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Eines Abends, als ich flach auf dem Deck meines Dampfbootes lag, hörte ich Stimmen näherkommen; der Neffe und der Onkel schlenderten am Ufer entlang. Ich legte meinen Kopf wieder auf den Arm und war eben am Einschlummern, als jemand, mir beinahe ins Ohr, die Worte sprach: ›Ich bin harmlos wie ein kleines Kind, aber ich lasse mich nicht gerne herumkommandieren. Bin ich der Direktor, oder bin ich es nicht? Mir wurde befohlen, ihn dort hinzusenden. Es ist unglaublich . . .‹ Ich bemerkte, daß die beiden am Ufer längsseits des Dampferbugs standen, gerade unter meinem Kopf. Ich rührte mich nicht; es fiel mir nicht ein, mich zu rühren: ich war schläfrig. ›Es ist unerfreulich‹, grunzte der Onkel. ›Er hatte die Verwaltung gebeten, dorthin gesandt zu werden‹, sagte der andere, ›in der Absicht, zu zeigen, was er konnte; und ich bekam die entsprechenden Weisungen. Es ist unglaublich, welchen Einfluß der Mensch haben muß. Ist es nicht schrecklich?‹ Sie beide stimmten darin überein, daß es schrecklich sei, und machten dann verschiedene eigenartige Bemerkungen: ›Regen und Sonne machen – ein Mann – den Aufsichtsrat – an der Nase . . .‹ – Bruchstücke lächerlicher Aussprüche, die schließlich meine Schläfrigkeit verscheuchten, so daß ich beinahe schon im Vollbesitz meiner Geisteskraft war, als der Onkel sagte: ›Das Klima wird dir vielleicht diese Schwierigkeit aus dem Wege räumen. Ist er allein dort oben?‹ – ›Ja‹, antwortete der Direktor. ›Er schickte seinen Assistenten den Fluß herunter mit einem Brief an mich, der etwa so gehalten war: ›Bringen Sie den armen Teufel aus dem Lande hinaus und ersparen Sie sich die Mühe, mir noch jemand dieses Schlages zu senden. Ich bin lieber allein, als daß ich die Leute mit mir hätte, wie Sie sie zu vergeben haben.‹ Das ist mehr als ein Jahr her. Kannst du dir eine ärgere Unverschämtheit vorstellen?‹ – ›Seither nichts mehr?‹ fragte der andere heiser. ›Elfenbein‹, bellte der Neffe, ›ganze Mengen – erstklassig – Haufen – sehr peinlich.‹ – ›Was ist dabei?‹ forschte die knurrige Stimme. ›Begleitschein‹, kam heftig die Antwort. Dann Schweigen. Sie hatten über Kurtz gesprochen.
Damals war ich schon ganz wach. Da ich aber sehr bequem lag, so verhielt ich mich ruhig, denn ich sah keinen Anlaß, meine Stellung zu ändern. ›Wie kam denn das Elfenbein den ganzen Weg herunter?‹ knurrte der alte Mann, der recht verärgert schien. Der andere erklärte, daß es mit einer Kanuflotte unter dem Befehl eines englischen Mischlings heruntergekommen sei, den Kurtz bei sich gehabt hatte; daß Kurtz augenscheinlich die Absicht gehabt habe, selbst zurückzukehren, da seine Station eben ohne Waren und Vorräte gewesen sei, daß er sich aber nach dreihundert Meilen plötzlich entschlossen habe, zurückzugehen; das habe er dann auch durchgeführt, sei in einem kleinen Einbaum mit vier Ruderern stromaufwärts gefahren und habe es dem Mischling überlassen, die Reise stromabwärts mit dem Elfenbein fortzusetzen. Die beiden Burschen dort unten schienen verblüfft, daß irgend jemand so etwas gewagt haben sollte. Sie waren in Verlegenheit, einen Beweggrund dafür zu finden. Mir aber schien es, als sähe ich Kurtz zum ersten Male. Es war ein deutliches Bild: der Einbaum, vier paddelnde Wilde – der einsame weiße Mann, der plötzlich dem Hauptquartier den Rücken kehrte und damit auch der Ablösung und allen Gedanken an die Heimat – vielleicht; das Gesicht den Tiefen der Wildnis zugewandt, seiner leeren und trostlosen Station. Ich kannte den Beweggrund nicht. Vielleicht war er einfach nur ein schneidiger Mann, der um seiner selbst willen an seiner Arbeit hing. Sein Name, müßt ihr übrigens wissen, war kein einziges Mal ausgesprochen worden. Er war ›der Mann‹. Der Mischling, der, soviel ich sehen konnte, eine schwierige Reise mit großer Vorsicht und Entschlossenheit durchgeführt hatte, wurde beständig unter der Bezeichnung ›der Schuft‹ erwähnt. ›Der Schuft‹ hatte gemeldet, daß ›der Mann‹ recht krank sei – sich ungenügend erholt hatte . . . Die beiden unter mir gingen ein paar Schritte weiter und schlenderten in kleinem Abstand auf und ab. Ich hörte: ›Militärposten – Doktor – zweihundert Meilen – jetzt ganz allein – unvermeidliche Verzögerung – neun Monate – keine Nachrichten – merkwürdige Gerüchte.‹ Sie näherten sich wieder, gerade als der Direktor sagte: ›Niemand, soviel ich weiß. Nur eine Art von herumziehendem Händler – ein ekelhafter Kerl, der den Eingeborenen Elfenbein herauslockt.‹ Von wem sprachen sie jetzt? Aus Bruchstücken entnahm ich, es müsse ein Mann sein, von dem es hieß, daß er sich im Distrikt aufhalte, und mit dem der Direktor nicht einverstanden war. ›Wir werden die unsaubere Konkurrenz nicht los sein, bis nicht einer der Burschen zum warnenden Beispiel gehängt ist‹, sagte er. ›Gewiß‹, knurrte der andere. ›Laß ihn hängen! Warum nicht? Alles – alles kann man in diesem Land tun. Das sage ich ja; niemand hier, du verstehst, hier, kann deiner Stellung gefährlich werden. Und warum? Du hältst das Klima aus, du überdauerst sie alle. Die Gefahr ist in Europa; aber dort habe ich vor meiner Abreise Vorkehrungen getroffen . . .‹ Sie gingen von mir weg und flüsterten, dann wurden die Stimmen wieder laut. ›Die ungewöhnliche Reihe von Verzögerungen ist nicht meine Schuld. Ich tat mein möglichstes.‹ Der Dicke seufzte: ›Sehr betrübliche.‹ – ›Und sein gottverlassenes dummes Geschwätze‹, fuhr der andere fort. ›Er hat mich genug damit geärgert, als er hier war. Jede Station sollte ein Leuchtturm auf dem Wege zu einer besseren Zukunft sein. Ein Mittelpunkt für den Handel, natürlich aber auch aller Bestrebungen, die auf Belehrung, Verbesserung, Verbrüderung abzielen.‹ Begreifst du – der Esel! Und der möchte Direktor sein! Nein, es ist . . . ›Hier schien ihn das Übermaß an Entrüstung zu ersticken, und ich hob meinen Kopf ein wenig. Ich war überrascht, zu sehen, wie nahe sie waren – gerade unter mir. Ich hätte ihnen auf die Hüte spucken können. Sie sahen gedankenvoll vor sich auf den Boden. Der Direktor klatschte sich mit einer dünnen Rute ans Bein. Sein weltkluger Verwandter hob den Kopf. ›Du hast dich die ganze Zeit, seit du zum letzten Male hierherkamst, wohl gefühlt?‹ fragte er. Der andere fuhr auf. ›Wer? Ich? Oh! wundervoll – ganz wundervoll. Aber die andern – du mein Gott! Alle krank!‹ – ›Hm, ja, ja‹, grunzte der Onkel. ›Oh, mein Junge, verlaß dich darauf – ich sage dir, verlaß dich darauf!‹ Ich sah ihn seine kurze Flosse von Arm in einer Gebärde ausstrecken, die den Wald, den Flußarm, den Schlamm und den Strom umfaßte und angesichts des sonnenüberglänzten Landes verräterisch das Böse, den Tod herbeizuwinken schien, der tief im Innern lauerte. Der Eindruck war so zwingend, daß ich auf meine Füße sprang und nach der Waldkante zurücksah, als hätte ich erwartet, daß von dorther irgendeine Antwort auf das geheime Zeichen erfolgen würde. Ihr wißt ja, was für närrische Gedanken einem mitunter kommen. Das große Schweigen zeigte sich geduldig mit den beiden Gestalten und wartete wohl, daß der verrückte Einbruch sein Ende finden möge.
Die beiden fluchten laut – aus blanker Furcht, glaube ich – , gingen dann auf die Station zu und gaben vor, meine Anwesenheit nicht bemerkt zu haben. Die Sonne stand niedrig; und wie sie so nebeneinander vorgebeugt hinschritten, schienen sie mühsam ihre beiden lächerlichen Schatten von ungleicher Länge, die langsam hinter ihnen über das hohe Gras glitten, ohne einen Halm zu beugen, den Hügel hinaufzuschleppen.
Wenige Tage darauf ging die Eldorado-Expedition in die geduldige Wildnis, die sich darüber schloß, wie die See über einem Taucher. Lange nachher kam die Nachricht, daß alle Esel tot waren. Über das Schicksal der weniger wertvollen Tiere weiß ich nichts. Sie alle haben wohl, wie wir anderen auch, das Schicksal gefunden, das sie verdienten. Ich forschte nicht nach. Ich war gerade damals ziemlich erregt über die Aussicht, Kurtz bald zu begegnen. Wenn ich bald sage, so meine ich das verhältnismäßig. Es waren genau zwei Monate seit dem Tage vergangen, an dem wir den Flußarm verlassen hatten, als wir am Ufer unterhalb der Station von Kurtz anlegten.
Die Reise den Strom hinauf war wie eine zu den frühesten Anfängen der Welt, als der Pflanzenwuchs noch auf der Erde wucherte und die großen Bäume Könige waren. Ein leerer Strom, ein großes Schweigen, ein undurchdringlicher Wald. Die Luft war warm, dick, schwer und drückend. Der Glanz des Sonnenscheins brachte keine Freude. Das Fahrwasser erstreckte sich weithin, in überschattete Ferne. Auf silbrigen Sandbänken sonnten sich Flußpferde und Alligatoren nebeneinander, an breiteren Stellen strömten die Wasser zwischen unzähligen bewaldeten Inseln dahin; man verlor auf dem Strom seinen Weg, wie man es in einer Wüste tun kann, plagte sich den ganzen Tag lang mit Untiefen herum, versuchte, das Fahrwasser zu finden und hielt sich schließlich für behext und für immer von allem, was man je gekannt, abgeschnitten, weit weg, vielleicht in ein anderes Land versetzt. Es gab Augenblicke, da einem die Vergangenheit vor Augen stand, wie es manchmal geschieht, wenn man gerade keinen Augenblick Zeit für sich selbst übrig hat; doch die Vergangenheit kam in der Gestalt eines unruhigen, lauten Traumes und weckte Verwunderung, im Vergleich zu der überwältigenden Wirklichkeit dieser fremden Welt aus Pflanzen, Wasser und Schweigen. Die Stille dieses Lebens hatte mit Frieden nicht das geringste zu tun. Es war die Ruhe einer unversöhnlichen Kraft, die über unerforschlichen Ratschlüssen brütete. Sie blickte einem rachedurstig entgegen. Später gewöhnte ich mich daran; ich sah es nicht mehr; hatte keine Zeit dazu. Ich mußte auf das Fahrwasser achten; ich mußte meist rein gefühlsmäßig die Anzeichen verborgener Untiefen herausfinden; ich sah nach versunkenen Felsen aus; ich lernte schnell die Zähne zusammenbeißen, bevor mir das Herz dazwischen herausflog, wenn ich um eines Haares Breite an irgendeinem heimtückischen, alten Baumstamm vorbeikam, der meinem Kaffeetopf von Dampfer die Seele aus dem Leibe gerissen und alle Pilger ersäuft hätte; ich mußte nach totem Holz Ausschau halten, das wir während der Nacht schneiden konnten, um am nächsten Tag den Kessel damit zu heizen. Wenn man auf Dinge dieser Art zu achten hat, auf die Zufälle der Oberfläche, dann verliert die Wirklichkeit – die Wirklichkeit, sage ich euch – an Kraft. Die innere Wahrheit ist verborgen – zum guten Glück. Doch ich empfand sie trotzdem; ich fühlte oft, wie das geheimnisvolle Schweigen mich bei meinen Affenkünsten beobachtete, genauso wie es auch euch Burschen beobachtet bei eurem jeweiligen Seiltanzen um – na, um was; Um einen Silberling für einen Purzelbaum . . .«
»Versuche, höflich zu bleiben, Marlow«, brummte eine Stimme, und ich wußte, daß außer mir selbst noch mindestens ein Zuhörer wach war.
