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Mit einem kurzen Kopfnicken für uns beide und einem ernsten, freundlichen Blick für den jungen Mann verließ uns Fräulein Haldin. Wir setzten die Hüte wieder auf und sahen ihrer aufrechten, geschmeidigen Gestalt nach, die sich rasch entfernte. Ihr Gang war nicht das unsichere Gleiten, mit dem manche Frauen geziert tun, sondern ein freies, gesundes und kräftiges Vorwärtsschreiten. Die Entfernung zwischen uns vergrößerte sich schnell. Schließlich entschwand sie unserem Blick. Erst da bemerkte ich, daß Herr Rasumoff den Hut wieder tief ins Gesicht gezogen hatte und mich von Kopf bis zu Fuß musterte. Ich kann wohl sagen, daß ich für diesen jungen Russen eine recht unerwartete Erscheinung sein mußte. In seinem Gesicht, in seiner ganzen Haltung glaubte ich einen Ausdruck wahrzunehmen, der mir aus Neugier und Verachtung gemischt schien, durch Mißtrauen gedämpft – als hätte er den Atem angehalten, während ich weggesehen hatte. Seine Augen begegneten aber den meinen fest genug. Ich sah dabei zum erstenmal, daß sie von hellem Braun und von dicken schwarzen Wimpern eingefaßt waren. Sie waren das Jüngste in seinem Gesicht. Durchaus nicht unangenehme Augen. Er stand auf seinen Stock gelehnt und schwankte leicht, als gäbe er dem Wind nach. Mir wurde es plötzlich klar, daß Fräulein Haldin eine bestimmte Absicht gehabt hatte, als sie uns beide allein ließ – daß mir eine Aufgabe anvertraut worden war, da ich durch einen Zufall eben bei der Hand gewesen war. Daher bemühte ich mich, mich so liebenswürdig wie möglich zu zeigen. Ich suchte nach irgendeiner passenden Einleitung und fand mit einemmal in Fräulein Haldins letzten Worten den Schlüssel zur Lösung meiner Aufgabe.
»Nein«, sagte ich ernst, wenn auch mit einem Lächeln, »man kann nicht von Ihnen erwarten, daß Sie verstehen.«
Seine glattrasierten Lippen zuckten ein wenig, bevor er mit unterdrücktem Spott antwortete:
»Aber haben Sie nicht eben gehört? Die junge Dame hat mir dafür gedankt, daß ich sie so gut verstanden habe.«
Ich sah ihn scharf an. Lag in dieser Antwort ein verborgener und unerklärlicher Hohn? Nein, das war es nicht. Es hätte Verdruß sein können. Aber was hätte ihn verdrießen sollen? Er sah aus, als habe er in der letzten Zeit nicht gut geschlafen. Ich konnte fast körperlich fühlen, wie sein müder, unbeweglicher Blick auf mir lastete, der Blick eines Menschen, der regungslos im Dunkeln liegt, ganz und gar in quälenden Gedanken befangen. Ich wußte ja jetzt, wie recht ich damit hatte, und kann nur ehrlich versichern, daß das wirklich mein erster Eindruck von ihm war. Sein Blick war aus irgendeinem unbestimmten Grunde unangenehm. Jetzt allerdings, während ich dies niederschreibe und alles weiß, könnte ich leicht eine Erklärung dafür finden, damals aber, als ich gar nichts wußte, war dies mein Eindruck. Ich versuchte die leichte Verlegenheit, in die er mich versetzte, dadurch zu vertreiben, daß ich einen halb vertraulichen Plauderton anschlug.
»Dieses ganz reizende und durchaus bewundernswerte junge Mädchen (ich bin, wie Sie ja sehen, alt genug, um in meinen Ausdrücken offenherzig sein zu können), dieses junge Mädchen also hat nur aus ihrem eigenen Gefühl heraus gesprochen. Sie haben das ja sicherlich erfaßt?«
Er machte eine so unvermittelte Bewegung, daß er fast schwankte:
»Müssen das verstehen! Können das nicht verstehen! Ich kann doch wohl anderes zu tun haben? Und das Mädchen ist reizend und bewundernswert. Gut – und wenn schon! Ich denke doch, daß ich das auch allein sehen kann?«
Dieser Ausbruch wäre beleidigend gewesen, wenn seine Stimme nicht erstickt geklungen hätte; so merkte ich zu sehr die peinliche Anstrengung, die ihm das Sprechen verursachte, als daß ich hätte beleidigt sein können.
