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III.

Der Heiland

Die Offenbarung des Geheimnisses, das durch Weltalter hindurch verschwiegen blieb, nun aber geoffenbart ist.

( Paulus, der Apostel)

Ein jedes Jahrhundert bringt seinen eigenen Wahnwitz hervor, geboren aus falschen Richtungen, in die sein Denken mit historisch bedingter Notwendigkeit hineingerät; späteren Zeiten offenbaren sich solche Wahnvorstellungen ohne weiteres als Irrtümer, ja, stechen ins Auge, doch solange ihre Herrschaft anhält, sind auch die gescheitesten Menschen – der Mehrzahl nach – wie von Blindheit geschlagen. Unter den zahlreichen hierher gehörigen Narreteien des neunzehnten Jahrhunderts wird künftigen Geschlechtern gewiß keine ärger dünken als die in verschiedenen Abarten immer wieder aufgetretene und mit Beifall aufgenommene Lehre, Jesus von Nazareth sei eine mythische Gestalt, also eine von Menschen erdichtete, keine wirkliche Persönlichkeit, die in Fleisch und Blut einstens auf Erden wandelte. Nach den Einen soll es überhaupt keinen Menschen dieses Namens gegeben haben (so z.B. nach J.M. Robertson: Christianity and Mythology, 1900); andere – ernster zu nehmende – Gelehrte leugneten nicht das Dasein Jesu, hielten ihn jedoch für einen mehr oder weniger obskuren galiläischen Religionsschwärmer und Volksaufwiegler, dergleichen aus der Geschichte eine Anzahl bekannt sind, erklärten aber die evangelischen Berichte im wesentlichen für freie Erfindungen, die Jesu zugeschriebenen Worte für unecht, kurz, die der europäischen Menschheit seit bald zwei Jahrtausenden vertraute Gestalt für ein erdichtetes Phantasiegebilde – erdichtet nämlich von Paulus, dem Rabbinenschüler, und einer kleinen Gruppe von Fanatikern, die sich bald erweiterte, indem der religiöse Wahnsinn um sich griff und von allen Seiten neuen mythischen Stoff herbeibrachte, so daß in kurzer Zeit ein vollständiges Lehrgebäude dastand, aus lauter Luftgebilden aufgezimmert. Diese Versuche, die Persönlichkeit des Heilandes alles Eigenlebens zu berauben, reichen von David Friedrich Strauß im Jahre 1835 bis zu Artur Drews im Jahre 1909. Es ist nicht meine Absicht, auf diese Literatur einzugehen; wer sich damit beschäftigen will, sei auf das vortreffliche Werk von Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, verwiesen. Ich, für mein Teil, beklage jede Stunde, die ich – von pedantischer Gewissenhaftigkeit getrieben – auf sie verwendete. Selbst ein Strauß – dessen Wissen und Können Hochachtung verdienen – vermochte nicht anders: einmal auf die grundfalsche Fährte geraten, mußte er sich immer tiefer ins Dickicht der Ungereimtheiten, der Unmöglichkeiten und zuletzt der Unsinnigkeiten verstricken; seine Nachfolger aber und Überbieter – ihm an Fachkenntnissen nicht ebenbürtig – haben es bis zu einem solchen Grad von Widersinn gebracht, daß man sich fragen muß, ob sie ihre Leser zum Besten haben, oder ob ihre eigene Urteilskraft wirklich vollkommen Schiffbruch erlitt?

Inzwischen ging die gesamte wahre Wissenschaft – und zwar in allen ihren Schattierungen, von der strengsten Rechtgläubigkeit bis zum Freisinn und bis zu den erklärten Gegnern der christlichen Religionsgedanken – den genau entgegengesetzten Weg, beseitigte einen historischen Zweifel nach dem anderen, entdeckte viele Dokumente und Inschriften, die alle in dieselbe Richtung wiesen und zugleich mit neuer Aufklärung neue Bestätigung brachten; heute – das darf man ohne Übertreibung als gesicherte Tatsache behaupten – sind die ersten christlichen Jahrhunderte genauer bekannt als manche uns näherliegende, und zwar – trotz aller noch klaffenden Lücken – bis in Einzelheiten hinein, über welche Kunde zu gewinnen frühere Forschung niemals zu hoffen gewagt hätte. Es gehört unverfrorene Keckheit und naive Beschränkung dazu, noch im zwanzigsten Jahrhundert zu behaupten, Christi Leben stelle den Gang der Sonne durch den Tierkreis dar, und der Apostel Petrus sei nichts anderes als der aus der hellenischen Göttersage bekannte Proteus, der im Auftrag Poseidon's »die Lämmer weide«! Derartiger Unsinn findet aber den wirksamen Beistand unserer jüdischen Weltpresse, die mit sicherem Instinkt alles aufgreift, was ihr geeignet erscheint, dem verhaßten Christentum zu schaden; infolgedessen erfährt der Laie – wenn er nicht besondere Verbindungen besitzt – von den wahren Ergebnissen der Wissenschaft so gut wie nichts.

Eine weitere Erwägung verdient jedoch nicht geringere Beachtung als die vorangehende.

Wären die Quellen noch ärger verschüttet, als sie es sind, und wären dadurch der wissenschaftlichen Forschung die vielen Ergebnisse, auf die sie heute mit freudigem Stolze hinweisen kann, versagt geblieben, die Geschichtlichkeit Jesu Christi und des Kreises seiner ersten Jünger und Anhänger, sowie die Zuverlässigkeit in allen wesentlichen Zügen der Berichte über sein Leben, sein Lehren und sein Sterben stünde nichtsdestoweniger für jeden gesund urteilenden Menschen unerschütterlich fest. Umwälzende Religionsbewegungen sind stets – das lehrt alle Geschichte – von mächtigen, einsam dastehenden Persönlichkeiten ausgegangen: weitreichende Wirkungen auf die Seelen vieler Menschen vermag nur eine übergroße Seele zu gewinnen, eine Seele, wie sie im Verlaufe der Jahrtausende kaum einmal auftritt. Freilich entstehen unter dem Druck weltgeschichtlicher Ereignisse und Zustände besondere Geistesstimmungen, die sich, wie Krankheiten, durch Übertragung verbreiten und bis zum Massenwahnsinn steigern können: in diesem Zusammenhang wäre auch auf die Sehnsucht nach jener Gemütsverfassung, die wir Glauben nennen und die wir im vorigen Kapitel kennen lernten, zu verweisen. In der Zeit um Christi Geburt ergriff diese Sehnsucht die verschiedenen Völker des römischen Reiches: alte Religionen erwachten plötzlich zu neuem Leben, selbst das sonst jeden Fremden abweisende Judentum ließ sich damals vorübergehend auf Bekehrung ein und gewann – namentlich unter den Frauen – zahlreiche Proselyten; neue Kulte entsprangen der fruchtbaren Einbildungskraft der asiatischen Mischvölker; der Staat selbst gewährte Schutz und Unterstützung. Alle diese Versuche, dem Gemüte die ersehnte Labung zuzuführen, fanden Anhänger und Bekenner, und zwar um so mehr, als keine Religion die anderen befehdete: wer heute im Hause des Mithras seine Andacht verrichtet hatte, schloß sich morgen dem glänzenden Umzug der Isispriester an; so jagte jeder dem Heile nach. Eine derartige Gärung im Seelenleben der Völker hat natürlich etwas zu bedeuten und führt namentlich leicht zu Katastrophen; doch besitzt sie an und für sich nicht die geringste Gestaltungskraft; die neuere Psychologie und Medizin hat diese Erscheinungen als Wirkungen der sogenannten Suggestion nachgewiesen, deren Wesen eine Schwächung der Urteilskraft und Lähmung des Eigenwillens zugunsten blinder Herdeninstinkte ausmacht, folglich so fern wie möglich von Schaffenskraft und freier Gestaltensfreude steht. Unzulässig erscheint daher von vornherein der Gedanke, es könnte aus der Gemeinschaft von Hunderttausenden gewöhnlicher und dazu noch seelisch geschwächter und verirrter Menschen – wie die damaligen es fraglos waren – eine neue, alle bisher bestehenden umstürzende Weltanschauung hervorgehen – eine ganz und gar neue Auffassung von der Würde des Menschen, fußend auf einer ganz und gar neuen Vorstellung von seinem Verhältnis zu Gott. Wären – etwa infolge einer gewaltigen Erderschütterung – sämtliche schriftlichen Zeugnisse, welche von der Begründung und der ersten Entwickelungszeit berichten, vernichtet worden, – die bloße Tatsache des Daseins der christlichen Glaubenslehre und Gemütsverfassung würde mit unabweisbarer Notwendigkeit auf einen Stifter hinweisen. Nun sind wir aber, wie schon bemerkt, außerdem in der Lage, die ersten Schritte des ins Leben tretenden Christentums mit erstaunlicher Genauigkeit zu verfolgen; ein jeder sollte sich um diese Kenntnis bemühen – wozu als beste Einführung Adolf Harnack's Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten dienen mag: wer, anstatt das Christentum in dumpfer Selbstverständlichkeit als gegebene Tatsache hinzunehmen, sich über diese Anfänge unterrichtet, wird das größte Wunder der Weltgeschichte sich vor seinen Augen entrollen sehen. Die Wunder, welche die Evangelisten Jesu Christo zuschreiben, reichen alle nicht an dieses Wunder der Ausbreitung des Christentums heran. Es ist der Sieg des Geistes über den Stoff, der Sieg reiner Glaubenskraft über die stärkste Herrschergewalt, die je auf Erden regiert hat. Auf der einen Seite eine Handvoll Menschen ohne Ansehen, ohne Mittel, ohne Einfluß, auf der anderen Seite das Imperium Romanum, in eherner Unüberwindlichkeit sein Veto ihnen entgegenschleudernd. Die alten Staatsreligionen und die verschiedenen Mysterienreligionen, die alle miteinander auf dem besten Fuße gegenseitigen Sichvertragens lebten, sind von Anfang an einig in der haßerfüllten Ablehnung des Christentums, welches ihnen seinerseits ebenfalls die Daseinsberechtigung absprach, so daß ein Kampf auf Leben und Tod vom Christentum selber heraufbeschworen wurde. Allen voran hetzt das schon damals einflußreiche Judentum und veranlaßt die ersten grausamen Verfolgungen; immer von neuem wiederholen sich diese, und selbst der Philosoph auf dem Kaiserstuhle, sonst Verkünder allseitiger Duldsamkeit, versucht die verhaßten Christen durch Feuer, Schwert und wilde Tiere auszurotten. Keine politische Gegenwirkung irgend einer Art steht den über die Welt zerstreuten Christen zur Verfügung; jede Verteidigung durch Waffengewalt ist ausgeschlossen; sie können nur dulden und sterben: wie sie das tun, haben wir im vorigen Kapitel an dem Beispiel des Ignatius von Antiochia gesehen. Weltlich betrachtet ist die Fortdauer des Christentums über die zwei ersten Jahrhunderte hinaus – geschweige denn sein Sieg – gar nicht zu erklären; es handelt sich eben, wie schon gesagt, um einen Sieg rein geistiger Kräfte über alles, was den Menschen sonst aus Bedürfnis, Instinkt und Leidenschaft bestimmt. Man kennt das Wort Cecil Rhodes', wert, für alle Zeiten als das Bekenntnis des Antichristen angenagelt zu werden: »Jedermann ist zu kaufen; nur der Preis ist verschieden«; hier nun fanden sich viele tausend Männer, Frauen und auch Kinder bereit, alles, was das Leben ihnen bot und versprach, jeden Augenblick hinzuopfern und ohne Zagen in den qualvollsten Tod zu schreiten; was ihr Geist festhielt, galt ihnen als höchstes Gut: eine Umwandlung, eine Neugeburt mußte bei ihnen stattgefunden haben. Und was hatte sie bewirkt? Woher stammte diese neue, der damaligen Welt unbekannte Kraft? In ihre Seelen war der Glaube eingezogen. Und welcher Glaube? Der Glaube an Gott durch Jesum Christum. Die alte Empfindung von der Gegenwart eines »höchsten guten Wesens«, eines »Vaters im Himmel« (siehe S. 24), war nach und nach bei zunehmender Verwickelung der Zivilisation und steigender Verfeinerung der Kultur verloren gegangen; Jesus brachte die Kunde von diesem Gotte wieder, und zwar auf einer höheren Stufe des bewußten Erfassens, wodurch Mensch und Gott sich unmittelbar nahetraten. Dieser plötzlich aufblühende Glaube lebte aber zunächst nur im Herzen des einen Unvergleichlichen; erst von diesem Herzen aus strahlte er in die anderen Herzen hinein: der Weg zu Gott führte durch Jesum hindurch; kein anderer Weg führte hin.

Wir haben die Menschen gesehen, wie sie voll Sehnsucht die Arme nach einem Mittler ausstreckten und diesen aus ihrer Phantasie zu gebären suchten: sie kamen nie ans Ziel, Phantasiebild blieb Phantasiebild, nie gelangten sie zum Glauben. Nun aber war der Mittler erschienen! Vor seinem bloßen Antlitz blieben alle guten Menschen erschüttert staunen; sein Auge drang bis in die letzten Tiefen ihrer Seelen, dort Kräfte weckend oder spendend – wer könnte das entscheiden? –, von denen sie bisher nichts geahnt; und als dann sich sein Mund zu Worten öffnete, dergleichen nie gehört worden waren, glaubten sie Gott selber reden zu hören. Es genügte ein »Steh' auf und folge mir nach!« – und die Welt mit ihren Sorgen und Hoffnungen, mit ihren Leiden und Freuden war vergessen. Diese Jünger waren weder an Mitteln noch an Geist reich; auch nahmen sie ihr Erlebnis nicht mit bewußtem, unterscheidendem Denken auf; bei einiger Überlegung aber verstehen wir recht gut, daß gerade solche Menschen die geeignetsten waren, ein unerhört Neues rein widerzuspiegeln; zwar spiegeln sie zugleich die Vorstellungen ihrer Zeit wider – das geschieht aber mit so vollkommener Einfalt, daß die Entwirrung geringe Schwierigkeiten macht: wahnwitzig ist es, gerade diesen ersten Trägern des Christentums irgendwelche eigenmächtigen mythischen und sonstigen religionsbildenden Zutaten zuzuschreiben; dazu waren sie ebenso unfähig wie ungewillt. Eine einzige Ausnahme – sowohl in bezug auf Bildung wie auf Begabung – bietet der Apostel Paulus; doch gerade diesen sind wir in der Lage, am Werke genau zu verfolgen: gewiß unterliegt er mannigfaltigeren Einflüssen als seine galiläischen Genossen – wir werden später darüber zu reden haben –, doch je genauer sein Lehren erforscht wird, um so mächtiger erweist sich der Einfluß der von ihm genau gekannten Worte und Weisungen Jesu (siehe namentlich die eingehenden Untersuchungen von Paul Feine, Paul Kölbing und Gardner); auch bei ihm sind daher die Zeiteinflüsse unschwer abzusondern.

Kurz, wir haben es mit wohlbezeugten geschichtlichen Vorgängen zu tun: das können nur Böswillige oder Querköpfige oder Unwissende noch heute in Abrede stellen: die Wissenschaft und die Urteilskraft haben ihr einiges Wort gesprochen.

 

Hiermit wird nun nicht behauptet, wir besäßen in den Evangelien ein Geschichtswerk in dem Sinne, den wir heute diesem Worte beilegen: gegen ein derartiges Mißverständnis dürfte es kaum nötig sein, Einspruch zu erheben. Wichtig ist dagegen die Erwägung, ob es irgend einem noch so begabten wissenschaftlich vorgebildeten Geschichtsforscher möglich gewesen wäre, ein Buch zu schaffen, das an Inhaltsreichtum und an weltumspannender Wirkungsgewalt dem Buche auch nur von ferne gleichgekommen wäre, das wir besitzen? Die Frage kann mit aller Entschiedenheit verneint werden. Es fällt mir schwer, ja, es will mir nicht gelingen, die Worte zu finden für eine Einsicht, die uns Heutigen sehr not tut; vielleicht genügt eine Andeutung, damit der Leser begreife, worauf es hinausgeht.