»Verzeihung! Ich habe den Kummer vergessen, der den Rest des Preises ausmacht. Und was macht schließlich der Preis überhaupt aus, wenn das Kunststück gut gelungen ist; Ihr macht eure Kunststücke gut, und auch ich tat es nicht schlecht, da ich es fertigbrachte, das Dampfboot auf meiner ersten Reise nicht gleich zu versenken. Es ist mir heute noch ein Wunder. Stellt euch vor, daß ein Mann mit verbundenen Augen einen Frachtwagen über eine schlechte Straße zu führen hätte. Ich schwitzte und zitterte genug über der Aufgabe, kann ich euch versichern. Schließlich ist es ja für einen Seemann die unverzeihlichste Sünde, gerade dem Ding, das unter seiner Obhut ständig schwimmen sollte, den Boden aufzureißen. Niemand mag es wahrhaben, aber man vergißt den dumpfen Stoß niemals, – wie? Ein Schlag aufs Herz. Man erinnert sich daran, träumt davon, erwacht in der Nacht und denkt daran noch Jahre nachher, und es überläuft einen heiß und kalt. Ich will nicht behaupten, daß der Dampfer die ganze Zeit schwamm. Mehr als einmal mußte er ein Stück weit auf dem Bauch rutschen, während ringsum zwanzig Kannibalen im Wasser plätscherten und nachschoben. Wir hatten unterwegs einige dieser Kerle als Besatzung angemustert. Feine Burschen – Kannibalen – in ihrer Art. Es waren Männer, mit denen man arbeiten konnte, und ich denke mit Dankbarkeit an sie. Und schließlich fraßen sie einander ja nicht vor meinen Augen auf. Sie hatten einen Vorrat von Nilpferdfleisch mitgebracht, das faulig wurde und mir das Geheimnis der Wildnis in die Nase wehte. Puh! Ich glaube, es jetzt noch zu wittern. Ich hatte den Direktor an Bord und drei oder vier Pilger mit ihren Stäben – ganz vollzählig. Mitunter kamen wir an eine Station hart am Ufer, am Schürzenzipfel des Unbekannten; die Weißen stürzten aus ihren verfallenen Hütten heraus mit großen Gebärden von Freude, Überraschung und Willkommen und wirkten sonderbar – als würden sie dort durch einen Zauber gefangengehalten. Das Wort Elfenbein zitterte eine Weile durch die Luft – dann fuhren wir weiter, in das große Schweigen hinein, öden Ufern entlang, um stille Biegungen herum, zwischen den hohen Mauern zu beiden Seiten, von denen die schweren Schläge des Heckrades hohl widerhallten. Bäume, Bäume, Millionen von Bäumen, massig, ungeheuer, himmelanstrebend; und zu ihren Füßen, hart am Ufer, kroch das kleine rußige Dampfboot stromaufwärts, wie ein träger Käfer auf dem Fußboden einer hohen Halle. Man fühlte sich ganz allein, ganz verloren, und doch war das Gefühl auch nicht nur niederdrückend. Schließlich, wenn man auch klein war, so kroch der rußige Käfer doch vorwärts – und das war genau das, was man von ihm wollte. Wohin er nach Meinung der Pilger kroch, weiß ich nicht. Wohl an irgendeinen Ort, wo sie etwas zu erfahren hofften, wette ich. Für mich kroch er auf Kurtz zu – ausschließlich. Als aber die Dampfrohre zu lecken begannen, krochen wir nur sehr langsam weiter. Die Stromstrecken taten sich vor uns auf und schlossen sich hinter uns, als wäre der Urwald lautlos ins Wasser getreten, um uns den Weg zu versperren. Tiefer und tiefer drangen wir in das Herz der Finsternis ein. Es war sehr still dort. Nachts lief mitunter das Dröhnen der Trommeln hinter dem Vorhang der Bäume den Fluß herauf und verharrte bis Tagesanbruch, als würde es in der Luft über unseren Köpfen schweben. Ob es Krieg meinte, Frieden oder Gebet, konnten wir nicht sagen. Das Morgengrauen kündigte sich durch den Einfall einer feuchten Kühle an. Die Holzfäller schliefen an ihren niedergebrannten Feuern. Ein schnellender Zweig ließ einen auffahren. Wir waren Wanderer auf einer vorgeschichtlichen Erde, auf einer Erde, die das Aussehen eines unbekannten Planeten hatte. Wir hätten uns als die ersten Menschen fühlen können, die von einem verfluchten Erbe Besitz ergriffen; von einem Etwas, das nur um den Preis von Todesangst und unerbittlicher Arbeit zu erringen war. Plötzlich aber, wenn wir um eine Biegung herumfuhren, konnte sich auch ein kurzer Blick auf Binsenwände bieten, auf spitze Glasdächer; dazu ein Aufheulen, ein Gewimmel schwarzer Glieder, viele Hände, die klatschten, Füße, die stampften, wirbelnde Körper, rollende Augen, unter dem schweren reglosen Blätterdach. Der Dampfer arbeitete sich langsam an diesem dunklen, unverständlichen Gefühlsausbruch vorbei. Der vorgeschichtliche Mann verfluchte uns, betete uns an, hieß uns willkommen – wer mochte es sagen? Wir waren vom Verständnis unserer Umgebung abgeschnitten; wir glitten dahin wie Gespenster, erstaunt und heimlich entsetzt, wie es gesunde Menschen wohl vor einem Ausbruch der Begeisterung in einem Irrenhaus sind. Wir konnten nichts verstehen, weil wir zu weit weg waren, und konnten uns nicht erinnern, weil wir durch die Nacht der ersten Zeitalter dahinfuhren, der Zeitalter, die dahingegangen sind, kaum ein Merkmal hinterlassen haben – und keine Erinnerung.
Die Erde wirkte unirdisch. Wir mögen es gewohnt sein, die hingestreckte Gestalt eines besiegten Untiers zu betrachten – hier aber sah man einem Ding ins Auge, das ungeheuerlich und frei war. Es war unirdisch, und die Menschen waren . . . Nein, sie waren nicht unmenschlich. Und seht ihr, das war das Schlimmste dabei – dieser Verdacht, daß sie eben nicht unmenschlich waren. Es überkam einen ganz langsam. Sie heulten und sprangen und drehten sich und schnitten furchtbare Gesichter; was einen aber peinigte, war der Gedanke an ihre Menschlichkeit, gleich der eigenen, der Gedanke, daß man mit diesem wilden und verzweifelten Aufruhr entfernt verwandt war. Fürchterlich. Ja, es war fürchterlich genug; wenn man sich aber Manns genug fühlte, dann gestand man sich ein, daß in einem selbst der Schimmer einer Antwort auf den furchtbaren Freimut des Getöses lebte; eine dunkle Ahnung, daß ein Sinn sich dahinter berge, der einem selbst, so himmelfern man der Nacht der ersten Zeiten auch war, verständlich sein könnte. Und warum nicht? Der Menschengeist ist zu allem fähig, weil er alles umfaßt, die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft. Was war schließlich das vor uns; Freude, Angst, Kummer, Ergebenheit, Tapferkeit, Wut – wer kann es sagen; – Aber Wahrheit, Wahrheit, des Zeitgewandes entkleidet. Laßt den Narren zittern und zagen – der ganze Mann weiß um die Dinge und vermag ihnen fest ins Auge zu sehen. Nur muß er zumindest so sehr Mann sein, wie jene dort am Ufer. Er muß der Wahrheit mit seiner eigenen, inneren Wahrheit begegnen, mit seiner eigenen, angeborenen Stärke. Grundsätze? Grundsätze genügen nicht. Die sind äußerlich angehängt wie Kleider – bunte Fetzen, die beim ersten Zupacken davonfliegen. Nein – man braucht einen ehrlichen Glauben. Höre ich einen Anruf aus dem feindseligen Getöse, ja? Nun gut; ich höre; zugegeben; doch auch ich habe eine Stimme und, ob gut oder böse – mein ist die Sprache, die nicht zu übertönen ist. Natürlich ist ein Dummkopf immer geschützt, sei es durch blanke Furcht oder durch schöne Gefühle. Wer knurrt dort? Ihr wundert euch, daß ich nicht an Land ging, um mitzuheulen und zu tanzen? Na also – ich tat es nicht. Schöne Gefühle, sagt ihr? Zum Teufel mit allen schönen Gefühlen. Ich hatte keine Zeit. Ich mußte mit Bleiweiß und Streifen, die ich von einer Wolldecke gerissen hatte, herumarbeiten und versuchen, die lecken Dampfrohre zu dichten. Ich mußte das Laden überwachen, den schwimmenden Baumstämmen ausweichen und den Kaffeetopf wohl oder übel in Schwung erhalten. Darin lag Scheinwahrheit genug, um auch einen weiseren Mann als mich retten zu können. Und zwischendurch hatte ich auch nach dem Wilden zu sehen, der als Heizer diente. Er war ein bewährter Vertreter seines Berufes; er konnte einen senkrechten Kessel heizen. Er arbeitete dort unter mir, und – auf mein Wort! – ihm zuzusehen war ebenso erbaulich, als wenn man einen Hund betrachtet, der, in Hosen und Federhut gekleidet, auf den Hinterbeinen spazierengeht. Wenige Monate der Abrichtung hatten bei dem wirklich feinen Kerl genügt. Er schielte nach dem Dampf- und Wassermesser, in augenscheinlicher Anstrengung, unbefangen zu erscheinen, und dabei hatte er noch spitzgefeilte Zähne, der arme Teufel, hatte die Wolle auf seinem Kopf in absonderlichem Muster geschoren und drei Ziernarben auf jeder Wange. Von Rechts wegen hätte er auf dem Ufer oben in die Hände klatschen und mit den Füßen trampeln sollen. Statt dessen war er hart an der Arbeit, ein Sklave fremden Zauberwerks und voll höheren Wissens. Er war nützlich, weil er unterrichtet worden war. Und was er wußte, war, daß, wenn das Wasser in dem durchsichtigen Ding verschwinden sollte, der böse Geist drinnen im Kessel infolge der Größe seines Durstes böse werden und furchtbare Rache nehmen würde. So schwitzte er und heizte und beobachtete dabei furchtsam das Glas; er trug ein aus Fetzen schnell zurechtgemachtes Zauberamulett um den Arm gebunden und hatte sich ein poliertes Knochenstück, so groß wie eine Taschenuhr, flach durch die Unterlippe gezogen. Unterdessen glitten die waldigen Ufer langsam an uns vorbei, der kurze Lärm blieb zurück, die endlosen Meilen des Schweigens – und wir krochen weiter, auf Kurtz zu. Aber die Baumstämme waren dick, das Wasser war heimtückisch und seicht, der Kessel schien tatsächlich einen boshaften Teufel im Leibe zu haben, und so hatten weder der Feuermann noch ich Zeit, unseren trüben Gedanken nachzuhängen.