Ich schwieg und schwankte zwischen der offensichtlichen Tatsache und meiner feineren Empfindung. Es stand mir frei, ihn auf dem Fleck zu verlassen; doch hielt mich das Bewußtsein zurück, daß mich Fräulein Haldin mit ihrem Abschiedsblick mit einer Aufgabe betraut hatte. Nach einer kurzen Überlegung sagte ich:
»Wollen wir ein paar Schritte zusammen gehen?«
Er zuckte so heftig mit den Schultern, daß er wieder taumelte. Wir begannen zu gehen, und er blieb ein wenig zurück, so daß ich ihn eigentlich nicht sehen konnte, wenn ich nicht den Kopf zurückwandte. Ich wollte ihm durch irgendein Zeichen von Neugier nicht weiter reizen, weil ich mir sagte, daß gerade Neugier diesem jungen Menschen doppelt peinlich sein mußte, der eben erst seinem von politischen Leidenschaften durchwühlten Vaterland entflohen war. Ich wollte ihn nicht durch ausgesprochene Neugier weiter reizen. Das mußte diesem jungen und verschlossenen Mann widerwärtig sein, der eben erst den höllischen Schatten entronnen war, die das tragische und gütige Gesicht seines Landes verhüllten. Dieser Schatten streckte sich quer durch Europa, begleitete alle seine Landsleute und lag auch über ihm und schien sein Gesicht zu verdunkeln. »Zweifellos«, sagte ich mir, »ist er ein Fanatiker, vielleicht sogar ein verzweifelter Revolutionär; aber er ist jung, vielleicht ist er selbstlos und menschlich, des Mitleids fähig ... «
Ich hörte, wie er sich geräuschvoll räusperte, und wurde sofort ganz Ohr.
»Das übersteigt alles«, waren seine ersten Worte. »Das übersteigt alles. Ich finde Sie da aus einem Grunde, den ich nicht verstehen kann, im Besitze von irgend etwas, das zu verstehen man von mir nicht erwarten kann! Ihr Vertrauter! Ein Ausländer! Spricht von einem staunenswerten russischen Mädchen! Ist dieses bewundernswerte Mädchen eine Närrin, möchte ich jetzt einmal wissen? Wo wollen Sie hinaus? Was für Absichten verfolgen Sie?«
Er konnte sich kaum verständlich machen. Seine Kehle schien ausgetrocknet wie ein Stück Zunder. Es klang so erbärmlich, daß ich durchaus keine Mühe hatte, meine Entrüstung niederzuhalten.
»Wenn Sie ein wenig länger gelebt haben werden, Herr Rasumoff, so werden Sie darauf kommen, daß keine Frau eine Närrin ist. Ich bin kein Feminist wie der berühmte Autor da, Peter Iwanowitsch, den ich übrigens, um die Wahrheit zu sagen, stark im Verdacht habe ... «
Er unterbrach mich mit einem erstaunten Flüstern, das mich förmlich erschreckte.
»Im Verdacht? Sie haben Peter Iwanowitsch im Verdacht? Sie!«
»Ja, in gewisser Hinsicht«, versuchte ich meine Bemerkung abzuschwächen. »Wie ich schon gesagt habe, Herr Rasumoff, wenn Sie lange genug gelebt haben, dann werden Sie unterscheiden lernen zwischen dem vornehmen Zutrauen einer Natur, der alles Niedrige fremd ist, und der geschmeichelten Leichtgläubigkeit mancher Frauen, obwohl auch die Leichtgläubigen, so dumm sie auch sein mögen und so unglücklich sie sicher sind, doch niemals Närrinnen sind. Es ist mein fester Glaube, daß keine Frau je völlig enttäuscht werden kann. Die Verlorenen unter ihnen sind mit offenen Augen in den Abgrund gesprungen; man weiß nur nicht alle Begleitumstände.«
»Meiner Seele«, rief er aus, »was geht es mich an, ob Weiber närrisch sind oder verrückt? Es ist wirklich ganz gleich, wie Sie darüber denken! Ich, ich interessiere mich nicht für sie. Ich lasse sie sein. Ich bin kein Romanheld. Woher wissen Sie, daß ich irgend etwas über Frauen lernen will? ... Was soll das alles?«
»Sie meinen den Zweck dieser Unterredung, zu der ich Sie allerdings gewissermaßen gezwungen habe?«
»Gezwungen! Zweck!« wiederholte er und hielt sich andauernd einen kleinen Schritt hinter mir. »Sie wollten augenscheinlich über Frauen reden. Das ist ein Thema. Aber mir liegt nichts daran. Ich habe nie … tatsächlich, ich hätte über andere Themen nachzudenken.«
»Hier handelte es sich nur um eine einzige Frau, ein junges Mädchen – die Schwester Ihres toten Freundes –, Fräulein Haldin. Sie könnten doch wirklich etwas über sie nachdenken. Was ich zuerst sagen wollte, war, daß hier eine Situation vorliegt, die zu verstehen man von Ihnen nicht erwarten kann.«
Ich hörte ein paar Augenblicke seinen unsicheren Schritten zu.
