Gilbert Keith Chesterton
Ein Pfeil vom Himmel
Gilbert Keith Chesterton

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Das Verhängnis der Darnaways

Zwei Landschaftsmaler betrachteten eine Landschaft, die auch ein Seestück war. Beide empfingen davon einen sonderbaren, wenn auch nicht den gleichen Eindruck. Der eine, der als Maler in London wachsenden Ruf genoß, empfand sie neu und fremdartig. Dem andern, einem ansässigen Künstler mit mehr als örtlichem Ruhm, war sie besser bekannt, aber vielleicht um so fremder durch alles, was er von ihr wußte.

In Ausdrücken von Tinten und Form betrachtet, wie die beiden Männer es sahen, lag da ein Strich Sand gegen einen Strich Sonnenuntergang, das Ganze in Streifen düsterer Farbe hingemalt, einem toten Grün und Bronze und Braun und einem Dunkelgelb, das nicht nur matt war, sondern in der Dämmerung geheimnisvoller wirkte als Gold. Unterbrochen wurden diese geraden Linien nur durch ein langgestrecktes Gebäude, das von den Feldern in den Sand des Meeres verlief, so daß sein Saum aus trübseligem Unkraut und Rohr fast an das Seegras stieß. Seine größte Eigenart war jedoch, daß der obere Teil dem Umriß einer Ruine glich, die von so vielen breiten Fenstern und großen Rissen durchbrochen war, daß sie wie ein bloßes dunkles Gerippe gegen das ersterbende Licht aussah, während die untere Masse des Gebäudes überhaupt keine Fenster hatte, denn die meisten waren blind und vermauert und ihre Umrisse im Zwielicht nur schwach erkennbar. Ein Fenster aber war wenigstens noch Fenster geblieben, und am sonderbarsten schien, daß es erleuchtet war.

»Wer in aller Welt lebt wohl in dem alten Gehäuse?« rief der Londoner, ein großer, wie ein Bohemien aussehender Mann, der noch jung war, aber durch seinen buschigen roten Bart älter aussah. In Chelsea war er unter dem Namen Harry Payne bekannt.

»Gespenster, könnte man meinen«, erwiderte sein Freund Martin Wood. »Nun, die Leute, die da drin wohnen, sind eigentlich fast wie Gespenster.«

Vielleicht war es ein Paradox, daß der Künstler aus London in seiner lärmenden Frische und Neugierde fast bäurisch wirkte, während der Landmaler weiser und erfahrener schien und ihm mit reifer und gutmütiger Belustigung zuhörte. Er schien überhaupt ruhiger und konventioneller in seinen dunklen Kleidern und mit seinem viereckigen, glattrasierten und schwerfälligen Gesicht.

»Es ist natürlich nur ein Zeichen der Zeit«, fuhr er fort, »oder des Zerfalls der alten Zeit und der alten Familien. In diesem Hause wohnen die letzten Abkömmlinge der großen Darnaways; nicht viele der neuen Armen sind so arm wie sie. Sie können es sich nicht einmal leisten, ihr eigenes Obergeschoß in wohnlichen Zustand bringen zu lassen, sondern müssen in den unteren Zimmern einer Ruine wohnen, wie Fledermäuse und Eulen. Trotzdem haben Sie Familienbilder, die bis auf den Krieg der Rosen und die älteste Porträtmalerei in England zurückgehen, und davon sind einige sehr schön; ich weiß es zufällig, weil sie bei der Durchsicht meinen fachmännischen Rat eingeholt haben. Eins davon, eines der ältesten, ist besonders gut, so gut, daß man eine Gänsehaut bekommt, wenn man es ansieht.«

»Die kann man wohl in dem Haus überhaupt leicht bekommen, nach dem Äußeren zu schließen«, erwiderte Payne.

»Ja,« sagte sein Freund, »so ist es wirklich, wenn ich ganz aufrichtig sein soll.«

In dem Schweigen, das folgte, hörten sie ein schwaches Rauschen in den Binsen am Schilf; und unerklärlicherweise zuckten sie zusammen, als eine dunkle Gestalt schnell, fast wie ein aufgeschreckter Vogel, am Ufer dahinstrich. Es war aber nur ein Mensch, der mit einer schwarzen Reisetasche in der Hand hurtig ausschritt, ein Mann mit langem, bleichem Gesicht und stechenden Augen, die den Fremden aus London mit etwas argwöhnischem und mißtrauischem Blick verfolgten. »Es ist nur Dr. Barnek«, sagte Wood mit erleichterter Stimme. »Guten Abend, Doktor. Gehen Sie da ins Haus? Ich hoffe, daß niemand krank ist.«

»In einem solchen Haus ist immer jemand krank,« brummte der Arzt, »manchmal sind sie nur zu krank, um es zu wissen. Schon die Luft da drin ist Gift und Pestilenz. Ich beneide den jungen Mann aus Australien nicht.«

»Und wer,« sagte Payne unvermittelt und zerstreut, »wer ist das, der junge Mann aus Australien?«

»So,« schnob der Doktor, »hat Ihnen Ihr Freund nicht von ihm erzählt? Ich glaube sogar, daß er heute ankommt. Eine romantische Angelegenheit, ganz im alten Stil des Melodrama. Der Erbe kehrt aus den Kolonien in sein zerfallenes Schloß zurück. Nichts fehlt, nicht einmal das alte Familienbündnis, wonach er die Dame heiraten muß, die im efeubesponnenen Turm den Ausguck hält. Alter Quatsch, nicht wahr? Aber manchmal trifft das wirklich ein. Er hat sogar ein bißchen Geld, der einzige Lichtstrahl in dieser Sache.«

»Und wie denkt Fräulein Darnaway in dem efeubesponnenen Turm selbst darüber?« fragte Martin Wood trocken.

»Was sie nunmehr über alles auf der Welt denkt«, erwiderte der Arzt.

