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Eines schönen Morgens, es ist jetzt mehr als drei Monate her, rittest Du mit Deinem Bruder, Miss Anstell, im Hyde Park. Es war ein heißer Tag und ihr hattet Euren Pferden erlaubt, in den Paßgang zu fallen. Als Ihr an dem Geländer zu rechter Hand nahe den östlichen Ausläufern des Sees im Park vorbeirittet, hast weder Du noch Dein Bruder eine Frau bemerkt, die auf dem Fußpfad herumstand und die Reiter beobachtete, als ihr vorbeigeritten seid.
Die einsame Frau war mein altes Kindermädchen, Nancy Connell. Und dies waren die Worte, die zwischen Dir und Deinem Bruder gewechselt wurden, so wie sie sie gehört hatte, als Ihr langsam an ihr vorbeirittet.
Dein Bruder sagte: »Ist es wahr, daß Mary Brading und ihr Ehemann nach Amerika gegangen sind?«
Du hast gelacht, als würde Dich diese Frage amüsieren und geantwortet: »Völlig wahr.«
»Wie lange werden sie weg sein?« fragte Dein Bruder als nächstes.
»So lange sie leben«, antwortetest Du mit einem weiteren Lachen.
Zu diesem Zeitpunkt wart Ihr außerhalb Nancy Connells Hörweite geritten. Sie gesteht, Euren Pferden ein paar Schritte gefolgt zu sein, um zu hören, was als nächstes gesagt wurde. Sie schaute besonders auf Deinen Bruder. Er schien Deine Antwort sehr ernst zu nehmen und schien völlig überrascht davon zu sein.
»England verlassen und sich in Amerika niederlassen!« rief er aus, »Warum sollten sie das tun?«
»Wer kann schon sagen, warum?« hast Du gefragt, »Mary Bradings Mann ist verrückt und Mary Brading selbst ist nicht viel besser.«
Du hast Deinem Pferd die Peitsche gegeben und einen Augenblick später warst Du und Dein Bruder außerhalb der Hörweite meines Kindermädchens. Sie schrieb mir und erzählte kürzlich in einem Brief, was ich Dir hier erzähle. Ich habe in meinen freien Stunden ernsthafter über diese letzten Worte von Dir nachgedacht, als Du vielleicht annehmen würdest. Das Ergebnis von alledem ist, daß ich meine Feder nehme, um Dir zugunsten meines Mannes und mir die Geschichte unserer Heirat und den Grund für unsere Auswanderung in die Vereinigten Staaten zu erzählen.
Es spielt für mich oder ihn kaum oder gar keine Rolle, ob uns unsere Freunde in England für verrückt halten oder nicht. Ihre Meinungen, seien sie feindselig oder wohlgesinnt, sind für uns von keiner besonderen Bedeutung. Aber Du bist eine Ausnahme von der Regel. In vergangenen Schultagen waren wir treue und gute Freunde; und – was für mich sogar mehr als das ausschlaggebend ist – Du wurdest von meiner seligen Mutter innig geliebt und bewundert. Sie sprach auf ihrem Totenbett zärtlich von Dir. Verschiedene Ereignisse haben uns in den letzten Jahren getrennt. Aber ich kann die alten Zeiten nicht vergessen; und ich kann nicht gleichgültig gegen Deine Meinung von mir und meinem Ehemann sein, obwohl ein Ozean uns trennt und obwohl es nicht sehr wahrscheinlich ist, daß wir je den anderen wieder sehen werden. Ich wage zu sagen, daß es sehr töricht von mir ist, das, was Du in einem Deiner gedankenlosen Momente sagtest, von Herzen ernst zu nehmen. Ich kann nur als Entschuldigung anführen, daß ich durch sehr viel Elend gegangen bin, und daß ich immer (wie Du Dich erinnern wirst) eine Person von empfindlichem Temperament gewesen bin, die leicht aufgeregt und leicht niedergeschlagen war.