»Ich denke mir, daß es eine nützliche Vorbereitung für Ihr nächstes Zusammentreffen mit Fräulein Haldin sein könnte, wenn ich Ihnen davon spreche. Ich glaube, sie selbst hat irgend etwas Derartiges beabsichtigt, als sie uns allein ließ. Ich halte mich für ermächtigt, zu sprechen. Die eigentümliche Lage, die ich schon erwähnt habe, hat sich aus dem ersten Kummer und Schmerz über Viktor Haldins Hinrichtung ergeben. Die Begleitumstände seiner Verhaftung waren irgendwie eigenartig. Sie wissen ganz zweifellos die volle Wahrheit ... «
Ich fühlte mich oberhalb des Ellbogens am Arm gepackt und im nächsten Augenblick herumgerissen, so daß ich Herrn Rasumoff ins Gesicht sah.
»Sie springen da vor mir aus dem Boden heraus mit solchem Gerede. Wer zum Teufel sind Sie? Das ist ja unerträglich! Warum? Wozu? Was wissen denn Sie, was eigenartig ist und was nicht? Was haben denn Sie sich um irgendwelche verdammten Begleitumstände zu kümmern oder überhaupt um irgend etwas, was in Rußland vorgeht?«
Er stützte sich mit der anderen Hand schwer auf seinen Stock, und als er meinen Arm losließ, da hatte ich das Gefühl, daß er kaum imstande sei, sich auf den Füßen zu halten.
»Setzen wir uns an irgendeinen der freien Tische hier«, schlug ich vor, mit dem Versuch, diesen unerwarteten, heftigen Gefühlsausbruch zu übersehen. Ich muß gestehen, daß er mich nicht unberührt gelassen hatte. Der Mann tat mir leid.
»Was für Tische? Wovon sprechen Sie? Oh – die freien Tische? Die Tische da? Gewiß. Ich will mich an einen der freien Tische setzen.«
Ich führte ihn vom Wege weg mitten in das Gewimmel der Tische vor dem Gartenrestaurant. Das Schweizer Liebespaar war weggegangen. Wir saßen allein zwischen dem Treibholz, sozusagen. Herr Rasumoff ließ sich in einen Stuhl fallen, warf seinen Stock zu Boden, stemmte die Ellbogen auf den Tisch, nahm die Kappe in die Hand und starrte mich hartnäckig und unverwandt an, während ich dem Kellner winkte und Bier bestellte. Ich konnte mich über diese stillschweigende Musterung nicht gut beschweren, weil ich ja wirklich sagen mußte, daß ich ihn etwas unvermittelt angefallen hatte – »aus dem Boden herausgesprungen war«, wie er es genannt hatte.
Während wir auf den Kellner warteten, erwähnte ich, daß ich in St. Petersburg geboren war und die russische Sprache schon als Kind erlernt hatte. An die Stadt erinnerte ich mich nicht, da ich sie als neunjähriger Junge endgültig verlassen hatte, in späteren Jahren aber hatte ich meine Bekanntschaft mit der Sprache erneuert. Er hörte mir zu, ohne auch nur die Augen im geringsten zu bewegen. Er mußte seine Stellung ändern, als das Bier kam; er stürzte das erste Glas hinunter und schien dadurch etwas aufgefrischt. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, kreuzte die Arme über der Brust und fuhr fort, mich unverhohlen anzustarren. Es fiel mir auf, daß sein glattrasiertes fast schwarzes Gesicht eigentlich recht beweglich schien, und die völlige Ausdruckslosigkeit war vielleicht nur eine erzwungene Gewohnheit, die für einen Revolutionär, einen Verschwörer, wohl am Platze schien, der ewig auf der Hut sein mußte, sich vor den zahllosen geheimen Spionen nicht zu verraten.