»In dieser bemoosten Höhle, die voll Aberglauben steckt, denkt man überhaupt nicht viel nach, man träumt und läßt sich treiben. Ich glaube, daß sie den Familienvertrag und den Gatten aus den Kolonien als Teil vom Verhängnis der Darnaways ansieht, wissen Sie? Ich glaube, wenn er ein buckliger Neger mit einem Auge und mörderischen Neigungen wäre, so würde sie auch nur finden, daß dieser letzte Zug sehr gut in die Dämmerlandschaft paßt.«

»Sie geben meinem Londoner Kollegen kein sehr heiteres Bild von meinen Freunden auf dem Lande«, sagte Wood lachend. »Ich wollte dort mit ihm einen Besuch machen; ein Künstler sollte es nicht versäumen, sich die Darnawayschen Bilder anzusehen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Aber vielleicht sollte ich das lieber aufschieben, wenn sie gerade die Invasion aus Australien erleben.«

»Nein, um Gottes Willen, gehen Sie nur hinein, und machen Sie ihren Besuch«, sagte Dr. Barnet mit Wärme. »Alles, was ihr vernichtetes Leben aufheitert, erleichtert mir meine Aufgabe. Es wird sehr viele Vettern aus den Kolonien brauchen, um Leben in die Bude zu bringen, meine ich, je mehr, desto besser. Kommen Sie, ich führe Sie selbst hinein.«

Als sie sich dem Hause näherten, sahen sie, daß es wie eine Insel in einem Graben mit faulendem Wasser stand, den sie auf einer Brücke überschritten. Auf der anderen Seite dehnte sich eine ziemlich breite Steinterrasse aus mit großen Sprüngen, aus denen hier und da kleine Büschel Unkraut emporwuchsen. Diese Felsenplattform sah im grauen Zwielicht groß und kahl aus, und Payne hätte nicht für möglich gehalten, daß ein so kleiner Raum so viel von der Seele der Wüste enthalten könne. Die Plattform verlief nur nach einer Seite, wie eine Riesenstufe, und dahinter war die Türe; ein niedriger, mittelalterlicher Türbogen, der offen stand aber dunkel war wie eine Höhle.

Als der muntre Arzt sie ohne Förmlichkeit hineinführte, empfing Payne wiederum einen deprimierenden Eindruck. Er war darauf gefaßt gewesen, einen stark zerstörten Turm auf einer sehr engen Wendeltreppe ersteigen zu müssen; in diesem Fall aber führten die ersten Schritte in diesem Hause nach abwärts. Sie gingen mehrere kurze und zerbrochene Treppen hinunter, in große, dämmernde Zimmer, die ohne ihre dunklen Bilder und verstaubten Bücherregale ausgesehen hätten wie die traditionellen Gefängnisse unter dem Schloßgraben. Hier und dort erleuchtete eine Kerze in einem alten Leuchter das verstaubte, zufällige Denkmal einer toten Pracht, aber der Gast empfing einen stärkeren, wenn auch traurigeren Eindruck von dem einen blassen Schein des natürlichen Lichtes. Während er den Saal durchschritt, sah er das einzige Fenster, das die Wand aufwies, ein merkwürdiges, niedriges Oval im Stil des späten siebzehnten Jahrhunderts. Das Sonderbare aber war, daß es nicht nach dem Himmel ging, sondern nur dessen Spiegelbild zeigte: einen schmalen Streifen Tageslicht, der vom Graben zurückgeworfen wurde und vom Ufer beschattet war. Payne erinnerte sich an die Dame von Shallott, die stets die Welt nur im Spiegel sah. Die Dame dieses Shallott sah die Welt nicht nur im Spiegel, sondern sogar verkehrt.

»Es sieht aus, als stürzte das Haus der Darnaways nicht nur im bildlichen, sondern im wörtlichen Sinne«, sagte Wood leise. »Als ob wir langsam in einem Sumpf oder im Treibsand versänken, bis die See es wie ein grünes Dach bedeckt.«

Selbst der wenig empfindliche Arzt zuckte ein wenig zusammen, denn es näherte sich schweigend eine Gestalt. Der Raum war so still, daß sie alle überrascht wurden von der Erkenntnis, er sei nicht leer. Drei Personen waren in dem Raum als sie eintraten; alle drei in Schwarz und wie dunkle Schatten anzusehen. Wie sich die erste Gestalt dem grauen Licht des Fensters näherte, zeigte sie ein Gesicht, das fast so grau war wie der Rahmen des Haares. Es war Vine, der alte Verwalter, der seit dem Tode des überspannten Lord Darnaway Vaterstelle vertrat. Ohne Zähne wäre er ein schöner Greis gewesen. So aber hatte er einen, der dann und wann sichtbar wurde und ihm ein unheilvolles Aussehen verlieh. Er empfing den Arzt und seinen Freund mit großer Höflichkeit und geleitete sie zu den andern beiden Gestalten, die saßen. Einer trug nach Paynes Meinung zu der altertümlichen und düsteren Atmosphäre des Schlosses durch den Umstand bei, daß er ein katholischer Priester war und in alten dunklen Zeiten aus einer Priesterzelle hätte hervortreten können. Payne konnte sich vorstellen, wie er Gebete murmelte oder Glocken läutete oder eine Anzahl andre unbestimmte und traurige Dinge in dem traurigen Hause vornahm. Im Augenblicke hatte er vielleicht der Dame kirchlichen Trost erteilt; aber es war schwer, sich vorzustellen, daß die Tröstungen der Kirche sehr trostreich oder sehr aufheiternd ausgefallen waren. Im übrigen sah er ganz unbedeutend aus, mit unschönen, ausdruckslosen Gesichtszügen. Nicht so die Dame. Ihr Gesicht, weit davon entfernt, unschön oder unbedeutend zu wirken, hob sich vom dunklen Hintergrund ihres Kleides und ihrer Haare mit einer Blässe ab, die fast furchtbar wirkte, aber auch mit einer Schönheit, die aufs furchtbarste lebendig schien. Payne sah sie so lange an, als er wagte, und es war ihm bestimmt, sie noch viel länger anzusehen, bevor er starb.

Wood tauschte mit seinen Bekannten nur solche freundliche und höfliche Phrasen als nötig war, um seinen Wunsch nach Besichtigung der Bilder vorzubringen. Er bat um Entschuldigung, daß er an einem Tage käme, an dem ein Familienempfang gefeiert werden sollte; bald aber mußte er sich davon überzeugen, daß die Familie eigentlich erleichtert war, weil Fremde anwesend sein würden, um sie zu zerstreuen oder den Eindruck zu verwischen. Er zögerte also nicht länger, sondern führte Payne durch den mittleren Empfangssaal in die Bibliothek, wo das Bildnis hing. Denn eines der Bilder zu zeigen, war er besonders bedacht, nicht nur als Bild, sondern vielleicht eher noch als Rätsel. Der kleine Priester trabte mit. Er schien von alten Bildern wie von alten Gebeten einiges zu verstehen.

