Joseph Conrad
Das Ende vom Lied
Joseph Conrad

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XIII

Dies war der Grund gewesen, warum Herrn Sternes vertrauliche Mitteilung, die ihm in aller Eile am Ufer längsseits des dunklen, schweigenden Schiffes gemacht worden war, seinen Gleichmut gestört hatte. Es war das Unverständlichste und Unerwartetste, was ihm geschehen konnte; und seine Aufregung war so groß, daß er, ohne weiter an seine Briefe zu denken, die Leiter zur Brücke hinaufrannte.

Der tragbare Tisch wurde eben links vom Steuerrad für das Abendessen zusammengesetzt, von zwei langzopfigen Boys, die sich wie gewöhnlich bei der Arbeit zankten, während ein dritter, ein kummervoller, stämmiger, sehr gelber Chinese, der Herrn Massy ähnlich sah, teilnahmslos wartete, mit dem Tischtuch über dem Arm und einem Stoß Teller vor der Brust. Eine gewöhnliche Kajütenlampe, der die Kugel fehlte, war von unten heraufgebracht und an dem Holzrahmen des Sonnensegels aufgehängt worden. Die Seitenläden waren niedergelassen; Kapitän Whalley, der die Tiefen des Armstuhles füllte, sah aus, als säße er geistesabwesend in einem grell erleuchteten Leinwandzelt, das als Laden für Schiffsausrüstungen diente; ein abgegriffenes Steuerrad, ein zerbeulter Messingkompaß auf einem wuchtigen Mahagoniständer, zwei schmutzige Rettungsringe, ein alter Korkfender, ein paar halbzerfallene Deckschränke mit dünnen Tauschlingen statt der Griffe.

Kapitän Whalley raffte sich aus seiner Erstarrung auf, um Herrn van Wyks ungewöhnlich kurzen Gruß zu erwidern, sank aber gleich wieder zurück. Es kostete ihm eine weitere, deutlich erkennbare Anstrengung, eine Einladung zum Abendessen ›im Hause oben‹ anzunehmen. Herr van Wyk kreuzte verwundert die Arme, lehnte sich gegen die Reling, die kleinen, glänzend schwarzbeschuhten Füße weit vorgeschoben, und musterte ihn heimlich.

»Ich habe in letzter Zeit bemerkt, daß Sie nicht ganz Sie selbst sind, alter Freund.«

Er legte einen liebevollen Nachdruck auf die letzten zwei Worte. Die tatsächliche Nähe ihrer Beziehungen war nie zuvor so deutlich hervorgehoben worden.

»Ach ja!«

Der Deckstuhl krachte in allen Fugen.

»Reizbar«, sagte sich Herr van Wyk und fügte laut hinzu: »Ich erwarte Sie also in einer halben Stunde.« Damit ging er.

»In einer halben Stunde«, klang es hinter ihm drein von Kapitän Whalleys starrem, silberweißem Haupt, wie aus Tiefschlaf.

Unten, mittschiffs, konnte man nächst dem Maschinenraum zwei Stimmen einander antworten hören – die eine ärgerlich und langsam, die andere lebhaft.

»Ich sage Ihnen, der Kerl hat sich eingesperrt, um sich zu betrinken.«

»Nichts dagegen zu machen, Herr Massy. Schließlich hat jeder Mann doch das Recht, sich in seiner freien Zeit in seiner Kabine einzuschließen.«

»Nicht, um sich zu betrinken.«

»Ich hörte ihn fluchen, daß der Ärger mit den Kesseln hinreiche, um jeden Mann zum Säufer zu machen«, meinte Sterne boshaft.

Massy zischte etwas wie, er wolle die Tür einrennen. Um ihnen auszuweichen, ging Herr van Wyk in der Dunkelheit nach der anderen Seite des verlassenen Decks. Der Bohlenbelag des kleinen Landungsstegs knarrte leise unter seinen schnellen Schritten.

»Herr van Wyk! Herr van Wyk!«

Er ging weiter; jemand rannte hinter ihm her. »Sie haben vergessen, Ihre Post mitzunehmen.«

Sterne, ein Bündel Papiere in der Hand, kam an seine Seite.

»Oh, danke!«

Da aber der andere sich weiter an seinem Ellbogen hielt, blieb Herr van Wyk kurz stehen. Alles war still. Nur ein leises Klappern von Besteck und Klirren von Gläsern war zu hören. Herrn van Wyks Diener deckten in der Veranda den Tisch für zwei.

»Ich fürchte, daß Sie meinen guten Absichten in der Angelegenheit, von der ich Ihnen vorhin sprach, durchaus nicht vertrauen«, sagte Sterne.

»Ich verstehe Sie ganz einfach nicht.«

»Kapitän Whalley ist ein sehr kühner Mann, aber er wird verstehen, daß sein Spiel ausgespielt ist. Das ist alles, was irgend jemand darüber von mir aus je zu erfahren braucht. Glauben Sie mir, ich nehme jede mögliche Rücksicht, aber Pflicht ist Pflicht. Ich wünsche kein Aufsehen. Alles, was ich Sie, seinen Freund, von mir zu bestellen bitte, ist, daß das Spiel aus ist. Das wird genügen.«

Herr van Wyk fühlte sich von diesem sonderbaren Vorrecht der Freundschaft peinlich bedrückt. Er wünschte sich nicht durch die Frage nach irgendwelcher Aufklärung zu erniedrigen; den andern mit Schimpf und Schande fortzujagen, hielt er nicht für klug – zumindest noch nicht. Die große Sicherheit des Menschen machte ihm Eindruck. Wer konnte sagen, was dahinter stecken mochte? Seine Rücksicht auf Kapitän Whalley hatte die ganze Kraft des selbstlosen Gefühls, und da ihm sein Wirklichkeitssinn zu Hilfe kam, so vermochte er seine Verachtung zu verbergen.