So unvollkommen, lückenreich, nebelhaft, ungreifbar die Nachrichten sind, die wir über den Heiland besitzen, ich bin überzeugt, es wäre einer göttlichen Vorsehung unmöglich gewesen, ein passenderes Gefäß für die Mitteilung zu finden, auf die es hier ankam. Jede Annäherung an protokollarische Genauigkeit hätte die wirkliche Wahrheit ebenso entstellt und ihres pulsierenden Inhalts beraubt, wie das eine Photographie der Natur gegenüber tut. Hier kommt es auf Raum, auf Luft, auf Resonanz an; jede Absichtlichkeit, jedes menschliche Weise-sein-wollen hätte alles ausgelöscht: das gilt von den Worten, wie von den Taten. Die Stimme Jesu vernehmen wir nur dank dem Umstande, daß die Jünger seine Worte zwar in fromme Herzen aufnahmen, sie aber nie ganz verstanden; und hätten sie ihn nicht Wunder wirken sehen, sie wären unfähig gewesen, uns sein wunderwirkendes Wesen empfinden zu lassen. Letzten Endes kommt es auf ein Anregen zu eigener Tat an: daß Jesus eine geschichtliche Person war, bildet nur einen Teil der evangelischen Botschaft; was sie vor allem will, ist, uns von seiner Gegenwart zu überzeugen: wir sollen die Augen öffnen und ihn selber erblicken, wir sollen seine Stimme im eigenen Ohre vernehmen. Origenes spricht ein wundervolles Wort: »O, daß auch uns der Herr Jesus seine Hände auf die Augen legte, auf daß auch wir anfingen, nicht auf das zu blicken, was sichtbar ist, sondern auf das Unsichtbare, und er uns ... den Blick des Herzens entschleierte, mit dem Gott im Geiste geschaut wird durch ihn, den Herrn Jesus Christus« (nach Harnack). Hiermit wird genau bezeichnet, was die evangelischen Berichte leisten sollen – und auch leisten, sobald ihr Wort auf empfänglichen Boden fällt: den Blick des Herzens entschleiern!

Auf die Evangelien werden wir noch in der Folge zurückkommen; für den Augenblick genügt es mir, wenn ich – ohne die Lücken, die Unklarheiten und die Widersprüche in Abrede zu stellen – den Gedanken geweckt habe, daß in diesem einen, unvergleichlichen Falle Verschleierung zu Entschleierung führt.

Einer der charakteristischen Fehler unserer Zeit, nicht allein auf religiösem, sondern auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete, ist das Nichtwissen von dem, was man fragen kann und soll; jede Frage stellen wir, nur nicht diese; täten wir es, es würden mit einem Schlage manche Mißtöne und alberne Vorurteile aus dem Geistesleben unserer Öffentlichkeit entschwinden. Von Gott – das sahen wir im ersten Kapitel – vermag der menschliche Verstand kaum etwas weiter auszusagen, als daß er ist und sein muß, weil wir Menschen sonst keine Menschen wären; im übrigen kann der Verstand, wenn er auf sich selber verwiesen bleibt, kaum über das »neti, neti!« hinauskommen. Gesetzt also den Fall, das Göttliche wolle sich als Erscheinung unter die Menschen mischen, ist es auch nur denkbar, daß wir Menschen mit unserem derartig beschränkten Verstande fähig wären, uns vorzustellen, auf welche Weise dieses Fleischwerden (Inkarnation) stattfinden würde? Das ist ausgeschlossen: jede hierüber gewagte Aussage kann nur ein Bild, bestenfalls ein Mythos sein. So z. B. sind die vielen Streitigkeiten über die Jungfrauengeburt wohl betrachtet gegenstandslos. Die Erzählung ist an und für sich schön und bedeutungsvoll; auf die behauptete Unmöglichkeit ist kein Gewicht zu legen – belehrt uns doch die Natur alle Tage, daß das, was wir für unmöglich hielten, geschieht; nur kann sich kein Mensch etwas dabei denken, weil Jungfrau und Mutter widersprechende Begriffe sind:

und ein vollkommner Widerspruch
bleibt gleich geheimnisvoll
für Weise wie für Toren.

Es ist auch kein Grund erfindlich, warum bei der Geburt eines göttlichen Wesens der männliche Stamm ausgeschaltet bleiben sollte – es sei denn, es schwebten dem Geist noch hellenische Vorstellungen von Götterverwandtschaft vor. Die Evangelien lassen bekanntlich diese Frage offen, indem sie sich widersprechen; ganz sicher ist, daß weder Paulus noch Johannes etwas von der Geburt Christi aus einer Jungfrau gewußt haben; Johannes nennt den Heiland einfach Sohn Joseph's (1, 45), und Paulus erwähnt seine Mutter sowie die näheren Umstände seiner Geburt überhaupt niemals – nun aber überlege man sich, welches Gewicht gerade dieser Mann auf eine solche Tatsache gelegt hätte! Er, der der Schöpfer des christlichen Mythos genannt werden muß: sein Schweigen beweist, daß die uns in zweierlei Gestalt, aus Matthäus und Lukas, geläufige Erzählung ihm entweder unbekannt war, oder unauthentisch schien; sagt er doch vom Heiland ausdrücklich, »der gekommen ist aus David's Samen nach dem Fleisch« ( Röm. 1, 3). Und der Apostel Johannes sagt überhaupt von allen denjenigen Menschen, welche geeignet sind, »Gottes Kinder zu werden«: »Sie sind nicht aus Blut und nicht aus Fleisches- auch nicht aus Manneswillen, sondern aus Gott gezeugt« ( Joh. 1, 12 fg.). Wieviel weiser waren die frühesten Christen als ihre Nachfolger! Derselbe heilige Märtyrer Ignatius, dem wir bereits wiederholt begegnet sind, schreibt in seinem Brief an die Epheser: »Denn unser Gott, Jesus der Christ, ward nach Gottes Heilsratschluß in dem Leibe der Maria empfangen, zwar aus dem Samen David's, aber doch zugleich aus heiligem Geiste« (18, 2) – wobei die Worte »Samen David's« fraglos auf die Vaterschaft Joseph's weisen, da Maria nach ältester Tradition dem Stamme Levi angehörte. Diesem Apostelschüler machte also die Vorstellung, daß Christus als Mensch Sohn Joseph's und zugleich als Gott der Sohn Gottes sei, keine Schwierigkeit, noch fand er darin etwas Entwürdigendes.

Aus solchen Dingen Zwangsglaubenssätze (Dogmen) zu machen, an die ein jeder zu glauben verpflichtet wird, halte ich für ein Vergehen gegen den Menschengeist und dadurch auch gegen den heiligen Geist Gottes. Denn an Tatsachen, die unser Verstand nicht zu erfassen vermag – wie das Auftreten eines übermenschlichen Wesens auf Erden eine ist –, können wir uns nur tastend heranwagen; was dem einen gemäß ist, kann dem andern unannehmbar dünken; jedem muß die Freiheit bewahrt bleiben, sich gottwärts auf dem seiner Natur entsprechenden Wege zu erheben; auf diesem ganzen Gebiete müssen wir den Grundsatz anerkennen: verschiedene Aussagen – auch wenn sie sich widersprechen – können an Wahrheitsgehalt sich gleichkommen. Jesus Christus hat als Mittler zwischen Gott und Mensch auf Erden geweilt und ist für unsere Erlösung gestorben: das können wir wissen; alles Weitere lassen die Evangelien im Halbdunkel – und daß sie das tun, zeugt von göttlicher Meisterschaft.

Was hier von der Geburt gesagt ist, gilt auch vom Tode – nur in umgekehrter Richtung: in dem einen Fall kann unser Verstand nicht fassen, was voranging, in dem anderen nicht, was nachfolgte. Wir können eben immer und überall Jesum nur dort mit den Sinnen wahrnehmen und ihm mit dem Denken folgen, wo er sich als Mensch gibt; sobald er Gott ist, entschwindet er aus diesem Gesichtskreis, und so fest auch das Gemüt durch Glauben an ihm halten mag, jede Aussage über ihn erhält jetzt einen anderen Charakter. Über alle Ereignisse, die dem Tode unmittelbar vorangehen, sind wir besonders eingehend und genau unterrichtet; mit dem Augenblick des Todes sinkt gleichsam ein Nebel vor die Augen herab, die vier evangelischen Berichte stimmen nicht mehr überein und sind teilweise sprunghaft und zweideutig, – weisen auch hier und da sichtbare Spuren späterer Überarbeitung auf.

Über die Auferstehung ist unübersehbar viel von den Fachgelehrten geschrieben worden; denn nicht allein bringt jeder Kommentar zu jedem der Evangelien und zu dem ersten Briefe Pauli an die Korinther eingehende Ausführungen, sowie desgleichen jedes Leben Jesu, sondern es gibt einen ganzen Buchgaden von Schriften, die einzig der Untersuchung dieser einen Frage sich widmen – und zwar ohne je ein Ergebnis zu erreichen, das die Zustimmung Aller erzwinge. Daran liegt nun wenig oder vielmehr gar nichts: einzig darauf kommt es an, daß man die Einsicht gewinne, hier stehe auf rein logischem Wege kein Ergebnis zu erwarten, weil es sich um Vorgänge handelt, welche die Welt der Erscheinung, auf deren Erkenntnis unser Verstand und die ihm dienenden Sinne eingeschränkt sind, zwar berühren und gleichsam durchqueren, zum größeren Teil aber außerhalb dieser Grenze sich abspielen.

Daß die ersten Christen an die Auferstehung Jesu von den Toten glaubten, bedarf keines Beweises: das Christentum entstand ja als Folge der Auferstehung, und lange Jahre lautete der Gruß der sich Begegnenden: »Christ ist erstanden!« Man mag sich dieses »Auferstehen« denken und deuten wie man will – an der Tatsache selbst kann kein urteilsfähiger Mensch vorbeikommen. Zwar haben die Juden sofort behauptet, die Jünger hätten den Leichnam aus dem Grabe gestohlen, um dann aussagen zu können, ihr Meister sei von den Toten auferstanden; doch überzeugt die geringste Überlegung, daß diese plumpe Erfindung zugleich Unmögliches und Unzureichendes aufstellt. Die erschrockenen, durch die Hinrichtung ihres Führers aller Hoffnung beraubten Jünger waren geflohen und hielten sich verborgen; außerdem war ihnen der Begriff einer Auferstehung fremd, denn er gehörte nicht zu den damals im Judentum geläufigen Vorstellungen, und wir wissen, daß sie Worte des Heilandes, die auf seine Auferstehung nach dem Tode hindeuteten, sich nicht erklären konnten: »Und die Jünger verhandelten unter sich, was das heiße, von den Toten auferstehen« ( Mark. 9, 10 und siehe z. B. Joh. 2, 22): es ist ihnen darum weder die Fähigkeit, den Raub auszuführen, noch der Gedanke, es zu tun, zuzutrauen. Weit mehr ins Gewicht fallen aber gegen diese Behauptung zwei andere Erwägungen. Erstens erscheint bei diesen einfachen Galiläern, unter denen damals kein einziger Mann von hervorragender Energie und Initiative zu finden war, ein derartiger macchiavellistischer Plan unbedingt ausgeschlossen, ebenso wie die geistige Kraft, auf diesem Wege eine neue Religion gründen zu wollen. Zweitens aber ist es geradezu hirnverbrannt, vorauszusetzen, eine zwischen zwei oder drei Dunkelmännern verabredete Lüge hätte genügt, die unaufhaltsame Bewegung hervorzurufen, die sofort Hunderte und Tausende von Menschenherzen ergriff, mit himmlischem Hoffen erfüllte und zu unerschütterlichem Gottesglauben stählte. Mit Recht erwidert Origenes dem Leugner Celsus, das Benehmen der Jünger, ihr plötzlich hell auflodernder Glaube, die in ihnen geweckte, allen Hindernissen trotzende Tatkraft und die Überzeugungsgewalt, die sie über Tausende gewannen, diese unleugbaren geschichtlichen Tatsachen seien an und für sich der bündigste und unwiderleglichste Beweis, daß sie den von den Toten auferstandenen Jesum mit Augen gesehen hätten, denn aus diesem überwältigenden Erlebnis hätten sie erst die Kraft zu allem Weiteren geschöpft (Buch 1, Kap.,31). Dieses Urteil trifft heute ebenso zu wie im Jahre zweihundert, wo es gefällt wurde; ja, ich behaupte: das Dasein des Christentums beweist die Tatsache der Auferstehung. Wie der Apostel Paulus an die Korinther schreibt: »Ist aber Christus nicht auferweckt, so ist euer Glaube umsonst. ... Wenn wir nichts haben als die Hoffnung auf Christus in diesem Leben, so sind wir die beklagenswertesten aller Menschen« ( 1. Kor. 15, 17, 19).

Wie die Auferstehung zu denken sei, das ist eine ganz andere Frage. Ich für mein Teil schließe mich einem der bedeutendsten Köpfe unter den zeitgenössischen deutschen Theologen an, dem kritisch und durchaus frei denkenden Friedrich Loofs, und bekenne, »daß niemand sich mit seinem Denken über unsere bisherige Erfahrung hinausrecken kann: wie das, was die Jünger erlebten möglich war, – das weiß ich nicht. ... Ich weiß es nicht und ich halte Nichtwissen hier nicht für Wahrheitsscheu« ( Die Auferstehungsberichte und ihr Wert, 3. Aufl., S. 40 fg.). Freilich wäre es von Interesse zu wissen, wie die Männer, die den Auferstandenen erblickten, ihre Vision deuteten; doch läßt sich aus den Berichten nichts Genaues und namentlich nichts Übereinstimmendes entnehmen: einige schildern Umstände, die eine massive Körperlichkeit ausschließen, andere betonen gerade diese. Nur über eines Mannes Urteil wissen wir genau Bescheid: der Apostel Paulus schreibt in dem selben Kapitel, in welchem er die Erscheinungen des Auferstandenen aufzählt: »Das aber sage ich, Brüder, daß Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben kann, noch erbt die Verwesung die Unverweslichkeit« ( 1. Kor. 15, 50), und noch mehr dergleichen, und in seinem Briefe an die Philipper unterscheidet er zwischen dem irdischen »Leib unserer Erniedrigung« und dem »Leib der Herrlichkeit« des auferstandenen Jesus (3, 21). Es kann also keinem Zweifel unterliegen, daß dieser Bedeutendste unter den ersten Christen nicht an eine Auferstehung des gestorbenen Körpers dachte, sondern an das Weiterleben in verklärter Gestalt außerhalb der uns geläufigen Bedingungen irdischen Daseins ( 1. Kor. 15, 44 fg.). Dies bestätigt entscheidend ein Umstand, den mancher wohl übersieht: Paulus zählt alle Erscheinungen des Auferstandenen, von denen er weiß, der Reihe nach auf (am selben Ort, Vers 5 fg.), erwähnt aber mit keiner Silbe des leeren Grabes noch des damit zusammenhängenden Besuches der Frauen – das leere Grab besaß also für ihn keine Bedeutung, vielleicht hielt er diese Erzählung für eine fromme Legende. Um den Zusammenhang zu übersehen und somit auch richtig beurteilen zu können, muß man folgende Tatsache kennen und bedenken.