Genug davon. Tu mir den letzten Gefallen, um den ich Dich je bitten werde. Lies, was nun folgt und urteile selber, ob mein Ehemann und ich wirklich so verrückt sind, wie Du bereit warst, zu glauben, als Nancy Connell Dich mit Deinem Bruder im Hyde Park sprechen hörte.
Es ist nun mehr als ein Jahr her, als ich mit meinem Vater und meinem Bruder nach Eastbourne, das an der Küste von Sussex liegt, ging.
Mein Bruder war damals wieder, wie wir hofften, von den Auswirkungen eines Sturzes beim Jagen genesen. Er beklagte sich dennoch über einen Schmerz in seinem Kopf; und die Ärzte rieten uns, es mit etwas Seeluft zu versuchen. Wir zogen nach Eastbourne, ohne einen Verdacht zu hegen, von welch ernster Art die Verletzung war, die er davongetragen hatte. Ein paar Tage lang ging alles gut. Wir mochten den Ort; die Luft tat uns gut und wir beschlossen, unseren Aufenthalt auf die kommenden Wochen auszudehnen.
An unserem sechsten Tag an der See – ein denkwürdiger Tag für mich aus Gründen, die Du noch hören wirst – beklagte sich mein Bruder wieder über den alten Schmerz in seinem Kopf. Er und ich gingen zusammen weg, um herauszufinden, was für Bewegungen nötig sein würden, um seine Schmerzen zu lindern. Wir spazierten durch die Stadt bis zu dem Fort am einen Ende derselben und folgten sodann einem Fußpfad, der an der Meeresküste entlanglief, über eine triste Wüste aus Strandkies, die landeinwärts durch die Straße nach Hastings und jenseits davon vom sumpfigen Umland begrenzt war.
Wir hatten das Fort in einiger Entfernung hinter uns gelassen. Ich ging voraus und James folgte mir. Er sprach so leise wie gewöhnlich, als er plötzlich mitten im Satz anhielt. Ich drehte mich überrascht um und entdeckte, daß mein Bruder mit schrecklichen Krämpfen auf dem Pfad lag.
Es war der erste epileptische Anfall, dessen Zeuge ich gewesen war. Meine Geistesanwesenheit verließ mich völlig. Ich konnte nur noch meine Hände in Entsetzen ringen und um Hilfe schreien. Niemand erschien. Weder aus der Richtung des Forts noch der Hauptstraße. Ich war zu weit weg, nehme ich an, um mich hörbar zu machen. Als ich vor mir den Pfad entlangsah, erkannte ich zu meiner unendlichen Erleichterung eine männliche Person, die mir entgegenrannte. Als er näher kam, sah ich, daß er unverkennbar ein Gentleman war – jung und übereifrig, mir zu helfen.
»Bitte beruhigen Sie sich doch«, sagte er, nachdem er meinen Bruder gesehen hatte, »Es ist sehr schrecklich mitanzusehen, aber es ist nicht gefährlich. Wir müssen warten, bis die Krämpfe vorbei sind, dann kann ich Ihnen helfen.«
Er schien so viel davon zu wissen, daß ich dachte, er wäre ein Amtsarzt. Ich stellte ihm schlicht diese Frage.
Er errötete und schaute etwas verlegen.
»Ich bin kein Doktor«, sagte er, »ich habe Personen gesehen, die mit Epilepsie belastet sind und ich habe Ärzte gehört, die sagten, daß es nutzlos ist, sich einzumischen, bevor der Anfall vorbei ist. Sehen Sie!« fügte er hinzu. »Ihr Bruder ist schon leiser geworden. Er wird bald ein Gefühl der Erleichterung verspüren, was ihn mehr als entschädigen wird für das, was er durchgemacht hat. Ich werde ihm helfen, ins Fort zu kommen und sobald wir da sind, können wir nach einer Kutsche schicken, um ihn nach Hause zu bringen.«
Fünf Minuten später waren wir auf dem Weg zum Fort. Der Fremde stützte meinen Bruder so bedacht und sanft, als wäre er ein alter Freund gewesen. Als uns die Kutsche erreicht hatte, bestand er darauf, uns bis zu unserer Haustür zu begleiten für den Fall, daß seine Dienste uns noch nützen konnten. Er verließ uns, wobei er um Erlaubnis fragte, anzurufen und sich am nächsten Tag nach James Befinden erkundigen zu dürfen. Eine anständigere, vornehmere und bescheidenere Person habe ich nie getroffen. Er weckte nicht nur meine wärmste Dankbarkeit; ich interessierte mich für ihn schon bei unserem ersten Treffen.