»Ich muß also annehmen, daß es sich um etwas Ernstes handelt.«

»Um etwas sehr Ernstes«, bejahte Sterne feierlich, innerlich entzückt darüber, daß er endlich eine Wirkung erzielt hatte. Er schickte sich an, einige wortreiche Versicherungen seines Bedauerns über »die unvermeidliche Notwendigkeit« hinzuzufügen, doch Herr van Wyk schnitt ihm kurz, wenn auch sehr höflich, das Wort ab.

Sobald er auf seiner Veranda allein war, schob Herr van Wyk die Hände in die Taschen, spreizte die Beine und starrte auf ein schwarzes Pantherfell hinunter, das vor einem Schaukelstuhl auf dem Boden lag. ›Es sieht aus, als ob der Bursche nicht die Schneid hätte, seine sauberen Karten offen zu zeigen‹, dachte er.

Das war ganz richtig. Angesichts der letzten Abfuhr, die er von Massy erlitten hatte, wagte Sterne sein Wissen nicht mehr offen zu zeigen. Seine Absicht ging einfach dahin, die Führung des Dampfers in die Hand zu bekommen und für einige Zeit zu behalten. Massy würde es ihm nie vergeben, wenn er sich aufdrängte; verließ aber Kapitän Whalley das Schiff aus freien Stücken, so mußte das Kommando für den Rest der Reise auf ihn übergehen; so verfiel er auf den herrlichen Gedanken, den alten Mann wegzuscheuchen. Eine unbestimmte Drohung, eine bloße Andeutung mußte in einem so klar liegenden Fall genügen; und in einer merkwürdigen Anwandlung von Mitleid bedachte er, daß Batu-Beru gerade der richtige Platz war, um die Sache zum Klappen zu bringen. Der Schiffer konnte ruhig an Land gehen und bei seinem Holländer bleiben. Waren die beiden nicht die dicksten Freunde? Und bei näherer Überlegung schien sich auch die Möglichkeit zu ergeben, die ganze Sache durch diesen dicken Freund des alten Mannes zu machen. Das war der zweite herrliche Gedanke. Er hatte eine angeborene Vorliebe für Umwege. In diesem besonderen Falle wünschte er so sehr wie möglich im Hintergrund zu bleiben, um Massy nicht nutzlos aufzubringen. Kein Aufsehen! Alles sollte wie von selbst gehen.

Herr van Wyk war sich während der ganzen Dauer des Abendessens einer gewissen Vereinsamung bewußt, die sich mitunter selbst in den nächsten menschlichen Beziehungen einstellt. Kapitän Whalley mühte sich ohne jeden Erfolg, auch nur einen Bissen hinunterzubringen. Er schien von der merkwürdigsten Geistesabwesenheit befallen. Seine Hand tastete unentschlossen umher, als wäre sie infolge der Zerstreutheit ohne Führung. Herr van Wyk hatte ihn in der tiefen Stille schon von weitem vom Ufer heraufkommen hören und hatte die zaudernden Schritte gemerkt. Kapitän Whalley war mit der Fußspitze an die unterste Stufe gestoßen, als wäre er mit der Nase in der Luft, ganz gedankenlos, bis zur Verandatreppe gekommen. Wäre der Kapitän der Sofala ein anderer Mann gewesen, so hätte Herr van Wyk hier vielleicht die Wirkung des Alters gesehen. Doch ein Blick nach ihm genügte. Die Zeit hatte ihn – nachdem sie ihn allerdings als ihr Eigentum gebrandmarkt hatte – seiner Arbeit überlassen, worin sein einfältiger Glaube einen Beweis wirklicher Gnade sah. »Wie könnte ich ihn warnen?« fragte sich van Wyk, als wäre Kapitän Whalley Meilen und Meilen weit weg, außer Seh- und Hörweite alles Bösen. Van Wyk fühlte Übelkeit bei dem Gedanken an Sterne. Dessen Drohung einem Mann wie Whalley auch nur anzudeuten, mußte geradezu unschicklich wirken. In der Andeutung lag mehr Schimpf und Gemeinheit, als in der offenen Anklage wegen eines Verbrechens – etwas wie Erpressung. »Was kann irgend jemand gegen ihn vorzubringen haben?« fragte er sich. Der Mann war gewiß makellos. Und zu welchem Zweck? Die Macht, auf die der Mann vertraute, hatte es für richtig befunden, ihm nichts auf Erden zu lassen, an das sich der Neid heften konnte, ausgenommen das trockene Brot.

»Wollen Sie nicht hiervon versuchen?« fragte van Wyk und schob dem anderen eine Platte hin. Plötzlich fiel es ihm ein, daß Sterne vielleicht das Kommando der Sofala erstrebte. Sein Zynismus regte sich angesichts dieses scheinbaren Beweises dafür, daß kein Mensch sich vor seinesgleichen sicher fühlen kann, solange er nicht im letzten Abgrund des Elends angelangt ist. Eine Intrige dieser Art war es kaum wert, daß man sich darüber aufhielt, meinte er; da man es aber mit einem solchen Narren wie Massy zu tun hatte, so mußte Whalley doch unbedingt gewarnt werden.

In diesem Augenblick begann Kapitän Whalley – er saß aufrecht da, die tiefen Augenhöhlen überschattet von den buschigen Brauen, eine große braune Hand zu jeder Seite neben den leeren Teller gelegt –, unvermittelt zu sprechen:

»Herr van Wyk, Sie haben mich immer mit aller menschlichen Rücksichtnahme behandelt.«

»Mein lieber Kapitän, Sie machen zu viel Aufhebens von der einfachen Tatsache, daß ich kein Wilder bin.« Dabei hatte van Wyk, im Innersten empört bei der Erinnerung an Sternes unsauberen Versuch, unwillkürlich die Stimme erhoben, als glaubte er den Ersten irgendwo in Hörweite verborgen. »Jede Rücksichtnahme, die ich Ihnen beweisen konnte, habe ich als meine Pflicht gegen einen Charakter betrachtet, für den ich die unerschütterlichste Hochachtung empfinden gelernt habe.«

Ein leichtes Klirren von Glas ließ ihn die Augen von der Ananasscheibe erheben, die er eben auf seinem Teller in Stücke schnitt. Beim Wechseln seiner Stellung hatte Kapitän Whalley ein leeres Glas umgestoßen.