Etwa fünfzig Meilen vor der Innenstation kamen wir an eine Schilfhütte, an einen traurigen, schiefen Pfahl, an dem die unkenntlichen Überreste irgendeiner ehemaligen Flagge flatterten, und an einen sauber geschichteten Holzstoß. Das war unerwartet. Wir gingen an Land und fanden auf dem Haufen Feuerholz ein Stück Brett mit verwaschenen Schriftzügen in Bleistift, die, als wir sie entziffert hatten, den Sinn ergaben: ›Holz für euch, kommt schleunigst, nähert euch vorsichtig!‹ Es stand eine Unterschrift darunter, die aber unleserlich war – nicht Kurtz – ein viel längeres Wort. ›Kommt schleunigst.‹ Wohin; Stromaufwärts; ›Nähert euch vorsichtig!‹ Das hatten wir nicht getan. Aber die Warnung konnte sich ja nicht auf den Ort beziehen, wo sie notwendig erst nach der Annäherung zu finden war. Dort oben war irgend etwas nicht in Ordnung. Wir äußerten uns abfällig über die Torheit dieses Telegrammstils. Der Wald ringsherum sagte nichts und gewährte uns auch keinen weiteren Ausblick. Ein zerfetzter Vorhang aus rotem Köper hing im Eingang der Hütte und wehte uns trübselig entgegen. Die Wohnung war verfallen, doch konnten wir sehen, daß bis vor nicht allzulanger Zeit ein weißer Mann darin gehaust haben mußte. Ein roher Tisch – ein Brett über zwei Pfählen – war noch da. Ein Haufen Gerümpel lag in einem dunklen Winkel, und an der Tür hob ich ein Buch auf. Es hatte den Einband verloren, und die Seiten waren vom vielen Umblättern ganz weich und unerhört schmutzig geworden; doch der Rücken war liebevoll mit weißem Baumwollfaden, der noch ganz neu aussah, geheftet. Es war ein außergewöhnlicher Fund. Der Titel lautete: ›Eine Untersuchung über einige nautische Tatsachen‹, von einem Mann namens Tower, Towson, Obersteuermann S. M. Kriegsmarine. Das Zeug schien kein allzu anregender Lesestoff, mit den erklärenden Skizzen und abschreckenden Bildtafeln; die Ausgabe war sechzig Jahre alt. Ich befingerte dieses erstaunliche Altertum mit größtmöglicher Zartheit, damit es mir nicht unter den Händen zerfiele. Im Inhalt stellte Towson, Towser, ernsthafte Untersuchungen über die Zerreißfestigkeit von Schiffstauen und ‑ketten und über verwandte Fragen an. Kein sehr fesselndes Buch. Doch schon beim ersten Blick konnte man eine besondere Absicht darin erkennen, den ehrlichen Willen, die rechte Weise für eine bestimmte Arbeit zu finden, der die anspruchslosen Seiten, die vor so viel Jahren ersonnen waren, noch mit einem anderen als dem rein beruflichen Licht überstrahlte. Mit seinem Gerede von Ketten und Taljen machte mich der schlichte alte Seemann das Dschungel und die Pilger vergessen, in dem köstlichen Gefühl, endlich einmal an eine unbestreitbare Wirklichkeit geraten zu sein. Es war wunderbar genug, daß ein solches Buch sich hier vorfand; noch verwunderlicher aber waren die Randbemerkungen, die mit Bleistift hineingeschrieben waren und sich ganz offenbar auf den Text bezogen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Sie waren in Geheimschrift. Ja, es sah wie Geheimschrift aus. Stellt euch doch einen Mann vor, der ein Buch dieser Art in dieses Nirgendland mitnimmt und es durchstudiert, Randbemerkungen dazu macht, in Geheimschrift noch dazu! Es war ein ganz außergewöhnliches Geheimnis.
Seit geraumer Zeit schon war ich mir eines lästigen Lärmes bewußt gewesen, und als ich nun die Augen erhob, sah ich, daß der Holzstoß verschwunden war und der Direktor, von allen Pilgern unterstützt, vom Ufer aus nach mir winkte und schrie. Ich ließ das Buch in die Tasche gleiten, und ich versichere euch, als ich zu lesen aufhören mußte, war es mir, als müßte ich mich von einem alten und bewährten Freund trennen.
Ich setzte die lahme Maschine wieder voraus. ›Es muß der elende Händler sein, der Eindringling‹, rief der Direktor aus und sah böse nach dem Platz zurück, den wir soeben verlassen hatten. ›Er muß Engländer sein‹, sagte ich. – ›Daß wird ihn nicht vor Unannehmlichkeiten schützen, wenn er sich nicht in acht nimmt‹, murmelte der Direktor dumpf. Ich bemerkte mit gespielter Unschuld, daß kein Mensch in dieser Welt vor Unannehmlichkeiten sicher sei.
Die Strömung war hier stärker, der Dampfer schien am Ende seiner Kräfte, das Heckrad plätscherte träge, und ich ertappte mich dabei, wie ich voller Erwartung auf den nächsten Schlag lauschte, denn in Wahrheit war ich darauf gefaßt, das arme Ding jeden Augenblick stillstehen zu sehen. Es war, als hätte ich die letzten Lebenszeichen zu überwachen gehabt. Doch immer noch krochen wir vorwärts. Manchmal faßte ich ein Stück weit voraus einen Baum ins Auge, um unsere Fahrt daran messen zu können, verlor ihn aber unweigerlich aus den Augen, bevor wir hinkamen. Es war zuviel für menschliche Geduld, den Blick so lange auf einen Fleck gerichtet zu halten. Der Direktor zeigte eine wundervolle Ergebung. Ich arbeitete herum, plagte mich ab und grübelte dabei fortwährend darüber nach, ob ich offen mit Kurtz reden sollte oder nicht; bevor ich aber noch zu einem Entschluß gekommen war, drängte sich mir die Erkenntnis auf, daß mein Reden wie mein Schweigen, sowie tatsächlich jede meiner Handlungen zur Unwirksamkeit verdammt schienen. Was machte es aus, was einer wußte oder nicht wußte? Was machte es aus, wer Direktor war? Man hat mitunter solche blitzartige Erkenntnis. Das Wesentliche dieser Geschichte lag tief unter der Oberfläche, meinem Zugriff entrückt, wie auch jeder Möglichkeit einer Einmischung.
Am Abend des nächsten Tages glaubten wir noch etwa acht Meilen von Kurtz' Station weg zu sein. Ich wollte weiterfahren; aber der Direktor machte ein ernstes Gesicht und sagte mir, die Schiffahrt dort oben sei so gefährlich, daß es ratsam scheine, weil die Sonne schon recht tief stehe, da, wo wir eben waren, den nächsten Morgen abzuwarten. Er hob auch hervor, daß wir uns, wenn wir die Warnung, uns vorsichtig zu nähern, ernst nehmen wollten, bei Tage nähern müßten, nicht in der Dämmerung oder im Dunkeln. Das klang vernünftig genug. Acht Meilen bedeuteten für uns fast drei Stunden Fahrt, und überdies konnte ich am Ende der Stromstrecke verdächtige Kabbelwellen sehen. Trotzdem ärgerte mich der Aufschub über alle Maßen und auch ganz unsinnig, da ja nach so viel Monaten eine Nacht mehr nicht viel ausmachen konnte. Da wir Holz zur Genüge hatten und Vorsicht geboten war, ließ ich das Schiff mitten im Strom vor Anker gehen. Das Fahrwasser war eng und gerade, mit Seitenwänden wie ein Eisenbahneinschnitt. Das Dämmern glitt herein, bevor noch die Sonne untergegangen war. Der Strom rann glatt und schnell, die Ufer lagen in dumpfer Reglosigkeit. Die lebenden Bäume, die die Schlingpflanzen untereinander verknüpften, jeder lebende Busch des Unterwuchses, alles hätte in Stein verwandelt sein können, bis zum dünnsten Zweig, zum kleinsten Blättchen hinunter. Es war nicht Schlaf – es wirkte unnatürlich, wie in einem Traum. Kein noch so leiser Laut war zu hören, man starrte verwundert vor sich hin und begann zu fürchten, man sei plötzlich taub geworden – dann fiel unvermittelt die Nacht ein und machte einen überdies noch blind. Gegen drei Uhr morgens sprang ein großer Fisch hoch, und das laute Aufklatschen ließ mich auffahren, als wäre ein Geschütz abgefeuert worden. Als die Sonne aufging, herrschte ein weißer Nebel, ganz warm und klebrig, bei dem noch weniger zu sehen war als während der Nacht. Er wallte nicht, trieb auch nicht, war nur einfach da und stand rings um einen, wie eine feste Mauer. Gegen acht oder neun Uhr etwa ging er in die Höhe, wie ein Vorhang aufgeht. Wir konnten einen kurzen Blick auf die turmhohen Bäume tun, auf das ungeheure, zusammengeballte Dschungel, auf die weißglühende, kleine Sonnenkugel, die darüber aufgegangen war – alles reglos still –, dann senkte sich der weiße Vorhang wieder nieder, als glitte er in geölten Schienen. Ich ordnete an, daß die Kette, die wir anzuhieven begonnen hatten, wieder nachgelassen würde. Bevor sie noch aufgehört hatte, mit gedämpftem Rasseln auszulaufen, kam ein Schrei, ein überlauter Schrei, wie von unendlicher Trostlosigkeit, durch die opalfarbene Luft. Er brach ab. Dann klang uns ein Wehklagen, rauh abgestimmt, in die Ohren. Das war so unerwartet, daß sich mir vor lauter Überraschung die Haare unter der Mütze sträubten. Ich weiß nicht, wie es die anderen empfanden: mir schien es, als hätte der Nebel selbst aufgeschrien, so plötzlich und offenbar von allen Seiten hatte sich der wüste Trauerlärm erhoben. Er gipfelte in einem überstürzten, fast unerträglichen Kreischen, das plötzlich abbrach und uns erstarrt in allerlei törichten Stellungen zurückließ, hartnäckig weiter dem fast ebenso bedrückenden, übermäßigen Schweigen lauschend. ›Großer Gott! Was soll das?‹ stammelte hart neben mir einer der Pilger, ein kleiner, fetter Mann mit sandfarbenem Haar und rotem Backenbart, der Schuhe mit Gummizügen trug, dazu einen roten Pyjama, der in die Socken hineingeschoben war. Zwei andere blieben eine volle Minute mit offenem Munde stehen, stürzten dann in die kleine Kabine, kamen augenblicklich wieder heraus und sahen erschreckt herum, schußfertige Winchester in der Hand. Wir konnten aber nichts weiter sehen als den Dampfer, auf dem wir waren, und dessen Umrisse verschwanden, als wollte er sich in nichts auflösen, dazu ringsum einen nebligen Wasserstreifen, vielleicht zwei Fuß breit. Der Rest der Welt war nirgends, soweit unsere Augen und Ohren in Betracht kamen. Einfach nirgends, dahin, verschwunden; verweht, ohne ein Flüstern oder einen Schatten hinter sich zu lassen.