Wir hörten oben von der böswilligen Märe der Juden, Christi Jünger hätten seinen Leichnam aus dem Grabe heimlich entfernt. Mancher Leser wird sich gefragt haben, was diese Entweihung der Grabesruhe hätte bezwecken sollen? Die Semiten und mit ihnen die Juden – bei dem groben Materialismus, der ihr religiöses Leben von dem anderer Menschen unterscheidet – sind unfähig, sich ein künftiges Leben vorzustellen, wenn nicht der selbe Körper diesem neuen Leben auch weiterhin als Träger dient. Ich kann hierfür das vor wenigen Tagen erschienene Werk von Wilamowitz-Moellendorff, Platon (1919, 1, 335) anführen: »Wer für die semitische Denkart nicht dem Tode verfallen ist, wer also weiter wirkend gedacht wird, muß entweder samt seinem Körper in die Unsterblichkeit erhoben, oder samt seinem Körper aus dem Tode auferstanden sein«; während der Hellene schon zu Homer's Zeiten mit der Vorstellung einer »unsinnlichen Körperlosigkeit« vertraut war, »kann der Semit vom Körperlichen nicht los«. In diesen Vorstellungen waren die Jünger Christi samt ihrer Umgebung aufgewachsen; das darf nicht übersehen werden: denn daraus erst versteht man die Beschuldigung der Juden, und zugleich wirkt dieser jüdische Materialismus auf die Auffassung der Jünger von ihren Erlebnissen, infolgedessen auch auf ihre Darstellung. Paulus aber, als religiöses Genie, der außerdem seit früher Jugend unter dem Einfluß einer hellenistischen Umwelt gestanden hatte, faßte, wie wir sahen, die Auferstehung Christi anders auf und bedurfte für sie keines Aufbrechens der Grabespforte. Allerdings mag Wilamowitz mit der feinen Bemerkung recht haben, Paulus bleibe insoferne Materialist, als der von ihm gelehrte »pneumatische Leib«, aus »himmlischem Stoffe« gemacht, noch immer ein Leib sei; doch meine ich, er habe damit einen so bedeutenden Schritt auf dem Wege zur Idealisierung getan, daß man füglich von ihm nicht mehr erwarten konnte. Bekanntlich ist die Kirche ihm nicht gefolgt, vielmehr blieb sie in der groben Sinnlichkeit semitischer Halbgedanken befangen.

Zum Beschluß dieser Erörterung diene ein herrliches Wort Luther's: »Denn wir diesen Artikel (von der Auferstehung) im Gebet nicht darum sprechen und bekennen, daß es allein geschehen sei, wie wir sonst eine Fabel, Märlein oder Geschichte erzählen; sondern, daß es im Herzen stark, wahrhaftig und lebendig werde. Und das heißen wir Glauben, wenn wir es uns so einbilden, daß wir uns ganz und gar darein stecken, eben, als sei sonst nichts anderes geschrieben, denn: Christus ist erstanden!«

Und noch eines.

Sollte ein Freund mein eigenes Bekenntnis hören wollen, ich würde ihm folgendes sagen. Indem Jesus – insofern er Mensch war, der perfectus homo der kirchlichen Bekenntnisse – starb, entschwand er aus der Welt des Raumes und der Zeit, damit auch aus der Geschichte; »wissen« kann ich seit dem Augenblick seines Todes nichts mehr über ihn, nur glauben. Gerade weil ich die Schulung der exakten Wissenschaft zu erhalten das Glück hatte und außerdem von Immanuel Kant belehrt wurde, »er habe das Wissen aufheben müssen, um zum Glauben Platz zu bekommen« ( Reine Vernunft, Vorr. z. 2. Ausg., S. XXX). – Dank diesen beiden Umständen bin ich gewohnt, zwischen Wissen und Glauben mit Schärfe zu unterscheiden. Was ich glaube, steht in meinem Gemüte noch tiefer verankert als das, was ich zu wissen vermeine; es steht aber an anderem Orte, unter anderen Gesetzen, und es fällt mir infolgedessen schwer, mich in die Köpfe der Unbelehrten hineinzufinden, sowie ihnen Einblick in meinen Kopf zu gewähren, da die meisten über diese Unterscheidung keine klare Vorstellung besitzen. Ich weiß, daß die Sonne am Himmel steht; fester und gewisser und inhaltreicher ist aber mein Glaube an Jesum Christum als meinen Heiland. Was Christus uns gebracht hat, ist der Glaube an Gott: »Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater« ( Joh. 8, 19). Die ältesten Christen haben das gut gewußt, und wir lesen z. B. in der Epistel an Diognet: »Denn wer unter allen Menschen hat, ehe Christus erschien, auch nur im geringsten gewußt, was Gott ist?« Gott der unwahrnehmbare, undenkbare wurde in Christo sichtbar und redete als Mensch uns vernehmbare Worte, deren überirdischer Klang uns heute ebenso in den Ohren tönt wie den Menschen vor zweitausend Jahren. Wie der Apostel Paulus von der Erscheinung Christi sagt: »Sie ließ es in unseren Herzen tagen zum strahlenden Aufgang der Erkenntnis und der Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitze Christi« ( 2. Kor. 4, 6).

Jesus die Offenbarung Gottes auf Erden: das ist der Inhalt der »Frohbotschaft«. Daß Gott dem Tode nicht stirbt, ist klar; der Tod kann ihn höchstens aus dem Drucke einer vorübergehend angenommenen Leiblichkeit erlösen: Jesus lebt von je auf je. Daher bezeichne ich, ohne Bedenken, das Wort »Auferstehung« als Allegorie; stehen, erstehen, auferstehen sind Begriffe, welche eine räumliche Welt und eine zeitliche Bestimmung voraussetzen; ich erkläre mir aber den Gebrauch dieser Allegorie recht gut, schon aus der oben geschilderten jüdischen Denkart, sowie auch aus dem Bedürfnis der geschichtlichen Anknüpfung an das soeben abgeschlossene Leben. Sollten die Jünger den Sinn dieses Lebens, den Sinn ihres ungeheueren Erlebnisses endlich begreifen und dadurch erst zu ihrem weltgeschichtlichen Amte tauglich gemacht werden, so mußte Jesus ihnen erscheinen und zu ihnen reden: für diese Notwendigkeit besitzen wir den geschichtlichen Beweis; denn erst aus diesem mit nichts zu vergleichenden Ereignis entstand – wie wir bereits sahen – das Christentum. Über die Art jedoch, wie diese Erscheinungen verstandesmäßig zu deuten seien, bekenne ich meine Unwissenheit und bekenne, daß ich jede Erklärung von vornherein für unmöglich halte und jede dogmatische Entscheidung hierüber ablehne. Für diese meine Auffassung berufe ich mich nochmals auf Origenes; dieser schreibt an einer Stelle seines De Principiis (Buch 2, Kap. 6, Abschn. 2), wo er von der Fleischwerdung, dem Tode und der Auferstehung spricht: »Mit solchen Dingen sich an menschliche Ohren wenden und versuchen, sie in Worten auseinanderzusetzen, das übersteigt weit die Fähigkeiten unseres Verstandes und unserer Sprache; ja, ich bin sogar der Meinung, daß es die Fähigkeiten der heiligen Apostel überstiegen habe; wahrscheinlich sind auch die himmlischen Wesen unfähig, diese Geheimnisse denkend zu erfassen.«


Zwischen dem unerforschbaren Eintritt ins irdische Dasein und dem von nie auszudeutenden Geheimnissen umgebenen Austritt aus diesem Dasein in ein anderes, unserem Verstande unfaßbares, liegt ein kurzes Leben, das bis auf die letzten acht Tage – sobald man es von außen ansieht – weltfern und ereignislos verläuft; von keinem uns bekannten Religionsstifter oder Reformator weiß die Geschichte ähnliches zu berichten; vielmehr sehen wir Männer dieser Art durch innere Seelenqualen sich bis zu gewaltigen Entschlüssen durchkämpfen, um dann hinauszutreten und auf die sie umgebende Welt umwälzend zu wirken – es sei hier nur an Buddha, Mohammed und Luther erinnert. Bei Jesus ist weder von dem leidenschaftlichen Krieg im eigenen Busen noch von dem Umsturz bestehender Einrichtungen die Rede. Wollte man einwerfen, wir wüßten so gut wie nichts über die ersten dreißig Jahre dieses Lebens und könnten darum über die inneren Kämpfe nichts aussagen, ich würde dem widersprechen: denn es besteht inniger Zusammenhang zwischen den inneren Seelenkämpfen der Religionserneuerer und der Art ihrer späteren gewaltsamen Tatkraft: für die göttliche Ruhe, die von Anfang an Jesu Herz erfüllt haben muß, zeugt sein schweigendes Dulden, als die Welt endlich auf ihn aufmerksam geworden war und seinen Tod erstrebte. Zwar wollen wir die bedeutsame Allegorie der Versuchung in der Wüste nicht als unhistorisch gering schätzen; doch gerade diese Art, sich in der Stunde der Versuchung in die Einsamkeit zurückzuziehen, der bösen Regungen still entschlossen Herr zu werden und dann in die gewohnte Umgebung gelassen zurückzukehren, zeugt von einer himmlischen Harmonie der Seele, für die wir kein zweites Beispiel besitzen.

Jeder von uns müßte nun vor allem den gebieterischen Drang empfinden, sich diese himmlische Harmonie, wie sie als Persönlichkeit auf Erden wandelte – den »Menschensohn«, wie sie sich selber zu bezeichnen liebte – möglichst lebendig vor Augen zu rufen; das ganze Christentum wurzelt in dem mit nichts zu vergleichenden Eindruck, den diese Persönlichkeit auf einige hundert Menschen machte und bei ihnen als Quelle unermeßlicher Kraft hinterließ. Die Vielen, für die Jesus Christus einen bloßen Namen bedeutet, doch auch nicht diese allein, sondern auch diejenigen, die an ihn als Erlöser glauben und ihn als Gott anbeten, ahnen nicht, was ihnen abgeht, solange sie die genannte Vorstellung entbehren. Die Evangelien, so lückenhaft auch ihre Berichte sein mögen, bergen – und für den, der sie nicht zu lesen versteht, verbergen – eine Fülle von Tatsachen, geeignet, den Heiland uns nahe und immer näher zu bringen.

Auf die Frage nach der Rassenangehörigkeit der Familien des Joseph's und der Maria will ich hier nicht eingehen, erstens, weil sie unlösbar ist, zweitens, weil wir gut daran tun, das Geheimnis der Geburt unseres Heilandes zu verehren Was hier etwa zu sagen wäre, habe ich in dem Kapitel »Die Erscheinung Christi« meiner Grundlagen zusammenzufassen versucht; in einem historischen Werke war eine derartige Erörterung am Platz. Hinzufügen will ich nur, daß ein gelehrter Fachmann, Professor Haupt in Baltimore, seitdem die Vermutung ausgesprochen hat, Maria und Joseph seien der Rasse nach arische Meder gewesen, was er namentlich damit begründet, daß die Bewohner Galiläa's der Mehrzahl nach Meder waren. (Diese Mitteilung entnehme ich dem Werke des englischen Theologen Mac Clymont: New Testament Criticism, its history and results, 1913, S. 150.) – Inzwischen ist die Schrift von Delitzsch Die große Täuschung (1920) erschienen, in der wir S. 94 lesen: »Jesu Eltern und Vorfahren waren als Galiläer nach alttestamentlicher wie keilschriftlicher Bezeugung ganz gewiß nicht jüdischen Geblüts, sondern gehörten zu der großen Zahl galiläischer jüdischer Proselyten. Daß Jesus kein Prophet jüdischen Geblüts war, lehrt sein, dem jüdischen diametral entgegengesetzter Gottesbegriff und bekräftigen alle seine Reden mitsamt seinem ganzen Leben und Sterben.«. Es genügt uns zu wissen, daß der Heiland zwar im israelitischen Glauben auferzogen wurde, nicht aber in einer Umgebung lebte, die man im engeren Sinne des Wortes »jüdisch« nennen könnte. Die Einwohner Galiläa's (des »Heidengaues«) bildeten einen wesentlich anderen Schlag Menschen als die Juden Judäa's, standen auch politisch unter einer anderen Regierung; sie zeichneten sich aus durch Arbeitslust, heitere Gemütsart, energischen Unabhängigkeitssinn – den sie in ihren wiederholten Aufständen heldenmütig bewährten. »Ein Galiläer und ein entschlossener Mann bedeutet im jüdischen Sprachgebrauch dasselbe«, bemerkt Herder. Die Juden haben die Galiläer niemals als Volljuden anerkannt; ihnen war z.B. das öffentliche Vorlesen beim Gottesdienst innerhalb Judäa's verboten; ihre Aussprache sei derartig verwahrlost – so wurde gespottet –, daß man bei einem bestimmten Worte nicht wisse, ob der Galiläer von Wein, von Wolle, von einem Esel oder von einem Lamm rede (Lightfoot: Galater, S. 197). Unter diesen Männern hat nun Jesus sein Leben gelebt und unter ihnen seine Anhänger gefunden – die ersten Vermittler des christlichen Glaubens. »Gut war's,« schreibt Herder, »daß Christus fern von Judäa und dem stolzen Jerusalem, obwohl nur kurze Zeit, sein Geschäft in dieser Provinz (Galiläa) trieb; dort würde man ihm auch diese kurze Zeit nicht gegönnt haben. Hier sprach er mit dem gemeinen, einem lebhaften Volk, mit Menschen von gesundem Verstande, bei ihren Geschäften. Auch seine vertrauteren Schüler hatte er sich aus diesen Gegenden .... erwählt« ( Vom Erlöser der Menschen, Abschn. 3, Abs. 9). Jedermann kennt die Stellen der Evangelien, in denen Jesus und seine Anhänger als »Galiläer« verhöhnt werden, und A. Merx erblickt in der Rede des Kaiphas ( Joh. 11, 19–50) ein Anzeichen dafür, daß der Hohepriester den Heiland »nicht als einen Vollisraeliten ansah« ( Die vier kanonischen Evangelien, Schlußband, S. 299).

Der Tatsache dieser galiläischen Umgebung wird aber, wie man sieht, die übliche Vorstellung des Heilandes als eines Juden im Judenlande keineswegs gerecht. Selbst abgesehen von der Hauptgestalt, bedingte die Art der Gegenwirkung ein anderes Leben in Galiläa, als es in Judäa der Fall gewesen wäre, und bestimmte somit den Ausgangspunkt des Christentums.

Beachten wir ferner, daß der Heiland auf dem Lande aufwuchs (Nazareth war ein Dorf), inmitten eines gesunden Bauernvolkes, in einer reichgesegneten, lachend schönen Gegend, – fern also von allem städtischen Elend und – wie gesagt – außerhalb der landschaftlich trostlos öden Heimat der eigentlichen Juden, Judäa.

Genug vorläufig über die äußeren Bedingungen, unter denen die Persönlichkeit sich kundgab; wenden wir uns zum Inneren.

Etwas, was einer aufzählenden Schilderung rein menschlicher Züge gleichkäme, findet sich in den Evangelien nirgends; dennoch entdeckt der aufmerksame Leser zahlreiche Andeutungen, genügend, um, wenn nicht ein ausgeführtes Bildnis, so doch einen bestimmten Eindruck – Stoff zu reichem Nachsinnen – zu gewinnen. Wir finden da Äußerungen der Freude, des Schmerzes, des Mitleidens, des Erstaunens, der Verzweiflung; große Leidenschaftlichkeit strahlt aus verschiedenen Sprüchen, z. B.: »Ich bin kommen, ein Feuer zu werfen auf die Erde, und was wollte ich lieber, denn es brennete schon!« ( Luk. 12, 49); ja, frühe Texte berichten sogar von Aufwallungen des Ergrimmens und Erzürnens; so lautet z.B. Mark. 8, 12 in der ältesten aller bekannten Handschriften (von der Wissenschaft Syrsin genannt): »Und er ward im Geiste zornig«, und in anderen alten Texten: »Er ergrimmte in seinem Geiste«. Leider sind die meisten dieser kleinen rein menschlichen Züge von späteren frommen Herausgebern verwischt worden – nicht aus der bewußten Absicht, den Text zu fälschen, sondern aus der Besorgnis, allzu menschliche Züge könnten der Ehrfurcht vor dem Gotte Abbruch tun; im obigen Falle z. B. lesen wir heute: »Seufzte er auf in seinem Geiste«. In den wissenschaftlichen Büchern findet man Beispiele genug dieses allmählichen Herabtönens ursprünglich vorhandener Farben. Wie viel aber derjenige noch entdecken kann, der an die Texte nicht mit kalter Skepsis, sondern mit liebender Wißbegier herantritt, beweist am besten der Abschnitt bei Burkitt über eine gewisse bittere Heiterkeit oder »wehmütige Ironie« (mournful irony), die beim Heiland öfters durchbricht und weder von seinen Jüngern noch von ihren Nachfolgern begriffen wurde, da diese Gemütsstimmung derjenigen des frühen Christentums völlig fremd blieb, indem sie auf eine überlegene Freiheit des Geistes hinweist: Burkitt hat namentlich die Stelle bei Lukas 22, 35 fg. im Sinne, wo der Heiland am Abend der Gefangennahme seinen Jüngern den Ankauf von Schwertern empfiehlt, als ob er auf Waffengewalt sich zu verlassen vorhätte ( Gospel Transmission, Kap. 4). Selbst über tägliche Gewohnheiten erfahren wir manches: so z. B. die Liebe zur Einsamkeit ( Mark. 1, 45), das Sich-erheben bei Tagesanbruch, um leise aus der Mitte der schlafenden Jünger zum ungeleiteten Frühgang über die Felder zu entschlüpfen ( Mark. 1, 38) oder hinauf auf eine Höhe ( Mark. 3, 13), so daß die erstaunten und offenbar gekränkten Anhänger Mühe haben, ihren Meister aufzufinden; ein anderes Mal, um den Berührungen der Menge zu entkommen, springt Jesus schnell in ein Boot und läßt vom Ufer abstoßen ( Mark. 3, 10).