Ohne genau hinzusehen, seitlich auf den Ellbogen gestützt, die andere Hand über die Augen gelegt, tastete der Kapitän zitternd danach und gab es dann auf. Van Wyk sah in starrem Schrecken zu, als wäre plötzlich etwas geschehen. Er wußte selbst nicht, warum er so erschreckt war; doch vergaß er Sterne für den Augenblick völlig.

»Nun, was ist geschehen?«

Und Kapitän Whalley, immer noch halb abgewandt, murmelte mit klangloser, bewegter Stimme:

»Hochachtung!«

»Und ich könnte noch etwas hinzufügen«, sagte Herr van Wyk langsam, mit festem Blick.

»Halt! Genug!« Kapitän Whalley änderte seine Stellung nicht, noch hob er die Stimme. »Sagen Sie nichts weiter! Ich könnte Ihnen nicht mit Gleichem vergelten. Ich bin nun sogar dafür zu arm. Ihre Hochachtung ist gewiß wertvoll. Sie sind nicht der Mann, der sich dazu hergeben würde, den armseligsten Kerl auf Erden zu betrügen, oder ein Schiff seeuntüchtig zu machen, sooft er es hinausführt.«

Herr van Wyk saß vornübergelehnt, feuerrot im Gesicht, da, die gestärkte Serviette über den Knien, und fühlte sich versucht, seinen Sinnen zu mißtrauen, seinem Verstand, oder der geistigen Gesundheit seines Gastes.

»Wo? Warum? In Gottes Namen – was soll das? Welches Schiff? Ich verstehe nicht, wer . . .«

»Nun denn, in Gottes Namen, ich bin es! Ein Schiff ist seeuntüchtig, wenn sein Kapitän nicht sehen kann. Ich werde blind.«

Herr van Wyk machte eine leichte Bewegung und saß danach für ein paar Sekunden ganz still da. Dann schoß ihm der Gedanke an Sternes »das Spiel ist aus« durch den Kopf, und er beugte sich unter den Tisch, um die Serviette aufzuheben, die ihm von den Knien geglitten war. Das war das Spiel, das ausgespielt war. Und im gleichen Augenblick erreichte ihn die halberstickte Stimme Kapitän Whalleys: »Ich habe Sie alle getäuscht. Niemand weiß etwas.«

Van Wyk tauchte blutrot wieder auf. Kapitän Whalley saß reglos, im vollen Licht der Lampe, und beschattete das Gesicht mit seiner Hand. »Und Sie haben den Mut gehabt?«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber Sie sind menschlich, Sie sind ein – ein Gentleman, Herr van Wyk. Sie hätten fragen können, wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren konnte.«

Er versank in tiefes Schweigen und schien reglos nachzudenken.

»Ich begann, mich in meinem Stolz vor mir selbst damit zu brüsten. Man lernt eine Menge Dinge sehen, wenn man blind ist. Ich konnte nicht einmal mit einem alten Kameraden offenherzig sein. Ich war auch mit Massy nicht offenherzig – nein, nicht ganz. Ich wußte, daß er mich für einen reichen alten Narren hielt, der von der See nicht lassen wollte, und ließ ihn dabei. Ich wollte meine Wichtigkeit behalten – denn die arme Ivy ist ja dort drüben – meine Tochter. Warum habe ich mir seine Notlage zunutze gemacht? Ich tat es für sie –. Und nun, wie könnte ich Gnade von ihm erwarten? Er würde meine Notlage ausnützen, sobald er davon erführe. Er würde den alten Betrüger fortjagen und das Geld ein Jahr zurückbehalten. Ivys Geld. Und ich habe keinen Pfennig für mich übrig. Wie sollte ich ein Jahr lang leben? Ein Jahr! In einem Jahr wird es für ihren Vater keine Sonne mehr am Himmel geben.«

Seine tiefe Stimme klang furchtbar verschleiert, als käme sie unter dem Geröll eines Erdrutsches hervor und spräche von den Gedanken, die die Toten in ihren Gräbern quälen. Van Wyk rann ein kalter Schauer über den Rücken.

»Und wie lange ist es her, seit Sie . . .?« begann er.

»Es dauerte sehr lange, bevor ich mich dazu bringen konnte, an diese – diese – Heimsuchung zu glauben«, sagte Kapitän Whalley mit düsterer Ergebung, unter seiner Hand hervor.

Er hatte nicht geglaubt, sie verdient zu haben. Er hatte angefangen, sich selbst darüber von Tag zu Tag zu täuschen, von Woche zu Woche. Er hatte den Serang zur Hand gehabt – einen alten Diener. Es wurde immer schlimmer, und als er sich nicht länger täuschen konnte . . ..

Die Stimme erstarb ihm beinahe.