»Aber Sie sind doch ein Engländer – ein englischer Literaturprofessor«, murmelte er mit etwas freierer Stimme. »Ich habe von Ihnen gehört. Man hat mir erzählt, daß Sie schon jahrelang hier leben.«
»Ganz richtig. Mehr als zwanzig Jahre; und ich habe Fräulein Haldin bei ihren englischen Studien geholfen.«
»Sie haben englische Gedichte mit ihr gelesen«, sagte er, gänzlich unbeteiligt jetzt, förmlich ein anderer, ganz verschieden von dem Mann, der eben erst mit schweren und unsicheren Schritten neben mir hergegangen war.
»Jawohl, englische Dichter«, sagte ich. »Die Aufregung aber, von der ich sprach, wurde durch eine englische Zeitung verursacht.«
Er fuhr fort, mich anzustarren. Ich glaube, er wußte nichts davon, daß die Geschichte der mitternächtlichen Verhaftung von einem englischen Journalisten herausgebracht und der Welt bekanntgegeben worden war. Als ich ihm das erklärte, murmelte er verächtlich: »Das kann ebenso gut alles erlogen sein.«
»Ich sollte meinen, daß Sie selbst darüber am besten urteilen können«, gab ich leicht verwirrt zurück. »Ich muß gestehen, daß es mir in der Hauptsache wahr scheint.«
»Wie wollen Sie Lüge und Wahrheit auseinander halten?« fragte er in seiner neuen ausdruckslosen Art.
»Ich weiß nicht, wie Sie das in Rußland tun«, hob ich an, durch sein Benehmen etwas verärgert. Er unterbrach mich.
»In Rußland und überhaupt überall – in einer Zeitung zum Beispiel; die Farbe der Druckerschwärze und die Form der Buchstaben sind überall die gleichen.«
»Es gibt aber doch auch andere Anzeichen, nach denen man sich richten kann, der ganze Ton der Notiz, die allgemeine Wahrscheinlichkeit der Tatsache, die Überlegung des Beweggrundes und so weiter. Ich vertraue der Genauigkeit eines Spezialkorrespondenten nicht blindlings – aber warum hätte der eine sich die Mühe nehmen sollen, einen bis ins einzelne gehenden Bericht über Tatsachen zu erfinden, die für die Welt ohne Interesse waren?«
»Da haben wir's ja,«, brummte er, »was mit uns geschieht, ist ohne Interesse – eine kurze Sensation, um die Zeitungsleute zu unterhalten –, und dieses Europa, das mit souveräner Verachtung auf uns herabblickt. Es ist ekelhaft, nur daran zu denken. Aber warten Sie ein wenig zu.« Nach dieser Art von Drohung an Westeuropa verstummte er. Ich gab mir den Anschein, als bemerkte ich den Ärger in seinem Blick nicht, und betonte, daß es – ob der Journalist nun gut oder schlecht unterrichtet war – für die Freunde der beiden Damen nur auf die Wirkung ankomme, die die wenigen Druckzeilen hervorgerufen hätten – auf die Wirkung allein; und er sei doch sicher zu diesen Freunden zu zählen – schon mit Rücksicht auf seinen alten Kameraden und treuen Kampfgefährten. In diesem Augenblick hatte ich den Eindruck, als wollte er heftig losbrechen; er verblüffte mich aber nur durch ein konvulsivisches Zusammenzucken des ganzen Körpers. Dann beruhigte er sich, kreuzte die Arme fester über der Brust und setzte sich zurück, mit einem Lächeln, in dem eine leichte Andeutung von Verachtung und Bosheit lag.
»Jawohl, ein Kamerad und treuer … ganz recht«, sagte er.
»Ich wagte es, Sie daraufhin anzureden, und ich kann mich nicht irren. Ich war gegenwärtig, als Peter Iwanowitsch Ihre Ankunft hier Fräulein Haldin anzeigte, und ich sah ihre Freude und Dankbarkeit, als Ihr Name genannt wurde. Später zeigte sie mir den Brief ihres Bruders und las mir die wenigen Worte vor, in denen er von Ihnen spricht. Was hätten Sie ihm sein können, wenn nicht ein Freund?«
»Ganz natürlich. Das ist allgemein bekannt, ein Freund, ganz recht ... fahren Sie fort. Sie sprachen von irgendeiner Wirkung.«
Ich sagte mir selbst: »Er kehrt die Unempfindlichkeit eines überzeugten Revolutionärs heraus, eines Menschen, der sich einer zerstörenden Idee verschrieben und die landläufigen Empfindungen abgeschworen hat ... Er ist jung, und seine Aufrichtigkeit zwingt ihn zur Pose vor einem Fremden, einem Ausländer, einem alten Mann. Jugend muß sich selbst bestätigen ... «
So kurz ich konnte, setzte ich ihm den Geisteszustand auseinander, in den die arme Frau Haldin durch die Nachricht von ihres Sohnes frühzeitigem Ende geraten war.