Ich ging nach vorn und befahl, die Kette kurz zu hieven, damit wir im Notfall sofort ankerauf gehen und das Boot in Fahrt setzen könnten. ›Werden sie angreifen?‹ flüsterte eine erschreckte Stimme. ›Wir werden in dem Nebel alle abgeschlachtet werden‹, murmelte ein anderer. Es war sehr seltsam, den Gegensatz im Ausdruck der Weißen und der schwarzen Besatzung zu sehen, welch letztere in diesem Teil des Stromes ebenso fremd war wie wir, wenn ihre Heimat auch nur achthundert Meilen weit weg lag. Die Weißen, natürlich ziemlich außer Fassung, hatten überdies noch das merkwürdige Aussehen, als wären sie über den unziemlichen Lärm entrüstet. Die anderen zeigten einen klugen, unbefangen interessierten Ausdruck, doch in der Hauptsache waren ihre Gesichter ruhig, sogar die der beiden, die grinsend an der Kette zogen. Einige wechselten kurze, grunzende Sätze, die die Sache zu ihrer Zufriedenheit zu erledigen schienen. Ihr Häuptling, ein junger Schwarzer mit breiter Brust, in dunkle, blaugestreifte Gewänder gehüllt, die Nüstern stolz gebläht und das Haar in künstliche Locken gedreht, stand nahe bei mir. ›Aha‹, sagte ich, einfach um höflich zu sein. ›Fang sie‹, zischte er mit einem blutdürstigen Aufblitzen der Augen und einem Schnappen der scharfen Zähne. ›Fang sie! Gib sie uns!‹ – ›Euch, was?‹ fragte ich. ›Was würdet ihr mit ihnen tun?‹ – ›Essen‹, sagte er kurz, stützte seine Ellbogen auf das Geländer und sah in würdiger und tief nachdenklicher Haltung in den Nebel hinaus. Ich wäre fraglos äußerst entsetzt gewesen, wäre es mir nicht rechtzeitig eingefallen, daß er und seine Leute sehr hungrig sein mußten; daß ihr Hunger zumindest den letzten Monat ständig gewachsen sein mußte. Sie waren für sechs Monate angeworben worden (ich glaube nicht, daß irgendeiner von ihnen einen klaren Zeitbegriff hatte, wie wir ihn am Ende zahlloser Zeitalter haben. Sie gehörten immer noch dem Urbeginn der Zeiten an, hatten keine ererbten Erfahrungen, die ihnen nützlich hätten sein können), und wenn nur ein Stück Papier, entsprechend irgendeinem dummen Gesetz von der Küste unterschrieben war, so fiel es niemand mehr ein, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wovon die Leute wohl lebten. Gewiß hatten sie einen Vorrat halb verfaulten Flußpferdfleisches mit sich gebracht, der aber keinesfalls länger hätte vorhalten können, auch wenn die Pilger nicht mit großem Lärm eine beträchtliche Menge davon über Bord geworfen hätten. Das Vorgehen sah recht gewalttätig aus, war aber tatsächlich doch nur eine Handlung berechtigter Notwehr. Man kann nicht im Wachen, im Schlafen und beim Essen totes Flußpferd riechen und dabei auch noch sein Leben fest in der Hand halten, was ohnedies schwer genug ist. Überdies hatte man ihnen wöchentlich drei Stücke Messingdraht gegeben, jedes etwa zwanzig Zentimeter lang; die Abmachung war, daß sie sich dafür in den Dörfern längs des Stromes Lebensmittel eintauschen sollten. Ihr habt ja gesehen, wie das klappte. Entweder es waren keine Dörfer da, oder die Leute waren feindlich, oder der Direktor, der, wie die anderen auch, von Konserven lebte, mit dann und wann einem alten Ziegenbock dazwischen, der Direktor also wünschte nicht wegen eines mehr oder weniger nebensächlichen Grundes den Dampfer zu stoppen. Wenn sie also nicht den Draht selbst schluckten oder Haken daraus machten, um Fische damit zu fangen, so sehe ich heute noch nicht, wozu ihnen ihr außergewöhnliches Gehalt gedient haben mag. Es wurde übrigens mit der Regelmäßigkeit gezahlt, wie sie einer großen und ehrenwerten Gesellschaft ansteht. Im übrigen war das einzig Eßbare – wenn es auch nicht besonders eßbar aussah –, das ich in ihrem Besitz bemerkte, eine kleine Menge einer Masse wie halbgarer Teig, von schmutziger Lavendelfarbe; sie bewahrten es in Blätter eingehüllt auf und schluckten dann und wann ein kleines Stück davon, aber so klein, daß man glauben konnte, sie wollten weit eher den Anschein wahren, als wirklich etwas für ihre Ernährung tun. Warum sie nicht im Namen aller nagenden Hungerteufel auf uns losgingen – sie waren dreißig gegen fünf – und auf einmal richtig Schluß machten, das verwundert mich heute noch, wenn ich daran denke. Sie waren großmächtige Männer, ohne sonderliche Fähigkeit, die Folgen abzuwägen, mutig und stark auch jetzt noch, wenn auch ihre Haut nicht mehr glänzte und ihre Muskeln nicht mehr hart waren. Und ich sah, daß irgendeine Hemmung, eines der menschlichen Geheimnisse, die jeder Wahrscheinlichkeit Trotz bieten, hier ins Spiel gekommen war. Ich betrachtete sie mit sehr rasch wachsendem Interesse, aber nicht etwa, weil ich annahm, ich könnte über kurz oder lang von ihnen gegessen werden; obwohl ich zugebe, daß ich gerade damals – in neuem Licht sozusagen – zu merken begann, wie unglücklich die Pilger aussahen, und hoffte, jawohl, hoffte, daß mein eigenes Aussehen nicht so – wie soll ich mich ausdrücken – so wenig appetitlich wäre: ein Anflug phantastischer Eitelkeit, der sich gut in die Traumstimmung einfügte, die damals alle meine Tage erfüllte. Vielleicht hatte ich auch ein bißchen Fieber. Man kann nicht ständig mit dem Finger auf dem Puls leben. Ich hatte oft ›ein bißchen Fieber‹ oder ein bißchen was anderes; es waren die spielerischen Tatzenhiebe der Wildnis, die kleinen Scharmützel vor der großen Entscheidungsschlacht, die zur rechten Zeit stattfand. Ja, ich beobachtete die Leute, wie man jedes menschliche Wesen beobachtet, neugierig, ihre Impulse, Beweggründe, Fähigkeiten und Schwächen feststellen zu können, wenn sie durch eine zwingende, physische Notwendigkeit auf die Probe gestellt werden. Hemmung! Welche mögliche Hemmung konnte es sein? War es Aberglaube, Ekel, Geduld, Angst oder ein urwüchsiges Ehrgefühl? Keine Furcht kann sich stärker erweisen als der Hunger, keine Geduld kann ihn besiegen, Ekel kann überhaupt nicht bestehen, wo Hunger ist; und was nun den Aberglauben, den Glauben und das angeht, was man Grundsätze nennt, so sind sie alle weniger als Spreu im Winde. Kennt ihr nicht die Höllenqualen langsamen Hungerns, die unerträgliche Pein, die schwarze Gedanken und eine völlig hemmungslose Grausamkeit erzeugt? Nun gut, ich kenne sie. Es braucht die ganze Kraft eines Mannes, um mit dem Hunger anständig fertig zu werden. Es ist tatsächlich einfacher, mit jedem Verluste, mit Entehrung und Seelenverdammnis fertig zu werden, als mit diesem schleichenden Hunger. Traurig, aber wahr. Und die Kerle hatten ja sicher keinen erdenklichen Grund für irgendein Bedenken. Hemmung! Ebensogut hätte ich eine Hemmung bei einer Hyäne erwartet, die zwischen den Leichen auf einem Schlachtfelde auf Beute ausgeht. Doch da stand die Tatsache vor mir, die überraschende Tatsache, sichtbar, wie der Schaum auf dem tiefen Meer, noch geheimnisvoller, wenn ich es recht bedachte, als die merkwürdige, unbegreifliche Klage in dem wilden Schrei, der von der Uferbank, hinter dem weißen Nebelvorhang hervor, über uns weggeklungen war.
Zwei Pilger stritten in hastigem Flüsterton darüber, von welchem Ufer der Schrei gekommen war. ›Links!‹ – ›Nein, nein; wie können Sie bloß! Rechts – rechts natürlich!‹ – ›Das ist sehr ernst‹, sagte die Stimme des Direktors hinter mir. ›Es täte mir sehr leid, wenn Herrn Kurtz irgend etwas geschehen sollte, bevor wir hinaufkommen.‹ Ich sah ihn an und hatte nicht den geringsten Zweifel, daß er es aufrichtig meinte. Er war gerade der Mann, der wünschen konnte, den Anschein zu wahren. Das war seine Hemmung. Als er aber eine Andeutung murmelte, wir sollten sofort weiterfahren, nahm ich mir nicht einmal die Mühe, ihm zu antworten. Ich wußte und er wußte, daß es unmöglich war. Sobald wir unseren Halt auf dem Flußgrund aufgaben, mußten wir in der Luft sein – im Nichts. Wir würden nicht mehr sagen können, wohin wir fuhren – ob stromauf, ‑abwärts oder querüber – bis wir gegen eine Uferbank oder sonst was rannten. Und auch dann würden wir zunächst nicht wissen, was es war. Natürlich rührte ich mich nicht vom Fleck. Ich hatte keine Lust zu scheitern. Man hätte sich auch keinen niederträchtigeren Platz für einen Schiffbruch vorstellen können. Ob wir nun sofort ertranken oder nicht, so war uns doch ein schneller Tod in der einen oder anderen Gestalt gewiß. ›Ich ermächtige Sie, alles zu wagen‹, sagte der Direktor nach einem kurzen Schweigen. ›Ich lehne es ab, irgend etwas zu wagen‹, gab ich kurz zurück; und das war gerade die Antwort, die er erwartet hatte, wenn ihn auch der Ton überraschen mochte. ›Nun, ich muß mich auf Ihr Urteil verlassen, Sie sind der Kapitän‹, sagte er mit betonter Höflichkeit. Ich wandte ihm zum Zeichen meiner Wertschätzung den Rücken zu und sah in den Nebel hinaus. Wie lange würde er anhalten? Es war der denkbar trostloseste Anblick. Die Reise zu diesem Kurtz, der in dem verteufelten Urwald Elfenbein zusammenraffte, war von ebenso vielen Gefahren umlauert, als wäre der Mann eine verzauberte Prinzessin gewesen, die in einem Märchenschlosse schlief. ›Glauben Sie, daß sie angreifen werden?‹ fragte der Direktor in vertraulichem Ton.