»Eher, als das Kind im Stich zu lassen, habe ich mich entschlossen, euch alle zu betrügen.«

»Unglaublich«, flüsterte Herr van Wyk. Kapitän Whalley murmelte weiter:

»Nicht einmal das sichtbare Zeichen von Gottes Zorn konnte mich sie vergessen machen. Wie hätte ich mein Kind im Stich lassen sollen – solange ich noch meine Kraft in mir fühlte – warmes Blut in den Adern? Warm wie Ihres! Es scheint mir, als könnte ich, wie der geblendete Simson, die Kraft finden, einen Tempel über meinem Kopf einzureißen. Sie ist eine hart arbeitende Frau – mein eigenes Kind, über dem wir beide zu beten pflegten, meine arme Frau und ich. Erinnern Sie sich noch an den Tag, an dem ich Ihnen fast ausdrücklich sagte, ich glaubte daran, Gott würde mich um ihretwillen hundert Jahre alt werden lassen? Ist es eine Sünde, sein eigenes Kind zu lieben? Verstehen Sie mich? Ich war bereit, um ihretwillen ewig zu leben. Glaubte auch halb und halb, ich würde es können. Seither habe ich um den Tod gebetet. Oh! Vermessener Mensch – du willst leben . . .«

Ein trockenes Schluchzen erschütterte den mächtigen Leib, daß die Gläser auf dem Tisch davon zu klingen begannen und das ganze Haus bis zum Giebel hinauf zu erzittern schien. Und Herr van Wyk, dessen verschmähte Liebe sich in eine Art Kampf gegen die Natur umgesetzt hatte, verstand es sehr gut, daß es für einen Mann, dessen ganzes Leben durch Tat bedingt gewesen war, keinen anderen Ausdruck für alle Gefühle geben konnte; daß freiwillig alles Handeln, alles Tun, jede Arbeit für sein Kind aufgeben, für ihn das gleiche gewesen wäre, als hätte er sich die warme Liebe für diese Tochter aus dem lebenden Herzen reißen wollen. Etwas zu Ungeheuerliches, Unmögliches, um auch nur gedacht werden zu können.

Kapitän Whalley hatte seine Haltung nicht geändert, die Beschämung, Kummer und Trotz ausdrückte.

»Ich habe sogar Sie getäuscht. Wäre nicht das Wort Hochachtung gefallen . . . Das sind keine Worte mehr für mich. Ich hatte Sie belogen. Habe ich Sie nicht belogen? Wollten Sie nicht gerade für diese Reise Ihr Eigentum dem Schiff anvertrauen?«

»Ich habe eine laufende Jahrespolice«, entfuhr es Herrn van Wyk fast unbewußt, und er wunderte sich selbst, wie ihm diese geschäftliche Einzelheit in den Sinn kommen konnte.

»Das Schiff ist seeuntüchtig, sage ich Ihnen. Die Police wäre ungültig, wenn es bekannt würde . . .«

»Dann wollen wir also die Schuld teilen.«

»Nichts könnte die meine verringern«, sagte Kapitän Whalley.

Er hatte es nicht gewagt, einen Doktor zu befragen; der Mann hätte sich vielleicht erkundigt, wer er war, was er tat; Massy hätte etwas hören können. Er hatte ohne Hilfe hingelebt, ohne menschliche oder göttliche Hilfe. Sogar die Gebete waren ihm in der Kehle steckengeblieben. Worum sollte er noch beten? Und der Tod schien so weit weg wie nur je. War er einmal in seiner Kabine, so wagte er sich kaum mehr heraus; wenn er saß, wagte er nicht aufzustehen; er wagte nicht, die Augen zu irgend jemandes Gesicht zu erheben; er fühlte ein Widerstreben, auf die See hinaus oder nach dem Himmel zu sehen. Die Welt entschwand ihm in der großen Angst, sich zu verraten. Das alte Schiff war sein letzter Freund; er fürchtete es nicht; er kannte jeden Zoll breit seines Decks; doch auch das Schiff wagte er nicht recht anzusehen, aus Angst, merken zu müssen, daß er weniger sah als tags zuvor. Eine große Unsicherheit überfiel ihn. Der Horizont war ihm entschwunden; der Himmel verschwamm dunkel mit der See. Wer war die Gestalt dort? Was lag da? Und der furchtbare Zweifel an der Wirklichkeit dessen, was er sah, machte noch die letzte Sehkraft, die ihm geblieben war, zu einer Quelle neuer Pein und zu einer Falle, in der sich sein armseliger Betrug jeden Augenblick fangen konnte. Er fürchtete sich, unentschuldbar über etwas zu straucheln – auf eine Frage ein fatales Ja oder Nein zu antworten. Gottes Hand lag auf ihm, doch konnte sie ihn nicht von seinem Kind wegreißen. Und wie in einem bösen Traum schien jeder nur in Umrissen erkennbare Mann ein Feind.

Er ließ die Hand schwer auf den Tisch fallen. Herr van Wyk saß mit herabhängenden Armen da, das Kinn auf der Brust, nagte mit weißen Zähnen an der Unterlippe und dachte an Sternes »das Spiel ist aus«.

»Der Serang weiß natürlich nichts.«

»Niemand«, sagte Kapitän Whalley selbstsicher.

»Ach ja, niemand. Schön. Können Sie es bis zum Ende der Reise durchhalten? Das ist die letzte in dem Vertrag mit Massy.«

Kapitän Whalley erhob sich und stand aufrecht da; der weiße Bart lag wie eine silberne Brustplatte über dem furchtbaren Geheimnis seines Herzens. Jawohl; das war die einzige Hoffnung, die es für ihn gab, sie je wiederzusehen, das Geld sicherzustellen; das letzte, was er für sie tun konnte, bevor er sich irgendwohin verkroch – nutzlos, sich selbst eine Bürde und ein Vorwurf. Seine Stimme bebte.

»Denken Sie daran! Sie nie mehr sehen: das einzige noch lebende menschliche Wesen, das sich an meine arme Frau erinnern kann. Sie ist gerade wie ihre Mutter. Ein Glück, daß die arme Frau dort ist, wo sie über ihre Lieben auf dieser Welt keine Tränen vergießen kann und nicht zu beten braucht, daß sie nicht in Versuchung geführt werden mögen, denn – so glaube ich – die Seligen kennen das Geheimnis der Gnade in Gottes Tun mit seinen Kindern.«

Er schwankte ein wenig und sagte dann mit ruhiger Würde:

»Ich kenne es nicht. Ich kenne nur das Kind, das Er mir geschenkt hat.«

Und er begann zu gehen. Herr van Wyk sprang sofort auf, denn er begriff mit einmal die wahre Bedeutung des starr gestreckten Kopfes, des zögernden Fußes, der tastend vorgestreckten Hand. Sein Herz schlug schnell; er rückte einen Stuhl beiseite und trat unwillkürlich vor, als wollte er seinen Arm anbieten. Doch Kapitän Whalley ging an ihm vorbei gerade auf die Treppe zu.