Er hörte – das fühlte ich – mit reger Aufmerksamkeit zu. Sein starrer Blick senkte sich langsam, verließ mein Gesicht und blieb schließlich auf dem Boden vor seinen Füßen haften.
»Sie können sich die Gefühle der Schwester vorstellen. Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich nur ein wenig Englisch mit ihr gelesen und möchte mich in Ihren Augen nicht durch den Versuch lächerlich machen, von ihr zu sprechen. Aber Sie haben sie gesehen. Sie ist eines der seltenen menschlichen Geschöpfe, bei denen nichts zu erklären ist. So denke ich wenigstens. Die beiden Frauen hatten nur diesen Sohn, diesen Bruder, als Bindeglied mit der weiteren Welt, mit der Zukunft. Natalie hat in ihm die Grundlage für jedes tätige Leben verloren. Können Sie sich da wundern, daß sie sich mit dem regsten Interesse dem einzigen Mann zuwendet, den ihr Bruder in seinen Briefen erwähnt hat? Ihr Name ist eine Art Vermächtnis.«
»Was kann er von mir geschrieben haben?« rief er halblaut und wie verzweifelt.
»Nur ein paar Worte. Es kommt nicht mir zu, Herr Rasumoff, sie Ihnen zu wiederholen; aber glauben Sie meiner Versicherung, daß diese Worte eindrucksvoll genug sind, sowohl seine Mutter wie seine Schwester dazu zu bestimmen, daß sie blindlings der Schärfe Ihres Urteiles vertrauen und der Wahrheit vor allem, was Sie ihnen zu sagen haben könnten; es ist für Sie einfach unmöglich, an den beiden fremd vorüberzugehen.«
Ich unterbrach mich und lauschte eine Zeitlang den Schritten der wenigen Leute, die in der breiten Hauptallee auf und ab gingen. Während ich sprach, war sein Kopf auf die Brust und auf die gekreuzten Arme herabgesunken. Nun fuhr er auf.
»Muß ich also wirklich hingehen und der alten Frau etwas vorlügen?«
Es war kein Ärger; es war etwas anderes, Packenderes, das nicht so einfach zu erklären war. Ich erfaßte das rein gefühlsmäßig, während ich ziemlich aufgeregt seinen Ausruf zu deuten versuchte.
»Lieber Gott, würde denn die Wahrheit nicht ausreichen? Ich hoffte, Sie würden ihnen etwas Tröstliches zu sagen haben. Ich denke jetzt an die arme Mutter. Euer Rußland ist ein grausames Land.«
Er rückte ein wenig in seinem Stuhl.
»Ja«, wiederholte ich, »ich dachte, Sie würden irgend etwas Authentisches zu erzählen haben.«
Es war befremdend zu sehen, wie seine Lippen zuckten, bevor er sprach.
»Wie nun, wenn es nicht wert ist, erzählt zu werden?«
»Nicht wert – von welchem Gesichtspunkt aus? Ich verstehe Sie nicht.«
»Von jedem Gesichtspunkt aus.«
Ich entgegnete etwas hart: »Ich sollte denken, daß alles, was die Einzelheiten dieser mitternächtlichen Verhaftung aufklären könnte ... «
»Die ein Journalist zur Unterhaltung des zivilisierten Europas aufgetischt hat«, unterbrach er mich verächtlich.
»Gut, aufgetischt ... aber sind sie nicht wahr? Ich kann mir Ihr Benehmen nicht deuten. Entweder der Mann ist ein Held für Sie, oder ... «
Er brachte sein Gesicht mit weit aufgerissenen Nüstern plötzlich so nahe an das meine, daß ich mich sehr zusammennehmen mußte, um nicht zurückzuprallen.