Ich glaubte nicht, daß sie angreifen würden, und zwar aus mehreren offensichtlichen Gründen. Einer davon war der dicke Nebel. Wenn sie in ihren Kanus vom Ufer abstießen, so mußten sie sich genauso im Nebel verlieren, wie wir es bei einem Manöver getan hätten. Zwar hatte ich ja auch das Dschungel auf beiden Ufern des Flusses für völlig undurchdringlich gehalten – und doch waren Augen darin gewesen, Augen, die uns gesehen hatten. Die Uferbüsche waren gewiß sehr dicht, aber durch den Unterwuchs dahinter konnte man augenscheinlich doch durchkommen. Jedenfalls aber hatte ich, während des kurzen Aufhellens, nirgends auf dem Strom Kanus gesehen und ganz gewiß keine in der Nähe des Dampfers. Was aber den Gedanken eines Angriffes für mich ausschloß, war die Art des Lärms – der Schreie, die wir gehört hatten. Es hatte darin die stolze Herausforderung gefehlt, die eine unmittelbare feindliche Absicht anzeigte. Unerwartet wild und heftig, wie die Schreie gewesen waren, hatten sie mir doch den zwingenden Eindruck von Trauer erweckt. Der Anblick des Dampfbootes hatte, aus dem oder jenem Grunde, diese Wilden mit fassungslosem Schmerz erfüllt. Wenn also überhaupt eine Gefahr bestand, so lag sie, wie ich mir klarmachte, in der Tatsache, daß wir uns in nächster Nähe einer freigewordenen menschlichen Leidenschaft befanden. Sogar der äußerste Schmerz kann letzten Endes in Gewalt umschlagen, nimmt aber häufiger noch die Form der Gefühllosigkeit an . . .
Ihr hättet sehen sollen, wie die Pilger hinausstarrten! Sie hatten nicht mehr das Herz, zu grinsen oder mich zu verspotten – aber sie nahmen wohl an, daß ich verrückt geworden sei – aus Angst vielleicht. Ich hielt einen regelrechten Vortrag. Meine lieben Jungen, es hatte keinen Sinn, sich zu ängstigen. Ausschau halten? Nun, ihr könnt euch ja denken, daß ich den Nebel nach einem Anzeichen, ob er sich heben würde, belauerte, wie eine Katze die Maus belauert. Für alles andere aber waren uns unsere Augen nicht von mehr Nutzen, als wären wir meilentief in einem Haufen Baumwolle begraben gewesen. Ich hatte auch sonst ganz das Gefühl – erstickend, warm, beängstigend. Abgesehen davon, war alles, was ich sagte, wenn es auch ungewöhnlich klang, doch buchstäblich wahr. Das, was wir später als Angriff ansahen, war tatsächlich nichts weiter als ein Versuch, uns zur Umkehr zu bewegen. Die Handlung war weit davon entfernt, ein Angriff zu sein; sie war nicht einmal eine Verteidigung im gewöhnlichen Sinn: sie war von der Verzweiflung eingegeben und letzten Endes nichts als eine Schutzmaßnahme.
Sie entwickelte sich, so würde ich sagen, zwei Stunden, nachdem der Nebel sich gehoben hatte, und begann an einem Punkt etwa eineinhalb Meilen unterhalb der Station von Kurtz. Wir waren gerade langsam um eine Krümmung herumgepaddelt, als ich mitten im Strom eine Insel sah, die kaum mehr als ein strahlend grüner Grashügel schien, die einzige ihrer Art; als wir aber weiter um die Biegung herumkamen, bemerkte ich, daß sie die Spitze einer Sandbank bildete, oder vielmehr einer Kette von Untiefen, die sich in der Mitte des Stromes hinzogen. Sie waren farblos und alle hart an der Oberfläche zu sehen, gerade wie das Rückgrat eines Menschen inmitten des Rückens unter der Haut kenntlich ist. Soviel ich nun sah, konnte ich rechts oder links daran vorbeifahren. Ich kannte natürlich keine der beiden Durchfahrten. Die Ufer sahen auf beiden Seiten ziemlich gleich aus, auch die Tiefe schien die gleiche; da mir aber gesagt worden war, die Station liege auf dem Westufer, so hielt ich natürlich auf die westliche Durchfahrt zu.
Kaum waren wir richtig drin, da merkte ich, daß sie viel enger war, als ich angenommen hatte. Zu unserer Linken lag die ununterbrochene Kette von Untiefen, und rechts das hohe Steilufer, dicht mit Unterwuchs bestanden. Über den Unterwuchs erhoben sich die Bäume in gedrängter Masse. Die Zweige hingen dicht über dem Strom, und da und dort ragte auch ein großer Ast waagrecht hinaus. Es war schon spät am Nachmittag, der Wald stand düster da, und ein breiter Schattenstreifen hatte sich über das Wasser gelegt. In diesem Schattenstreifen dampften wir hinauf – sehr langsam, wie ihr euch vorstellen könnt. Ich hielt das Schiff hart am Ufer, da dort das Wasser am tiefsten war, wie mir das Lot bewies.
Einer meiner hungrigen, langmütigen Freunde lotete im Bug gerade unter mir. Der Dampfer war genau wie ein gedeckter Prahm gebaut. Auf Deck standen zwei kleine Häuser aus Teakholz, mit Türen und Fenstern. Der Kessel war vorn und die Maschine achtern. Über alles war ein leichtes Dach gespannt, das von Eisenstützen getragen wurde. Der Schornstein ging durch das Dach durch, und gerade gegenüber diente eine kleine Kabine, aus Brettern gebaut, als Ruderhaus. Sie enthielt ein Lager, zwei Feldstühle, einen geladenen Martini-Henry-Karabiner, der in einer Ecke lehnte, einen winzigen Tisch und das Steuerrad. An der Stirnseite war eine breite Tür, und auf jeder Seite ein breiter Fensterladen, die natürlich alle immer offen standen. Ich brachte meine Tage dort oben zu, unter dem vordersten Zipfel des Sonnendaches vor der Tür sitzend. Nachts schlief ich auf dem Lager oder versuchte doch, es zu tun. Ein riesenhafter Schwarzer von irgendeinem Küstenstamm, der von meinem armen Vorgänger angelernt worden war, diente als Steuermann. Er prunkte mit messingenen Ohrgehängen, war von den Hüften bis zu den Fersen in eine Decke aus blauem Tuch gehüllt und tat, als ob die ganze Welt ihm gehörte. Er war der unberechenbarste aller Narren, die mir je untergekommen sind. Solange man bei ihm stand, steuerte er unerhört großtuerisch. Sobald man ihn aber aus den Augen ließ, wurde er augenblicks eine Beute abergläubischer Angst und ließ sich von dem Krüppel von Dampfer im Handumdrehen unterkriegen.
Ich blickte zu dem Peilstock hinunter und ärgerte mich beträchtlich, weil nach jeder Lotung ein größeres Stück davon aus dem Wasser herausstand. Da sah ich, wie der Mann das Peilen plötzlich aufgab und sich flach auf Deck hinstreckte, ohne sich auch nur Zeit zu nehmen, seinen Peilstock hereinzuholen. Er hielt ihn aber fest und ließ ihn im Wasser nachschleppen. Gleichzeitig setzte sich der Heizer, den ich ebenfalls unter mir sehen konnte, plötzlich nieder und duckte den Kopf. Ich war verblüfft. Dann hatte ich aber wieder schnell auf den Strom hinauszusehen, denn ein Baumstamm kam uns in den Weg. Stecken, kleine Stecken flogen umher! Sie zischten mir um die Nase, fielen unter mir nieder, prasselten hinter mir gegen mein Ruderhaus. Die ganze Zeit über waren der Strom, die Ufer, die Wälder ganz ruhig, – vollkommen ruhig. Ich konnte nichts hören als das schwere Aufklatschen des Heckrades und das Prasseln dieser kleinen Dinger. Wir wichen umständlich dem Baumstamm aus. Pfeile, bei Gott! Wir wurden beschossen! Ich trat schleunigst ins Haus, um den Laden nach dem Ufer zu zu schließen. Der närrische Steuermann, die Hände an den Speichen, zog die Knie hoch, stampfte mit den Füßen und hatte Schaum vor dem Munde, wie ein hartgezügeltes Pferd. Verdammter Kerl! Und wir paddelten keine drei Meter vom Ufer hin. Ich mußte mich hinauslehnen, um den schweren Laden hereinzuholen, und sah zwischen den Blättern, in gleicher Höhe mit dem meinen, ein Gesicht, das mich stolz und fest anblickte; und plötzlich, als wäre ein Schleier vor meinen Augen weggezogen worden, konnte ich in dem Blattgewirr da und dort eine nackte Brust, Arme, Beine, blitzende Augen ausnehmen – der Busch wimmelte von bewegten menschlichen Gliedern, die in dunkler Bronzefarbe glänzten. Die Zweige bewegten sich, schwangen und raschelten, die Pfeile flogen daraus hervor, und endlich ging der Laden zu. ›Halt ihn auf Kurs‹, sagte ich dem Mann am Ruder. Er hielt den Kopf hochgereckt und sah geradeaus; aber seine Augen rollten, er fuhr immer noch fort, seine Füße langsam hochzuziehen und niederzustoßen, sein Mund schäumte ein wenig. ›Bleib doch ruhig!‹ sagte ich wütend. Ich hätte ebensogut auch einem Baum befehlen können, nicht im Winde zu schwanken. Ich sprang hinaus. Unter mir gab es großes Füßescharren auf dem Eisendeck, ein Durcheinander von Rufen; eine Stimme schrie: ›Können Sie nicht umdrehen?‹ Ich sah eine V-förmige Kräuselung auf dem Wasser vor uns. Was? Noch ein Baumstamm? Unter meinen Füßen brach ein Schützenfeuer los. Die Pilger unterhielten es mit ihren Winchestergewehren und spritzten einfach Blei in den Busch. Eine ganz verteufelte Rauchwolke stieg auf und trieb langsam nach vorn. Ich fluchte darüber. Nun konnte ich weder die Kräuselung noch den Baumstamm sehen. Ich stand spähend in der Tür, und die Pfeile kamen in Schwärmen. Sie mochten vergiftet sein, sahen aber aus, als könnten sie keine Katze töten. Der Busch begann zu heulen. Auch unsere Holzfäller erhoben ein Kriegsgeschrei; ein Büchsenknall gerade hinter mir betäubte mich. Ich sah über die Schulter zurück, und das Ruderhaus war noch voll von dem Lärm und dem Rauch, als ich an das Rad sprang. Der närrische Neger hatte alles im Stich gelassen, um den Laden aufzuwerfen und die Martini-Henry abzufeuern. Er stand in der weiten Öffnung und glotzte, und ich brüllte ihm zu, zurückzukommen, während ich mich mühte, das Schiff nach dem plötzlichen Abfallen wieder auf Kurs zu bringen. Es war kein Platz zum Umkehren, auch wenn ich es gewollt hätte. Der Baumstamm in dem verdammten Rauch mußte ganz nahe sein. Es war keine Zeit zu verlieren, und so hielt ich kerzengerade aufs Ufer zu, einfach aufs Ufer zu, wo, wie ich wußte, das Wasser tief war.
