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Eine mondlose Sternennacht. In dämmernden Umrissen sieht man Bergkonturen und Wälder – laublose Wälder, Skelette von Bäumen – kein Strauch, kein Halm! Kein Laut regt sich in den Lüften, der Vögel Lieder sind verstummt, wie das Murmeln des Baches. Flüsse und Seen sind zu Eis erstarrt. Im Ozean treiben ungeheuere Blöcke von Eis, die sich zu großen Inseln zusammenschweißen. Ein Stern, größer als die anderen, leuchtet über dem Horizonte. Es ist die Sonne. So klein, so matt ihre Strahlen. Ein großer Berg in der Nähe der Stadt, welche der Schauplatz der früheren Schilderungen war, entwickelt eine eruptive Thätigkeit. Ein glühender, leuchtender Lavastrom wälzt sich träge über den Abhang. Von Zeit zu Zeit werden mächtige Felsblöcke aus dem Innern des Berges emporgeschleudert. So grauenhaft dieser Anblick ist, so wirkt er doch mildernd auf das Bild des Todes und der allgemeinen Erstarrung. Dumpfes Dröhnen und Donnerschläge, mächtige Feuergarben und weißglühende Bäche, das scheint das einzige Leben der Erde zu sein. Doch nein noch regt sich Leben.
In einer der vielen Krateröffnungen, welche, sich in ihrer Thätigkeit erschöpft zu haben schienen, kauerte ein Mann und sah mit verlorenem Blicke in die rotglühende Masse des sich träge dahinwälzenden Lavastromes in seiner Nähe. Das Haupt in die Hand gestützt, saß er da und schien in tiefes Brüten versunken. Zu seinen Füßen kauerte ein Knäblein von kaum fünf Jahren. Es hatte das blonde Lockenköpfchen auf das Knie des Vaters gelehnt und schlief mit der glücklichen Ruhe des Kindesalters. Es schien zu träumen; denn es lächelte vergnügt und murmelte dazu unzusammenhängende Worte: »Schau die schöne Wiese! – Lass mich ihn haschen, den buntfarbigen Schmetterling!«
Schmerzbewegt erwachte der Mann aus seinem Brüten; er blickte um sich. Ringsum erhoben sich starrende Felsmassen, vom Reflexe des rotglühenden Lavastromes beleuchtet. Sonst tiefe Finsternis um ihn her. Nur über seinem Haupte leuchteten die Sterne; darunter ein hellleuchtender von größerer Pracht als alle übrigen: die Sonne! Eine große, mattglänzende Scheibe am nördlichen Sternenhimmel war der mächtige Jupiter. Ihm strebte die Erde zu, und von ihm sollte ihr Erlösung werden. Ob das ein Staubgeborener noch erleben wird? –
Der Maler Erwin, der mit seinem Söhnchen den Kraterschlund und seinen heißen Brodem aufgesucht hatte, um sich vor der allgemeinen Erstarrung zu retten, gehörte zu den wenigen Überlebenden. Das Menschengeschlecht war bis auf eine verschwindend kleine Zahl zusammengeschmolzen. Was nicht die zahlreichen Katastrophen, was Schreck und Krankheit nicht hinweggerafft, das ging in der allgemeinen Erstarrung zu Grunde. Die Erde hatte sich in das kalte Leichentuch der Vereisung gehüllt, und all die verzweifelten Versuche der Menschheit, dagegen anzukämpfen, erwiesen sich als machtlos. Zuletzt waren die Werkzeuge den schlaffen Händen entsunken, die Glieder ermattet. Der menschliche Geist gab jeden Widerstand auf. In stumpfer Apathie sanken sie zu Tausenden dahin, bevor der letzte Akt des erschütternden Dramas zu Ende gespielt war.