»Er kann mich außerhalb seiner Blickweite überhaupt nicht sehen«, dachte van Wyk mit einem leisen Schauer. Dann trat er an die Treppe und fragte ein wenig zitterig:

»Wie ist es denn – wie ein Nebel – wie . . .«

Kapitän Whalley machte auf halbem Wege halt und wandte sich ungerührt, um zu antworten:

»Es ist, als ginge alles Licht aus der Welt. Haben Sie je zugesehen, wie sich die ablaufende See von einer offenen Sandbank weiter und weiter von Ihnen zurückzieht! So ist es – nur wird keine Flut nachkommen. Niemals. Es ist, als würde die Sonne kleiner, als verlöschten die Sterne, einer nach dem anderen. Es sind wohl nicht mehr viele übrig, die ich heute noch sehen kann. Aber ich habe letzthin nicht mehr den Mut gehabt, danach zu sehen . . .« Er schien Herrn van Wyk wahrgenommen zu haben, denn er hielt ihn mit einer Handbewegung und den festen Worten zurück:

»Ich kann noch allein gehen.«

Es war, als hätte er sein Schicksal auf sich genommen und wollte nun keines Menschen Hilfe annehmen, nachdem er wie ein vermessener Titan aus seinem Himmel gestürzt war. Herr van Wyk stand wie auf den Fleck gebannt und schien die Schritte zu zählen, solange sie zu hören waren. Er ging zwischen den Tischen durch, klappte mit den Fersen, nahm ein Papiermesser auf und legte es nach einem leeren Blick über die Klinge wieder hin; dann geriet er an das Pianino, schlug wiederholt und kräftig ein paar Akkorde an und horchte mit vorgebeugtem Kopf, wie ein Klavierstimmer; dann schloß er das Instrument, wandte sich unvermittelt auf den Absätzen, wich dem kleinen Terrier aus, der auf gekreuzten Vorderpfoten ruhig schlief, gelangte an die Treppe und stürzte, als hätte er auf der obersten Stufe sein Gleichgewicht verloren, blindlings aus dem Hause hinaus. Seine Diener, die dabei waren, den Tisch abzuräumen, hörten ihn dort unten vor sich hin murmeln (böse Worte, ohne Zweifel) und nach einer Weile mit schwingendem Schritt in der Richtung des Landungsstegs davongehen.

Das Schanzkleid der festgemachten Sofala, die längs des Ufers lag, erhob sich wie eine schwarze Mauer über den welligen Umrissen des Ufers. Zwei Masten und ein Schornstein mit großem Fall ragten dahinter auf, als wären sie bereit zu stürzen. Ein festgefügter, würfelförmiger Aufbau in der Mitte zeigte die undeutlichen Formen weißer Boote, die geschweiften Linien der Bootsgalgen, die geraden der Reling und der Geländerstützen, die sich im Dunkeln ineinander verloren; tief unten aber, mittschiffs, starrte eine erleuchtete Stückpforte in die Nacht hinaus, ganz rund wie ein kleiner Vollmond, dessen gelber Schein einen Flecken weichen Schlammes traf, einen Streifen abgetretenen Rasens, zwei Schläge eines schweren Taues, das um einen dicken, in den Boden gerammten Holzpfosten gelegt war.

Beim Näherkommen hörte Herr van Wyk eine heisere, prahlerische Stimme, die sich offenbar an einen Menschen namens Prendergast wandte und Schimpfworte und Verleumdungen hervorsprudelte; dann sprach die gleiche Stimme sehr deutlich das Wort Murphy aus und kicherte. Glas klirrte zitterig dazwischen. Alle diese Töne kamen aus der erleuchteten Stückpforte. Herr van Wyk zögerte, beugte sich vor; es war aber unmöglich, durch die Öffnung hineinzusehen. außer er wäre bis in den Schlamm hinuntergegangen.

»Sterne«, sagte er halblaut.

Die trunkene Stimme drinnen im Schiff sagte vergnügt:

»Sterne – natürlich! Sieh nur, wie er zwinkert! Sterne, Whalley, Massy. Massy, Whalley, Sterne. Aber Massy ist der Beste. Er ist nicht kleinzukriegen. Dem würde es gerade Spaß machen, zuzusehen, wie man Hungers verreckt.«

Herr van Wyk trat zurück, und da er bemerkte, daß weiter weg sich undeutlich ein Kopf unter dem Sonnensegel hervorstreckte, als stände dort jemand auf der Lauer, fragte er ruhig auf malaiisch: »Schläft der Erste?«

»Nein, zur Stelle, zu Ihren Diensten.«

Einen Augenblick später tauchte Sterne auf und schritt lautlos wie eine Katze über den Landungssteg.

»Es ist so verdammt finster, und ich hatte keine Ahnung, daß Sie heute abend heraufkommen würden.«

»Was soll dieses entsetzliche Gewäsch?« fragte Herr van Wyk, als wollte er den Schauer erklären, der ihn fast unhörbar überlief.

»Jack hat sich ans Trinken gemacht. Das ist unser Zweiter. Ist so seine Art. Morgen nachmittag wird er wieder ganz in Ordnung sein, aber Herr Massy wird doch nicht aufhören, Krach deswegen zu schlagen. Wir sollten lieber weggehen.«

Er murmelte sehr eindringlich etwas von einem Gespräch »oben im Hause«. Er hatte es sich schon lange gewünscht, dort oben Zutritt zu erhalten. Herr van Wyk aber winkte nachlässig ab: es würde, so fürchtete er, vielleicht nicht ganz klug sein; und der tiefschwarze Schatten unter einem der beiden großen Bäume, die am Landungsplatz stehengeblieben waren, nahm ihre Gestalten auf, die sich bisher gegen den Schein des sternenüberglänzten Flusses matt abgehoben hatten.