Wir drückten uns langsam an den überhängenden Büschen entlang, in einem Aufrauschen geknickter Zweige und wirbelnder Blätter. Das Schützenfeuer unten brach kurz ab, wie ich es ja erwartet hatte, sobald die Spritzen leer sein würden. Ich wandte den Kopf zurück nach einem scharfen Blitz, der das Ruderhaus durchquerte, beim einen Fensterladen herein, zum andern hinaus. Als ich nach dem närrischen Steuermann sah, der das leere Gewehr schwang und zum Ufer hinüberbrüllte, bemerkte ich undeutliche Gestalten von Männern, die tiefgebückt hinrannten, sprangen und glitten. Etwas Großes erschien in der Luft vor der Fensteröffnung, die Büchse fiel über Bord, der Mann trat schnell zurück, sah mich über seine Schulter weg mit einem ganz ungewöhnlichen, ich möchte sagen vertrauten Ausdruck an und fiel über meine Füße. Seine Schläfe schlug zweimal gegen das Rad, und das Ende eines langen Rohres klapperte herum und warf einen kleinen Feldstuhl über den Haufen. Es sah aus, als hätte er das Ding jemand am Ufer aus den Händen gerissen und bei der Anstrengung das Gleichgewicht verloren. Der dünne Rauch war verflogen, wir waren klar von dem Baumstamm und ein Blick voraus belehrte mich, daß ich nach weiteren hundert Metern ungehindert würde abfallen können, vom Ufer weg; meine Füße fühlten sich so warm und feucht an, daß ich hinuntersehen mußte. Der Mann war auf den Rücken gerollt und starrte gerade zu mir empor; er hielt mit beiden Händen das Stück Rohr umklammert. Es war der Schaft eines Speeres, der, durch die Öffnung entweder geschleudert oder gestoßen, ihn gerade unterhalb der Rippen getroffen hatte; das Blatt war tief eingedrungen, nicht mehr zu sehen und hatte eine scheußliche Wunde gemacht; meine Schuhe waren naß; eine Blutlache lag ganz ruhig, rot leuchtend unter dem Rad; die Augen des Mannes glänzten vor Verwunderung. Wieder brach das Schützenfeuer los. Er sah mich ängstlich an und umklammerte dabei den Speer, wie etwas Kostbares, mit einem Ausdruck, als fürchtete er, ich würde versuchen, ihn ihm wegzunehmen. Ich mußte mich zusammenreißen, um meine Augen von ihm wenden und auf den Kurs achten zu können. Mit einer Hand fühlte ich über meinem Kopf nach der Dampfpfeifenleine und ließ schnell hintereinander Pfiff um Pfiff erschallen. Das Durcheinander wütender und kreischender Rufe brach sofort ab, dann erscholl aus den Tiefen der Wälder eine so zitternde, langgezogene Klage, voll Trauer, Furcht und äußerster Verzweiflung, wie sie wohl dem Abschied der letzten Hoffnung von der Erde folgen könnte. Es gab eine große Bewegung im Busch; der Pfeilregen hörte auf. Einige vereinzelte Schüsse knallten noch scharf – dann ein Schweigen, währenddessen der langsame Schlag des Heckrades deutlich an mein Ohr kam. Ich legte das Ruder hart nach Steuerbord, im Augenblick, als der Pilger im roten Pyjama ganz erhitzt und aufgeregt in der Türe erschien. ›Der Direktor schickt mich . . .‹ begann er im Dienstton und brach kurz ab. ›Großer Gott‹, sagte er, mit einem Blick auf den Verwundeten.
Wir beiden Weißen standen über ihn gebeugt, und sein glänzender, forschender Blick umfaßte uns beide. Ich sage euch, es sah aus, als wollte er uns jeden Augenblick in verständlicher Sprache eine Frage stellen; aber er starb, ohne einen Laut von sich zu geben, ohne ein Glied zu rühren, ohne mit den Muskeln zu zucken. Erst im allerletzten Augenblick, wie als Antwort auf ein Zeichen, das wir nicht sehen, auf ein Flüstern, das wir nicht hören konnten, erst im letzten Augenblick runzelte er schwer die Stirn, und dieses Runzeln gab seiner schwarzen Totenmaske einen unbeschreiblich düsteren und drohenden Ausdruck. Der Glanz des forschenden Blickes verging schnell in glasige Leere. ›Können Sie steuern?‹ fragte ich den Agenten hastig. Er sah recht zweifelhaft drein; aber ich faßte nach seinem Arm, und er begriff sofort, daß ich ihn steuern machen wollte, ob er es konnte oder nicht. Um die Wahrheit zu gestehen, hatte ich es äußerst eilig, meine Schuhe und Socken zu wechseln. ›Er ist tot‹, murmelte der Bursche tief erschüttert. ›Kein Zweifel darüber‹, sagte ich und zerrte wie verrückt an den Schuhbändern; ›und, nebenbei gesagt, glaube ich, daß Herr Kurtz jetzt schon ebenso tot ist.‹
Für den Augenblick war das der vorherrschende Gedanke. Ich hatte das Gefühl äußerster Enttäuschung, als hätte ich herausgefunden, daß ich auf etwas völlig Unwirkliches aus gewesen war. Ich hätte nicht enttäuschter sein können, hätte ich diesen ganzen Weg zu dem einzigen Zwecke zurückgelegt, um mit Herrn Kurtz sprechen zu können. Sprechen mit . . . Ich warf einen Schuh über Bord und merkte, daß es gerade das war, worauf ich mich gefreut hatte – ein Gespräch mit Kurtz. Ich machte die merkwürdige Entdeckung, daß ich mir ihn niemals handelnd, sondern immer nur redend vorgestellt hatte. Ich sagte mir nicht, ›nun werde ich ihn niemals sehen‹, oder ›nun werde ich ihm nie die Hand schütteln‹, sondern ›nun werde ich ihn niemals hören.‹ Der Mann erschien mir als eine Stimme. Nicht, als ob ich ihn mit keinerlei Handlung in Verbindung gebracht hätte. Hatte man mir nicht, in allen Tönen der Eifersucht und Bewunderung, gesagt, daß er mehr Elfenbein gesammelt, eingetauscht, erschwindelt oder gestohlen hatte, als alle die anderen Agenten zusammen? Das war es nicht. Der Schwerpunkt lag in der Tatsache, daß er so reich begabt war und daß von allen seinen Gaben die vorherrschende, die, die sich unaufhörlich bestätigte, seine Rednergabe war, seine Worte – die Gabe des Ausdrucks, die verblüffende, erleuchtende, die erhabenste und verächtlichste, ein brausender Strom von Licht oder eine tückische Flut aus dem Herzen einer undurchdringlichen Finsternis.
Auch der andere Schuh flog zu dem Oberteufel des Flusses hinunter. Ich dachte: ›Bei Gott, nun ist alles vorbei. Wir sind zu spät dran; er ist dahingegangen – seine Gabe ist mit ihm verschwunden, durch irgendeinen Speer, einen Pfeil oder eine Keule. Nun werde ich schließlich den Burschen niemals reden hören – und mein Kummer erreichte eine erstaunliche Gefühlsstärke, fast jener gleich, die ich aus dem Klagegeheul der Wilden im Busch herausgehört hatte. Ich hätte mich nicht trostloser und verlassener fühlen können, hätte man mich eines Glaubens beraubt, oder hätte ich meinen Lebenszweck verfehlt . . . Warum seufzt denn da einer von euch so niederträchtig? Töricht? Nun gut, töricht. Großer Gott! Muß denn ein Mann immer . . . . Da, gebt ein bißchen Tabak her . . .«
Es gab eine lautlose Pause, dann blitzte ein Streichholz auf, und Marlows mageres Gesicht erschien, müde, verfallen, mit senkrechten Falten und geschlossenen Lidern, im Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit; und als er kräftig an seiner Pfeife sog, schien das Gesicht, im regelmäßigen Flackern der kleinen Flamme, aus der Nacht auf- und wieder dahin zurückzutauchen. Das Streichholz verlöschte.
»Töricht«, rief er. »Das ist das Ärgste, wenn man zu erzählen versucht . . . Da seid ihr alle, jeder an zwei guten Adressen festgemacht, wie ein Hulk an zwei Ankern, der Fleischer ums eine Eck, der Wachmann ums andere, vorzüglicher Appetit, Temperatur normal, hört ihr, normal, jahrein, jahraus. Und ihr sagt töricht! Zum Teufel mit eurem Töricht! Töricht! Meine lieben Jungen, was könnt ihr von einem Mann erwarten, der aus reiner Nervenüberreizung eben ein Paar neue Schuhe über Bord geworfen hatte! Wenn ich es jetzt überdenke, dann wundert es mich, daß ich keine Tränen vergoß. Ich bin im allgemeinen stolz auf meine Seelenstärke. Ich litt schwer unter dem Gedanken, daß ich den unschätzbaren Vorzug verloren haben sollte, dem reichbegabten Kurtz zuzuhören. Natürlich irrte ich mich darin. Der Vorzug erwartete mich. O ja, ich hörte noch mehr als genug. Und ich hatte auch recht. Eine Stimme. Er war nur ganz wenig mehr als eine Stimme. Und ich hörte – ihn – sie – diese Stimme – andere Stimmen – sie alle waren so wenig mehr als Stimmen und die Erinnerung an die Zeit selbst umgibt mich, unfaßbar, wie ein ersterbendes, ungeheures Geschnatter, dumm, grausam, schmutzig, wild, oder einfach gemein, ohne jeden Sinn. Stimmen, Stimmen und sogar das Mädchen selbst – nun . . .«
Er schwieg lange.