Tiefer als diese Beobachtungen führt uns in das Wesen des Heilandes die Versenkung in seine Sprache ein: auf diesem Wege gelangen wir stufenweise immer mehr ins Innere.

Das Reden in Gleichnissen ist zwar im Orient üblich; doch kommt es bei Jesus nicht auf die Gleichnisse allein an – so beispiellos und unnachahmlich diese auch seinem Munde entquollen – vielmehr redet er, auch außerhalb der eigentlichen Parabeln, fast immer in Bildern, und diese Bilder sind der Beobachtung der Natur und der menschlichen Arbeit auf dem Lande entlehnt. Schon vor zweieinhalb Jahrhunderten hat ein Mann, dessen Fähigkeit zu »objektiver« Beurteilung selbst der Zweifler nicht in Abrede stellen wird, Sir Isaak Newton, in seinem Kommentar über das Buch Daniel auf diese unterscheidende Eigenart der Sprache des Heilandes hingewiesen, der, anstatt – wie die Orientalen – dramatisch-effektvolle und gar häufig schwülstige Vergleiche heranzuziehen, immer mit vollendeter Einfachheit an dasjenige anknüpft, was ihm und seinen Begleitern vor Augen liegt: allem weiß er Bedeutung abzugewinnen – auch dem Sperling auf dem Dache und der Anemone auf dem Felde. Und was Newton, der Astronom und Physiker, mit seinem scharfen Auge beobachtet hatte, das hat unser Zeitgenosse F. Crawford Burkitt – anerkanntermaßen der bedeutendste unter den lebenden Theologen Englands – auf Grund seiner Fachkenntnisse bestätigt: die gesamte Literatur kann nichts aufweisen, was in bezug auf Gedanken- und Ausdrucksstil auch nur im entferntesten mit den Gleichnissen Jesu Ähnlichkeit besäße ( The Gospel History and its Transmission, Kap. 6).

Zunächst bewirkt die Vollendung in der Bildlichkeit der Sprechweise, daß das einzelne Wort in einem gewissen Sinne an Bedeutung verliert, – insofern nämlich, als die Gedanken ganz und gar in den Bildern – nicht eigentlich in den Wörtern, welche die Bilder vermitteln – liegen: daraus folgt nun aber ein Umstand, der für die Aufbewahrung und Weiterwirkung der Worte des Heilandes entscheidende Bedeutung besessen hat und ihnen noch heute eine Frische verleiht, als wären sie gestern gesprochen. Je geringer der Wert, der dem Oratorischen, dem Logisch-Dialektischen bei einer sprachlichen Mitteilung zukommt, und je vollendeter plastisch-sichtbar der Ausdruck vor Augen steht, um so leichter wird es den Zuhörern fallen, nicht wortgetreue, wohl aber sachgetreue Berichte über das einstens Vernommene zu erstatten: die Worte mögen sie vergessen, die Bilder bleiben dem Gedächtnis eingegraben. Wer in Burkitt's vorhin angeführtem Buche das Kapitel aufmerksam betrachtet, in welchem dieser Gelehrte einunddreißig mehrfach bezeugte Herrenworte in ihren verschiedenen Fassungen vorlegt, wird mit Erstaunen entdecken, daß diese Verschiedenheiten – welche teils den Wortlaut, teils die begleitenden Umstände, unter denen ein Ausspruch getan wurde, betreffen – wenig oder gar keinen ummodelnden Einfluß auf die in einem Gleichnis mitgeteilte Wahrheit ausüben. Die Bilder waren so plastisch und eindringlich gewesen, daß sie unverwischbar im Gedächtnis haften blieben; und auf sie kam es an. Der gleiche Umstand erklärt es, daß die echten Sprüche des Heilandes in alle Sprachen der Welt übersetzt werden können, ohne von ihrer Wirkungskraft einzubüßen; wogegen z. B. es sehr schwer fällt, den Sinn mancher Ausführungen des Apostels Paulus ohne Zuhilfenahme des griechischen Urtextes genau zum Verständnis zu bringen, und ebenso müssen auch seine dem damaligen Leben einer griechischen Hafenstadt und der Gedankenwelt der hellenistischen Mysterienreligionen entnommenen Bilder ohne Erklärung unverständlich bleiben. Jesu Worte – durch seine Bilder vermittelt – bleiben allen Zeiten und Völkern zugänglich: »Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.«

Man sieht: schon die bloße Versenkung in die Sprache Jesu lehrt uns viel über ihn – und zwar weit Wichtigeres als eine Chronik seiner Erdentage bieten könnte; denn bei diesem Leben kommt es einzig auf Seelenschau an.

Und bei dem Wort Seelenschau fällt mir ein, daß ein zweiter Mathematiker, Newton an Bedeutung gleich, Blaise Pascal, uns den Weg gewiesen hat, aus der Sprechweise des Heilandes einen noch tieferen Blick in seine göttliche Wesensart zu tun. Er schreibt (Pensées Nr. 797): »Jésus Christ a dit les choses grandes si simplement qu'il semble qu'il ne les a pas pensées« – Jesus Christus hat erhabene Dinge mit solcher Einfalt ausgesprochen, daß man den Eindruck erhält, er habe sie nicht gedacht (wobei der Nachdruck auf dem Worte »gedacht« liegt). Diese Betrachtung führt in unergründliche Tiefen, und muß, glaube ich, auf jedes sinnende Gemüt wie eine Offenbarung wirken – eine Offenbarung von der Gottähnlichkeit Jesu. Alle Weisen haben seit jeher erkannt, daß eines Gottes Denken nicht in die Formen, die dem Menschenhirn grenzend vorgeschrieben sind, gebannt und gefesselt sein kann, namentlich, daß ihm das mühsame Hin und Her der allmählichen Entstehung aus Beweis zu Beweis erspart bleiben, und es alles auf einmal umfassen müsse – etwa wie unser Auge mit einem Blick ein Ganzes überschaut. Pascal's Bemerkung über die Sprache Jesu – als Vermittlerin von Erkenntnissen, die das logische Denken übertreffen – weist uns nun in diese Richtung: nämlich zu der Einsicht, daß hinter den Worten und den Bildern etwas anderes und mehr als ein Denken liegt – die überirdische Kraft eines göttlichen Erschauens.

 

Hier knüpft sich nun an die Betrachtung über die Sprache Jesu mit innerer Notwendigkeit diejenige über seine Art zu lehren an – denn das eine ist in wesentlichen Punkten durch das andere bedingt.

Das Bezeichnende für des Heilandes Art zu wirken besteht darin, daß er weniger Gewicht auf das Lehren legte als auf das Leben. Er erwählte eine kleine Anzahl Menschen, die er zu bestimmen wußte, sein Leben zu teilen und dadurch Zeugen seines Tuns und Lassens, seines Redens und Schweigens zu werden. Im Gegensatz zu Buddha, der seinen Jüngern ein ganzes Lehrgebäude mit erstens, zweitens, drittens vortrug, und zu Mohammed, der seine Weisheit als göttliche Offenbarung und Gesetzgebung niederschrieb, begnügte sich der Heiland mit der »Nachfolge«; wie Markus sagt: »Er bestellte zwölf, daß sie um ihn seien« (3, 14); das heißt: die Jünger blieben Tag und Nacht um ihn und erhielten dadurch Gelegenheit zu erfahren, in welcher Weise er die Begebnisse – wie jede Stunde sie mit sich brachte – behandelte: wie er Kranke heilte, Arme tröstete, die Fragen der Schriftgelehrten beantwortete, mit Leuten aus allen Gesellschaftsschichten – auch mit den als Sündern und Verworfenen geächteten – umging, wie er gegen Nichtjuden sich verhielt, wie er die jüdischen Gesetzesvorschriften beachtete und nicht beachtete, wie nichts Menschliches seinem Auge entging – auch nicht das Scherflein, das die Witwe verstohlen in die Armenbüchse wirft, wie sein Auge liebevoll Gottes schöne Natur aufnahm. An abwechselungsreichen Erlebnissen konnte es nicht fehlen, da im Gegensatz zu Johannes, dem Prediger in der Wüste, Jesus – sobald er sein öffentliches Amt antrat – sein Heim von dem stillen Nazareth nach der volkreichen, bewegten Stadt Kapernaum verlegte, wo die beiden Hauptstraßen sich kreuzten, die den Verkehr zwischen Süden und Norden, sowie zwischen Westen und Osten – und das heißt zwischen dem Mittelländischen Meer und Damaskus –- vermittelten. Am Ufer des Sees von Genezareth gelegen, war die Stadt der Sitz eines Hauptzollamtes und einer römischen Besatzung: hier war Jesus »daheim«, wie Markus sagt (2, 1), und der älteste Text von Markus 9, 33 spricht von »seinem Hause«. Den evangelischen Berichten entnehmen wir – wie gesagt –, daß er hier mit allen Kreisen der Bevölkerung umging, Einladungen bei Pharisäern Folge leistete (Luk. 7, 36 fg., 11, 37 fg., 14, 1 fg.), Gastmähler für die verachteten Zöllner veranstalten ließ – »und es saßen viele Zöllner und Sünder zu Tische bei Jesus und seinen Jüngern, denn es waren viele in seinem Anhang« ( Mark. 2, 15) –; es drängte sich bisweilen eine derartige Menschenmenge in sein Haus, »daß selbst vor der Türe nicht mehr Raum war« und man Kranke vom Dache ins Innere herablassen mußte ( Mark. 2, 2 fg.); auch wohlhabende Anhänger besaß er in verschiedenen Landesteilen und suchte sie mit seiner Jüngerschar auf (z.B. Luk. 10, 38 fg.). In Kapernaum selbst, sowie bei Gelegenheit der von dort aus unternommenen Wanderungen über die Grenzen Galiläa's hinaus, kam es vielfach zu Begegnungen mit Griechen, Römern, Samaritanern und anderen Nichtjuden. Und immer wieder gab es dazwischen Tage, wo die kleine Schar einsam dahinzog und die Jünger ihren Meister über die ihre Verwunderung stets von neuem erregenden Begebnisse und Aussprüche um Aufklärung bitten konnten. Bei der Verhaftung waren sie alle anwesend; den Gerichtsverhandlungen haben etliche von ihnen unerkannt beigewohnt ( Luk. 22, 54 fg.); dem Ende sahen sie aus der Ferne zu.

Von entscheidender Wichtigkeit ist es, daß diese von Jesus auserlesenen Zeugen seines Wirkens schlichte Männer aus dem Volke von geringer Bildung waren; für das Werk, zu dem er sie brauchte, wären ausgedehntes Wissen und geübtes Denken eher Nachteile gewesen, wohingegen kindlich ungebrochene Einbildungskraft und volksmäßiger Aberglaube sie befähigten, das Wunderbare schlichtweg als wunderbar aufzufassen, das Erhabene (welches der Verstand immer auf seine eigenen engeren Maßstäbe zurückzuführen neigt) als ein Ungeheueres zu empfinden und das viele Unverstandene einfach unverstanden weiterzugeben.

 

Den ernstgewillten Leser muß ich bitten, an diesem Punkte geduldig zu verweilen, denn hier lernen wir nicht allein das Geheimnis der Bedeutung unseres vierteiligen Evangeliums erkennen, sondern damit berühren wir zugleich den Mittelpunkt des Geheimnisses der Erscheinung Jesu auf Erden – dasjenige, was Paulus »das Geheimnis Christi« nennt ( Eph. 3, 4).

Im ersten Kapitel stellten wir fest, unser Menschenverstand sei schlechterdings unfähig, irgend etwas über Gott auszusagen: wir empfinden, wir ahnen, wir fühlen seine Gegenwart, wir glauben an ihn und wissen, daß unser Menschsein durch diesen Glauben bedingt ist und wir ohne ihn sofort zur Bestie herabsinken, – wir erkennen ihn aber nicht, und zwar deswegen nicht, weil keine der uns zugleich grenzend und gestaltend aufgelegten Denkformen in diesem Falle zur Erfassung hinreicht. Hieraus folgt nun die Erkenntnis: Gott ist für uns Menschen ganz Gehalt, gar nicht Form, gar nicht Gestalt. Wer genau erfahren will, was das bedeutet, den verweise ich auf zwei Aussprüche Goethe's:

Danke, daß die Gunst der Musen
Unvergängliches verheißt,
Den Gehalt in deinem Busen
Und die Form in deinem Geist.

(Dauer im Wechsel.)

Mit diesem ersten Worte schildert der sinnende Dichter die beiden Elemente, nicht allein jedes Kunstwerkes, sondern auch jeglicher menschlichen Vorstellung: ohne Gehalt haben wir nur leere Form – ein Nichts: ohne Form bleibt der Gehalt unmitteilbar. An anderer Stelle hat er nun die hervorragende Bedeutung der Gestalt für unser Geistesleben noch besonders betont:

Und einzig veredelt die Form den Gehalt,
Verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt.

(Pandora, Vers 676 fg.)

Je angemessener und vollendeter die Form, um so unmittelbarer wirkt ein edler Gehalt auf Verstand und Gemüt. Auf diese »Veredelung«, auf diese »höchste Gewalt« müssen wir nun bei unseren Betrachtungen über Gott verzichten, – wenigstens verzichten, solange unser Empfinden seiner rein bleiben, nicht bildlich und uneigentlich werden soll. Nun aber besteht die ganze Botschaft Jesu aus zwei reinen Gottesgedanken: Gott, unser Vater, und Gottes Reich ist gegenwärtig. Alles übrige, was er gelegentlich lehrt, sind Folgerungen aus diesen beiden Gottesgedanken. Wollte er sie rein mitteilen, so mußte er trachten, ihren unerschöpflichen Gehalt möglichst unmittelbar aus seinem Herzen in die Herzen seiner Begleiter hinüberzuzaubern; jegliche Form, die er zur Mitteilung wählte, konnte – da es sich um Gott und Göttliches handelte – nur allegorisch, und das heißt uneigentlich, gemeint sein; schon die Bilder »Vater« und »Gottesreich« sind Gleichnisse: nicht im menschlichen Sinne ist Gott unser »Vater«, vielmehr dient diese Vorstellung nur dazu, ein Höchstmaß an Zugehörigkeit, an Nähe, an liebender Fürsorge, an Nachsicht und Hilfsbereitschaft fühlbar zu machen; Ähnliches gilt von der den irdischen Verhältnissen entlehnten Vorstellung eines »Reiches«. Jesus wählt die einfachsten Sinnbilder, weiß sie aber so mannigfaltig abzuwechseln, daß selbst der beschränkteste Kopf über ihre rein bildliche Bedeutung nicht in Zweifel geraten kann; er trägt keine Theologie vor, er flößt Glauben ein, lehrt aber nicht Glaubenssätze.