Ich hebe den Eindruck, den dieser junge Mann auf mich machte, hervor- warum, wirst Du bald herausfinden.
Am nächsten Tag machte der Fremde seinen versprochenen Besuch und erkundigte sich nach meinem Bruder. Seine Karte, die er nach oben schickte, setzte uns davon in Kenntnis, daß sein Name Roland Cameron war. Mein Vater, der nicht leicht zu erfreuen ist, faßte sofort eine Zuneigung zu ihm. Sein Besuch wurde auf unsere Bitte hin ausgedehnt. Er sagte gerade genug, um uns davon zu überzeugen, daß wir eine Person empfingen, die mindestens den gleichen Rang wie wir besaß. Er war in eine schottischen Familie in England geboren worden und hatte beide Eltern verloren. Es war nicht lange her, daß er ein Vermögen von einem seiner Onkel geerbt hatte. Es erschien uns etwas seltsam, daß er von seinem Vermögen mit einer deutlichen Änderung der Stimme und seines Verhaltens sprach. Das Thema war für ihn offensichtlich aus irgendwelchen unbegreiflichen Gründen ekelerregend. Obwohl er reich war, räumte er ein, ein einfaches und einsames Leben zu führen. Er fand wenig Gefallen an Gesellschaft und hatte keine Vorlieben wie die anderen jungen Männer seines Alters. Aber er hatte seine eigenen unschuldigen Vergnügen und Beschäftigungen; und nicht zuletzt hatten ihn Kummer und Leid gelehrt, nicht zu viel vom Leben zu erwarten. Dies alles sprach er bescheiden mit einem gewinnenden Charme in seinem Blick und seiner Stimme, der mich unbeschreiblich anzog. Seine persönliche Erscheinung halfen dem günstigen Eindruck, den sein Verhalten und seine Redeweise auf mich machten. Er war von mittlerer Größe, leicht und stark gebaut, sein Teint blaß; seine Hände und Füße waren klein und zart geformt; sein natürliches braunes, gelocktes Haar, seine dunklen und großen Augen mit einer gelegentlichen Unentschlossenheit in ihrem Ausdruck, welche meiner Ansicht nach weit davon entfernt war, ein Bedenken für sie zu sein. Sie schien mit einer gelegentlichen Unentschlossenheit in seinen Worten zu harmonieren; während er fortfuhr, war ich geneigt, eine vorübergehende Unentschlossenheit in seinen Gedanken zu erkennen, deren Überwindung ihn immer eine kleine Anstrengung kostete. Überrascht es Dich zu hören, wie genau ich einen Mann beobachte, der nach unserem ersten Gespräch nur eine zufällige Bekanntschaft war? Oder erleuchtet Dich Dein Argwohn und Du sagst Dir, Sie hat sich in Mr. Roland Cameron auf den ersten Blick verliebt? Ich kann zu meiner eigenen Verteidigung sagen, daß ich nicht romantisch genug war, um so weit zu gehen. Aber ich gestehe, daß ich auf seinen nächsten Besuch mit einer Ungeduld wartete, die meines Wissens neu für mein nüchternes Selbst war. Und, was noch schlimmer ist: Als der Tag kam, wechselte ich meine Kleider dreimal, bevor meine neuentwickelte Eitelkeit mit dem Bild zufrieden war, das der Spiegel von mir zeigte.