»Ich bin stolz darauf, das hier entdeckt zu haben«, sagte Wood. »Ich halte es für einen Holbein. Wenn es keiner ist, so muß zu Holbeins Zeit jemand gelebt haben, der größer war als Holbein selbst.«

Es war ein Porträt in der harten aber aufrichtigen und lebendigen Mode der damaligen Zeit; es stellte einen Mann im schwarzen Gewande dar, das mit Gold und Pelz verbrämt war; das Gesicht war schwer, voll, etwas bleich, mit spähenden Augen.

»Wie schade, daß die Kunst nicht immer auf diesem Übergangspunkt stehenbleiben konnte,« rief Wood aus, »um nie mehr einem Übergang zu erliegen! Sehen Sie nicht, daß es gerade realistisch genug ist, um wirklich zu sein? Sehen Sie nicht, daß jenes Gesicht um so sprechender wirkt, weil es sich in einem steiferen Rahmen von weniger wichtigen Details abhebt? Und die Augen wirken noch wirklicher als das Gesicht. Mein Gott, die Augen sind fast zu wirklich für das Gesicht! Als ob die schlauen, schnellen Augäpfel aus einer bleichen Maske hervorträten.«

»Mir scheint, daß die Gestalt auch etwas Steifes hat«, sagte Payne. »Als das Mittelalter endete, hatte man wohl noch nicht genügend Kenntnisse in der Anatomie, wenigstens im Norden nicht. Das linke Bein ist doch wohl recht verzeichnet.«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Wood ruhig. »Die Leute, die anfingen, als man Realismus trieb und bevor man ihn übertrieb, waren oft realistischer als wir wissen. Sie legten in Dinge, die wir für konventionell halten, malerische Details hinein. Sie werden vielleicht sagen, daß die Augenbrauen oder Augenhöhlen dieses Menschen schief sind; aber wenn Sie ihn gekannt hätten, wüßten Sie sicher, daß die eine Augenbraue wirklich höher hinaufreichte als die andre. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er tatsächlich lahm oder so was Ähnliches war, und der Maler das Bein wirklich krumm zeichnen wollte

»Wie ein alter Teufel sieht er aus!« brach Payne plötzlich los. »Ich bitte Euer Ehrwürden, meine Sprache zu entschuldigen.«

»Danke, aber ich glaube an den Teufel«, erwiderte der Priester mit undurchdringlichem Gesicht. »Sonderbarerweise gibt es eine Legende, wonach der Teufel lahm sein soll.«

»Nun erlauben Sie mal,« widersprach Payne, »Sie wollen doch nicht sagen, daß das hier der Teufel war? Aber wer zum Teufel war er denn?«

»Er war der Lord Darnaway unter Heinrich dem Siebenten und Heinrich dem Achten«, erwiderte sein Begleiter. »Aber auch über ihn gibt es merkwürdige Legenden. Auf eine nimmt die Inschrift auf dem Rahmen da oben Bezug, und auch in einem Buche habe ich sie hier erwähnt gefunden. Beides liest sich sehr sonderbar.«

Payne beugte sich vor, um die Inschrift zu lesen, die rings um den Rahmen lief. Abgesehen von den altmodischen Buchstaben und der Rechtschreibung schien es eine Art Reim zu sein, der etwa so lautete:

»Im siebenten Erben er wiederkehrt,
In der siebenten Stunde macht er sich fort,
Dann folgt ihm niemand von diesem Ort,
Und wehe ihr, der sein Herz gehört.«

»Es klingt grausig,« sagte Payne, »aber vielleicht kommt das daher, daß ich kein Wort davon verstehe.«

»Auch wenn man es versteht, ist es recht grausig«, sagte Wood mit leiser Stimme. »In dem alten Buch, das ich hier fand, steht verzeichnet, daß der reizende Kerl hier sich mit Überlegung so umgebracht hat, daß seine Frau als Mörderin hingerichtet wurde. Ein zweiter Hinweis erwähnt eine jüngere Tragödie, sieben Erbfolgen später, unter der Regierung König Georgs. Damals hat ein andrer Darnaway Selbstmord begangen, aber vorher nicht vergessen, im Becher seiner Frau etwas Gift zurückzulassen. Vermutlich würde man daraus schließen, daß er wirklich mit jedem siebenten Erben zurückkehrt und, wie der Reim andeutet, jeder Dame, die töricht genug ist, ihn zu heiraten, etwas Angenehmes antut.«

»Wenn das gelten soll,« erwiderte Payne, »wird es der nächste Siebente nicht sehr leicht haben.«

Woods Stimme klang noch leiser, als er antwortete:

»Der neue Erbe wird der siebente sein.«

Harry Payne warf plötzlich die Schultern und die breite Brust zurück, wie ein Mann, der sich einer Last entledigt.

»Was reden wir alle für verrücktes Zeug zusammen?« rief er. »Ich hoffe, daß wir alle gebildete Menschen in einem Zeitalter der Aufklärung sind. Bevor ich in diese verdammt trübe Luft kam, hätte ich es nie für möglich gehalten, daß man über solche Dinge reden könnte, außer um sich darüber lustig zu machen.«

»Sie haben recht«, sagte Wood. »Wenn Sie lange genug in diesem unterirdischen Schloß gelebt hätten, würden Sie alles anders ansehen. Ich selbst fange an, sehr merkwürdige Dinge von diesem Bild zu denken, da ich es so oft in der Hand gehabt und selbst aufgehängt habe. Manchmal scheint es mir, als sei das gemalte Gesicht lebendiger als die toten Gesichter der Menschen, die hier leben; als sei es eine Art Talisman oder Magnet; als beherrsche es die Elemente und bestimme das Schicksal von Menschen und Dingen. Wahrscheinlich werden Sie sagen, daß ich phantastisch bin.«

»Was ist das für ein Geräusch?« rief Payne plötzlich aus.

Sie lauschten alle, und außer dem dumpfen Donner der fernen See schienen sie kein Geräusch zu hören; dann empfanden sie, daß sich etwas andres hineinmischte, wie eine Stimme, die durch die Brandung tönte; zuerst dadurch gedämpft, kam sie näher und näher. Im nächsten Augenblick waren sie gewiß: jemand rief da draußen in der Dämmerung.