Erwin hatte sie alle überdauert. Mit dem Griffel in der Hand war er den Ereignissen gefolgt, und während sie hinsanken an seiner Seite, hatte er mit stoischer Ruhe alle Phasen des gewaltigen Erdendramas aufgezeichnet. Alle waren sie heimgegangen, mit denen er durch Bande des Blutes oder der Freundschaft verbunden war – zuletzt sein teures Weib. Das schwache Knäblein auf seinem Knie hatte er ängstlich gehütet und gepflegt und mit seinem Herzblut erwärmt. Mit äußerster Kraftanstrengung hatte er den Gipfel des Vulkans erklommen und im Krater Schutz gesucht.
Ein unsägliches Grauen erfaßte ihn. Waren er und sein Knabe die Letzten von den Staubgeborenen? Und wenn auch ihn die kalte Hand des Todes berührte, was sollte aus dem armen Kinde werden, das friedlich in seinem Schoße schlummert und von blumigen Wiesen und bunten Faltern träumt? – Wie dann, wenn die Erde wieder zurückkehrt in ihre leuchtende Sonnenbahn, und er könnte seinem Knaben nicht zur Seite stehn? – Der Herr der Welt – vielleicht der einzige Erbe einer gewaltigen Kultur – ein lallendes Kind! –
Da vernahm er, wie sich vom Rande des Kraters Steine losbröckelten und in die Tiefe kollerten. Ein menschliches Wesen kletterte herab in die Felsenhöhlung des Kraters. Erwins Herz klopfte freudig. Es war ihm ein unsäglicher Trost, nicht mehr allein zu sein im großen Sterbehause der Natur. Im fahlen Scheine des Lavastromes erkannte er in dem Herabkletternden die Züge des Professors Holberg. Aber welche Wandlung war mit ihm vorgegangen! Sein Gewand war zerrissen, sein weißer Bart wallte bis zum Gürtel herab, die Haare hingen wirr in die Stirn, und in den rotumränderten Augen mit dem irrenden Blick saß der Wahnsinn. Mit freundlichem Grinsen trat er auf Erwin zu und schlug eine helle Lache auf: »Hahaha! Noch ein Erdenwurm, der sich's überlegt, hinüberzusegeln ins große Nichts! Na, wird's bald, Gevatter? Wie lange soll ich noch warten? Habe keine Zeit zu verlieren, und mich friert bis in die Knochen – hihihi! Bin ja Ahasver, der ewige Jude. Jetzt bin ich am Ziele. Aber das sträubt sich und thut sich, als hoffte es noch immer. Die zähe Menschenbrut! Macht einen dicken Strich unter Eure Aufzeichnungen … Was soll der Spaß? Wollt Ihr Eure Weisheit einschmuggeln in die Welten, die erst nach Aeonen zu knospen anfangen werden? – Nichts da – zu Asche verbrannt wird alles sein, was Ihr geschaffen. So billig als Ihr es ihnen vermeint, werden es die nicht haben, die nach uns kommen werden. Granite und Basalte werden dahinschmelzen in der großen Lohe, und dann wird die Erde wieder ein weißes Blatt sein. Versucht es, Ihr Kommenden, und dichtet ein besseres Menschheitsepos! –
»Hihihi, der kleine Wurm; das soll wohl der Herr der Erde werden; den glaubt Ihr dem Tode unter der Nase wegescamotieren zu können? Köstlich gedacht. Eine groteske Marotte! Und ich muß dafür büßen. Ich, der ewige Jude! Ich brenne vor Begierde, in den Feuerschlund zu springen; aber es würde mir nichts nützen. Ich muß ja der Letzte sein, der Allerletzte. D'rum laßt mich warten, hier zu Euren Füßen, bis es Euch gefällt, mir voranzugehen. Die Zeit, die Zeit! – Ich weiß was zu erzählen von ihrer aufdringlichen Beharrlichkeit. Man hat sie ja immer vertrieben – die Menschen wußten selbst mit der kurzen Spanne Zeit, die ihnen vergönnt war, zu leben, nichts anderes anzufangen, als sie zu vertreiben. Also vertreiben wir uns die Zeit mit Würfelspiel. Würfeln wir um die Länder der Erde! Sie sind ja unser unbestrittenes Eigentum; wir sind die einzigen gesetzlichen Erben. Ich setze Frankreich, das schöne Land der Freiheit und der Brüderlichkeit. Hahaha! Zwei Augen nur? – Verloren. Was thut's? Ich hab' noch andere Kronen in meinem Bettelsack – –«
So schwätzte der Alte seine wahnwitzigen Reden fort, bis ihn der Schlaf übermannte. –
Und Erwin drückte sein Kind an sich, blickte hinauf zur Sternennacht! Lange sah er zu den still leuchtenden Welten empor, die in ihrer hohen Gesetzmäßigkeit Frieden, Freiheit und Glück zu verbürgen schienen.