Vierzehn Tage später begannen mein Vater und mein Bruder die tägliche Gesellschaft unseres neuen Freundes als eine alte Gewohnheit in ihrem Leben zu betrachten. Weitere zwei Wochen später waren Mr. Cameron und ich- obwohl keiner von uns wagte, es einzugestehen – so hingebungsvoll ineinander verliebt, wie es junge Menschen nur sein konnten. Ach, was für eine herrliche Zeit! und wie grausam unser Glück bald ein Ende fand!
Während der kurzen Zeit, die ich hier beschrieben habe, beobachtete ich gewisse Eigenheiten in Roland Camerons Verhalten, welche mich verblüfften und beunruhigten, sobald ich mich in meinen Gedanken mit ihm beschäftigte, wenn ich allein war.
Zum Beispiel verfiel er in seltsames Schweigen, wenn er und ich miteinander sprachen. Während dieser Momente nahmen seine Augen einen müden, abwesenden Blick ein, und seine Gedanken schienen wegzuwandern – weit von der Unterhaltung, weit von mir. Er war sich seiner eigenen Krankheit absolut nicht bewußt, er fiel unbewußt in sie und kam unbewußt aus ihr heraus. Wenn ich ihm gegenüber bemerkte, daß er mir nicht zugehört hatte oder wenn ich ihn fragte, warum er still gewesen war, konnte er überhaupt nicht verstehen, was ich meinte: ich verwirrte und beunruhigte ihn. Was er in diesen Schweigepausen dachte, war mir unmöglich zu erraten. Sein Gesicht, das zu anderen Zeiten außergewöhnlich beweglich und ausdrucksvoll war, wurde fast zu einem vollkommenen Nichts. Litt er an einem fürchterlichen Schicksalsschlag in einer vergangenen Zeit seines Lebens und war sein Geist nie davon befreit worden? Ich sehnte mich danach, ihm die Frage zu stellen und schreckte davor zurück, ich hatte so erbärmliche Angst, ihn zu quälen; oder um es in schlichtere Worte zu kleiden, ich war so wahrhaftig und zärtlich in ihn verliebt.
Dann wiederum, obwohl er gewöhnlich, wie ich aufrichtig glaube, der liebenswürdigste und reizendste Mensch war, gab es Gelegenheiten, wenn er mich mit heftigen Gefühlsausbrüchen überraschte, erregt von den reinsten Kleinigkeiten. Ein Hund, der plötzlich dicht hinter ihm bellte, oder ein Junge, der Steine auf die Straße warf, oder ein aufdringlicher Ladenbesitzer, der versuchte, ihm etwas zu verkaufen, was er nicht wollte, warfen ihn in eine wilde Raserei, die, ohne zu übertreiben, wirklich furchtbar anzusehen war. Er entschuldigte sich immer für diese Ausbrüche, in Worten, die zeigten, daß er sich aufrichtig für seine eigene Heftigkeit schämte. Aber er war nie darin erfolgreich, sich zu kontrollieren. Die Ausbrüche in diese Leidenschaft ergriffen ebenso wie die Ausbrüche in Schweigen Besitz von ihm, und taten mit ihm fürs erste gerade, was sie wollten.
Noch ein weiteres Beispiel für Rolands Eigentümlichkeiten und ich bin fertig. Das Merkwürdige in seinem Verhalten wurden von meinem Vater und meinem Bruder in diesem Fall ebenso wie von mir bemerkt.