Payne wandte sich zu dem niedrigen Fenster hinter ihm und bückte sich, um hinauszusehen. Es war das Fenster, von dem man nichts erblicken konnte als den Graben mit seinem Spiegelbild von Ufer und Himmel. Aber diese auf den Kopf gestellte Aussicht war nicht dieselbe, die er früher gesehen hatte. Von dem hängenden Schatten des Ufers im Wasser gingen zwei andre dunkle Schatten hinunter, die von den Füßen und Beinen einer Gestalt auf dem Ufer zurückgeworfen wurden. Durch den begrenzten Spalt konnten sie nichts sehen als die beiden Beine, die sich gegen das Spiegelbild eines bleichen und fahlen Sonnenunterganges schwarz abhoben. Aber die bloße Tatsache, daß der Kopf unsichtbar blieb, wie in den Wolken, ließ dem Ton, der nun folgte, etwas Entsetzliches: der Stimme eines Mannes, der laut etwas rief, was sie nicht richtig hören oder verstehen konnten. Payne besonders blickte mit verändertem Gesicht aus dem kleinen Fenster und sprach mit veränderter Stimme.

»Wie sonderbar er dasteht!«

»Nein, nein«, beruhigte Wood ihn flüsternd.

»Im Wasser gespiegelt, sieht das oft so aus. Sie glauben das nur, weil das Wasser sich bewegt.«

»Er glaubt was?« fragte der Priester kurz.

»Daß sein linkes Bein krumm ist«, erwiderte Wood.

Payne hatte das ovale Fenster wie eine Art geheimnisvollen Spiegel betrachtet. Seiner Ansicht nach enthielt es noch andre rätselhafte Symbole des Verhängnisses. Er sah noch etwas neben der Gestalt, was er nicht verstand: drei dünnere Beine, die sich in dunklen Linien gegen das Licht abhoben, als stünde eine ungeheure dreibeinige Spinne oder ein Vogel neben dem Fremden. Dann hatte er den weniger überspannten Einfall eines Dreifußes, wie ihn die heidnischen Orakel benutzten – und im nächsten Augenblick war das Ding verschwunden, und die Beine der menschlichen Gestalt bewegten sich aus dem Bilde.

Als er sich umwandte, begegnete er dem bleichen Gesicht des alten Verwalters Vine, dessen Mund offen stand, begierig zu sprechen, so daß der einzige Zahn sichtbar war.

»Er ist da«, sagte er. »Das Schiff ist heute früh aus Australien angekommen.«

Schon als sie von der Bibliothek aus den mittleren Saal betraten, hörten sie die Schritte des Fremden, der die Eingangsstufen herunterklapperte. Hinter ihm folgten verschiedene Stücke Handgepäck. Als Payne eines davon erblickte, lachte er vor Erleichterung. Sein Dreifuß war nichts als die teleskopischen Beine einer tragbaren Kamera, die leicht ein- und auszupacken war, und der Mann, der sie trug, schien soweit ganz ebenso zuverlässige und normale Eigenschaften anzunehmen. Er war dunkel gekleidet, etwas salopp und ferienmäßig, sein Hemd war aus grauem Flanell, und seine Stiefel widerhallten recht unnachgiebig in den stillen Zimmern; als er nach vorn schritt, um den neuen Kreis zu begrüßen, merkte man kaum mehr als die Andeutung eines Hinkens. Payne und seine Gefährten aber sahen sein Gesicht an und brachten es kaum fertig, die Augen davon abzuwenden.

Jedenfalls führte er etwas Sonderbares und Heimliches bei seinem Empfang; aber darauf hätte man einen Eid geleistet, daß er die Ursache davon nicht kannte. Die Dame, die in gewissem Sinne für seine Verlobte galt, schien jedenfalls schön genug, um ihn anzuziehen; aber es war klar zu sehen, daß sie ihn auch erschreckte. Der alte Verwalter brachte ihm eine gewisse feudale Huldigung entgegen, behandelte ihn aber trotzdem, als sei er das Familiengespenst. Der Priester sah ihn noch immer mit undurchdringlichem Gesicht an, was um so aufregender wirkte. In Paynes Geist regte sich eine neue Ironie, die mit der Ironie der Griechen Ähnlichkeit hatte. Er hatte sich den Fremden wie einen Teufel vorgestellt, aber es schien noch schlimmer, daß er offenbar ein unbewußtes Verhängnis darstellte. Er schien sich dem Verbrechen mit der ungeheuerlichen Unschuld eines Ödipus zu nähern. Ins Haus seiner Väter war er mit so blinder Heiterkeit getreten, daß er sogar seinen Apparat aufgestellt hatte, um den ersten Anblick im Bilde festzuhalten; und selbst der Apparat hatte sich in das Symbol des Dreifußes einer tragischen Pythia verwandelt.

Als Payne sich etwas später verabschiedete, war er erstaunt, aus einer Äußerung des Australiers zu entnehmen, daß ihm seine Umgebung schon etwas mehr zu Bewußtsein gekommen war. Er sagte nämlich leise:

»Gehen Sie nicht . . . oder kommen Sie bald wieder. Sie sehen wie ein Mensch aus. In diesem Haus bekommt man eine Gänsehaut.« Auf diese Weise kamen Payne und sein Freund während der acht bis vierzehn Tage, die vor der abschließenden und geheimnisvollen Katastrophe verflossen, sehr oft in das dunkle Haus. Payne fühlte sich etwas schuldbewußt, weil er so oft hinging; er war sich bereits des Magneten bewußt, der ihn anzog, und fühlte sich angesichts des vorgeblichen Heiratsvertrages nicht ganz sicher. Sonderbarerweise fragte der neue Erbe gerade darin um Auskunft. Er berief eine Art Familienrat, wobei er seine Karten offen auf den Tisch legte. Fast könnte man sagen, sie auf den Tisch warf. Denn er tat es mit verzweifelter Miene, als sei er seit Tagen und Nächten von dem steigenden Druck eines Problems gepeinigt worden. In der kurzen Zeit hatten die Schatten des Hauses mit den niedrigen Fenstern und dem sich senkenden Pflaster ihn in sonderbarer Weise verändert und eine gewisse Ähnlichkeit vertieft, die alle noch in Erinnerung hatten. Die fünf Männer, Payne unter ihnen, saßen an einem Tisch; Payne dachte eben müßig darüber nach, daß sein heller Sportanzug und sein rotes Haar die einzigen farbigen Flecke im Zimmer waren, denn der Verwalter und der Priester waren schwarz gekleidet, während Wood und Darnaway gewöhnlich dunkelgraue Anzüge trugen, die fast schwarz aussahen. Vielleicht hatte der junge Mann diesen Unterschied gemeint, als er ihn einen Menschen nannte. In diesem Augenblick setzte er sich plötzlich im Sessel zurecht und fing an zu sprechen. Und eine Sekunde später wußte der erschreckende Künstler, daß er über die ungeheuerlichste Sache auf der Welt sprach.