»Die Lage ist ohne Zweifel ernst«, sagte Herr van Wyk. In ihren weißen Anzügen sahen sie beide wie Gespenster aus, konnten einer des anderen Gesichtszüge nicht erkennen, und ihre Füße gaben keinen Laut auf dem weichen Boden. Eine Art Schnurren wurde hörbar. Herr Sterne fühlte sich durch diesen Anfang geschmeichelt.

»Ich dachte wohl, Herr van Wyk, daß ein Gentleman Ihres Schlages sofort einsehen würde, wie peinlich meine Lage war.«

»Ja doch. Augenscheinlich ist seine Gesundheit nicht gut. Vielleicht ist er am Niederbrechen. Ich sehe es, und er selbst weiß es auch – ich nehme an, daß ich zu einem verständigen Menschen spreche – er weiß es auch, daß seine Beine den Dienst versagen.«

»Seine Beine – Oh!« Herr Sterne war enttäuscht und wurde dann bockig. »Sie können es die Beine nennen, wenn Sie wollen; ich aber will wissen, ob er in aller Ruhe Platz zu machen gedenkt. Das ist ein guter Witz! Seine Beine! Pah!«

»Aber doch! Sehen Sie sich doch seinen Gang an«, hielt ihm Herr van Wyk ganz kühl und bestimmt entgegen. »Doch so oder so: die Frage scheint mir, ob Ihr Pflichtgefühl Sie nicht allzuweit von Ihrem wahren Vorteil abführt. Schließlich könnte ja auch ich etwas tun, um Ihnen zu helfen. Sie wissen, wer ich bin.«

»Jedermann an den Meerengen hat von Ihnen gehört, Herr.«

Herr van Wyk äußerte die Hoffnung, daß dies etwas Günstiges meine. Sterne belachte den Scherz diensteifrig. Er sollte wohl denken! Der eröffnenden Feststellung, daß der Teilhabervertrag mit Beendigung dieser Reise ablaufe, stimmte er aufmerksam zu. Das sei bekannt. Man höre ja den lieben, langen Tag nichts andres an Bord. Was nun Massy angehe, so sei es kein Geheimnis, daß er wegen der abgenützten Kessel in einer scheußlichen Klemme sitze. Er würde sich irgendwo ein paar hundert Pfund borgen müssen, um zunächst einmal den Kapitän auszuzahlen; und dann würde er für die neuen Kessel Geld auf das Schiff aufnehmen müssen – das heißt, wenn er überhaupt einen Geldgeber finden würde. Im besten Fall bedeutete es immer noch einen Zeitverlust, eine Unterbrechung im Geschäft, verkürzte Jahreserträge – und dabei blieb die Gefahr bestehen, daß ihm die ganze Verbindung von einem Konkurrenten weggeschnappt würde. Es hieß, er habe schon bei zwei Firmen angeklopft, und keine von beiden habe etwas mit ihm zu tun haben wollen. Das Schiff sei zu alt und der Mann auf dem Platz zu gut bekannt . . . Das schnelle Zwinkern, mit dem Herr Sterne seine Rede schloß, ging in der tiefen Dunkelheit unter, die bisher von seinem zischenden Flüstern widergehallt hatte.

»Angenommen also, er bekäme das Darlehen«, sagte Herr van Wyk zusammenfassend, »so ist es nach Ihrer eigenen Meinung mehr als wahrscheinlich, daß ihm die Darlehensgeber einen ihrer Leute als Kapitän aufzwingen würden. Ich für mein Teil müßte ja sagen, daß ich selbst, hätte ich das Geld zu geben, genau die gleiche Bedingung stellen würde. Und tatsächlich denke ich daran, es zu geben. Es könnte mir in vieler Beziehung zusagen. Sehen Sie, welche Folgen das auf den zur Rede stehenden Fall haben würde?«

»Ich danke Ihnen, Herr. Ich weiß bestimmt, daß Sie niemand finden könnten, dem Ihr Interesse aufrichtiger am Herzen läge.«

»Es liegt in meinem Interesse, daß Kapitän Whalley seine Zeit beendet. Ich werde wahrscheinlich mit Ihnen hinauffahren. In diesem Fall werde ich an Ort und Stelle sein, wenn alle diese Veränderungen vorgehen und werde auch Ihr Interesse vertreten.«

»Herr van Wyk, ich wünschte nichts Besseres. Ich bin sicher unendlich . . .«

»Ich betrachte es also als abgemacht, daß es ohne weiteres dabei bleiben kann.«

»Nun, Herr, eine gewisse Gefahr ist dabei, daran ist nichts zu ändern; aber – um zu Ihnen als meinem Brotherrn zu sprechen – die Sache ist ungefährlicher, als sie aussieht. Hätte mir irgend jemand davon gesagt, so hätte ich es nicht geglaubt; so aber habe ich es mit Augen gesehen. Der alte Serang ist allmählich dafür abgerichtet worden. An seinen – seinen Beinen, Herr, fehlt gar nichts. Da ist er noch so gut beisammen wie nur einer. Und lassen Sie mich Ihnen sagen, Herr, daß Kapitän Whalley, der arme Mann, durchaus nicht unnütz ist. Tatsächlich! Lassen Sie sich erklären, Herr. Er steift dem alten Affen von Malaien das Kreuz, der ganz gut weiß, was er zu tun hat. Natürlich, denn er muß ja in allerlei Küstenfahrern während der letzten fünfundzwanzig Jahre Kapitänswachen gehalten haben. Diese Eingeborenen, Herr, treffen, solange sie einen weißen Mann hinter sich wissen, überraschend genau das Richtige – sogar, wenn sie ganz sich selbst überlassen sind. Nur muß der weiße Mann danach sein, sie richtig aufzubügeln, und dazu ist gerade Kapitän Whalley der Rechte. Ich sage Ihnen, Herr, er hat den Kerl so gut abgerichtet, daß er jetzt fast nichts mehr zu reden braucht. Und ich habe zugesehen, wie der kleine runzelige Affe an einem stürmischen Morgen das Schiff aus der Pangubai hinaus und durch alle die Inseln hindurchführte, ganz erstklassig, Herr; dabei guckte er unter des alten Mannes Ellbogen durch und war so steinruhig, daß man nicht mit Bestimmtheit hätte sagen können, wer von den beiden eigentlich die Arbeit dort oben tat. Darin also könnte unser armer Freund noch für das Schiff von Nutzen sein, wenn er auch – keinen Fuß mehr rühren könnte, Herr. Immer vorausgesetzt, der Serang bringt nicht heraus, daß etwas nicht in Ordnung ist.«