Wenn Roland abends bei uns war, egal ob er zum Dinner oder zum Tee kam, er verließ uns ausnahmslos um genau neun Uhr. Was wir auch versuchten, ihn zu überreden, länger zu bleiben, er lehnte immer höflich, aber bestimmt ab. Nicht einmal ich hatte in dieser Angelegenheit Einfluß auf ihn. Wenn ich ihn drängte, zu bleiben und obwohl es ihn Mühe kostete, zog er sich exakt zum neunten Glockenschlag zurück. Er nannte keinen Grund für dieses seltsame Verfahren; er sagte nur, daß es eine seiner Gewohnheiten war und bat uns, darin mit ihm nachsichtig zu sein, ohne daß wir nach einer Erklärung verlangten. Meinem Vater und meinem Bruder gelang es (als Männer), ihre Neugier zu kontrollieren. Mich für meinen Teil (als Frau) machte jeder Tag, der vorüberging, mehr und mehr begierig darauf, dieses Geheimnis zu durchdringen. Ich entschloß mich heimlich, eine Zeit zu wählen, wenn Roland in einer teilweise zugänglichen Stimmung war und ihn dann um die Erklärung zu bitten, die er bisher abgelehnt hatte zu geben – zum Zeichen einer besonderen Zuneigung zu mir.
Zwei Tage später hatte ich meine Gelegenheit.
Ein paar unserer Freunde, die sich uns in Eastbourne angeschlossen hatten, schlugen eine Picknickparty auf dem berühmten benachbarten Felsen namens Beachey Head vor. Wir nahmen die Einladung an. Der Tag war schön und das ländliche Dinner war wie gewöhnlich einem Dinner innerhalb des Hauses (in gewisser Hinsicht) unendlich vorzuziehen. Gegen Abend teilte sich unsere kleine Versammlung in Gruppen von zwei und drei Personen, um die Umgebung zu erkunden. Roland und ich fanden selbstverständlich zusammen. Wir waren glücklich und wir waren allein. War es die richtige oder die falsche Zeit, ihm die unheilvolle Frage zu stellen ? Ich kann es nicht entscheiden; ich weiß nur, daß ich sie stellte.
»Mr. Cameron«, sagte ich, »werden Sie auf eine schwache Frau Rücksicht nehmen und mir etwas erzählen, das ich schrecklich gern wissen würde?«
Er tappte geradewegs in die Falle mit dieser vollständigen Abwesenheit von Schlagfertigkeit oder von geringstem Argwohn (Ich überlasse es Dir, den richtigen Ausdruck zu wählen), die so oft männlich, und so selten weiblich ist.
»Natürlich werde ich das«, antwortete er.
»Dann erzählen Sie mir,« fuhr ich fort, »warum Sie immer darauf bestehen, uns um neun Uhr zu verlassen?«
Er erschrak und schaute mich so traurig und so vorwurfsvoll an, daß ich alles, was ich besaß, gegeben hätte, um die unbesonnen Worte zurückzurufen, die eben über meine Lippen gekommen waren.
»Wenn ich es Ihnen erzähle,« antwortete er, nachdem er einen Augenblick mit sich gekämpft hatte, »darf ich Ihnen zuerst eine Frage stellen, und werden Sie mir versprechen, sie zu beantworten?«
Ich gab ihm mein Versprechen und wartete gespannt darauf, was als nächstes kommen würde.
»Miss Brading«, sagte er, »seien Sie ehrlich, denken Sie, ich bin verrückt?«
Es war unmöglich, ihn auszulachen: er sprach diese seltsamen Worte ernst – finster möchte ich fast sagen.
»Kein solcher Gedanke ist mir jemals in den Sinn gekommen.«, antwortete ich.
Er sah mich sehr ernst an.
»Sie geben mir Ihr Ehrenwort darauf?«
»Mein Ehrenwort.«
Ich antwortete mit vollkommener Aufrichtigkeit und ich stellte ihn offensichtlich dahingehend zufrieden, daß ich die Wahrheit gesprochen hatte. Er nahm meine Hand und führte sie dankbar an seine Lippen.
»Danke,« sagte er einfach. »Sie ermutigen mich, Ihnen eine sehr traurige Geschichte zu erzählen.«
»Ihre eigene Geschichte?« fragte ich.