Man betrachte nur mit einiger Aufmerksamkeit die zahlreichen Gleichnisse, die der Heiland zur Erweckung und Belebung derjenigen Vorstellung gebraucht, die er als Reich Gottes zu bezeichnen pflegt – wenn man hier von einer »Vorstellung« reden darf, wo es sich um Gehalt ohne Form handelt. Mit erstaunlicher Kühnheit werden immer neue Bilder vorgebracht, ein jedes durch unerschöpfliche Ahnungsgewalt neue Wege weisend und zugleich stets mit Vorsicht, es vermeidend, die Grenze zu überschreiten, wodurch die geheimnisvolle Berührung des Göttlichen zu einer menschlich-verstandesmäßigen Aussage herabgewürdigt werden müßte. »Das Reich Gottes hat sich also, als wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft, und schläft des Nachts und steht auf des Tags, und inzwischen gehet der Same auf und wächset, und der Mensch weiß nicht, wie es zugehet.« Unausdenkbar reich sind die Anregungen, die dieses einfache Bild unserem Sinnen bietet: namentlich das Eine erfahren wir, daß es, um in das Reich Gottes zu gelangen, auf das Einschlagen einer bestimmten Richtung, auf eine Willenswendung ankommt – das übrige alles fügt Gott allein, wie er den Samen wachsen läßt, »und der Mensch weiß nicht, wie es zugehet«. Eine Fülle ergänzender Ahnungen stellt folgendes verwandte Gleichnis uns vor Augen: »Das Reich Gottes ist gleich einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und säete auf seinen Acker, welches das kleinste ist unter allen Samen; wenn es aber erwächst, so ist es größer als die Kräuter und wird ein Baum, so daß die Vögel des Himmels kommen und nisten in seinen Zweigen.« Hier wie dort erblicken wir das Reich Gottes nicht als ein künftiges, sondern als ein gegenwärtiges; während es aber dort in Tiefen verborgen keimte, breitet es hier über die ganze diesseitige Wirklichkeit schirmende Äste aus. Noch stärker betont der Herr die unmittelbare Gegenwart des uns umgebenden Göttlichen, wenn er spricht: »Das Reich Gottes ist einem verborgenen Schatz im Acker gleich« – wir brauchen also nur zu wollen: Gott und sein Reich sind allüberall gegenwärtig, zu unseren Füßen im Acker und über unseren Häuptern als Schirmdach. In anderer Weise feiert die Verklärung der irdischen Gegenwart folgendes Bild: »Das Reich Gottes ist einem Sauerteig gleich, den ein Weib nahm und vermengte ihn unter drei Scheffel Mehls, bis daß es gar durchsäuert ward.« Ist aber der Mensch dem Göttlichen gegenüber auch nur Empfänger, er gelangt dennoch nicht ohne hingebende Beharrlichkeit dahin, an ihm teil zu haben: »Wer seine Hand an den Pflug leget und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.« Nicht bloß Beharrlichkeit, auch Leidenschaft wird gefordert: »Das Reich Gottes wird gestürmt, und die Stürmer reißen es an sich.« Nicht bloß dieses Ungestüm aber, sondern auch die ausschließende Hingabe an das eine Ziel, ist unerläßlich: »Das Reich Gottes gleicht einem Kaufmann, der edle Perlen suchte. Und da er eine köstliche Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte und kaufte dieselbige.« In fast genauem Gegensatz zu der äußersten Willensanspannung, die in diesen letzten Sprüchen zutage tritt, heißt es ein anderes Mal: »Es sei denn, daß Ihr Euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet Ihr nimmer in das Reich Gottes eingehen« – womit offenbar der Verzicht auf alle weltliche Begierde und die Rückkehr in einen Zustand heiterer Unschuld als Bedingung gefordert wird für den Genuß der unmittelbaren Nähe Gottes. Auf diesem Wege gelangen wir zu der entscheidenden Erkenntnis: »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen«; mit der Erläuterung: »Es sei denn, daß jemand geboren werde aus dem Geist, so kann er in das Reich Gottes nicht eingehen.« Wer diese Gleichnisse und die weiteren, die ich hier nicht anführte, in sich aufgenommen hat, wer die Stimme des Heilandes in ihnen vernimmt und es empfindet, wie sie den Blick seines göttlichen Auges vermitteln, der ist dann reif für die letzte Offenbarung, die soweit reicht als menschliche Worte es nur vermögen: »Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe hie oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in Euch« Daß der griechische Text einzig die Deutung: »inwendig in Euch« zuläßt, wird von den maßgebenden Fachgelehrten verschiedener Richtungen einstimmig erklärt; jedoch begegnen wir immer wieder von Seiten achtbarer Männer der Behauptung, man müsse lesen: »steht mitten unter Euch«. Begründet wird diese unhaltbare Meinung durch den Hinweis darauf, daß der Heiland diese Worte angeblich an Pharisäer gerichtet habe ( Luk. 17, 20). Darauf ist erstens zu erwidern, daß die Gelegenheit, bei der ein Wort gesprochen wurde, eingestandenermaßen stets fraglich bleibt; zweitens aber – und entscheidend – daß ein solches Wort offenbar an den Menschen als solchen, ganz allgemein gerichtet ist (vgl. u. a. Clemen: Der geschichtliche Jesu, S. 111)..

Wie dankbar müssen wir den Männern sein, die uns – durch unbewußte Kunst dazu befähigt – diese Kunde von dem Reiche Gottes übermittelt haben! Andere, welche – wie wir zu sagen pflegen – »mehr Kultur« und mehr Dressur des Geistes besessen hätten als die Evangelisten, wären ganz und gar unfähig gewesen, diese Lehre Jesu vom Reiche Gottes so unverzerrt rein widerzuspiegeln – eine Lehre, welche die Evangelisten eingestandenermaßen nicht verstanden und sich mit kindlicher Handgreiflichkeit deuteten (siehe z. B. Matth. 18, 1; 20, 21), was sie aber nicht verhinderte, die unvergeßlichen Bilder, die sie aus dem Munde des Heilandes empfangen hatten, mit einer an das Wunderbare grenzenden Treue wiederzugeben. Dadurch haben sie uns den Heiland selbst für alle Zeiten lebendig erhalten.

Nach dem Tode Jesu hören wir selten mehr den Ausdruck »Reich Gottes«, und wir brauchen nur den vielleicht schönsten Spruch des Apostels Paulus zu dieser Vorstellung anzuführen, um den gewaltigen Abstand zu empfinden: »Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist; wer darin dem Christus dienet, der ist gottgefällig und den Menschen wert« ( Röm. 14, 17). Wie fern befinden wir uns hier von dem »Baum, in dessen Zweigen die Vögel des Himmels nisten!«

Die Betrachtung der Sprache des Heilandes führte uns zu der Betrachtung seiner Art, durch Gleichnisse sich mitzuteilen, und diese wiederum hat uns jetzt bis ins Innere seines Herzens geleitet. Namentlich das Eine liegt uns schon klar vor Augen: der Glaube an Gott und an ein Reich Gottes steht für ihn außerhalb aller Geschichte. Religion betrifft, nach dem Heiland, eine Welt jenseits von Raum und Zeit, die darum ebenso der Vergangenheit wie der Gegenwart und der Zukunft angehört. Auf die örtliche Frage antwortet die Religion Jesu: »Man wird nicht sagen hie oder da«; und der zeitlichen weicht sie aus durch die Antwort: »Über jenen Tag und die Stunde weiß niemand etwas.« Niemals finden wir beim Heiland auch nur den Ansatz zu einem begrifflich festumrissenen Zwangsglaubenssatz (Dogma), was nach dem soeben Gesagten leicht zu begreifen ist: ein Glaubenssatz bringt notwendigerweise immer eine bestimmt gefaßte Verstandesaussage und kann darum niemals einer Erkenntnis, die sich auf eine transscendente (überverstandesmäßige) Welt bezieht, angemessen sein; nicht allein wird jeder solcher Glaubenssatz nie die ganze Wahrheit zum Ausdruck bringen, vielmehr wird er immer ergänzende Wahrheiten ausschließen. Wir sahen in dem Gleichnisse Jesu das Reich Gottes um einen Menschen herum ohne sein Zutun aufwachsen: »er wußte nicht, wie es zuging«, gleich darauf erfuhren wir aber von unerbittlichen Forderungen an seine Willens- und Richtungskraft; das eine Mal hieß es: das Reich wird gestürmt, das andere Mal, es sei nur denen zugänglich, die harmlosen Kindern gleichen... und diese Widersprüche sind nicht etwa so zu deuten, als gälte das eine für den einen Menschen, das andere für den anderen – alle die Aussagen über das Reich sind mit allgemeiner Geltung gesprochen.

 

Hier muß ich aber einen Augenblick innehalten; wir werden sofort wieder bei der Religion Jesu anknüpfen. Dieser Ausdruck nämlich – die »Religion Jesu« – wird uns von sehr bedeutenden Theologen strittig gemacht.

Ohne Frage haben diese Theologen Recht, wenn sie behaupten, die Religion der christlichen Kirche sei nicht von Jesu Christo gelehrt worden; vielmehr sei diese Religion an ihm emporgewachsen, um dann plötzlich nach seiner Auferstehung mit göttlicher Macht sich zu entfalten und nach und nach Gestalt zu gewinnen – was, nach kirchlicher Vorstellung, unter Leitung des heiligen Geistes sich vollzog. Nach dieser Auffassung ist Jesus Christus selber der Gegenstand und der Inhalt der Religion; er hat sich uns in seinem Leben und Sterben offenbart, und zu seinem Leben gehören natürlich in erster Reihe seine Worte, die wir zu kennen und als göttliche Weisheit und Weisung zu verehren haben; diese Worte enthalten aber – so behaupten die Theologen – keine Religionslehre; kurz: es gibt keine Religion, die man als »Religion Jesu« zu bezeichnen berechtigt wäre. Ein Name möge statt vieler zum Beleg genügen; Adolf Harnack schreibt in seiner Dogmengeschichte (4. Aufl. 1, 182): »Jesus hat weder ein Bekenntnis noch eine Lehre hinterlassen.«

In dieser Behauptung liegt nun, nach meiner Überzeugung, ein in alle Tiefen reichender Irrtum vor, der sich von Anfang an durch die ganze Geschichte des Christentums hindurchzieht. Gewiß hat der Heiland kein Bekenntnis und keine Lehre in dem Sinne hinterlassen, den alle Theologie und alle Kirchen diesen Worten beilegen – das bestreite ich keineswegs; doch hat er uns ein Bekenntnis und eine Religionslehre hinterlassen, zu deren Wesen es gehört, in keine theologische Kirchenlehre hineingezwängt werden zu können; und ich meine, es wäre an der Zeit, auf dieses Bekenntnis und auf diese Lehre zu hören. Tausende, die sich nach Religion sehnen, empfinden die Unmöglichkeit, die Lehren und die dogmatischen Forderungen unserer verschiedenen Kirchen in einen harmonischen Zusammenhang mit ihren übrigen Begriffen, Anschauungen und Ahnungen zu bringen; von allen Seiten hört man den Ruf nach einer abermaligen Reformation, oder gar nach einer neuen Religion; Männer von größerer Besonnenheit erkennen die Unmöglichkeit einer entsprechenden Umbildung der Kirchen, sowie das Totgeborensein jeder angeblich neuen Religionsbildung. Was beides unmöglich macht, ist, daß Jesus von Nazareth, der Mittler zwischen Gott und Mensch, uns schon vor zweitausend Jahren die vollkommene Religion gebracht hat: eine Religion der reinen Glaubenskraft, und weil rein, darum undogmatisch und antidogmatisch, eine Religion, welche Gott durch das einzige Wort »Vater« unserem ehrfürchtigen und liebebedürftigen Gemüte nahebringt, eine Religion des gegenwärtigen »Gottesreiches«– nicht eines unermeßlich fernen, durch ungeheuerlich klaffende Schreckenszeiten von uns Armen geschiedenen: »Wahrlich, ich sage Dir, heute wirst Du mit mir im Paradiese sein!«

Der Betrachtung dieser Glaubenslehre des Heilandes gehören die folgenden Abschnitte.

 

Wiederholt gestehen die Evangelisten, die Jünger hätten die Lehren ihres Meisters nicht verstanden; erst »als Jesus verherrlicht ward, da erinnerten sie sich«, so erzählt Johannes (12, 16), und glaubten nunmehr verstanden zu haben. Man muß auch voll Bewunderung zugeben, daß die Jünger sofort die Hauptsache ergriffen und festhielten – nämlich Jesum selber als den Vermittler göttlicher Gnade und allen Segens: damit entsprachen sie genau dem Gebot der Stunde, und indem sie das Andenken des Heilandes, wie er unter ihnen gewandelt und geredet hatte, sowie namentlich den unerschütterlichen Glauben an ihn in den Mittelpunkt ihrer Religion rückten, gewannen sie nicht allein eine unüberwindliche Kraft der Wahrheit für ihr eigenes Religionsgebäude, sondern sie retteten hiermit auch das, was sie nicht verstanden und darum auch in ihren Glauben nicht aufnahmen, hinüber, künftigen Geschlechtern zum Heil. Dieses Werk setzten die folgenden Jahrhunderte fort und bauten, in Anlehnung an das Denken ihrer Zeit, einen neuen Mythos, eine neue Mystik und eine neue Magie allmählich auf – doch alles durch die Gegenwart des Heilandes und Dank der frühzeitigen Festhaltung der wesentlichen Züge seiner Erdengestalt – eine Religionsbildung, über jeden Vergleich mit allen anderen erhaben. Zunächst blieben allerdings die Evangelien mancher frommen Willkür unterworfen; doch bald schob die Kirche – durch einen wunderbaren Instinkt geleitet – sich selbst den Riegel vor, indem sie diese Schriften heilig sprach und dadurch vor weiteren Umgestaltungen schützte. Es hieße sehr kurzsichtig urteilen, wollte man die Männer nicht verehren, die unter Anspannung aller Seelenkräfte, von reinsten Beweggründen getrieben und den höchsten Idealen zustrebend, dieses große Werk – der Menschheit zum Heil – vollbrachten. Ich bekenne auch in aller Demut, daß ich ihr Werk, so durchflochten es mit menschlichen, zeitlich bedingten Zutaten sein mag und sein muß, dennoch im großen und ganzen für den Ausdruck göttlicher Wahrheit halte – wenn auch bildlich gefaßt, wie das dem menschlichen Verstande nicht anders möglich ist.

Auf manche der in dem letzten Absatz berührten Fragen kommen wir in den folgenden Kapiteln zurück; im Augenblick genügt es, das Eine festzustellen: das Bekenntnis und die Religionslehre des Heilandes blieben im Evangelium verborgen: die Kirchenlehre weiß nichts von ihnen.

Jesus hatte fast immer statt Gott »Vater« gesagt, ihn als das uns aus dem ersten Kapitel bekannte »höchste gute Wesen« anredend. Das Gebet, das er seinen Jüngern lehrt, lautet in der echten Fassung: »Vater! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Unser nötiges Brot gib uns täglich. Und vergieb uns unsere Schulden, denn auch wir vergeben jedem unserer Schuldner. Und führe uns nicht in Versuchung.« Nie mehr vernehmen wir nach des Heilandes Tode diesen Ton. Das Wort »Vater« kommt überhaupt nur noch in der Verbindung Gott-Vater (im Unterschied zum Gott-Sohn) vor, oder an Stellen, wo von seiner »thronenden Majestät«, oder von dem »Mysterium des Vaters« und dergleichen die Rede ist. Der Vater, von dem der Heiland gesprochen hatte »mein Vater, euer Vater; mein Gott, euer Gott« ( Joh. 20, 17), war vor dem Glanze der kosmischen Dreieinigkeit aus dem Bewußtsein entschwunden. In noch größerer Ferne entschwunden war das »Reich Gottes«. Der Heiland gebraucht diesen Ausdruck, da offenbar die Vorstellung des Reiches Gottes ihm beständig gegenwärtig ist, so häufig, daß wir ohne Frage berechtigt sind, seine Lehre die Religion des Reiches Gottes zu nennen. Nach seinem Entschwinden aus unserer Mitte begegnen wir diesem Ausdruck selten und immer seltener: ein einziges Mal im gehaltvollen Sinne in der Apostelgeschichte und drei- oder viermal bei Paulus, aber nur nebenbei und ohne eine Spur von dem Gehalt, der diesem Worte bei Jesus stets eine so besondere Eindringlichkeit verleiht. Werden aber diese zwei Gedankengestalten – der »Vater« und das »Reich des Vaters« – aus ihrer Stellung im Mittelpunkt verrückt oder gar uns ganz entrückt, so geraten alle übrigen Lehren des Heilandes in einen schiefen Augenwinkel.