»Ich rettete schließlich das Andenken an seine Gabe mit einer Lüge«, begann er plötzlich. »Mädchen! Was? Habe ich ein Mädchen erwähnt? Oh, sie hat gar nichts damit zu tun, ganz und gar nichts. Sie – die Frauen meine ich – haben nichts damit zu tun –, sollten auch nichts damit zu tun haben. Wir müssen ihnen behilflich sein, in ihrer eigenen wunderschönen Welt zu bleiben, sonst würde unsere dadurch schlimmer werden. Oh, sie konnte nichts damit zu tun haben. Ihr hättet den ausgegrabenen Leib des Herrn Kurtz sagen hören sollen: ›Meine Braut‹, dann hättet ihr sofort begriffen, wie ganz und gar nichts sie damit zu tun hatte. Und die hohe Stirn des Herrn Kurtz! Man sagte ja, das Haar wachse manchmal weiter, aber dieses – hm – Exemplar war ganz erstaunlich kahl. Die Wildnis hatte ihm auf den Kopf getätschelt, und seht nur, er war zum Ball geworden, zum Elfenbeinball; sie hatte ihn gestreichelt, und seht, er war runzelig geworden; sie hatte ihn umfaßt, geliebt, umarmt, war in seine Adern gedrungen, hatte sein Fleisch verzehrt und seine Seele, durch irgendwelche höllischen Weihen, der ihren vermählt. Er war der verwöhnte, verzogene Günstling der Wildnis. Elfenbein? Es war anzunehmen. Haufen davon. Berge davon. Der alte Lehmschuppen quoll davon über. Man hätte glauben können, kein einziger Zahn wäre über oder unter der Erde im ganzen Lande übriggeblieben. ›Meistens fossil‹, hatte der Direktor geringschätzig bemerkt. Es war nicht fossiler als ich; aber sie nennen es fossil, wenn es ausgegraben ist. Scheinbar vergraben diese Neger mitunter die Zähne – doch offenbar hatten sie diese Menge hier nicht tief genug vergraben können, um den begabten Herrn Kurtz vor seinem Schicksal zu bewahren. Wir füllten den ganzen Dampfer damit und mußten noch einen Teil auf Deck aufstapeln. So konnte er es sehen und sich daran freuen, solange er sehen konnte, denn der Genuß dieser Gnade blieb ihm bis zuletzt beschieden. Ihr hättet ihn sagen hören sollen: ›Mein Elfenbein‹. O ja, ich hörte ihn. ›Meine Braut, mein Elfenbein, meine Station, mein Fluß, mein‹ – alles gehörte ihm. Ich mußte den Atem anhalten, in der Erwartung, die Wildnis in ein furchtbares Gelächter ausbrechen zu hören, das die Sterne erbeben machen würde. Alles gehörte ihm, aber das war eine Kinderei. Die Hauptsache war, herauszubringen, wem er gehörte, wieviel Mächte der Dunkelheit ihn für sich in Anspruch nahmen. Das war eine Erwägung, die einen über und über erschauern ließ. Es war ungewöhnlich – es tat auch nicht gut – wenn man versuchte, es sich vorzustellen. Er hatte einen hohen Platz unter den Teufeln des Landes eingenommen – das meine ich wörtlich. Ihr könnt es nicht verstehen. Wie solltet ihr auch, – mit festem Boden unter euren Füßen, von freundlichen Nachbarn umgeben, die bereit sind, euch schön zu tun oder in den Rücken zu fallen, fröhlich dahintänzelnd zwischen dem Fleischer und dem Polizisten, im heiligen Abscheu vor Skandal, Galgen und Irrenhaus – wie könnt ihr euch vorstellen, in welche urweltlichen Abgründe die ungehinderten Füße einen Mann tragen mögen, einfach infolge der Einsamkeit – der völligen Einsamkeit, ohne einen Polizisten – und des Schweigens, des völligen Schweigens, wo keine warnende Stimme eines Nachbarn zu hören ist, die von öffentlicher Meinung flüstert? Diese Kleinigkeiten machen den großen Unterschied aus. Sind sie einmal nicht mehr vorhanden, dann müßt ihr zu eurer eigenen Kraft Zuflucht nehmen, zu eurer eigenen Glaubensstärke. Natürlich kann man ja zu närrisch sein, um fehlgehen zu können – zu dickfellig, um auch nur zu begreifen, daß die Mächte der Finsternis einen umlagern. Für mich steht es fest, daß kein Narr je dem Teufel seine Seele verschachert hat: dazu ist der Narr zu sehr Narr, oder der Teufel zu sehr Teufel – ich weiß nicht, was von beiden. Oder man kann ja auch ein so überspanntes Geschöpf sein, daß man für alles, außer himmlischen Bildern und Klängen, blind und taub ist. Dann ist die Erde für einen nur ein Übergang – und ich möchte nicht entscheiden, ob es ein Vorteil oder Nachteil ist, so geartet zu sein; aber viele von uns sind ja weder für das eine noch das andere. Die Erde ist für uns der Ort, an dem wir leben müssen, an dem wir uns mit Anblicken, Tönen, auch mit Gerüchen, bei Gott, abfinden müssen, wo wir auch einmal verfaultes Flußpferdfleisch riechen müssen, ohne uns vom Ekel unterkriegen zu lassen. Und hier, seht ihr, hier kommt eure Kraft ins Spiel, der Glaube an die eigene Fähigkeit, unauffällige Löcher zu graben, um das Zeug darin zu verbergen – die Kraft eurer Hingabe, nicht an euch selbst, sondern an ein finsteres, widerwärtiges Geschäft. Und das ist schwer genug. Merkt es euch, ich versuche weder zu entschuldigen, noch zu erklären – ich versuche nur mir selbst Rechenschaft zu geben über – über – Herrn Kurtz – den Schatten des Herrn Kurtz. Dieser Wiedergänger aus dem großen Nirgends, in die letzten Geheimnisse eingeweiht, beehrte mich mit seinem überwältigenden Vertrauen, bevor er endgültig verschwand. Der Grund dafür war, daß er Englisch mit mir sprechen konnte. Der ursprüngliche Kurtz war teilweise in England erzogen worden, und wie er sich wohl am besten selbst sagen konnte: seine Zuneigung war am rechten Platz. Seine Mutter war halbe Engländerin gewesen, sein Vater halber Franzose. Ganz Europa hatte bei der Erzeugung von Kurtz mitgeholfen; und nach und nach erfuhr ich auch, daß die Internationale Gesellschaft zur Unterdrückung wilder Sitten ihn sinnigerweise mit der Abfassung eines Berichtes betraut hatte, der in Zukunft als Richtschnur dienen sollte. Diesen Bericht hatte er auch geschrieben. Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn gelesen. Er war schwungvoll beredt, aber vielleicht doch etwas überspannt, denke ich. Er hatte Zeit gefunden, siebzehn Seiten eng vollzuschreiben! Doch das muß geschehen sein, bevor er es, sagen wir, mit den Nerven zu tun bekam und er dazu überging, bei gewissen mitternächtlichen Tänzen den Vorsitz zu führen; diese Tänze endeten mit unaussprechlichen Riten, die, soviel ich widerstrebend nach und nach aus verschiedenen Mitteilungen entnehmen konnte, ihm dargebracht wurden – versteht ihr mich – Herrn Kurtz persönlich. Aber der Bericht war prachtvoll geschrieben. Heute allerdings, auf Grund der Mitteilungen, die ich seither erhalten habe, erscheint mir die Einleitung von übler Vorbedeutung. Er begann mit der Behauptung, daß wir Weißen, auf der Höhe der Entwicklung, die wir erreicht hätten, ihnen (den Wilden) notwendig als übernatürliche Wesen erscheinen, – ihnen mit göttlicher Machtvollkommenheit entgegentreten müßten, und so weiter, und so weiter. Durch einfache Anspannung unseres Willens könnten wir tatsächlich eine unbeschränkte Macht zum Guten ausüben, und so weiter, und so weiter. Von diesem Ausgangspunkt erhob er sich in die Lüfte und riß mich mit sich. Die Ausführungen waren prachtvoll, wenn auch nicht leicht zu behalten. Sie gaben mir die Vorstellung exotischer Weiten, über die ein erhabenes Wohlwollen herrscht. Ich bebte vor Begeisterung. Das war die schrankenlose Macht der Beredsamkeit – der Worte – der glühenden, schönen Worte. Keine praktischen Winke unterbrachen den Zauberstrom der Phrasen, wenn man nicht eine Art Fußnote am Ende der letzten Seite, offenbar viel später und mit zitteriger Hand mit Bleistift hingekritzelt, als Ausführungsbestimmung gelten lassen wollte. Sie war sehr kurz gefaßt und traf einen, am Ende dieses ergreifenden Mahnrufes zur Nächstenliebe, völlig unerwartet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel: ›Alle die Hunde ausrotten!‹ Das Merkwürdige dabei war, daß er diese gewichtige Nachschrift augenscheinlich ganz vergessen hatte; denn später, als er teilweise wieder zu sich kam, beschwor er mich wiederholt, auf sein ›Pamphlet‹, wie er es nannte, zu achten, da er sich davon den günstigsten Einfluß auf seine künftige Laufbahn versprach. Ich war über alle diese Dinge genau unterrichtet und sollte, wie sich später zeigte, überdies auch sein Andenken hüten. Ich habe genug dafür getan, um das unbestreitbare Recht für mich in Anspruch nehmen zu können, daß ich es nach Gutdünken auch im Mülleimer des Fortschritts hätte zu ewiger Ruhe bestatten dürfen, mitten unter dem Kehricht und den, bildlich gesprochen, toten Katzen der Zivilisation. Aber seht ihr, ich kann ja nicht nach meinem Gutdünken handeln. Er wird nicht vergessen werden. Was immer er auch war, er war nicht alltäglich. Er hatte die Macht, unverdorbene Gemüter so zu bezaubern oder zu erschrecken, daß sie ihm zu Ehren einen Teufelstanz mit erschwerenden Begleitumständen aufführten. Er konnte auch die kleinen Seelen der Pilger mit bitterer Befürchtung erfüllen: er hatte zumindest einen ergebenen Freund und hatte in der Welt eine Seele gewonnen, die vielleicht nicht unverdorben, aber auch nicht eigennützig war. Nein, ich kann ihn nicht vergessen, wenn ich auch nicht unbedingt behaupten möchte, daß der Bursche den Toten wert war, den uns die Fahrt zu ihm kostete. Ich vermißte meinen verstorbenen Steuermann schwer – begann ihn schon zu vermissen, während sein Leichnam noch im Ruderhaus lag. Vielleicht werdet ihr dieses Bedauern für einen Wilden übertrieben finden, der ja ebenso unwichtig war wie ein Sandkorn in einer schwarzen Sahara. Nun, seht ihr, der Bursche hatte etwas getan, er hatte gesteuert; Monate durch hatte ich ihn hinter mir gehabt – eine Hilfe – ein Werkzeug. Es war eine Art Gemeinschaft. Er steuerte für mich – ich hatte nach ihm zu sehen, mich über seine Fehler zu ärgern, und so war ein loses Band entstanden, das mir erst zum Bewußtsein kam, als es plötzlich gerissen war. Und die vertraute Tiefe des Blickes, den er mir zuwarf, als er seine Wunde empfangen hatte, ist mir bis zu diesem Tage in Erinnerung – als hätte er, im letzten Augenblick, eine entfernte Verwandtschaft geltend machen wollen.
Armer Kerl! Hätte er nur den Fensterladen in Ruhe gelassen! Er hatte keine Hemmungen, keine Hemmungen – genau wie Kurtz – ein Baum, der im Winde schwankte. Sobald ich ein Paar trockene Pantoffel angezogen hatte, schleppte ich ihn hinaus, nachdem ich erst den Speer aus seiner Wunde gezogen hatte; das war, wie ich zugebe, mit fest geschlossenen Augen geschehen. Seine Fersen hüpften nebeneinander über die niedrige Schwelle; seine Schultern hielt ich an meine Brust gedrückt; ich zog ihn verzweifelt rücklings hinter mir her. Oh! er war ziemlich schwer; schwerer als irgendein Erdenmensch, sollte ich meinen. Dann kippte ich ihn ohne alle weiteren Förmlichkeiten über Bord. Die Strömung riß ihn mit, als wäre er ein Grasbündel gewesen, und ich sah den Körper sich zweimal überschlagen, bevor er mir für immer aus den Augen entschwand. Alle die Pilger und der Direktor waren unter dem Sonnensegel rings um das Ruderhaus versammelt, schnatterten untereinander wie eine Schar aufgeregter Gänse, und es gab ein Murmeln der Empörung über meine herzlose Eilfertigkeit. Warum, nach ihrer Meinung, der Leichnam länger hätte herumliegen sollen, kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht wollten sie ihn einbalsamieren. Ich hatte aber auch ein anderes und sehr unheilkündendes Murmeln unter mir auf Deck gehört. Meine Freunde, die Holzfäller, waren gleichermaßen entrüstet, und mit einem großen Anschein von Recht – obwohl ich zugebe, daß der Grund selbst ganz unzulässig war. Ganz recht! Ich hatte den Entschluß gefaßt, daß, wenn mein verstorbener Steuermann gefressen werden sollte, ihn die Fische allein haben sollten. Er war zu Lebzeiten ein sehr minderwertiger Steuermann gewesen, jetzt aber, da er tot war, hätte er leicht eine sehr vollwertige Versuchung werden und einen Aufruhr entfesseln können. Überdies mußte ich auch schleunigst das Steuerrad übernehmen, da sich der Mann im roten Pyjama als hoffnungsloser Stümper erwies.