»Ja, meine eigene Geschichte. Lassen Sie mich damit beginnen, wieso ich darauf bestehe, Ihr Haus immer zur selben Zeit zu verlassen. Immer wenn ich ausgehe, bin ich an ein Versprechen zu der Person gebunden, mit der ich in Eastbourne zusammenlebe, und zwar um viertel nach neun zurückzukehren.«
»Die Person, mit der Sie zusammenleben?« wiederholte ich. »Sie leben in einer Herberge, nicht wahr?«
»Ich lebe, Miss Brading, unter der Fürsorge eines Doktors, der ein Heim für Geisteskranke führt. Er hat sich ein Haus für seine wohlhabenderen Patienten an der Küste gekauft; und er erlaubt mir tagsüber Freiheit, unter der Bedingung, daß ich mein Versprechen abends treu erfülle. Es ist eine Viertelstunde Fußmarsch von Ihrem Haus zu dem des Doktors, und es ist eine Regel, daß die Patienten sich um halb zehn zurückziehen.«
Hier war also das Geheimnis, welches mich arg bestürzte, als es endlich gelüftet wurde! Die Enthüllung verschlug mir die Sprache. Unbewußt und instinktiv trat ich ein paar Schritte von ihm zurück. Er starrte mit seinen traurigen Augen mit einem ergreifenden Blick des Flehens auf mich.
»Schleichen Sie sich nicht davon«, sagte er. »Sie denken nicht, daß ich verrückt bin.«
Ich war zu verwirrt und beunruhigt, um das Richtige zu sagen, und gleichzeitig hatte ich ihn zu gern, um auf seine Bitte nicht zu antworten. Ich nahm seine Hand und drückte sie schweigend. Er wendete seinen Kopf für einen Augenblick ab. Ich glaubte, eine Träne auf seiner Wange zu sehen. Ich fühlte seine Hand, die sich zitternd um meine schloß. Er beherrschte sich mit einer überraschenden Entschlossenheit; er sprach mit vollkommener Ruhe, als er mich wieder ansah.
»Wollen Sie meine Geschichte erfahren,« fragte er, »nach dem, was ich Ihnen gerade erzählt habe?«
»Ich bin begierig darauf, sie zu hören«, antwortete ich, »Sie wissen nicht, wieviel Mitgefühl ich für Sie habe. Ich bin zu bekümmert, um mich in Worten ausdrücken zu können.«
»Sie sind die freundlichste und liebenswürdigste Frau, die es gibt!«, sagte er mit größter Inbrunst und gleichzeitig mit dem äußersten Respekt.
Wir setzten uns in eine grasbedeckte Aushöhlung des Felsens, wobei wir auf den gewaltigen, grauen Ozean sahen. Das Tageslicht begann zu schwinden, als ich die Geschichte hörte, die mich zu Roland Camerons Frau machen sollte.
»Meine Mutter starb, als ich noch ein Säugling war«, begann er. »Mein Vater war, solange ich mich erinnern kann, immer hart zu mir. Mir wurde erzählt, ich sei ein merkwürdiges Kind mit meinen eigenen seltsamen Gewohnheiten. Mein Vater haßte an den Persönlichkeiten und Gewohnheiten der Personen, die um ihn herum waren, alles, was kräftig ausgeprägt war und alles, was nicht gewöhnlich war. Er selbst lebte nach Regeln; und er beschloß, daß sein Sohn seinem Beispiel folgen sollte. Ich wurde in der Schule strenger Disziplin ausgesetzt, und ich wurde später im College sorgfältig beobachtet. Wenn ich auf mein früheres Leben zurückblicke, kann ich keine Spuren von Glück erkennen und finde keine Anzeichen von Zuneigung. Eine traurige Ergebenheit in ein hartes Schicksal, ein müdes Wandern über unfreundliche Straßen – das ist meine Lebensgeschichte, im Alter von zehn bis zwanzig Jahren.
Ich verbrachte einen Herbsturlaub an den Seen von Cumberland; und dort traf ich zufällig eine französische Dame. Das Ergebnis dieses Treffens entschied mein ganzes späteres Leben.