»Sie fragen mich! Ich stelle mir vor, daß Ihnen das alles Spaß macht. Sehen Sie her! Ich bin ein Arbeitsmensch. Ich studierte. Jawohl, ich studierte sehr viel. Da sitzt Verstand, da drinnen.« (Dabei klopfte er sich mit dem Finger an die Stirn.) »Glauben Sie denn nicht, daß auch ein Russe einen gesunden Ehrgeiz haben kann? Jawohl, ich hatte sogar Aussichten – gewiß! Ich hatte welche. Und nun sehen Sie mich hier im Ausland; alles verloren, vorbei, geopfert. Sie sehen mich hier – und fragen! Sie sehen mich doch – oder nicht? Wie ich hier vor Ihnen sitze?«
Er warf sich heftig zurück. Ich versuchte, äußerlich ruhig zu bleiben.
»Jawohl, ich sehe Sie hier; und stelle mir vor, daß Sie der Haldinaffäre wegen hier sind.«
Er änderte seine Haltung.
»Sie nennen das die Haldinaffäre – was?« bemerkte er gleichgültig.
»Ich habe kein Recht, Sie irgend etwas zu fragen«, sagte ich., »das würde ich mir nie anmaßen. In diesem Fall aber können Ihnen die Mutter und die Schwester des Mannes, der in Ihren Augen ein Held sein muß, nicht gleichgültig sein. Das Mädchen ist ein offenherziges und großmütiges Geschöpf, das die edelsten – nun gut – Illusionen hat. Sie müssen ihr alles sagen, oder Sie dürfen ihr nichts sagen. Aber kommen wir nun zu der Frage, derentwegen ich Sie aufgehalten habe – zu allererst haben wir es mit dem krankhaften Zustand der Mutter zu tun. Vielleicht könnte man mit Hilfe Ihrer Autorität irgend etwas erfinden, um diese in ihrer Mutterliebe schwer leidende Seele zu heilen.«
Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Ausdruck müder Gleichgültigkeit, den er zur Schau trug, erkünstelt sei.
»O ja, vielleicht könnte man«, murmelte er nachlässig.
Er führte die Hand zum Munde, um ein Gähnen zu verbergen. Als er sie wieder wegzog, lag ein leises Lächeln auf seinen Lippen.
»Verzeihen Sie mir, das war eine lange Unterredung, und ich habe in den letzten zwei Nächten nicht viel geschlafen.«
Diese unerwartete und etwas verschämte Entschuldigung hatte nur den einen Vorzug, völlig wahr zu sein. Er hatte tatsächlich keine Nachtruhe mehr gefunden seit dem Tage, an dem er der Schwester von Viktor Haldin im Park des Château Borel gegenübergetreten war. Die Ängste und vielfachen Schrecken der Schlaflosigkeit sind in dem Dokument aufgezeichnet, das mir später vor Augen kommen sollte und das die Hauptquelle dieser Erzählung bildet. Im Augenblick sah er unsagbar müde aus, ganz schlaff, wie ein Mann, der irgendeine Krise durchgemacht hat.
»Ich hatte eine Menge wichtiger Dinge zu schreiben«, fügte er hinzu.
Ich stand sofort auf, und er folgte meinem Beispiel, ohne Hast und ein wenig schwerfällig.
»Ich muß mich entschuldigen, daß ich Sie so lange aufgehalten habe«, sagte ich.
»Warum entschuldigen? Man kann sich ja doch nicht gut vor Abend zu Bett legen. Und Sie haben mich nicht aufgehalten. Ich hätte Sie ja jederzeit verlassen können.«
Ich war nicht bei ihm geblieben, um mich nun irgendwie beleidigt zu zeigen.
»Es freut mich, daß ich Sie hinlänglich interessieren konnte«, sagte ich ruhig. »Das Verdienst liegt ja nicht bei mir, denn das alltäglichste Interesse für die Mutter Ihres Freundes mußte genügen … Was nun Fräulein Haldin selbst angeht, so neigte sie eine Zeitlang zu der Ansicht, daß ihr Bruder irgendwie an die Polizei verraten worden sei.«
Zu meiner größten Überraschung setzte sich Herr Rasumoff plötzlich wieder hin. Ich starrte ihn an und muß sagen, daß er meinen starren Blick ebenso lange Zeit zurückgab, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Irgendwie«, murmelte er, als hätte er nicht verstanden oder könnte seinen Ohren nicht trauen.