 

In dem ganzen Evangelium gibt es nur eine Stelle – eine einzige, und zwar bei nur einem der vier Evangelisten –, geeignet, jeden Leser über die »Vater-Lehre« Jesu irrezuführen, und zwar eine Stelle, an die wir so oft erinnert werden – so z.B. gleich am Anfang jedes Taufaktes –, daß sie gewiß in den Hirnen der meisten Laien im Vordergrund steht: ich meine Matthäus, Kap. 28, Vers 19 fg. Dieser Vers lautet: »Gehet hin und werbet alle Völker durch die Taufe auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich Euch aufgetragen habe«: so soll die letzte Weisung des Auferstandenen an seine Jünger gelautet haben. Hiernach würde die Lehre von dem dreieinigen Gott aus dem Munde des Heilandes stammen. In diesem Falle jedoch sind wir zum Glück in der Lage, mit aller Bestimmtheit nachweisen zu können, daß es sich um ein spätes Einschiebsel handelt, also um einen »frommen Betrug« (pia fraus). Erstens wäre es mehr als merkwürdig, wenn der Heiland im allerletzten Augenblick und ohne jede Erläuterung seinen Jüngern eine neue Lehre vorgetragen hätte. Zweitens wäre es unbegreiflich, daß eine so entscheidende Lehre weder bei einem der anderen Evangelisten noch in irgendeiner der übrigen Schriften des Neuen Testamentes einen Widerhall findet – denn die einzige andere Stelle im gesamten Neuen Testament, welche die Dreieinigkeit erwähnt, Vers 7 des 5. Kapitels der ersten Epistel des Johannes, ist eine so späte und flagrante Fälschung, daß selbst noch unter Leo XIII. eine von ihm ernannte Gelehrtenkommission die Unechtheit bestätigen mußte; von vierhundert bekannten griechischen Handschriften, die vom 4. bis zum 14. Jahrhundert reichen, enthält keine einzige die betreffenden Worte, auch den ältesten Exemplaren der Vulgata des Hieronymus sind sie fremd. Drittens: wir besitzen in den neutestamentlichen Schriften, und auch außerhalb ihrer, zahlreiche Zeugnisse über den Taufakt bei den frühen Christen und wissen, daß unter ihnen ausnahmslos »auf den Namen Christi« oder »auf den Namen des Herrn« getauft wurde. So sagt z.B. Petrus in seiner ersten großen Predigt ( Apostelgeschichte 2, 38): »Lasse sich ein Jeder von euch taufen auf den Namen Jesu Christi«, und dem bekehrten römischen Hauptmann Cornelius und seiner Familie befiehlt er, »sich auf den Namen Jesu Christi taufen zu lassen« ( Apostelgeschichte 10, 48). Diese Beispiele lassen sich vermehren, wogegen kein einziges namhaft gemacht werden kann, bei welchem die Taufe »auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« vollzogen worden wäre; erst im Laufe des zweiten Jahrhunderts scheint die trinitarische Formel aufgekommen zu sein, und zwar, wie Cheyne glaubt, aus Afrika eingeführt (siehe Bible problems). Viertens: wir wissen durch Johannes, daß der Heiland selber nicht zu taufen pflegte (4, 2), und von Paulus besitzen wir das Wort: »Christus hat mich nicht ausgesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu verkünden« ( 1. Kor. 1, 17), woraus wir mit Gewißheit entnehmen, daß den Aposteln ein Taufbefehl aus dem Munde Jesu unbekannt war. Fünftens: der bekannte früheste Geschichtsschreiber der Kirche, Eusebius, Bischof von Caesarea (um die Mitte des vierten Jahrhunderts tätig), Zeitgenosse und Schützling Konstantin's des Großen, erwähnt in seinen Schriften gerade diese Stelle des Matthäus-Evangeliums mehr als ein dutzendmal, nie aber (wenigstens in keiner Schrift, die vor dem Konzil von Nizäa entstand) in der uns geläufigen Fassung, sondern mit folgendem Wortlaut: »Gehet hin und werbet alle Völker in meinem Namen und lehret sie usw.« Eusebius also las an dieser Stelle (und er hatte von seinem Vorgänger Pamphilus eine besonders reiche Sammlung Handschriften geerbt) weder einen Taufbefehl überhaupt noch die Verkündigung einer Dreieinigkeitslehre (siehe Conybeare: History of New Testament Criticism, Kap. 5, und Wellhausen: Das Evangelium Matthaei, S. 152).

Es erweist sich somit dieser Vers als unzweifelhaft unecht; wir wollen uns durch ihn nicht irre machen lassen.


Des Heilandes Gotteslehre – d. h. also die Lehre vom Vater – setzt sich aus zwei Elementen zusammen: kindlicher Einfalt und unergründlichem Tiefsinn. Das eine Element bedingt das andere: denn wer Gottes Wesen zu tief auffaßt, als daß er Mythos mit Wirklichkeit verwechsele, und zu wenig materialistisch, als daß er an der Vorstellung eines »Machers des Alls« Genüge finde, dem bleibt nichts übrig, als entweder mit dem indischen Weisen (S. 28) zu schweigen, oder aber aus kindlich reinem Gemüte wie von einem Traumgesichte zu reden; dieses Reden aber kann jedenfalls nur aus jenem Schweigen geboren werden. Wir haben schon im ersten Kapitel gesehen, daß über Gott nichts ausgesagt werden kann, was vor dem Verstande logisch-zwingende Geltung und Sinn besäße, weil – schon dem Begriffe nach – Gott der Welt der Erscheinung nicht angehört und somit alles, was von ihm und über ihn ausgesagt wird, nur uneigentlich zu verstehen ist. Ich erinnere an das Wort Luther's: »Ja, wer weiß was ist, das Gott heißt? Es ist über Leib, über Geist, über alles, was man sagen, hören und denken kann.«

Äußerst bezeichnend ist es darum, daß der Heiland niemals eine lehrhafte Auseinandersetzung über das Wesen Gottes unternimmt, daß er vielmehr uns durch hundert scheinbar leicht hingeworfene Bemerkungen nach und nach in sein eigenes Verhältnis zu »seinem und unserem Vater« einweiht, um daraus einen Jeden erraten oder allmählich nachempfinden oder ahnen oder wie durch plötzliche Offenbarung begreifen zu lassen, was und wer dieser Vater ist, »um dessentwillen er lebt« ( Joh. 6. 57), und dessen nie weichende Gegenwart ihn aus allen Sorgen des irdischen Daseins derartig vollkommen befreit, daß er schon innerhalb dieser Zeitlichkeit das außerzeitliche »Reich Gottes« als seine wahre Heimat bewohnt. Über einen also aufgefaßten Gott kann es keinen Zwangsglaubenssatz (Dogma) geben: er wird erlebt, oder er wird nicht erlebt; reden, lehren, in Kirchenkonzilien hin und her über ihn streiten – das alles ist ausgeschlossen. Wer diesen Gott unseres Heilandes – den Vater – erleben will, muß auf des Heilandes Stimme lauschen: kein anderer vermag hier zu vermitteln.

Darf sich auch keiner dessen vermessen, es wird doch nicht verwehrt sein, den noch Ungeübten zum Aufmerken hinzuleiten, indem man einige Hauptpunkte hervorhebt.

Auffallend ist z. B. der entschiedene Ton, in welchem Jesus selber seine Gleichstellung mit dem Vater wiederholt deutlich von sich weist; für die Echtheit solcher Stellen zeugt die Tatsache, daß sie der Kirche bald peinlich auffielen und wir in den Evangelien selber schon Versuchen, sie umzumodeln oder auszumerzen, begegnen. Die auffallendste dieser Stellen lautet: »und da er hinauskam auf die Straße, lief einer herzu und fiel vor ihm auf die Knie, und befragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, um ewiges Leben zu ererben? Jesus aber sagte zu ihm: Was nennst Du mich gut? Niemand ist gut, außer dem einen Gott« ( Mark. 10, 17, 18). Dieses Wort bringt Lukas in genau der gleichen Fassung (18, 19) und, was sehr wichtig ist, Justin der Märtyrer – etwa um die Mitte des zweiten Jahrhunderts – führt es an ( Apol. I, 16, 7). Kein Mensch war fähig, ein solches Wort, welches den Vorstellungen der werdenden Kirche widersprach, zu erfinden; die kirchliche Bearbeitung des Matthäus- Evangeliums wandelte es dann später um in die verlegene Fassung: »Meister, was soll ich Gutes tun...?«, worauf die Antwort erfolgt: »Was fragst Du mich über das, was gut ist? Einer ist der Gute« (19, 16 fg.). Ein zweites hierher gehöriges Wort vernahmen wir schon vorhin (S. 102), wo der Heiland, befragt um den Zeitpunkt des Weltendes, erwidert, er wisse es nicht, das wisse »allein der Vater«: auch dieses Wort hat die Kirche das Mögliche getan, zu verwischen oder zu streichen; zum Glück hat es der Markustext uns rein erhalten. Wer genau darauf achtet, wird an vielen Stellen Ähnliches bemerken, doch ich übergehe sie, nicht bloß um nicht zu ermüden, sondern weil Matthäus, Markus und Lukas alle drei ein Wort bringen, welches die Unterscheidung zwischen dem Heiland und dem Vater bis in die innersten Regungen des Willens durchführt: ich meine das Gebet auf dem Ölberg, das mit den Worten schließt: »Doch nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe!« Deutlicher kann nicht zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeit unterschieden werden.

Einen zweiten Hauptpunkt in Jesu Gotteslehre haben wir darin zu erblicken, daß er das Bild der Sohnschaft nicht für sich allein beansprucht, vielmehr immer von neuem auf alle Menschen anwendet, die an den Vater glauben: wer Gott als Vater empfindet, kann nicht anders denn sich als Sohn erkennen. »Niemand auf der Erde sollt ihr euren Vater nennen; denn Einer ist euer Vater, der himmlische« ( Matth. 23, 9). Diese Vorstellung eines Verhältnisses des Menschen zu Gott als das des Kindes zu seinem Vater war durch den Heiland unter seinen Jüngern so fest eingebürgert, daß sie, als die neue Gotteslehre der jungen Kirche aufkam, weiterlebte und noch Paulus schreiben kann: »Denn die durch Gottes Geist getrieben werden, das sind Gottes Söhne« ( Röm. 8, 14). Wichtiger aber als alles andere ist die Zeugenschaft des Johannes, der zwar spät schreibt, jedoch gerade in diesen Fragen seinen Meister inniger gekannt und besser verstanden hatte als irgend ein anderer Mensch, und er ist es, der uns die ewig denkwürdigen Worte überliefert: »Ich steige auf zu meinem und eurem Vater, zu meinem und eurem Gott« ( Joh. 20, 17).

Kaum minder bemerkenswert – namentlich dem noch heute allgemein herrschenden Vorurteile gegenüber – ist ein dritter Punkt in der Gotteslehre des Heilandes: die Tatsache nämlich, daß der Gott, den er als »Vater« bezeichnet, niemals mit dem Judengott verwechselt wird, ebensowenig wie Jahve's auserwähltes Volk der Juden von ihm bevorzugt erscheint.

Ungern unterbreche ich unsere Betrachtung über die Religion des Reiches Gottes, doch ist es unbedingt notwendig – gerade um die Lehre des Heilandes zu verstehen – sein Verhältnis zum jüdischen Glauben zu kennen und richtig zu beurteilen. Man gestatte darum eine kurze Abschweifung über diesen Gegenstand.


Zunächst muß der Ton auffallen, in welchem der Heiland über die Juden zu reden pflegt. Einmal über das andere werden sie von ihm mit vernichtender Ironie abgeführt. Bei Gelegenheit der Begegnung mit dem römischen Hauptmann spricht Jesus: »Wahrlich, ich sage euch, bei niemand in Israel habe ich solchen Glauben gefunden ..... und sie werden kommen von Morgen und Abend und Mitternacht und Mittag und werden zu Tische sitzen im Reiche Gottes ... die Söhne des Reiches aber (d. i. die Juden) werden hinausgeworfen werden in die Finsternis draußen ....« ( Matth. 8, 10 fg., Luk. 13, 29). Noch bestimmter heißt es an anderer Stelle: »Das Reich Gottes wird von Euch genommen und einem Volke gegeben werden, welches Früchte bringt« ( Matth. 21, 43). Tiefen Eindruck macht ein Ausdruck, der in den meisten Handschriften – wohl wegen seiner erschreckenden Wahrhaftigkeit – um ein Weniges abgemildert wurde, den aber der Syrsin, der Kodex Bezae und andere gute Handschriften uns unverändert übermittelt haben: da lesen wir Markus 3, 5, der Heiland sei »über die Erstorbenheit ( nekrosis) der Herzen der Juden betrübt – oder (nach einigen Quellen) erzürnt«. Vielleicht hat kein Gegner der Juden jemals ein so bitteres Urteil gefällt: erstorbene Herzen! Und noch ein entscheidendes Wort besitzen wir, durch welches er die Juden von seiner Botschaft ausschließt, indem er zu ihnen spricht: »Wenn ich Wahrheit rede, warum glaubt Ihr mir nicht? Der aus Gott ist, hört die Worte Gottes. Darum hört Ihr es nicht, weil Ihr nicht aus Gott seid« ( Joh. 8, 46 fg.).

Bei der falschen Stellung unserer Kirchen zum Judentum pflegt unsere Geistlichkeit derartige Worte entweder zu verschweigen, oder sie eilt möglichst leichten Fußes darüber hinweg; man kennt Kant's Spott über die Beschaffenheit unseres Religionsunterrichts: »Man sollte glauben, ein jeder Christ müßte ein Jude sein« ( Rel., S. 252). Und so wird uns denn von unseren Theologen bei jeder Gelegenheit der kleine Satzteil vorgehalten, der auf unerklärlichen Schleichwegen in das Gespräch mit der Samariterin eingeschmuggelt worden ist: »weil das Heil von den Juden ist« ( Joh. 4, 22) – Worte, die Kreyenbühl mit Recht bezeichnet hat, »als eine der abgeschmacktesten und unmöglichsten Glossen, die jemals einen echten Text nicht nur entstellt, sondern in sein gerades Gegenteil verkehrt haben« (nach Merx). Der selbe Mann, der den Heiland zu den Juden die Worte sprechen läßt: »Ihr seid nicht aus Gott«, sollte ihm ein anderes Mal den Ausspruch zuschreiben: »das Heil kommt von den Juden«! Und gar in dem Zusammenhang dieses Gespräches mit der Samariterin, dessen Inhalt in der Verkündigung besteht, der »Vater« werde nicht mehr in Jerusalem angebetet, vielmehr sei Gott – im Gegensatz zu Jahve – »Geist«, und »er verlange solche Anbeter, die in Geist und Wahrheit anbeten«, – ein Gespräch, das den jüdischen Messias-Begriff über den Haufen wirft und mit der Erklärung endet, Jesus sei »der Heiland der Welt« ( soter tou kosmou)! In seiner Offenbarung nennt Johannes die Juden »eine Synagoge des Satans« (2, 9): man glaubt ein Mitglied dieser Synagoge zu erblicken, wie es in einen der befreiendsten Texte des Evangeliums solche, den ganzen Zusammenhang fälschende Lüge hineinschwärzt. Für des Heilandes eigene Stimmung den »Prophetenmördern« gegenüber ( Matth. 23, 32) zeugen – abgesehen von den vielen eigenen Aussprüchen – die harten Worte des Paulus, dessen Herz doch immer wieder für die jüdischen Stammesgenossen schlägt, so daß, wenn er sie verurteilt, wir einen Erfolg der Belehrung durch Jesum zu sehen haben; er sagt nun von den Juden: »Sie gefallen nicht Gott und sind allen Menschen zuwider« ( 1. Thess. 2, 15) und an anderer Stelle – wo er die Tätigkeit angeblich bekehrter Juden innerhalb der christlichen Gemeinde im Sinne hat – ruft er die Warnung aus, wert, durch alle Jahrhunderte hindurch gehört zu werden: »Habt acht auf die Hunde, auf die bösen Arbeiter, habt acht auf die Zerschneidung!« ( Phil. 3, 2).