Sie bekleidete die Stelle eines Kinderfräuleins im Haus eines wohlhabenden Engländers. Ich hatte häufig Gelegenheit, sie zu sehen. Es machte uns in der Gesellschaft des anderen Spaß. Ihre geringe Erfahrung war seltsamerweise wie die meine. Zwischen uns herrschte eine perfekte Harmonie von Denken und Fühlen. Wir liebten uns, oder dachten zumindest, wir liebten uns. Ich war noch keine einundzwanzig und sie war noch nicht achtzehn, als ich sie bat, meine Frau zu werden.
Ich kann meine Torheit jetzt verstehen und darüber lachen oder mich darüber beklagen, zu was mich meine Laune gerade treibt. Und doch muß ich mich bemitleiden, wenn ich auf mich in dieser Zeit zurückschaue- ich war so jung, so hungrig nach ein wenig Zuneigung, so müde meines einsamen Lebens ohne Freunde. Nun, alles in der Welt ist relativ. Ich würde bald diesem Leben ohne Freunde nachtrauern, schmerzlich nachtrauern, so unglücklich es auch war.
Der Arbeitgeber des armen Mädchens entdeckte unsere Verbindung durch seine Frau. Er setzte sich sofort mit meinem Vater in Verbindung.
Mein Vater hatte nur ein Wort zu sagen – er bestand darauf, daß ich ins Ausland gehe und es ihm zu überlassen, mich von meiner absurden Verpflichtung während meiner Abwesenheit zu entbinden. Ich antwortete ihm, daß ich in ein paar Monaten alt genug war und ich fest entschlossen war, das Mädchen zu heiraten. Er gab mir drei Tage, um diesen Entschluß zu überdenken. Ich blieb bei meinem Entschluß. Eine Woche später wurde ich von zwei Ärzten für geisteskrank erklärt; und wurde von meinem Vater in eine Irrenanstalt gesteckt.
War es eine Tat der Geisteskrankheit von dem Sohn eines Gentleman mit großen Erwartungen, einem Kinderfräulein die Heirat vorzuschlagen? Ich muß schon sagen, der Himmel ist mein Zeuge, ich weiß von keiner anderen von mir begangenen Tat, die meinen Vater und die Ärzte berechtigen könnte, mich in Gewahrsam zu nehmen.
Ich war drei Jahre in dieser Irrenanstalt. Es wurde amtlich berichtet, daß mir die Luft nicht zuträglich war. Ich wurde für weitere zwei Jahre in eine andere Irrenanstalt in einem entlegenen Teil Englands gebracht. Die besten fünf Jahre meines Lebens wurde ich mit Verrückten zusammengetrieben – und mein Verstand hat es überlebt. Den Eindruck, den ich auf Sie, auf Ihren Vater, auf Ihren Bruder und auf alle Ihre Freunde mache, ist, daß ich ebenso vernünftig bin wie der Rest meiner Mitmenschen. Dränge ich zu einer übereilten Folgerung, wenn ich von mir behaupte, daß ich ein gesunder Mensch bin und schon immer war?
Am Schluß dieser fünf Jahre willkürlicher Gefangenschaft in einem freien Land, zum Glück für mich – Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich muß die Wahrheit sagen – zum Glück für mich starb mein erbarmungsloser Vater. Seine Treuhänder, denen ich nun übergeben wurde, hatten etwas Mitleid mit mir. Sie konnten die Verantwortung, mir meine Freiheit ganz zu gewähren, nicht übernehmen. Aber sie gaben mich in die Obhut eines Chirurgen, der mich in seinen privaten Landsitz aufnahm und der mir freie Bewegung in der frischen Luft erlaubte.
Ein Jahr dieser neuen Lebensweise stellte den Chirurgen zufrieden, und es stellte jeden zufrieden, der das geringste Interesse an mir hatte, so daß ich vollkommen dazu bereit war, meine Freiheit zu genießen. Ich wurde von allen Beschränkungen befreit und mir wurde erlaubt, bei einem meiner nahen Verwandten zu leben, in genau demselben Landstrich, wo sich mein unheilvolles Treffen mit dem französischen Mädchen sechs Jahre zuvor ereignet hatte.