»Hat das Hand und Fuß«, sagte er gerade. »Das habe ich mich jetzt wieder und wieder gefragt, bis ich fast den Verstand verloren habe. Ich hätte nie für möglich gehalten, daß ich an solche Dinge glauben würde; aber dann denke ich an das Bild und an den Reim und an die zufälligen Übereinstimmungen, oder wie man es nennen soll, und mir wird eiskalt. Hat die Sache Hand und Fuß? Gibt es ein Verhängnis der Familie Darnaway oder nur einen verdammt sonderbaren Zufall? Habe ich das Recht zu heiraten, oder werde ich damit ein finsteres Unheil, von dem ich heute noch nichts weiß, auf mich oder andre herunterbeschwören?«

Sein rollendes Auge schweifte über den Tisch und ruhte auf dem ruhigen Gesicht des Priesters, zu dem er jetzt zu sprechen schien. Paynes praktischer Verstand erwachte wieder und wandte sich dagegen, die Frage des Aberglaubens vor ein so äußerst abergläubisches Tribunal zu bringen. Er saß neben Darnaway und fiel ein, bevor der Priester antworten konnte.

»Ich gebe zu, daß der Zufall merkwürdig ist«, sagte er mit erzwungener Heiterkeit. »Aber wir werden doch nicht –« er unterbrach sich wie vom Blitz getroffen. Denn Darnaway hatte bei der Unterbrechung plötzlich den Kopf über die Achsel gewendet, und während dieser Bewegung schob sich die linke Augenbraue mit einem Ruck höher hinauf als die andre, so daß einen Atemzug lang das Gesicht des Porträts ihn mit einer grausigen Übertreibung anstarrte. Auch die anderen sahen es; und alle sahen aus, als hätte sie ein plötzliches Licht geblendet. Der alte Verwalter stöhnte hohl auf.

»Es nützt nichts,« sagte er heiser, »wir haben es mit einer zu furchtbaren Macht zu tun.« »Ja,« stimmte der Priester mit leiser Stimme bei, »mit einer furchtbaren Macht, mit der furchtbarsten, die ich kenne – und ihr Name ist Blödsinn.«

»Was sagen Sie?« fragte Darnaway, der ihn noch immer ansah.

»Ich sagte Blödsinn«, wiederholte der Priester. »Bis jetzt habe ich nichts Besonderes gesagt, denn es ging mich nichts an, ich habe nur vorübergehend Dienst in der Nachbarschaft getan, und Fräulein Darnaway wollte mich sprechen. Aber da Sie mich persönlich und geradeheraus fragen, nun, da ist es leicht genug, zu antworten. Natürlich gibt es kein Verhängnis der Familie Darnaway, das Sie hindern könnte, irgend jemanden zu heiraten, wenn Sie dafür einen anständigen Grund haben. Es gibt kein Schicksal, das einem Menschen vorschreibt, auch nur in die läßlichste Sünde zu verfallen, geschweige in Verbrechen wie Selbstmord und Mord. Man kann Sie nicht zwingen, gegen ihren Willen böse Taten zu begehen, weil Sie Darnaway heißen, ebensowenig wie mich, weil ich Brown heiße. Das Verhängnis der Browns,« fügte er mit Gusto hinzu, »– der Fluch der Browns, das würde noch besser klingen.«

»Und Sie, gerade Sie«, wiederholte der Australier mit weit aufgerissenen Augen, »sagen mir, daß ich so darüber denken soll?«

»Ich sage Ihnen, daß Sie an etwas anderes denken sollen«, erwiderte der Priester heiter. »Was ist aus der hoffnungsvollen Kunst der Photographie geworden? Wie geht es dem Apparat? Unten ist es sehr dunkel, das weiß ich, aber die Spitzbogen im ersten Stock könnte man mit Leichtigkeit in ein erstklassiges photographisches Atelier umbauen. Für ein paar Arbeiter wird es eine Kleinigkeit sein, ein Glasdach aufzusetzen.«

»Aber«, wandte Wood ein, »ich glaube, Sie sollten doch zu allerletzt an diese herrlichen gotischen Bogen Hand anlegen, die beste Arbeit, die Ihre Religion je hervorgebracht hat. Ich hätte geglaubt, daß Sie für solche Kunstwerke irgendwelche Pietät übrig haben müßten; ich verstehe nicht recht, warum es Ihnen so sehr um Photographie zu tun ist.«

»Mir ist es sehr um Tageslicht zu tun,« erwiderte Pater Brown, »besonders in dieser muffigen Angelegenheit – und die Photographie besitzt die Tugend, daß sie Tageslicht braucht. Und wenn Sie nicht wissen, daß ich bereit wäre, sämtliche gotische Bogen der Welt zu Staub zu zerreiben, um die gesunde Vernunft eines einzigen Menschen zu retten, dann wissen Sie nicht so viel über meine Religion wie Sie glauben.«

Der junge Australier war aufgesprungen wie verjüngt.

»Bei Gott, so ist's richtig,« sagte er, »obwohl ich nicht erwartet hätte, das von Ihnen zu hören. Ich will Ihnen mal das sagen, Ehrwürden, ich werde etwas tun, um zu beweisen, daß ich meinen Mut noch nicht verloren habe.«

Der alte Verwalter sah ihn mit zitternden, spähenden Blicken an, als sei etwas Unheimliches am Widerstand des jungen Mannes. »Oh,« rief er aus, »was haben Sie vor?«

»Ich werde das Porträt photographieren«, erwiderte Darnaway.

Dennoch war es knapp eine Woche später, als der Sturm der Katastrophe vom Himmel herabzusteigen schien, um die Sonne der gesunden Vernunft zu verdunkeln, an die der Priester sich umsonst gewandt hatte, und das Haus von neuem in das Düster des Familienschicksals zu tauchen. Es war leicht genug gewesen, das neue Atelier einzurichten; von innen gesehen, machte es sich genau wie jedes andre Atelier, es war leer und nur vom hellen Licht erfüllt. Wer aus den düsteren Räumen darunter kam, hatte noch mehr als gewöhnlich das Gefühl, in eine zeitgemäße Helle zu treten, die so leer war wie die Zukunft. Auf Anraten Woods, der das Schloß gut kannte und seine erste ästhetische Unzufriedenheit überwunden hatte, wurde ein kleiner Raum im obersten Teil des zerstörten Gebäudes, der unversehrt geblieben war, leicht in eine Dunkelkammer verwandelt, in die Darnaway aus dem weißen Tageslicht eintrat, um bei den karminfarbenen Strahlen einer roten Lampe herumzuhantieren. Wood sagte lachend, die rote Lampe habe ihn mit der vandalischen Handlung versöhnt, denn die blutgetränkte Finsternis sei so romantisch wie die Höhle eines Alchimisten.

