behandelt wurde, die geeignet schien, die erregten Gemüter zu besänftigen und die vom Schmerz verwirrten und erhitzten Köpfe kühlerem Erwägen und Überdenken der verwickelten Lage wieder zugänglicher zu machen, behielt im Volk die freie, ungezügelte Gefühlskritik doch noch die Oberhand. Auch als der Sektionsbefund veröffentlicht war und wichtige Stücke aus dem Aktenmaterial, das die Staatsminister den Kammern vorgelegt, zu allgemeiner Kenntnis gelangten, blieb noch eine starke Beimischung von Bitternis im Empfinden des Volkes gegen alle, die näher oder ferner in das Schicksal des Königs einzugreifen die schwere Verpflichtung hatten. Selbst das harte Totengericht, das in den Kammern über den Monarchen gehalten wurde, vermochte keine nachhaltige Gefühlswende im Volke herbeizuführen. Der Zauber, den das Schicksal Ludwigs auf die Menschheit übte, konnte natürlich in der Landeshauptstadt am wenigsten gebrochen werden; auch jene erlagen ihm, die früher selbst an den Sonderbarkeiten des Königs, solange er in souveräner Weltverachtung in seinen Schlössern gehaust, scharfen Tadel übten. Zu der Majestät der Tradition hatte sich die Majestät unerhörter Tragik gesellt – dazu die ganze Phantastik dieses königlichen Lebensrätsels, das selbst im Tode noch die wunderbarste Legendenbildung herausforderte!
Eine und dieselbe Empfindung bemächtigte sich aller Herzen, war auf allen Lippen, in allen Bildern zu lesen. Es war aber nicht weniger natürlich, daß neben diesem Allgemeingefühl der Trauer, das die guten Menschen verbindet und über die flache Bedeutungslosigkeit und regelrechte Nichtigkeit des Alltaglebens erhebt, auch die Gemeinheit und innere Verrohung der Bösen ihre kleine Privatorgie feiern wollte.
Franz hatte seinen Hausknecht geohrfeigt, weil er die Bemerkung fallen ließ: wenn die Geschichte einem beliebigen Müller oder Huber passiert wäre, hätte man gewiß kein solches Aufheben davon gemacht.
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Während Franz und Paul einem wahren Fanatismus des Schmerzes um den vergötterten König sich hingaben in der reinen, schwärmerischen Unerfahrenheit ihres Gemütes, hatte sich die poetische Elsa einen Totenkultus mädchenhafter Art erträumt. Sie plünderte ihre Sparkasse, um sich sämtliche Photographien des Königs, seiner Schlösser und Lieblingsorte zu kaufen und in einem »Ludwigs-Album« zu vereinen. In demselben fanden auch Platz die photographischen Nachbildungen mehr oder weniger gelungener Bildwerke der Künstler, so Koppays »König auf dem Paradebett«, Graf Courten's »Ein ewiges Geheimnis«, das »Gedenkblatt« von Otto Seitz usw. Dann durchstöberte sie ihre Dichter-Bibliothek nach Stellen, die der Klage über das unabwendbare Erdenleid seltsamer, erhabener Menschen ergreifenden Ausdruck liehen. Auch befragte sie die Geschichtswerke nach ähnlichen Schicksalen und reihte Parallelen aneinander von dem unglücklichen König Saul im Alten Testament bis auf den Kaiser Rudolf II. und die wahnsinnige Johanna von Spanien.
Von den Dichtern kamen ihr besonders Lord Byron in seinem »Manfred« und Goethe in seinem »Faust« mit herrlichen Schilderungen entgegen. Hatte sie ihre Phantasie zermartert mit Ausmalung des geheimnisvollen Todeskampfes im Starnberger See und war sie unermüdlich, von ihren Brüdern Einzelheiten, Mutmaßungen, Hypothesen über die tragische Szene zu erfragen, so war sie ganz merkwürdig berührt, als sie endlich im zweiten Teil des »Faust« auf Stellen traf, die sich wunderbar der Phantastik jener mörderischen Abendstunde am Seeufer anpaßten.
Den Finger auf die betreffenden Stellen gelegt, sprach sie sinnend vor sich hin: Ja, so war's! Er saß mit Gudden auf der Bank, seinen Entschluß erwägend, wie das unerträgliche Los mit einem Mal zu wenden für immer; die Nacht dämmerte über dem See, da vernahm er, wie einst Faust die lockenden Stimmen der Nymphen, ein Geflüster aus dem Wasser:
Am besten geschäh' dir, Du legtest dich nieder. Erholtest im Kühlen Ermüdete Glieder, Genössest der immer Dich meidenden Ruh'; Wir säuseln, wir rieseln, Wir flüstern dir zu. |
Dann lief er, den Stimmen folgend, ins Wasser, warf den Mann nieder, der ihn mit Gewalt zurückhalten wollte, drüben leuchtete die Roseninsel im Abendschein ihm entgegen:
... O laßt sie walten Die unvergleichlichen Gestalten, Wie sie dorthin mein Auge schickt. So wunderbar bin ich durchdrungen! Sind's Träume? Sind's Erinnerungen? Schon einmal warst du so beglückt... |
Und im seligen Wahn alle Erdenschwere und alle Wirklichkeit abschüttelnd, schritt er leuchtenden Auges weiter:
Wundersam! Auch Schwäne kommen Aus den Buchten hergeschwommen, Majestätisch rein bewegt... |
So sank er nieder im Schreiten und Träumen und hauchte die königliche Seele aus wie in einem letzten, alle Sinne überwältigenden Traumbild...«
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