»Das tut er nicht.«

»Natürlich nicht. Übersteigt seine Begriffe. Sie sind nicht fähig, irgend etwas über uns herauszubringen, Herr.«

»Sie scheinen mir ein scharfer Beobachter«, flüsterte Herr van Wyk heiser, als wäre ihm übel.

»Sie werden finden, daß ich kein schlechter Diener bin, Herr.«

Herr Sterne hoffte nun zumindest auf ein Händeschütteln, doch plötzlich, nach einem kurzen »Was ist das? Besser, wir lassen uns nicht zusammen sehen!« schwankte Herrn van Wyks weiße Gestalt und schien unmittelbar mit der Schwärze unter dem Blätterdach zu verschmelzen. Sterne war überrascht. Ja. Da war dieses ferne Pochen.

Er stahl sich leise aus dem Schatten heraus. Die erleuchtete Stückpforte warf von weither einen Schein. Der Kopf schwindelte ihm von dem Rausch plötzlichen Erfolgs. Was war es doch für eine andere Sache, wenn man es mit einem Gentleman zu tun hatte! Er schlich an Bord, und es lag etwas Unheimliches in der langen Flucht der leeren Decks, die, von mittschiffs her, von Geschrei und Schlägen widerhallten. Herr Massy tobte vor der geschlossenen Tür; unbekümmert um das Gewitter der Fußtritte hörte man eine betrunkene Stimme weiterreden.

»Maul halten! Löschen Sie Ihr Licht aus und legen Sie sich ins Bett, verdammter Saufbold! Hören Sie mich, Sie Schwein?«

Die Fußtritte hörten auf, und in das Schweigen hinein vernahm man das duselige Orakel von drinnen:

»Oh! Massy – nun, das ist eine andere Sache. Massy ist schlau.«

»Wer ist das dort achtern? Sie, Sterne? Der wird sich um Sinn und Verstand saufen.« Der Erste Ingenieur tauchte schattenhaft und riesengroß vor dem Maschinenraum auf.

»Morgen wird er schon wieder dienstfähig sein. Ich würde ihn in Ruhe lassen, Herr Massy.«

Sterne schlüpfte davon, in seine Kabine, und mußte sich sofort niedersetzen. Der Kopf drehte sich ihm vor Jubel. Er legte sich wie im Traum zu Bett. Ein Gefühl tiefen Friedens, friedlicher Freude überkam ihn. Auf Deck war alles ruhig.

Herr Massy hielt das Ohr gegen die Tür von Jacks Kabine gepreßt und horchte kritisch auf ein tiefes, schnarchendes Atmen. Das war der Schlaf der vollen Trunkenheit. Der Anfall war vorüber; beruhigt über diesen Punkt ging auch er in seine Kabine und entledigte sich mit langsamen Bewegungen seiner alten Zwilchjacke. Es war ein Kleidungsstück mit vielen Taschen, das er zu den unmöglichsten Tageszeiten anzulegen pflegte, da er an plötzlichen Frostschauern litt; hatte er sich dann erwärmt, so pflegte er die Jacke auszuziehen und irgendwo im Schiff aufzuhängen. Man konnte sie an Belegnägeln baumeln sehen, über eine Winde geworfen, oft sogar an den Türgriffen der Kajüten. War er nicht der Eigentümer? Sein liebster Platz aber war ein Haken an einer hölzernen Sonnensegelstütze auf der Brücke, knapp neben dem Kompaß. Er hatte sogar in den ersten Tagen mit Kapitän Whalley, der die Brücke sauber gehalten haben wollte, mehr als einen Streit deswegen gehabt. Damals hatte er sich einschüchtern lassen. In letzter Zeit hatte er allerdings seinem Partner ungestraft Trotz bieten können. Kapitän Whalley schien nun nie mehr etwas zu merken. Die Malaien aber hatten alle solche Angst vor dem groben Mann, daß keiner von ihnen es sich im Traum einfallen lassen würde, das Ding auch nur anzurühren, ganz gleich, von wo oder von was herunter er es hängen fand.

Mit einer Plötzlichkeit, die Herrn Massy aufspringen und die Jacke zu Boden werfen ließ, kam aus der nächsten Kajüte der Krach und das vieltönige Getöse eines schweren Sturzes. Der treue Jack mußte unvermittelt eingeschlafen sein, während er noch brütend dasaß, war wohl samt seinem Stuhl und allem zu Boden gestürzt und hatte dabei alle Flaschen und Gläser in Reichweite zerbrochen. Nach dem furchtbaren Krach war alles für eine Weile ruhig, als hätte sich der Mensch vom Fleck weg erschlagen. Herr Massy hielt den Atem an. Schließlich hörte er von jenseits des Schotts ein leises, schmerzliches Stöhnen. »Ich hoffe zu Gott, daß er zu betrunken ist, um jetzt aufzuwachen«, murmelte Herr Massy.