Darnaway war an dem Tage, an dem er das geheimnisvolle Porträt photographieren wollte, bei Tagesanbruch aufgestanden. Er hatte es über die Wendeltreppe, die einzige, die beide Stockwerke verband, von der Bibliothek ins Atelier schaffen lassen. Dort hatte er es in dem vollen weißen Tageslicht auf eine Staffelei gestellt und den photographischen Dreifuß davor aufgebaut. Wie er sagte, lag ihm sehr viel daran, eine Reproduktion an einen berühmten Antiquar zu senden, der schon über die Altertümer des Hauses geschrieben hatte; doch wußten die anderen, daß dies nur eine Ausrede war, die Tieferes deckte. Es handelte sich, wenn nicht um ein geistiges Duell zwischen Darnaway und dem dämonischen Bilde, so doch um ein Duell zwischen Darnaway und seinem eigenen Zweifel. Er wollte das Tageslicht der Photographie Angesicht zu Angesicht vor das dunkle Meisterwerk der Malerei bringen, um zu sehen, ob der Sonnenschein der neuen Kunst nicht vermöchte, die Schatten der alten zu verdrängen.

Vielleicht war das der Grund, warum er es vorzog, es selbst zu tun, obwohl einige der Nebenarbeiten mehr Zeit in Anspruch nahmen und ihn außergewöhnlich lange aufhielten. Jedenfalls wies er die wenigen Personen ab, die sein Atelier am Tage des Experiments besuchten und ihn einsam und unzugänglich vorfanden, wie er ausmaß und herumhantierte. Da er sich weigerte, hinunterzukommen, hatte der Verwalter ihm ein Mittagbrot hinaufgeschickt; nach einigen Stunden kam der alte Herr nochmals hinauf und sah, daß es fast ganz verschwunden war; als er es gebracht hatte, war ein Brummen sein einziger Dank gewesen. Einmal ging auch Payne hinauf, um zu sehen, wie weit er war, aber da der Photograph sich nicht zum Gespräch aufgelegt zeigte, kam er wieder herunter. Auch Pater Brown war auf seine bescheidene Weise hingeschlendert, um Darnaway einen Brief des Sachverständigen zu überbringen, an den die Photographie geschickt werden sollte. Aber er ließ den Brief auf einem Tablett liegen, und was er auch über das große Glashaus gedacht haben mag, das erfüllt war von Tageslicht und der Liebe zu einem Steckenpferd, über eine Welt, die er in gewissem Sinne selbst erschaffen hatte, er behielt es für sich und kam wieder herunter. Er hatte allen Grund, sich bald daran zu erinnern, daß er der letzte war, der die einzige Treppe zwischen den Stockwerken herunterstieg, und daß er einen Einsamen in einem leeren Zimmer zurückließ.

Die andern standen in dem Saal, der zur Bibliothek führte; gerade unter der großen schwarzen Ebenholzuhr, die wie ein Riesensarg aussah.

»Und wie weit hielt Darnaway, als Sie oben waren?« fragte Payne etwas später.

Der Priester fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Sagen Sie mir bloß nicht, daß ich telepathisch werde«, sagte er mit traurigem Lächeln. »Ich glaube, das Sonnenlicht im Zimmer hat mich geblendet, so daß ich nichts richtig erkennen konnte. Offen gestanden, meinte ich einen Augenblick, an Darnaways Gestalt, wie er so vor dem Bilde stand, etwas Unheimliches zu sehen.«

»Ach ja, das lahme Bein«, erwiderte Barnet sofort. »Das wissen wir schon alles.«

»Hören Sie mal,« sagte Payne plötzlich mit leiserer Stimme, »ich glaube nicht, daß wir das schon alles wissen oder überhaupt etwas. Was ist mit seinem Bein los? Was war mit dem Bein seines Vorfahren los?«

»Richtig, darüber steht etwas in dem Buch aus dem Familienarchiv, von dem ich Ihnen erzählt habe«, sagte Wood und trat in die Bibliothek, die sich daneben befand.

»Ich glaube,« sagte Pater Brown ruhig, »daß Herr Payne einen besonderen Grund haben muß, diese Frage zu stellen.«

»Ich kann ebensogut gleich damit herausrücken«, sagte Payne ganz leise. »Schließlich gibt es doch eine vernünftige Erklärung. Irgendein Hergelaufner kann sich so hergerichtet haben, daß er wie der Verstorbene aussah. Was wissen wir eigentlich von Darnaway? Er benimmt sich sehr sonderbar.« –

Die anderen sahen ihn erschreckt an, nur der Priester schien es ruhig aufzunehmen.

»Ich glaube nicht, daß das alte Bild je photographiert wurde«, sagte er. »Deshalb will er es tun. Daran scheint mir nichts Besonderes zu sein.«

»Nein, die natürlichste Sache von der Welt«, erwiderte Wood mit einem Lächeln; er war eben mit dem Buch in der Hand zurückgekommen. Während er noch sprach, regte sich etwas im Uhrwerk der großen dunklen Uhr hinter ihnen, und durch das Zimmer zitterten nacheinander die Schläge, sieben an der Zahl. Mit dem letzten Schlag kam von oben ein Krach, der das Haus wie ein Donnerschlag erschütterte; Pater Brown war schon auf der zweiten Stufe der Wendeltreppe, als der Ton erstarb.

»Mein Gott,« rief Payne unwillkürlich aus, »er ist allein dort oben!«

»Ja«, erwiderte Pater Brown, ohne sich umzudrehen, während er auf der Treppe verschwand. »Wir werden ihn oben allein vorfinden.«

*

Als die anderen sich von der ersten Gelähmtheit erholten und holterdipolter die Steinstufen hinauf und in das neue Atelier hineinliefen, fanden sie ihn in gewissem Sinne wirklich allein vor. Sie fanden ihn in den Trümmern seines Apparates liegend, dessen lange zersplitterte Beine auf groteske Weise nach drei Richtungen in die Luft starrten; Darnaway war darauf gefallen, und ein krummes schwarzes Bein lag in einem vierten Winkel am Boden. Einen Augenblick sah der schwarze Haufen aus, als sei er mit einer riesigen, scheußlichen Spinne verwickelt. Ein Blick und eine Berührung genügten, um ihnen zu sagen, daß er tot war. Nur das Bild stand unberührt auf der Staffelei, und man hätte glauben können, daß die lächelnden Augen glänzten. Eine Stunde später traf Pater Brown, der sich bemühte, die Verwirrung der Betroffenen zu lindern, den alten Verwalter, der fast so mechanisch vor sich hin brummte, wie die Uhr getickt und die schreckliche Stunde geschlagen hatte. Ohne die Worte zu verstehen, wußte er, wie sie lauten mußten.