Das tat ich, sobald das einfache Begräbnis vorüber war. Wir fuhren mit halber Kraft, hielten uns gut in der Mitte des Stromes, und ich horchte auf das Gerede über mich. Sie hatten Kurtz aufgegeben und hatten die Station aufgegeben; Kurtz war tot, die Station war niedergebrannt und so weiter und so weiter. Der rothaarige Pilger war außer sich bei dem Gedanken, daß der arme Kurtz zum wenigsten gehörig gerächt worden war. ›Sagen Sie doch! Wir müssen ein wahres Blutbad unter denen im Busch angerichtet haben, wie? Was denken Sie, sagen Sie!‹ Er tanzte geradezu herum, der blutdürstige, rotköpfige kleine Wicht. Und er war fast ohnmächtig geworden, als er den Verwundeten erblickt hatte! Ich konnte mich nicht enthalten zu sagen: ›Sie haben jedenfalls eine glorreiche Rauchwolke zustande gebracht.‹ Ich hatte an der Art, wie die Spitzen der Büsche schwankten, sofort erkannt, daß fast alle Schüsse zu hoch gegangen waren. Man kann natürlich nichts treffen, wenn man nicht an der Schulter anschlägt und zielt; die Kerle aber hatten mit geschlossenen Augen, von der Hüfte aus gefeuert. Der Rückzug, behauptete ich – und ich hatte recht –, war durch das Kreischen der Dampfpfeife verursacht. Daraufhin vergaßen sie Kurtz und begannen mich mit lautem, entrüstetem Widerspruch zu überschütten.
Der Direktor stand nahe beim Rad und murmelte vertraulich etwas von der Notwendigkeit, unbedingt noch vor Dunkelheit den Strom wieder hinabzukommen, als ich in einiger Entfernung eine Lichtung am Ufer und die Umrisse einer Art von Gebäude sah. ›Was ist das?‹ fragte ich. Er schlug verwundert die Hände zusammen. ›Die Station‹, rief er. Ich hielt sofort darauf zu, immer noch mit halber Kraft.
Durch mein Glas sah ich einen Hügelhang, mit wenigen Bäumen bestanden und ganz frei von Unterwuchs. Ein langes, verfallenes Gebäude auf dem Gipfel war halb in dem hohen Gras begraben; die großen Löcher in dem spitzen Dach gähnten von weitem schwarz her; das Dschungel und die Wälder bildeten den Hintergrund. Es gab keine Umzäunung oder Abgrenzung irgendwelcher Art. Doch war augenscheinlich eine dagewesen, denn nahe beim Hause standen noch ein halb Dutzend dünner Pfähle in einer Reihe, roh behauen und an ihrem oberen Ende mit runden, geschnitzten Kugeln geschmückt. Das Gitter, oder was sonst sie untereinander verbunden hatte, war verschwunden. Natürlich schloß der Wald das alles ein. Das Ufer war geräumt, und hart am Wasser sah ich einen weißen Mann unter einem Hut von der Größe eines Wagenrades, der unermüdlich mit dem ganzen Arm winkte. Während ich die Waldkante oben und unten beobachtete, glaubte ich ganz gewiß Bewegungen zu sehen, menschliche Formen, die da- und dorthinglitten. Ich dampfte vorsichtig vorbei, stoppte dann die Maschine und ließ das Schiff zurücktreiben. Der Mann am Ufer begann zu brüllen und forderte uns dringend auf, zu landen. ›Wir sind angegriffen worden‹ schrie der Direktor. ›Ich weiß, ich weiß. Schon recht‹, kreischte der andere zurück, so herzlich wie möglich. ›Kommt nur, es ist schon recht, ich freue mich.‹
Sein Anblick erinnerte mich an etwas, das ich gesehen hatte – etwas Lustiges, das ich irgendwo gesehen hatte. Während ich manövrierte, um anlegen zu können, überlegte ich, ›wie sieht der Bursche aus?‹ Plötzlich hatte ich es. Er sah aus wie ein Harlekin. Seine Kleider waren aus einem Zeug gemacht, das ursprünglich wohl braunes Leinen gewesen, jetzt aber über und über mit Flicken besetzt war, mit bunten Flicken, blau, rot und gelb, hinten und vorn, an den Ellbogen und den Knien; eine farbige Kante rings um seine Jacke, ein scharlachroter Besatz an den Hosensäumen; und im Sonnenschein sah er unendlich lustig und dabei sehr sauber aus, und man merkte genau, wie sorgfältig die Flickarbeit gemacht worden war. Ein bartloses Knabengesicht, sehr blond, keine ausgeprägten Züge, eine Nase, die sich eben schälte, kleine, blaue Augen, Lächeln und Stirnrunzeln, die einander auf dem offenen Gesicht folgten, wie Sonnenschein und Schatten auf einer windgepeitschten Ebene. ›Achtung, Kapitän!‹ rief er. ›Da ist letzte Nacht ein Baumklotz angeschwemmt worden.‹ – ›Was, noch ein Baumstamm?‹ Ich gestehe, daß ich schamlos fluchte. Zum guten Ende der entzückenden Reise hätte ich um ein Haar noch ein Loch in meinen armen Krüppel von Dampfer gerannt. Der Harlekin am Ufer wandte mir seine kleine Stupsnase zu. ›Sie englisch?‹ fragte er mit breitestem Lächeln. ›Sind Sie's?‹ rief ich vom Rad aus hinüber. Das Lächeln verschwand, und er schüttelte den Kopf, als täte ihm meine Enttäuschung leid. Dann klarte er wieder auf. ›Macht nichts‹, rief er ermutigend. ›Kommen wir rechtzeitig?‹ fragte ich. ›Er ist dort oben‹, gab er zurück, deutete mit dem Kopf den Hügel hinauf und wurde mit einmal ganz düster. Sein Gesicht war wie der Herbsthimmel, umwölkt in einem Augenblick und ganz klar im nächsten. Als der Direktor inmitten der Pilger – allesamt bis an die Zähne bewaffnet – zu dem Haus hinaufgegangen war, kam der komische Kauz an Bord. ›Ich muß Ihnen sagen, mir gefällt das nicht. Die Eingeborenen sind im Busch‹, sagte ich. Er versicherte mir ernsthaft, es sei alles in Ordnung. ›Es sind einfältige Leute‹, fügte er hinzu. ›Nun, ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Ich hatte unaufhörlich zu tun, sie abzuwehren.‹ – ›Aber Sie sagten ja eben, es sei alles in Ordnung‹, rief ich. – ›Oh, sie hatten nichts Böses im Sinn‹, sagte er und verbesserte sich unter meinem starren Blick: ›Das nicht gerade.‹ Dann rief er lebhaft: ›Ihr Ruderhaus muß sauber gemacht werden!‹ In einem Atem riet er mir, Dampf im Kessel zu halten, um im Notfall die Dampfpfeife blasen zu können. ›Ein guter Pfiff wird mehr für Sie tun, als alle die Gewehre. Es sind einfältige Leute‹, wiederholte er. Er plapperte mit solcher Geschwindigkeit weiter, daß ich ganz verblüfft war. Er schien sich für endloses Schweigen schadlos halten zu wollen und deutete auch unmittelbar darauf lachend an, daß das tatsächlich der Fall war. ›Sprechen Sie nicht mit Herrn Kurtz‹ fragte ich. – ›Mit dem Mann spricht man nicht, man hört ihm zu‹, gab er mit größter Begeisterung zurück. ›Jetzt aber –‹, er schwenkte den Arm und war im Umsehen inmitten tiefster Verzweiflung. Im Augenblick darauf kam er aber mit einem Satz wieder in die Höhe, ergriff meine beiden Hände, schüttelte sie unaufhörlich und stammelte: ›Bruder Seemann . . . Ehre . . . Freude . . . Entzücken . . . mich vorstellen . . . Russe . . . Sohn eines Erzpriesters . . . Gouvernement Tamor . . ., was? . . . Tabak! Englischer Tabak; der ausgezeichnete englische Tabak! Nun, das ist brüderlich. Rauchen? Gibt es einen Seemann, der nicht raucht?‹
Die Pfeife beruhigte ihn, und ich brachte nach und nach heraus, daß er von der Schule entlaufen und auf einem russischen Schiff in See gegangen war; nochmals durchgebrannt, hatte er eine Zeit auf englischen Schiffen gedient und war nun mit dem Erzpriester ausgesöhnt. Das hob er eigens hervor. ›Wenn man jung ist, muß man vieles sehen, Erfahrungen und Ideen sammeln, den Horizont erweitern.‹ – ›Hier!‹ unterbrach ich ihn. – ›Das kann man nie sagen. Hier habe ich Herrn Kurtz getroffen‹, gab er zurück, ganz jungenhaft feierlich und vorwurfsvoll. Daraufhin hielt ich den Mund. Es ergab sich, daß er ein holländisches Handelshaus an der Küste überredet hatte, ihn mit Waren und Vorräten auszustatten, und ins Innere aufgebrochen war, mit leichtem Herzen und ahnungslos wie ein Kind über das, was ihm bevorstehen mochte. Er war an dem Strom fast zwei Jahre lang allein herumgezogen, von allem und allen abgeschnitten. ›Ich bin nicht so jung, wie ich aussehe, ich bin fünfundzwanzig‹, sagte er. ›Zuerst meinte der alte Van Shuyten, ich sollte zum Teufel gehen‹, erzählte er freudig weiter, ›aber ich klammerte mich an ihn und redete und redete, bis er Angst bekam, ich würde seinem Lieblingshund das Hinterbein wegreden, und so gab er mir ein paar billige Sachen und ein paar Gewehre und sagte, er hoffte, mein Gesicht nie wieder zu sehen. Der gute alte Holländer, Van Shuyten. Ich habe ihm vor einem Jahr einen kleinen Posten Elfenbein geschickt, so daß er mich nicht einen kleinen Dieb heißen kann, wenn ich wiederkomme. Hoffentlich hat er es bekommen. Und um alles andere kümmere ich mich nicht. Ich habe etwas Holz für Sie aufgestapelt. Das dort war mein altes Haus. Haben Sie es gesehen?‹
Ich gab ihm Towsons Buch. Er tat, als wollte er mich küssen, hielt sich aber zurück. ›Das einzige Buch, das ich zurückgelassen habe – und ich dachte, ich hätte es verloren‹, sagte er und betrachtete es begeistert. ›Einem Menschen, der allein herumzieht, stoßen so viele Zwischenfälle zu, wissen Sie. Manchmal schlagen Kanus um – und manchmal muß man so schnell davon, wenn die Leute böse werden.‹ Er durchblätterte die Seiten. ›Sie haben Randbemerkungen in Russisch eingeschrieben‹, fragte ich. Er nickte. ›Ich dachte, es wäre eine Geheimschrift‹, sagte ich. Er lachte, wurde aber gleich ernst. ›Ich hatte die größte Mühe, die Leute fern zu halten‹, sagte er. – ›Wollten sie Sie töten?‹ fragte ich. ›O nein‹, rief er und brach ab. – ›Warum haben sie uns angegriffen?‹ fuhr ich fort. Er zögerte und sagte dann beschämt: ›Sie wollen nicht, daß er fortgeht!‹ – ›Wollen sie das nicht?‹ fragte ich neugierig zurück. Er nickte geheimnisvoll, schwer und weise. ›Ich sage Ihnen‹, rief er plötzlich, ›dieser Mann hat meinen Horizont erweiterte.‹ Er öffnete beide Arme weit und starrte mich mit den kleinen blauen Augen an, die ganz kreisrund waren.«