»Irgendein unvorhergesehenes Ereignis, ein blanker Zufall kann das bewirkt haben«, fuhr ich fort, »oder, wie sie sich mir gegenüber charakteristisch ausdrückte, die Narrheit oder Schwäche eines unglücklichen Mitverschworenen.«
»Narrheit oder Schwäche«, wiederholte er bitter.
»Sie ist wirklich großmütig«, bemerkte ich nach einer Pause. Der Mann, den Viktor Haldin so bewundert hatte, schlug den Blick nieder. Ich wandte mich und ging fort, augenscheinlich ohne von ihm bemerkt zu werden. Ich trug ihm die übellaunige Barschheit, mit der er mich behandelte, nicht nach. Das Gefühl, das ich von dieser Unterredung mitnahm, war das der Hoffnungslosigkeit. Bevor ich noch aus dem Bereich der Tische und Stühle herausgekommen war, hatte er mich schon eingeholt.
»Hm, ja«, hörte ich ihn wieder neben mir sagen. »Aber was glauben Sie?«
Ich sah mich nicht einmal um.
»Ich glaube, daß ihr Leute unter einem Fluch steht.«
Er gab keinen Laut. Erst als wir auf das Pflaster vor dem Tore gekommen waren, hörte ich ihn wieder.
»Ich möchte gern ein wenig mit Ihnen gehen.«
Alles in allem zog ich diesen rätselhaften jungen Mann seinem gefährlichen Landsmann, dem großen Peter Iwanowitsch, vor. Ich sah aber auch keinen Grund, besonders liebenswürdig zu sein.
»Ich gehe jetzt auf dem kürzesten Wege von hier aus nach dem Bahnhof, um einen Freund aus England zu treffen«, sagte ich, als ganze Antwort auf sein unerwartetes Anerbieten. Ich hoffte, daß er mir irgendeinen weiteren Aufschluß geben würde. Während wir auf dem Bürgersteig standen und auf eine Straßenbahn warteten, bemerkte er finster:
»Mir gefällt das, was Sie eben gesagt haben.«
»So?«
Wir traten zusammen auf den Fahrdamm hinaus.
»Das große Problem«, fuhr er fort, »ist, das Wesen dieses Fluches ganz zu erfassen.«
»Das ist gar nicht so schwer, glaube ich.«
»Das meine ich auch«, stimmte er mir bei, und diese Bereitwilligkeit, die merkwürdig genug schien, machte ihn nicht im geringsten weniger rätselhaft.
»Ein Fluch ist ein böser Zauber«, versuchte ich ihn von neuem, »und das wichtige, das große Problem ist es, die Mittel zu finden, ihn zu brechen.«
»Jawohl, die Mittel zu finden.«
Auch das war eine Zustimmung. Er schien aber dabei an etwas anderes zu denken. Wir hatten den offenen Platz vor dem Theater überquert und gingen nun eine breite, schwach beleuchtete Straße gegen eine der kleineren Brücken zu hinunter. Er hielt sich an meiner Seite, ohne längere Zeit hindurch ein Wort zu reden.
»Sie denken nicht daran, Genf rasch zu verlassen?« fragte ich.
Er schwieg so lange, daß ich zu fürchten begann, ich sei indiskret gewesen und würde überhaupt keine Antwort erhalten. Als ich ihn aber ansah, war ich wieder versucht zu glauben, daß meine Frage ihm etwas wie wirkliche Angst verursacht hätte. Ich merkte das daran, wie er heimlich und doch mit großer Kraft seine Hände arbeiten ließ. Schließlich aber hatte er sein endloses Zögern doch so weit überwunden, daß er mir erklären konnte, er habe keine derartige Absicht. Er wurde fast mitteilsam – wenigstens im Vergleich zu seiner früheren barschen Kurzangebundenheit. Auch der Ton war liebenswürdiger. Er erzählte mir, daß er die Absicht habe, zu studieren und auch zu schreiben. Er ging sogar so weit, mir zu sagen, daß er in Stuttgart gewesen sei. Stuttgart war, wie ich wußte, eine der revolutionären Zentralen. Das leitende Komitee einer der russischen Parteien (ich kann nur nicht sagen welcher) hatte in jener Stadt seinen Sitz. Dort war er mit der Tätigkeit der Revolutionäre außerhalb Rußlands in Fühlung getreten.