Aus diesem Verhältnis Jesu zu den Juden findet man sich von vorneherein geneigt, eine nicht sehr tiefgehende und bindende Beziehung zu ihrem Glaubensgebäude vorauszusetzen; und zwar mit Recht; denn die allgemein verbreitete Vorstellung, unser Heiland sei ein frommer Jude gewesen, gehört zu den fables convenues unserer Theologen. Besäßen wir keine weiteren Beweise, die eine Erwägung würde schon zu unserer Aufklärung genügen: wie sollte Derjenige, dessen ganzes Wesen lauter Religion war, Genüge bei einem Glauben gefunden haben, der sich durch ein Mindestmaß an »Religion« unter allen auszeichnet. Moses Mendelssohn – der kundige Jude – schreibt in seiner »Rettung der Juden«, erschienen 1782: »Das Judentum ist nicht geoffenbarte Religion, sondern geoffenbarte Gesetzgebung«; und Immanuel Kant – der Gerechte – belehrt uns: »Das Judentum, als ein solches, enthält, in seiner Reinigkeit genommen, gar keinen Religionsglauben«; Worte, die durch folgende Erläuterung ergänzt werden: »Das Judentum ist eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinsamen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten ... Daß der Name von Gott verehrt wird, macht diese Staatsverfassung nicht zu einer Religionsverfassung« ( Religion S. 186 fg.). Im besonderen über Jahve und die zehn Gebote heißt es dann an der selben Stelle weiter: »Ein Gott, der bloß die Befolgung solcher Gebote will, dazu gar keine gebesserte moralische Gesinnung erfordert wird, ist doch eigentlich nicht dasjenige moralische Wesen, dessen Begriff wir zu einer Religion nötig haben.«

Es wäre überflüssig, hier viele Worte zu verschwenden, wenn nicht die Menschen so unentreißbar fest in ihren Vorurteilen wurzelten, auch wo solche gegen alle Vernunft und alle Augenscheinlichkeit verstoßen. So wird denn hier immer wieder die eine einzige Stelle, Matthäus 5, 17–20, vorgeführt als zwingender Beweis für des Heilandes treu jüdische Gesinnung, da er hiernach gesagt hätte, »er sei nicht gekommen, das jüdische Gesetz aufzulösen«, vielmehr »solle auch nicht ein Jota oder ein Häkchen vom Gesetze vergehen, bis der Himmel und die Erde vergehen«. Dieses Wort sollen wir für echt und eindeutig halten, ohnerachtet es nicht allein allen Lehren des Heilandes widerspricht, sondern auch von dem unmittelbar darauf folgenden Text sofort aufgehoben wird. Darüber gleich mehr; vorangeschickt sei aber die Bemerkung, daß hier ein verwickelter Fall vorliegt: es handelt sich nicht bloß um kirchliche Textänderungen, sondern auch im echten Text um spezifisch jüdische Begriffe, welche nur durch Erläuterung aus den Zeitverhältnissen einen Sinn erhalten, und zwar einen Sinn, der die Bedeutung, die wir Heutigen herauslesen, in ihr Gegenteil verkehrt. Manche Theologen halten die Verse 18 und 19 für Einschiebsel und lesen demgemäß: »Denket nicht, daß ich gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; nicht aufzulösen bin ich gekommen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage Euch, wenn es mit Eurer Gerechtigkeit nicht mehr ist als bei den Schriftgelehrten und Pharisäern, so werdet Ihr mit nichten in das Reich der Himmel kommen« (so z. B. Erzdekan W. C. Allen in seinem vortrefflichen Kommentar zum Matthäus-Evangelium). Diese Lösung ist eine sehr einfache, und wenn sie einem hohen kirchlichen Würdenträger genügt, so darf der Laie sich dabei beruhigen; doch gestehe ich, daß die eingehende Untersuchung, die Adalbert Merx in seinem großen Werke über Die vier kanonischen Evangelien dieser Stelle widmet und die zu einem anderen Urteil führt, mich mehr überzeugt: Merx hält die Verse 18 und 19 (in ihrer ältesten vorauszusetzenden Fassung) für echt, aber von altersher für mißverstanden, weil die Kenntnis der jüdischen Verhältnisse den früheren Christen bald mangelte. Ernster Suchende verweise ich auf diese Abhandlung, deren Gelehrsamkeit und Ausführlichkeit um ein Vieles die Ansprüche übersteigen, die ich an meine Leser stellen darf. Einen einzigen Absatz teile ich mit:

»Das waren die Zustände, die in den Kreisen der Schriftgelehrten und Gesetzeslehrer bald nach Jesus wirklich walteten, und wenn er, den alle Rabbi nennen, öffentlich wirkte, so war das, was das Volk erwartete, nichts anderes als praktische Gesetzeserklärung, Lösen und Binden im jüdischen Sinne, und gerade das weist er Matth. 5, 17 von sich. Diese Tätigkeit ist eine untergeordnete, deren Notwendigkeit gleichzeitig mit dem Anfange des Himmelreiches, das Jesus bringt, schwindet, die aber bestehen wird – nicht muß –, solange das Reich Jesu nicht da ist. Darum sagt er, daß von dem Gesetz kein Jota schwindet, ›bis Alles wird‹, dann aber schwindet es und ein höheres tritt an seine Stelle, dessen Prinzipien er im Folgenden entwickelt hat. Nun sieht man, wie vollkommen schief die Glosse ist, daß dies Gesetz dauern soll, bis Himmel und Erde vergehen; und wie christliche Ausleger diesen Text immer wieder verteidigen können, ohne zu merken, in welche Selbstwidersprüche sie geraten, das wäre unbegreiflich, wenn man nicht wüßte, daß die üble Gewohnheit auch mit der besten Logik nicht wegzuschaffen ist.«

Ohne uns nun weiter auf strittige Textfragen einzulassen, achten wir nur auf den unbestrittenen Vers 17, in welchem der Heiland sagt, er sei »nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen«: dieses Erfüllen (griechisch plerosai, lateinisch adimplere) bietet ein hervorragendes Beispiel jener ernst lächelnden Ironie, auf die uns Burkitt vorhin aufmerksam machte; denn, wie das unmittelbar Folgende zeigt, erfüllt der Heiland das jüdische Gesetz, indem er ihm widerspricht und es abschafft. »Ihr habt gehört, es ist den Alten gesagt, du sollst nicht töten; wer aber tötet, soll dem Gerichte (und das heißt dem Tode) verfallen sein. Ich aber sage euch, Jeder, der seinem Bruder grundlos zürnt, soll dem Gerichte verfallen sein Das Wort »grundlos« bringt der älteste Text.. ... Ihr habt gehört, es ist gesagt, du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch, Jeder, der nach einem Weibe sieht in Lüsternheit, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen.« Auf diese Weise wird ein Gebot nach dem anderen aus einer äußeren Verhaltungsmaßregel zu einer inneren Herzenstriebfeder umgewandelt; dabei bleibt es aber nicht: manche werden in ihr Gegenteil verkehrt, so z. B. das »Aug um Auge« und das Gebot »Du sollst deinen Feind hassen« – wofür Jesus lehrt: »liebet eure Feinde!« Ja, die wichtigsten jüdischen Gesetze – die Heiligung des Sabbaths und die Speiseverordnungen – werden ohne weiteres aufgehoben. »Der Sabbath ist um des Menschen willen da, und nicht der Mensch um des Sabbaths willen« ( Mark. 2, 27) – ein Ausspruch, zu welchem eine der besten und ältesten graeco-lateinischen Handschriften als entscheidend wichtige Ergänzung Worte bringt, die der Heiland an einen Mann richtet, den er am Sabbath auf dem Felde arbeitend antrifft: »Mensch, wenn du weißt, was du tust, bist du selig, wenn du es nicht weißt, bist du ein Übertreter des Gesetzes und verflucht!« Deutlicher kann die Verneinung eines früheren Lebensgesetzes und die Einführung einer völlig neuen Weltanschauung nicht ausgesprochen werden. Im selben Sinne befreiend wirkt die Abschaffung der Speisegesetze: »Und er rief die Menge herbei und sagte zu ihnen: höret zu und fasset es!

Nicht das, was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern das, was aus dem Munde ausgeht, das verunreinigt den Menschen« ( Matth. 15, 10 fg.) – wozu noch die Erläuterung kommt: was zum Mund eingeht, kommt in den Bauch; was aber aus dem Munde hervorgeht, das kommt aus dem Herzen, und das verunreinigt den Menschen. – Alles dieses bedeutet einen unmittelbaren Gegensatz zu der »Religion« der Juden, nämlich zu ihrem Gesetz, das sie als gottgegeben betrachten; es hebt das Gesetz auf.

Nicht minder deutlich zeigt sich die Ablehnung des Judentums in dem wiederholten, erbarmungslos scharfen Auftreten des Heilandes gegen die Pharisäer und die Schriftgelehrten; niemals fällt über sie, aus diesem sonst nachsichtigen Munde, ein versöhnliches Wort. Sie werden »Schlangen« und »Otterngezücht« genannt. »Weh' euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr gleich seid wie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch erscheinen, aber inwendig sind sie voller Totenbeine und alles Unflats!« ( Matth. 23, 25). Nun wissen wir aber genau, daß die Pharisäer an und für sich keine schlechten Menschen waren, vielmehr in religiöser Beziehung die besten unter den Juden, insoferne sie ihren Glauben ernst nahmen; diese Partei entsprach etwa den kirchlich Rechtgläubigen unter uns, und Schriftgelehrte hießen die genauen Kenner des Gesetzes, sind also mit unseren fachmännischen Theologen zu vergleichen. Emil Schürer, in allen Ländern geschätzt als der erste Kenner der betreffenden Verhältnisse, schreibt: »Diese Partei ist das eigentliche Kernvolk, das sich von der übrigen Masse nur durch größere Strenge und Konsequenz unterscheidet«; und an anderer Stelle sagt er: »Der Pharisäismus ist der legitime und klassische Repräsentant des nachexilischen Judentums überhaupt. Er hat nur mit rücksichtsloser Energie die Konsequenzen aus dessen Prinzipien gezogen. Nur diejenigen sind das wahre Israel, welche das Gesetz aufs pünktlichste beobachten. Da dies im vollen Sinne nur die Pharisäer tun, so sind nur sie das eigentliche Israel« ( Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, 4. Aufl. 2, 456 und 472). Wie man also sieht, wenn Jesus den Pharisäismus mit Entrüstung von sich weist und seine Anhänger als »reißende Wölfe in Schafskleidern« brandmarkt, so weist er damit »das eigentliche Israel« von sich. Nicht kann er die harmlosen Einzelnen im Sinne haben, vielmehr verabscheut er das ganze jüdische Glaubenssystem, das er als eine Pflanze bezeichnet, »die der himmlische Vater nicht gepflanzt hat« und die darum »ausgereutet werden soll« ( Matth. 15, 13). Unter keiner anderen Annahme kann seine überaus scharfe Verurteilung der damaligen Bekehrungstätigkeit der Juden begriffen werden. Höhnend und geißelnd ruft er aus: »Ihr durchstreifet Meer und Festland, um einen einzigen Proselyten zu machen; und wird er es, so macht ihr aus ihm einen Sohn der Hölle, zweimal so arg als ihr« ( Matth. 23, 15). Man darf behaupten, die jüdische Auffassung Gottes und des Verhältnisses des Menschen zu seinem Gotte – wie sie im Pharisäismus ihren reinsten Ausdruck gewinnt – bildet in allem den genauen Gegensatz und Gegenpol zu dem, was der Heiland lehrt. Wie Kant uns vorhin aufmerksam machte, und wie man von jedem zuständigen Gelehrten erfahren kann, ist das sogenannte jüdische Gesetz eine Sammlung von rein formalen, äußerlichen, mechanischen und haarsträubend willkürlichen Geboten, ohne einen Funken seelischen Lebens, also ohne alle eigentliche Religion. Wer keinem der Gebote zuwider handelte, hieß ein Gerechter – mochte er ein noch so schlechter Mensch sein; nach der inneren Herzensregung wird gar nicht gefragt, sondern lediglich danach, ob eine Vorschrift übertreten wird oder nicht – wer dagegen die geringfügigste und unsinnigste Vorschrift außer acht läßt, ist ein Sünder. Wellhausen – einer der zuverlässigsten Fachgelehrten unserer Zeit – urteilt über die frommen Juden: »Sie wollen nicht Gutes tun, sondern sich vor Sünde hüten; ihre Beobachtung konventioneller Satzungen kommt niemand zugut und erfreut weder Götter noch Menschen« ( Isr. jüd. Geschichte, 3. A., 376).

Und nun frage ich, was hat das für einen Sinn, wenn man von Jesus von Nazareth als von einem getreuen gläubigen Juden redet, von ihm, der in allem und jedem das genaue Gegenteil lehrt, dem die Herzensgesinnung alles ist, der Gott nicht als Gesetzgeber fürchtet, sondern als Vater liebt, und das Gottesreich nicht (wie die Juden) als künftige Allherrschaft des jüdischen Volkes auf Erden erwartet, vielmehr es drinnen im Herzen guter Menschen findet? Ich halte diese allgemein verbreitete Behauptung nicht allein für falsch, sondern für leichtfertig und für derartig irreführend, daß sie das Verständnis der Religion des Heilandes unmöglich macht.

Von Geburt war Jesus Galiläer und als solcher von Hause aus im jüdischen Glauben aufgewachsen; sein Gegensatz zum Judentum führte ihn ans Kreuz!

 

Von dem jüdischen Alp befreit, kehren wir zu des Heilandes Lehre vom Vater und dessen Reich zurück und rufen mit Paulus aus: »Freuet euch im Herrn allezeit; noch einmal sage ich es, freuet euch: der Herr ist nahe!« ( Phil. 4, 4 fg.).

Die Methode des » neti, neti!« – er ist nicht so, und er ist nicht so – die wir schon im ersten Kapitel kennen lernten, darf nicht unterschätzt werden; indem wir sie verfolgten, gewannen wir nunmehr entscheidende Ergebnisse: der Gott, von dem Jesus spricht, ist nicht der historische Jahve, der Gott, der sich ein Räubervölkchen in der Wüste auswählt, der »Herr der Heerscharen« (für den unsere Geistlichen eine nie versiegende Vorliebe an den Tag legen), er ist aber auch nicht der dreieinige Gott unseres Glaubensbekenntnisses, – kein Wort des Heilandes deutet hierauf: wir hörten ihn wiederholt seine Gleichstellung mit Gott ablehnen – (S. 108 fg.) und andrerseits allen gläubigen Menschen die Sohnschaft zusprechen (S. 109). Ich beabsichtige hiermit keineswegs die Glaubenssätze der Kirchengründer zu bekämpfen und verweise vielmehr auf das ahnungsvolle Wort des Paulus: »Gott war es, der in Christus die Welt mit sich selber versöhnte« ( 2. Kor. 5, 19) – was die Vulgata ein wenig abweichend wiedergibt: deus erat in Christo, mundum reconcilians sibi. In dem Zusammenhang dieses Kapitels habe ich jedoch lediglich dasjenige im Sinne, was der Heiland selber, nach dem Zeugnis der Evangelien, uns über Gott lehrt, und da muß ich als unbestreitbare Tatsache feststellen, daß er alles andere abweist und als bejahenden Inhalt dieses Begriffes uns einzig und allein die Vorstellung des Väterlichen schenkt – eine Vorstellung, die er nicht müde wird zu wiederholen und so mannigfaltig, so zart, so reich auszugestalten, daß sie die ganze sichtbare und unsichtbare Welt auszufüllen scheint und wir, solange der Heiland redet, nichts vermissen und nichts mehr zu verlangen wüßten; solange stehen eben unsere Herzen unter einem Zauber, der ihnen jene Kindlichkeit verleiht, welche Jesus von seinen Hörern fordert ( Matth. 18, 3); später jedoch erheben Verstand und Vernunft ihre ununterdrückbaren Forderungen, und die schlichte Vorstellung des »Vaters« genügt diesen Ansprüchen nicht. Da treten denn ein Paulus und in seinem Gefolge hundert Kirchenväter auf und errichten den tausendsäuligen Glaubenstempel der Kirche, innerhalb welchem der willige Mensch sich geborgen fühlt, während manche lebendigere Seele sich wie ein gefangener Vogel an dem dogmatischen Gitter die Flügel wundschlägt: der Vater, von dem der Heiland sprach, sowie dessen Reich, sind den Blicken entschwunden!