Ein Stäubchen verweht, flammt auf, und deshalb wird der wunderbare Weltenbau nicht um Haaresbreite verrückt. Was war, das ist! Zeit ist nur Form unserer beschränkten Sinnenwelt. Unvergänglich und ewig ist alles im All! Und in einem höchsten Wesen fließen alle Intelligenzen wieder zusammen zu höherem Schauen und höherem Erkennen! –
Und der Knabe in seinem Schoße flüsterte wieder traumbefangen: »Horch, wie das Vöglein singt!« – Und Erwin schloß die Augen, und das flutende Licht, das sein physisches Auge schon lange nicht geschaut, strömte durch seine Seele. Und es wurde heller in ihm – er sah wogende Ährenfelder, er sah die Lerche, die sich tirilierend in den Äther erhob, und weißschimmernde, freundliche Hütten ragten aus den Bäumen hervor, und bläulicher Rauch stieg aus ihren Schornsteinen empor.
Und frohe Menschen arbeiteten auf den Feldern, und er hörte den hellen Klang der gedengelten Sensen – dann drang der feierliche Glockenklang an sein Ohr, und stumm legte jeder seine Arbeit zur Seite, und die Mützen in der Hand, blickten sie der scheidenden Sonne nach, und ihre Lippen bewegten sich in Andacht. –
Ein beseligendes Gefühl der Wärme und der Behaglichkeit durchströmte seine Adern, und froh und leicht hob sich die Brust. Es war, als ob das Glück und der Friede nach langer, beängstigender Herzensqual wieder einzögen in seine Brust. – Wie Osterglocken, glückverheißend, klang es in seinem Ohr. Da konnte er sich's nicht versagen, die Augen ein wenig zu öffnen. –
Was war das? Durch die weißen Gardinen drang die Sonne in sein Schlafzimmer herein. Von der Gasse herauf hörte er helles Kinderlachen; dazwischen vernahm er den ächzenden Laut einer Säge. Ja, das ist deutliche, prosaische Wirklichkeit. Das ist sein Schlafzimmer, und das liebliche Antlitz, das sich jetzt thränenbetaut über ihn beugt, ist das seiner holden Braut.
Und jetzt hört er auch die schrille Stimme des Professors Holberg: »Na, jetzt kann ich Ihnen mit einiger Sicherheit die Mitteilung machen, daß unser Freund gerettet ist. Der Fieberparoxysmus ist geschwunden. Der Puls schlägt wieder weich und regelmäßig. Das Sensorium ist frei. Und sehen Sie, jetzt drückt er mir schon die Hand. Na, lieber Freund, erkennen Sie uns? – Sie müssen schöne Felsstücke von Ihrer Brust gewälzt haben; denn was Sie in den Wochen Ihrer Fieberthätigkeit für phantastische Reden gehalten haben, das geht in keinen Wald hinein.«
Erwin versuchte, sich von seinem Lager zu erheben. Er vermochte es nicht. Glückstrahlend sah er in das Antlitz seiner Braut, freundlich nickte er ihrem Vater und ihrer Großmutter zu und flüsterte: »So war das Alles, was ich geschaut und erlebt, nur Fieberphantasie! Wie dank' ich dem Geschick dafür! Öffnet die Fenster! Ich will meine liebe Frühlingssonne wiedersehen!«