»Ich bin nie zuvor im Ausland gewesen«, erklärte er mit merkwürdig dumpfer Stimme. Nach einem leichten Zögern – das aber wesentlich verschieden war von der quälenden Unentschlossenheit, die meine erste einfache Frage, ob er in Genf zu bleiben gedächte, erweckt hatte – machte er mir ein unerwartetes Geständnis.
»Die Sache ist die, daß ich von den Leuten mit einer Art Mission betraut worden bin.«
»Die Sie hier in Genf aufhalten wird.«
»Jawohl, hier in dieser ekelhaften ... «
Ich freute mich meiner Fähigkeit, Tatsachen zusammenzuhalten, als ich den Schluß zog, daß die Mission irgend etwas mit der Person des großen Peter Iwanowitsch zu tun haben müsse. Ich behielt aber diese Vermutung natürlich für mich, und Herr Rasumoff sagte längere Zeit hindurch nichts weiter. Erst als wir fast auf der Brücke angekommen waren, stieß er unvermittelt hervor:
»Könnte ich den kostbaren Artikel irgendwo sehen?«
Ich mußte einen Augenblick nachdenken, bevor ich verstand, was er meinte.
»Er wurde zum Teil in der hiesigen Presse abgedruckt. Die Exemplare hängen an verschiedenen Stellen aus. Die Nummer der englischen Zeitung habe ich Fräulein Haldin gegeben, am Tage, nachdem ich sie bekommen hatte. Es hat mir weh genug getan, sie wochenlang auf einem Tisch neben dem Lehnstuhl der armen Mutter liegen zu sehen. Dann verschwand sie. Ich fühlte mich förmlich erlöst, kann ich Ihnen sagen.«
Er war kurz stehengeblieben.
»Ich hoffe«, fuhr ich fort, »daß Sie Zeit finden werden, die Damen recht oft zu sehen – daß Sie sich Zeit nehmen werden!«
Er stierte mich so merkwürdig an, daß ich kaum weiß, wie ich seinen Ausdruck beschreiben soll. Ich konnte es in diesem Zusammenhang durchaus nicht verstehen. Was hat er nur? fragte ich mich. Was für merkwürdige Gedanken gingen ihm durch den Kopf? Welche Vision all der Schrecken, die in jenem hoffnungslosen Land zu sehen sind, mochte sein überreiztes Hirn ihm plötzlich vorgespiegelt haben? War es irgend etwas, was mit dem Schicksal von Viktor Haldin zusammenhing? Dann hoffte ich aufrichtig, daß er es für immer für sich selbst behalten würde. Ich war, aufrichtig gesagt, so erschüttert, daß ich meine Bewegung zu verbergen versuchte, indem ich, Gott verzeihe mir, mich zu einem Lächeln und zu einem leicht scherzenden Ton zwang.
»Sicher«, rief ich aus, »wird Ihnen das nicht zu schwerfallen.«
Er wandte sich von mir ab und lehnte sich über die Brüstung der Brücke. Ich wartete einen Augenblick lang und sah auf seinen Rücken. Dabei fühlte ich aber wirklich keinen Wunsch, ihm nochmals ins Gesicht zu sehen. Er rührte sich nicht, er dachte nicht daran, sich zu rühren. Ich ging langsam meinen Weg zum Bahnhof weiter, und am Ende der Brücke sah ich über die Schulter zurück. Nein, er hatte sich nicht gerührt. Er lehnte sich leicht über die Brüstung, als fühlte er sich gebannt durch die lautlose Strömung des blauen Wassers unter dem Brückenbogen. Der Fluß fließt dort schnell, sehr schnell; manche Leute werden schwindlig vom Hinsehen. Ich selbst kann nicht längere Zeit hinuntersehen, ohne daß mich die Angst befällt, ich könnte von einer geheimen Kraft hinuntergerissen werden. Es gibt Gehirne, die der Suggestion unbezwinglicher Gewalt und unaufhaltsamer Bewegung nicht widerstehen können.
Augenscheinlich hatte es einen Reiz für Herrn Rasumoff. Ich verließ ihn, während er weit über das Brückengeländer hing. Die Art, wie er sich mir gegenüber benommen hatte, war nicht als bloße Flegelei aufzufassen. Es lag mehr unter seiner Geringschätzung und Ungeduld. Vielleicht, so dachte ich mit einer plötzlichen Annäherung an die verborgene Wahrheit, vielleicht war es derselbe Grund, der ihn mehr als eine Woche, fast zehn Tage, von Fräulein Haldin ferngehalten hatte. Was es aber war, konnte ich nicht sagen.