»Im siebenten Erben es wiederkehrt,
In der siebenten Stunde macht er sich fort.«

Als er gerade etwas Tröstliches sagen wollte, schien der Greis zu erwachen und vor Zorn zu erstarren; sein Geflüster wurde zu einem wütenden Schrei.

»Sie!« sagte er. »Sie mit Ihrem Tageslicht! Selbst Sie werden jetzt nicht mehr sagen, daß es kein Verhängnis für die Darnaways gibt!«

»Ich habe meine Meinung darüber nicht geändert«, sagte Pater Brown sanft.

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie werden den letzten Wunsch des armen Darnaway achten und dafür sorgen, daß die Photographie abgeschickt wird.«

»Die Photographie?« rief der Arzt scharf. »Wozu? Übrigens ist es sehr merkwürdig, aber es existiert gar keine. Scheinbar hat er gar keine gemacht, nachdem er den ganzen Tag damit herumgewirtschaftet hat.«

Pater Brown drehte sich plötzlich um. »Dann machen Sie selbst eine Aufnahme«, sagte er. »Der arme Darnaway hatte vollkommen recht. Es ist von größter Wichtigkeit, daß eine Aufnahme gemacht wird.«

Über einen Monat später kehrte Payne in sein Londoner Haus zurück, um eine Verabredung mit Pater Brown einzuhalten. Die verlangte Photographie brachte er mit. Sein eigener Liebesroman war so wohl gediehen, als es sich im Schatten einer solchen Tragödie schicken wollte, und daher lag der Schatten selbst etwas leichter auf ihm; aber es war schwer, ihn anders anzusehen als den Schatten eines Familiengeschicks. Er war auf mancherlei Weise sehr stark beschäftigt gewesen, und erst als die Familie ihre strenge Tageseinteilung wieder aufgenommen hatte und das Bild längst wieder auf seinem Platz in der Bibliothek stand, war es ihm gelungen, es mit Blitzlicht zu photographieren. Bevor er es, wie zuerst besprochen, dem Antiquar sandte, brachte er es dem Priester, der es so dringend verlangt hatte.

»Ich verstehe Ihre Haltung in dieser Angelegenheit nicht, Pater Brown«, sagte er. »Sie benehmen sich, als hätten Sie das Rätsel schon auf Ihre besondere Weise gelöst.«

Der Priester schüttelte traurig den Kopf. »Keineswegs«, erwiderte er. »Ich bin gewiß sehr dumm, denn ich sitze fest – sitze fest an der wichtigsten Stelle. Eine sonderbare Sache; bis zu einem Punkt so einfach, und dann – wollen Sie mir die Photographie einmal zeigen, bitte?«

Er hielt sie einen Augenblick an seine zusammengekniffenen, kurzsichtigen Augen und sagte: »Haben Sie ein Vergrößerungsglas?«

Payne holte eins hervor, der Priester blickte eine Weile angestrengt durch und sagte dann: »Sehen Sie sich einmal den Titel dieses Buches an, das am Rand des Bücherbrettes neben dem Rahmen steht, er heißt ›Die Geschichte der Päpstin Johanna‹. Ob da nicht – ja, wahrhaftig; darüber steht ein Buch über Island. Gott! Wie sonderbar, auf diese Weise darauf zu kommen! Was für ein Dummkopf und Esel bin ich doch gewesen, daß ich es nicht bemerkte, als ich dort war!«

»Ja, worauf sind Sie denn aber gekommen?« fragte Payne ungeduldig.

»Auf das letzte Glied in der Kette«, erwiderte Pater Brown. »Ich sitze jetzt nicht mehr fest. Ja, ich weiß jetzt, wie die unglückselige Geschichte von Anfang bis zu Ende vor sich ging.«

»Aber wieso?« wiederholte der andre.

»Darum,« sagte der Priester mit einem Lächeln, »weil die Bibliothek der Darnaways Bücher über die Päpstin Johanna und Island enthielt, zu schweigen von einem andern, das ich eben bemerke, und dessen Titel beginnt mit den Worten ›Die Religion Friedrichs . . .‹, was nicht so schwer zu ergänzen ist.« Als er aber sah, daß der andre sich ärgerte, erlosch sein Lächeln, und er sagte mit größerem Ernst:

»In der Tat ist dieser letzte Punkt, obwohl das letzte Glied der Kette, nicht die Hauptsache. Der Fall enthält viel sonderbarere Einzelheiten. So zum Beispiel das sonderbare Beweismaterial. Ich will damit anfangen, Ihnen etwas zu sagen, was Sie wohl in Erstaunen setzen wird. Darnaway starb nicht um sieben Uhr abends. Um die Zeit war er schon einen ganzen Tag tot.«

»Erstaunen ist ein schwacher Ausdruck«, erwiderte Payne bitter. »Wir sahen ihn doch beide, Sie und ich, nachher noch herumgehen.«

»Nein, eben nicht«, sagte Brown ruhig. »Wir haben ihn, glaube ich, beide gesehen oder gedacht, daß wir ihn sahen, wie er mit vieler Mühe die Linse einstellte. War sein Kopf nicht unter dem schwarzen Mantel verborgen, als Sie durchs Zimmer gingen? Jedenfalls war er nicht zu sehen, als ich durchkam. Darum fühlte ich auch, daß etwas an dem Zimmer und an der Gestalt nicht in Ordnung war. Nicht weil das Bein krumm war – vielmehr weil es nicht krumm war. Es steckte in demselben dunklen Anzug, aber wenn Sie einen Menschen, den Sie für eine bestimmte Person halten, anders dastehen sehen, als Sie es von dieser Person gewöhnt sind, werden Sie seine Haltung krampfhaft und fremdartig finden.«

»Wollen Sie damit sagen,« rief Payne mit Schaudern aus, »daß es irgendein Fremder war?«

