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Es hat lange gedauert, ehe Gottfried Keller in deutschen Landen die Anerkennung gefunden, die seine ganz einzige Betätigung in der Kunst des Fabulierens verdient. Wie ein Naturfreund, dem alles reizvoll und anziehend ist, der jetzt einen Stein, jetzt eine Blüte, jetzt einen Käfer betrachtet, rechts und links, kreuz und quer streift, wohl auch einmal eine Weile in stiller Selbstbetrachtung, wie träumend, die Straße dahinzieht: so beschäftigt sich der Romanschriftsteller Keller – und das beweist auch der vorliegende Roman ›Martin Salander‹ wieder sehr schlagend – sehr oft und fast umständlich mit allerlei buntem Nebensächlichkeitskram, hält hier an und dort, wandert dann wieder eine den lesenden Begleiter ermüdende Strecke unermüdlich ab und läßt das Ganze schließlich, wenn er es sinnend und schaffend zusammengeschlossen, ziemlich lose im Einband hängen. Wohl ist ›Der grüne Heinrich‹ an überraschenden Einzelschönheiten reich, aber manchmal ist er breit und selbst in ästhetischem Sinne langweilig – wie Goethes ›Wilhelm Meister‹. Es ist erklärlich, daß einer solchen ganz schweifenstüchtigen, aber auch abschweifungstüchtigen Natur das enge Gewand der Metrik nicht besonders behagt. Keller hat ganz vorzügliche, in ihrer Art einzige Gedichte geschrieben. Aber im ganzen stellt seine Lyrik mehr eine unnatürlich geknebelte und verrenkte als harmonisch gesammelte Kraft dar. Da böte sich denn wohl der Acker der Novelle für Gottfried Keller, der so manchen künstlerischen Wesenszug mit unserem norddeutschen Humoristen Wilhelm Raabe gemein hat; dort könnte er seine gesündeste Saat ausstreuen und seine reifste Frucht einheimsen. Das engere Wirkungsgebiet schnitte des übersprossenden Phantasie- und Gedankengeranke ein gutes Teil ab, gewährte doch aber immerhin noch so viel Spielraum, daß sich die Grundzüge der Kellerschen Schaffensart rein und unverkümmert erhalten dürften. In seinen ›Leuten von Seldwyla‹ und den ›Züricher Novellen‹ hat uns der ›Shakespeare der Novelle‹, wie Keller von seinem Kollegen und Nebenbuhler Paul Heyse kennzeichnend getauft ist, unvergängliche Literaturschätze vermacht. Wer hätte sich der schlichten, ergreifenden Tragik in dem Meisterwurfe ›Romeo und Julie auf dem Dorfe‹ – der ausgelassenen Keckheit und dem übersprudelnden Humor in der Geschichte von den ›Drei gerechten Kammachern‹ entziehen können? In den Novellen spricht sich die Doppelart Kellers: seine (wie der Kleist-Biograph Otto Brahm in seinem Essay über den Züricher Dichter so fein und geistvoll erklärt) einerseits deutsch-romantische, andrerseits schweizerisch-realistische, unmittelbar an das konkrete Leben anknüpfende Natur am deutlichsten und unbefangensten aus. Hier – und nächstdem in seinem neuen Roman ›Martin Salander‹ – gibt Keller Wahrheit und Natur, wenn auch nicht gerade die Wahrheit und die Natur – ich meine: er vermag nicht als ein Genie ersten Ranges die für unsere Zeit wesentlich charakteristischen Erscheinungen des modernen Lebens aufzufassen, er packt nicht den Nerv der Zeit, aber was er packt, was er darstellt, das ist so und nicht anders. Es fehlt Gottfried Keller durchaus nicht an Weltüberblick, aber er betrachtet Welt und Leben durch eine Brille, die ihn zwar das Nächstliegende in seinen schärfsten Umrissen erkennen läßt, das Entfernte jedoch verzieht und verzerrt. Wenn Keller die Mächte, welche das gesamte moderne Leben beherrschen, auf dem kleinen Sondergebiete der Schweiz wirkend einführt, so wird er öfter unfreiwillig ein klein wenig komisch, indem er, seinem Drange symbolisch zu verallgemeinern folgend, eine ganz private, oft ganz nebensächliche Tatsache zur Achse eines weltweiten und allgemein gültigen Symbols macht. Ein echt dichterischer Zug ist das allerdings.
Ein immerhin kennzeichnendes, dem Roman nur vorteilhaftes Moment ist es, daß im ›Martin Salander‹ die landläufige Erotik keinen Platz gefunden. Nur einige Herzenstäuschungen spielen hinein. Des unverbesserlichen Idealisten Martin letzte Verirrung, sein letzter Abstecher in das romantische Gebiet eines Johannistriebes, der nur etwas sehr spät kommt, ist köstlich erzählt. Als Martin seiner Frau Marie die heikle Geschichte gesteht, lacht sie – diese einzige Frau, dieses Pracht- und Kernweib, diese unvergleichliche, diese deutsche Mutter, welche Keller in den Mittelpunkt unseres Interesses zu stellen weiß. Wir begreifen, wie dieses Elternpaar einen Sohn wie diesen Arnold, zwei Töchter wie diese Setti und Netti besitzen muß. In den Gestalten der beiden Zwillingsstreber Isidor und Julian Weidelich, den späteren Ehemännern des Salanderschen Geschwisterpaares, geht Keller unmittelbar auf die neugeschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Schweiz ein. Der liebenswürdige Humor Kellers mildert die Gefühle der Entrüstung und des Ekels, welche diese für unsere Zeit so bezeichnende Sippschaft wachruft, in etwas, ohne jedoch die beabsichtigte Wirkung aufzuheben. Und wie scharf umrissen und natürlich durchseelt wachsen die übrigen Persönlichkeiten des Romans: der alte Weidelich, Louis Wohlwend, die episodischen Nebenfiguren, im Laufe der Erzählung heraus!
›C'est partout comme chez nous!‹ behauptet Arnold Salander öfter. Das wird in mancher Hinsicht seine Richtigkeit haben. Aber ob die ›ersten Größen‹ auf dem Gebiet des Romans im ›engeren‹ Deutschland imstande wären, ein so bedeutendes, so tiefes und dabei geradezu lebenstrotzendes Buch, wie den ›Martin Salander‹ Gottfried Kellers zu schreiben? Den ästhetischen Gesetzen des Romans mag ein Friedrich Spielhagen vielleicht mehr gerecht werden. Aber es gibt eine Erfüllung künstlerischer Privilegien, die ebenso selbstherrlich wie – nicht korrekt ist. Auf die bedeutende Individualität, die sich in sich und durch sich ganz darstellt; die nicht verwechselt und darum nicht ersetzt werden kann, kommt alles an. Ich meine, das zeitgenössische Schrifttum besitzt in Gottfried Keller einen solchen scharf ausgeprägten Charakterkopf.