Der Klang eines leisen, winselnden Lachens trieb ihn fast zur Verzweiflung. Er fluchte halblaut vor sich hin. Nun würde ihn der Narr sicher die ganze Nacht wachhalten. Er verfluchte sein Pech. Er wünschte seine furchtbaren Sorgen mitunter im Schlaf zu vergessen. Er konnte keine Bewegung hören. Ohne anscheinend den geringsten Versuch zum Aufstehen zu machen, begann Jack, dort wo er lag, erst vor sich hin zu kichern, dann zu reden:

»Massy! Ich liebe den schmierigen Schuft. Es würde ihm Spaß machen, seinen alten Jack verhungern zu sehen – aber seht euch doch an, wohin er es gebracht hat! . . .« Ein Schlucken folgte, das anerkennend, geradezu überlegen klang . . . »Macht da den Reeder . . . Ein Lotterielos muß man haben. Ha, ha! Ich will dir Lotterielose geben, mein Junge. Läßt das alte Schiff sinken und den alten Kameraden draufgehen – ganz recht. Er haut nicht daneben, Massy nicht. Er ist ein Genie – das ist er. So kommt man zu Geld. Das Schiff und der Freund müssen zum Teufel.«

»Der verfluchte Narr hat es sich zu Herzen genommen«, murmelte Massy vor sich hin. Und während er schon mit besänftigter Miene auf ein Anzeichen des wiederkommenden Schlafes lauerte, wurde er durch ein lautes, spöttisches Gelächter schwer enttäuscht.

»Möchte sie gern auf dem Grunde der See sehen! Oh, du schlauer, schlauer Teufel! Möchtest sie versenkt haben, wie? Denke wohl, daß dir das passen könnte, mein Junge; weg der verfluchte alte Kasten, und alle Sorgen mit ihm. Das Versicherungsgeld einstreichen – dem alten Kameraden den Rücken drehen – ganz recht – wieder ein Kavalier.«

Eine grimmige Ruhe war über Massys Gesicht gekommen. Seine großen, schwarzen Augen rollten verlegen. Der verfluchte Narr! Und doch war alles wahr. Jawohl. Lotterielose auch, alles wahr. Wie? Fing er nochmals an? Wenn er's doch sein ließe . . .

Doch es blieb ihm nicht erspart. Der phantasievolle Trunkenbold jenseits des Schotts zerriß nochmals die todähnliche Ruhe, die sich nach seinen letzten Worten über das dunkle Schiff am stillen Ufer gelegt hatte.

»Wage mir keiner etwas gegen George Massy, Hochwohlgeboren, zu sagen. Wenn ihm das Warten zu dumm ist, wird er mit dem Schiff Schluß machen. Paßt nur auf! Das geht unter wie nichts – mit dem Kameraden und allem. Er wird schon wissen, wie er es anfangen muß . . .«

Die Stimme zögerte, müde, verschlafen, als erstürbe sie in einem weiten Raum.

». . . Wird schon einen guten Trick finden. Der ist schon dahinter her – keine Angst . . .«

Er mußte furchtbar betrunken sein, denn schließlich überfiel ihn der schwere Schlaf mit der Plötzlichkeit eines Zauberschlages, und das letzte Wort dehnte sich zu einem endlos lauten Schnarchen. Dann hörte auch das Schnarchen auf, und alles war still.

Doch es schien, als wären Herrn Massy plötzlich Zweifel darüber gekommen, daß der Schlaf ein Mittel gegen den Kummer eines Menschen ist; vielleicht hatte er auch die Erlösung, die er wünschte, in ruhiger Überlegung gefunden, in dem Gedanken an Reichtum, an einen Glückszufall, lange Muße und sonst noch manches Erfreuliche, das ihm die Phantasie vorgaukelte; denn er wandte sich, hielt mit den Armen den Kojenpfosten umschlungen und sah, mit beiden Füßen auf seiner alten Lieblingsjacke stehend, durch die Stückpforte in die Nacht über dem Fluß hinaus. Ab und zu schlug ihm ein Windhauch ins Gesicht, ein kühler Hauch, der die feuchte Frische einer großen Wassermenge mit sich führte. Ein Glitzern da und dort war alles, was er von dieser sehen konnte; und einmal hätte er glauben können, geschlafen zu haben, denn plötzlich erschien, unerwartet und ohne Verbindung mit einem Traum, vor seinen Augen eine Reihe flammender, ungeheurer Zahlen – drei, null, sieben, eins, zwei – die eine Nummer bildeten, wie man sie auf Lotterielosen findet. Und dann war auf einmal die Stückpforte nicht länger schwarz. Sie war perlgrau, und in ihrem Rahmen erschien ein Ufer, dicht mit Häusern bestanden, ein Blätterdach neben dem andern, Wände aus Grasmatten und Bambus, Giebel aus geschnitztem Teakholz. Lange Reihen von Hütten auf einem Wald von Pfählen faßten das Stahlband des Flusses ein, der gestaut und ruhig vor dem Ablaufen des Stromes dalag. Das war Batu-Beru – und der Tag war angebrochen.

Herr Massy schüttelte sich, zog die Zwilchjacke an und schrieb heftig erschauernd, wie unter einer mächtigen Erschütterung, die Nummer auf. Ein glücklicher, ganz seltener Fingerzeig das. Jawohl. Aber um das Glück zu zwingen, brauchte man Geld – bares Geld.

Dann ging er hinauf und machte sich fertig, in den Maschinenraum hinunterzugehen. Verschiedene Kleinigkeiten waren nachzusehen, und Jack lag stockbetrunken auf dem Boden seiner Kajüte, noch dazu hinter verschlossener Tür. Es würgte ihn in der Kehle bei dem Gedanken an die Arbeit. Ach ja! Aber wenn man nichts arbeiten wollte, dann mußte man zuerst ein schönes Stück Geld haben. Ein Schiff konnte einem nicht helfen. Er verfluchte die Sofala. Wahr, alles wahr. Er war es müde, auf einen Zufall zu warten, der ihn schließlich von diesem Schiff befreien sollte, dem Fluch seines Lebens.

 


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