»Es war der Mörder«, sagte Pater Brown. »Er hatte Darnaway bei Tagesanbruch getötet und die Leiche sowie sich selbst in der Dunkelkammer versteckt – ein ausgezeichnetes Versteck, da gewöhnlich niemand hineingeht oder viel sehen kann, wenn er es doch tut. Aber natürlich ließ er die Leiche um sieben Uhr auf den Boden fallen, um die ganze Sache durch den Fluch zu erklären.«

»Aber ich verstehe nicht«, bemerkte Payne. »Warum hat er ihn dann nicht erst um sieben Uhr getötet, anstatt sich vierzehn Stunden lang mit einer Leiche zu beladen?«

»Ich werde eine Gegenfrage stellen«, sagte der Priester. »Warum wurde keine Aufnahme gemacht? Weil es dem Mörder darauf ankam, ihn sofort als er aufstand, zu töten, bevor er die Aufnahme machen konnte. Dem Mörder war es von größter Wichtigkeit, zu verhindern, daß die Photographie in die Hände des Sachverständigen gelangte, der die Altertümer des Hauses kannte.«

Ein plötzliches Schweigen trat ein, und nach einer Weile fuhr der Priester mit leiserer Stimme fort:

»Sehen Sie nicht, wie einfach das ist? Sie haben ja selbst eine Möglichkeit erkannt; aber es ist noch einfacher als Sie dachten. Sie sagten, ein Mann könne sich herrichten, um einem alten Bilde ähnlich zu werden. Es ist doch sicherlich einfacher, ein Bild so herzurichten, daß es einem Manne ähnlich ist. Geradeheraus gesagt: es trifft auf eine besondere Weise zu, daß es kein Verhängnis des Hauses Darnaway gibt. Es gab kein altes Bild; es gab keinen alten Reim; es gab keine Legende von einem Manne, der den Tod seiner Frau verschuldete. Aber es gab einen sehr bösen und sehr klugen Mann, der bereit war, den Tod eines anderen zu verschulden, um ihm seine angelobte Gattin wegzunehmen.« Der Priester lächelte Payne zu, wie um ihm Mut zu machen. »Nun haben Sie eben geglaubt, daß ich von Ihnen rede,« sagte er, »aber Sie waren nicht der einzige Mann, der aus Liebe immer wieder in das Haus kam. Sie kennen den Mann, vielmehr Sie glauben, ihn zu kennen. Es gibt aber geheime Abgründe in dem Manne, der sich Martin Wood, Maler und Sachverständiger nannte, wie keiner seiner Freunde aus Künstlerkreisen sie auch nur erraten konnte. Vergessen Sie nicht, daß er berufen wurde, um über die Bilder sein Urteil abzugeben und sie zu katalogisieren, was in einer solchen Rumpelkammer von Kunstschätzen einfach bedeutet, daß er den Darnaways sagen sollte, was sie eigentlich besaßen. Wenn plötzlich etwas zum Vorschein kam, was sie nie gesehen hatten, konnte es sie nicht Wunder nehmen. Es mußte gut gemacht werden, und es wurde gut gemacht. Vielleicht hatte er recht mit seiner Bemerkung, daß es jemand vom Genie Holbeins gemalt hat, wenn es nicht Holbein selber war.«

»Ich bin wie vor den Kopf geschlagen,« sagte Payne, »und ich verstehe das Hundertste noch nicht. Woher wußte er, wie Darnaway aussah? Wie hat er ihn faktisch getötet? Die Ärzte sind sich noch gar nicht klar darüber.«

»Ich habe eine Photographie gesehen, die der Australier nach Hause geschickt hat, bevor er selbst kam«, sagte der Priester. »Hatte man den neuen Erben erst einmal anerkannt, so konnte er auf die verschiedenste Weise weitere Einzelheiten erfahren. Wir kennen diese Einzelheiten nicht – aber sie bieten keine Schwierigkeit. Wie Sie sich erinnern, half er gewöhnlich in der Dunkelkammer mit; ist der Ort nicht geradezu geschaffen, um einen Menschen etwa mit einer vergifteten Nadel zu erstechen? Noch dazu, wo er die Gifte so bequem zur Hand hatte? Nein, darin lag keine Schwierigkeit. Was mich beirrte, war die Unmöglichkeit, daß Wood an zwei Stellen zugleich sein konnte. Wie konnte er die Leiche aus der Dunkelkammer holen und sie so aufstellen, daß sie nach wenigen Sekunden hinfallen mußte, ohne die Stiege herunterzukommen? Und er war doch in der Bibliothek und suchte ein Buch? Und ich war ein solcher Esel, daß ich mir die Bücher in der Bibliothek nicht näher ansah; erst auf dieser Photographie sah ich die einfache Tatsache mit mehr Glück als Verstand, daß dort ein Buch über die Päpstin Johanna stand.«

»Ihr bestes Rätsel haben Sie für zuletzt aufgespart«, sagte Payne ernst. »Was in aller Welt hat die Päpstin Johanna damit zu tun?«

»Vergessen Sie nicht das Buch über irgendwas in Island«, riet ihm der Priester, »und über die Religion eines Mannes, der Friedrich hieß. Man muß sich nur noch fragen, was für ein Mensch der verstorbene Lord Darnaway gewesen ist.«

»So, muß man das?« fragte Payne schwerfällig.

»Ich glaube, daß er ein gebildeter, witziger, etwas überspannter Kopf war«, fuhr Pater Brown fort. »Da er gebildet war, wußte er auch, daß es nie eine Päpstin Johanna gegeben hat. Da er witzig war, hat er sich wahrscheinlich den Titel ›Die Schlangen von Island‹ für etwas ausgedacht, was nicht existierte. Ich nehme mir heraus, den dritten Buchtitel zu ›Die Religion Friedrichs des Großen‹ zu ergänzen – die es auch nicht gab. Fällt Ihnen nicht auf, daß es gerade die Titel sind, die man Büchern geben mußte, die nicht existierten? Mit andern Worten, einem Bücherregal, das gar keines war?«

»Aha,« rief Payne, »jetzt verstehe ich. Es gab eine geheime Treppe –«

»Zu dem Zimmer, das Wood selbst als Dunkelkammer auswählte«, nickte der Priester. »Es tut mir sehr leid. Es klingt entsetzlich banal und dumm, so dumm, wie ich mich in dieser banalen Sache erwiesen habe. Aber wir waren nun einmal in eine wirklich muffige alte Geschichte von verarmten Adeligen und einem zerstörten Schloß verwickelt – und wir durften nicht darauf hoffen, daß uns der geheime Gang erspart bleiben würde. Er war für einen Priester bestimmt – und ich habe verdient, hineingesteckt zu werden.

 


 


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