Nun trösten uns – wie wir schon oben sahen (S. 102 fg.) – die Theologen mit der Versicherung, Jesus Christus habe überhaupt keine Lehre hinterlassen, und anstatt auf seine Botschaft vom Vater genau hinzuhören, entrücken sie uns unseren Mittler und bescheren uns Glaubensbekenntnisse, welche die Fassungskraft jedes Menschenhirns übersteigen. Ich fürchte fast, wenn Jesus wieder zur Erde käme, er würde sie noch einmal mit den Worten abwehren: »Wehe euch, Schriftgelehrte! die ihr das Reich Gottes zuschließet vor den Menschen; ihr kommet nicht hinein, und die hineinwollen, lasset ihr nicht hineingehen!« Allen Ernstes wird der Gotteslehre Christi vorgeworfen – oder wenigstens von ihr behauptet –, sie bilde in ihrer kindlichen Einfachheit und bei ihrem Mangel an streng folgerichtigem und systematisch aufbauendem Zusammenhang nichts weiter als eine bilderreiche Anregung für Menschen aus dem Volke. So liegt z. B. vor mir das Buch eines englischen Fachmannes, Professor James Orr, über The Christian View of God and the World, in welchem die eigentliche Lehre des Heilandes kurz abgetan wird als »gänzlich bar alles metaphysischen Inhaltes« und im wesentlichen mit der Gotteslehre des alten Testaments übereinstimmend (S. 77 fg.)! In Wirklichkeit ist – wie schon oben bemerkt (S. 107) – des Heilandes Lehre von Gott und dem Gottesreich ebenso unergründlich an Tiefsinn wie göttlich an Einfalt – ja, diese beiden Eigenschaften gehören untrennbar zueinander. Es ist nicht leicht, von anderswoher ein aufklärendes Beispiel für das, was hiermit gesagt werden soll, zu finden; vielleicht aber dürfen wir Immanuel Kant für würdig erachten, in diesem Zusammenhang genannt zu werden: auch bei ihm stimmen Tiefsinn und naive Denkart überein. Mehr als einmal macht er darauf aufmerksam, daß das tiefste Ergebnis seines Nachsinnens – im Gegensatz zu aller anderen Philosophie – das Eigenartige an sich habe, »so einfältig und natürlich zu sein, daß es dem gemeinsten Menschensinne angemessen ist, sobald dieser nur einmal darauf geführt wird« ( Reine Vernunft, 2. Aufl., S. 617): die feinste, besonnenste Zergliederung des Menschengemütes – ein Werk, das auch bloß nachzudenken die meisten abschreckt – trifft wieder genau mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand zusammen, nur daß die Überlegung bei Kant auf einer weit höheren Ebene steht, was den unschätzbaren Vorzug mit sich führt, nicht allein der Bewußtheit, der Begründung und der Klarheit, sondern namentlich – infolge dieser Errungenschaften – der unerschütterlichen Sicherheit gegen die, die Vernunft ständig bedrohende Gefahr des Unsinns, des Wahnsinns und des Betrugs. Höchst beachtenswert bleibt auf alle Fälle diese Übereinstimmung zwischen der wahren Einfalt und dem wahrhaftigen Tiefsinn: ist die Einfalt nicht rein, sondern erkünstelt oder sonstwie getrübt, und handelt es sich nicht um tiefste Besinnung, sondern um Scharfsinn und Gelehrsamkeit, so findet die genannte Übereinstimmung nicht statt. Unseren Heiland verstehen wir nicht, solange uns die Einsicht fehlt, daß bei ihm in einem Maße, für das wir sonst kein Beispiel besitzen, Einfalt und Tiefsinn zu einer völligen Einheit verschmelzen.

Daß Jesus, der Gott so häufig nennt, sich fast ausschließlich auf das Bild des Vaters beschränkt und höchstens noch auf seine Güte, Barmherzigkeit, Fürsorge usw. leicht hindeutet – Eigenschaften, die ohnehin im Vaterbegriff enthalten sind –, zeugt von dem Tiefsinn und für den Tiefsinn seiner Gotteslehre. Alles, was wir sonst über Gott aussagen, was wir ihm an Vollkommenheiten beilegen, beschränkt ihn in Wirklichkeit und zieht ihn zu uns Menschen herab, indem es ihn in die Grenzmauern unseres Verstandes einschließt. Ich besitze eine Bibel für Prediger mit alphabetisch geordneten Stellennachweisen und finde darin spaltenlange Angaben zu dem Worte »Gott«, der als ewig, unsterblich, allmächtig, allwissend, allgegenwärtig, ruhmreich, majestätisch, groß, heilig, reich, zuhöchst thronend usw. usw. von den Kirchenrednern gerühmt werden soll: mit wenigen Ausnahmen stammen sämtliche Stellen aus dem Alten Testament; was das Neue Testament zu diesem Zwecke Brauchbares enthält, findet sich aber in den Episteln, wogegen die Evangelien nur zwei Stellen liefern: »Gott allein ist gut«, und »so sollt ihr denn vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist« ( Matth. 19, 17 und 5, 48). Kaum, daß der Heiland sich ein einziges Mal die Allegorie »Gottes Finger« erlaubt ( Luk. 11, 20), und selbst hier kann die Zuverlässigkeit des Berichtes insofern bezweifelt werden, als Matthäus bei genau der gleichen Gelegenheit »Gottes Geist« sagt (12, 28): es wird eben jegliche Materialisierung sorgsam vermieden und damit eine Gottesvorstellung gelehrt, die im unmittelbaren Gegensatz steht sowohl zum geschichtlich greifbaren Gott der Juden – der am Sabbath umringt von Rabbinern in der Thora studiert –, wie auch zu der erhaben thronenden mythischen Dreieinigkeit der christlichen Kirche.

Dies muß immer wieder betont werden, weil es von sämtlichen Theologen unbeachtet bleibt und doch grundlegend für das Verständnis dessen ist, was der Heiland »Reich Gottes« nennt, und damit auch für seine Lehren – denn diese haben alle Bezug auf den Vater und sein Reich. Was ein Plato und ein Kant durch lange Jahre ununterbrochener Besinnung, getragen von einer so hohen Begabung, daß sie als »göttlich« bezeichnet wurde, zum Lohn ihrer edlen Bemühungen erreichten, dessen war sich Jesus Christus unmittelbar bewußt, ja, so unmittelbar, daß wir ihn in diesem Bewußtsein leben und weben sehen: es handelt sich um die Erkenntnis, daß es außer und neben diesem unserem Leben in Zeit und Raum mit allem, was unsere Einbildungskraft dazu dichtet an Überzeitlichem und Überräumlichem – an Ewigkeiten, an Himmeln und Höllen, an Werken und Wundern –, daß es außer diesem Leben ein anderes gibt, ein höheres, ein mehr unmittelbares Leben, wo Vergangenheit und Zukunft nicht, durch den Wahn der Zeit auseinandergerissen, sich fliehen, noch hier und dort unterschieden werden. Dieses andere Leben darf nicht als »zukünftiges« bezeichnet werden – etwa im Sinne des von der Kirche versprochenen Paradieses, welches doch bloß eine Fortsetzung unserer sinnlichen Welt auf verklärter Stufe nach dem Tode bedeutet – vielmehr umgibt uns schon heute die Welt der Zeit- und Raumlosigkeit sowie der Losbindung aus den uns angeborenen Begriffsschemen; was uns fehlt, ist einzig die Besinnung darüber, denn wir leben wie in einem Taumel, und wenige Menschen gewinnen sich jemals einen Augenblick wahrhaftiger innerer Ruhe zum Nachdenken über sich selbst und die sie umgebende Doppelwelt; und dieses Nachsinnen führt auch zu keinem Ergebnis, wenn es nicht in ernster Geduld gepflegt und von mächtigen Geistern gelenkt wird. Doch findet es sich, daß reine, einfältige Gemüter auf anderem, kürzerem Wege ans gleiche Ziel gelangen – nicht freilich in bezug auf ein bewußtes Erfassen, doch in bezug auf die Bestimmung und die Belebung des Gemütes – und dies war die Richtung, die der Heiland seinen Hörern gegenüber einschlug, und zwar mit dem Erfolg, daß er ausrufen konnte: »Ich danke dir, Vater, daß du dieses verborgen hast vor Weisen und Verständigen und hast es Unmündigen geoffenbaret!« ( Matth. 11, 25).

Den tiefsten Einblick in diese Lehre Jesu von dem »zweiten Leben«, das unser zunächst gegebenes »erstes Leben« umgibt und in das wir jeden Tag hinübertreten und eintreten können, hat uns Johannes gewährt, derjenige Apostel, dessen reines Herz den Meister weitaus am besten verstanden hatte. Johannes läßt Jesus selten vom ewigen Leben reden, vielmehr einfach von »Leben«: der Mensch »lebt« erst, wenn er in das Reich Gottes eingetreten ist; dieser Eintritt aber geschieht einfach durch das, was der Heiland Glauben nennt: »Wer an mich glaubt wird leben, auch wenn er stirbt« (11, 25). Ein zweites Herrenwort zeigt mit besonderer Deutlichkeit, in welchem Grade Jesus diese unsere Zeitlichkeit von der göttlichen Zeitlosigkeit umgürtet wahrnimmt: »Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist vom Tode ins Leben gelangt« (5, 24). Unserem Heiland gilt demnach dieses Erdenleben als dem Tode verwandt; derjenige aber »gelangt (unmittelbar) ins Leben«, der an Gott im Sinne Jesu glaubt, und damit entschwindet für ihn der Zeitbegriff und jegliche zeitliche Auffassung: »er kommt nicht ins Gericht« – alle solche Vorstellungen wie das vom »Letzten Gericht« besitzen nur bildliche Bedeutung. Ein derartiges Wort war nie vorher und ist nie seitdem gesprochen worden; kein Mensch war fähig, es zu erfinden.

Meine Leser und ich, wir treiben keine Theologie und haben es, um unseren Heiland zu verstehen, nicht nötig – im Gegenteil: könnten wir es nur dahin bringen, seine Worte in reiner Einfalt in unsere Herzen aufzunehmen, wir besäßen alles, was uns nottut; um das aber zu können, müßten wir den ganzen Ballast des später Hinzugekommenen – wenigstens zeitweilig – über Bord werfen; und das gerade fällt uns schwer, bis zur Unmöglichkeit: unser Gemüt verdunkelt jahrhundertaltes Gedanken-Spinngewebe. Ein Beispiel. Wer nur ein weniges über Religion gelesen oder gehört hat, wird auf meine obigen Ausführungen sofort die Frage dazwischen werfen: will der Verfasser damit sagen, Christus habe einen transscendenten Gott, keinen immanenten gelehrt? (Dem Unkundigen diene zur Aufklärung, daß Kant transscendent mit »überfliegend« und immanent mit »innewohnend« verdeutscht; er kann auch an Goethe's Unterscheidung zwischen einem Gott, »der nur von außen stieße«, und einem, der »die Welt im Innern bewegt«, denken.) Eine derartige Frage ist hier völlig gegenstandslos, und man könnte höchstens antworten: der Vater, an den uns Jesus glauben heißt, ist zugleich transscendent und immanent. In Wirklichkeit läßt der Tiefsinn dieses Denkens jede derartige logische Klemme weit hinter sich. Jene andere Welt ist ebensosehr in uns, wie außer uns, daher muß man von diesem Gotte sagen: er umgibt uns, und zugleich durchdringt er uns. Doch ist das alles schon nur bildlich gesprochen; in welch eine andere Art des Fühlens, Denkens und Verstehens versetzt uns jedes Wort des Heilandes! so z. B. das seinem geliebten Johannes ins Ohr geflüsterte: »Gott geschaut hat niemand jemals; lieben wir einander, so ist er bleibend in uns« ( 1. Joh. 4, 12).

Freilich müssen wir lernen, behutsam zu lesen; denn die späteren Kirchenlehrer haben – vielfach wahrscheinlich halb unbewußt und unwillkürlich, einer Suggestion gehorchend – die Worte des Heilandes, die sich auf den Vater beziehen, ihren Ansichten zulieb, wo sie es nur konnten, umgemodelt. Wiederum möge ein einziges Beispiel genügen, den Leser aufmerksam zu machen. Sowohl im ältesten erhaltenen Text des Johannes-Evangeliums, Kapitel 6, Vers 45 fg., wie auch in späteren Handschriften, finden wir gleichlautend folgende Worte: »Alle werden Gottes Schüler sein«; daran schließt sich im ältesten Text der Satz: »Es ist nicht, weil ein Mensch den Vater gesehen hat, sondern, wer bei Gott ist, der hat Gott, den Vater gesehen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer Gott glaubt, der hat Leben.« Das ist unmißverständlich klar mit Bezug auf alle Menschen gesprochen und besagt: Kein Mensch hat den Vater mit leiblichen Augen erblickt, wohl aber kann bildlich behauptet werden, daß »wer bei Gott ist«, den Vater gesehen, nämlich erkannt hat; diese Erkenntnis wird durch Glauben gewonnen, und wer sie besitzt, erst der hat wahres Leben – ein Leben, das kein Tod bedroht, weil es schon innerhalb dieser Zeitlichkeit mit Bewußtsein das Zeitlose ergreift. In dem späteren kirchlichen Text ist es gelungen, durch geringfügige Änderungen, welche der flüchtig Lesende kaum bemerkt, den Sinn derart umzubiegen, daß die allgemein gesprochenen Worte »sondern, wer bei Gott ist, der hat Gott den Vater gesehen« sich nunmehr auf den Heiland allein als Sohn Gottes beziehen. Denn jetzt lesen wir: »Nicht daß den Vater jemand gesehen; der allein, der von Gott her ist, der hat den Vater gesehen.« Woran sich im zweiten Teil die entsprechende Änderung anschließt: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer da glaubt, hat ewiges Leben« – also nicht »wer Gott glaubt«, sondern wer glaubt, was die Kirche lehrt! und nicht schlichtweg »hat Leben«, sondern erhält für seine Rechtgläubigkeit als Lohn »ewiges (also immer noch zeitlich gedachtes) Leben«. Vgl. zu obigem auch A. Merx: Die vier kanonischen Evangelien, an betreffender Stelle. Auf solche Art geht der Tiefsinn der Lehre des Heilandes verloren – und mit ihm zugleich die Einfalt und die Unmittelbarkeit; an Stelle dieser erhalten wir einen kosmischen Mythos, eine widerspruchsvolle Christologie, ein Arsenal von theologischen Glaubenssätzen und die Vermittelung priesterlicher Ansprüche: das alles, dank einer kleinen Wortverschiebung, durch welche abschreibende Mönche Sprüche, die ihnen dunkel erschienen, ihrem Verständnis näher zu rücken versuchten. Der Leser des Evangeliums bleibe also auf der Hut! Jesus hat gesagt, »die Wahrheit«, die er lehre, »werde uns freimachen« ( Joh. 8, 32): jeder Lehre, die uns in Ketten schlägt, sollten wir – vom Heiland aufmerksam gemacht – Mißtrauen entgegenbringen!

Wir würden wohl kaum imstande sein, die Gotteslehre des Heilandes mit Sicherheit zu erkennen – so vielfach haben seine Worte unter dem Unverstand früherer und späterer Textherausgeber gelitten –, hätte er sie nicht ergänzt durch die Lehre vom Reiche Gottes, für welche ihm faßlichere und mannigfaltigere Bilder zu Gebote standen, die seine Zuhörer – ahnten sie auch den tieferen Gehalt nicht – dennoch sich gut zu merken und treu wiederzugeben vermochten. Wir haben schon oben mit einiger Ausführlichkeit darüber gehandelt (S. 99 fg.) und eingesehen, daß dieses Reich vollkommen »transscendent« (außerweltlich) vorgestellt wird, an keinen Raum gebunden – man wird nicht sagen »Siehe hie oder da ist es« –, noch an irgendeine Zeit; vielmehr ist es dem Wissenden gegenwärtig und kann den Unwissenden jeden Augenblick überraschen. Auch in diesem Falle ist, trotz der Unzweideutigkeit der Texte, von allem Anfang an viel zur Umdeutung der Lehre Jesu geschehen. Die Tatsache, daß die Juden ein Reich Jahve's auf Erden erwarteten, verführte schon die unmittelbaren Jünger zu Verwechselungen; bald trat dazu die immer mehr Raum einnehmende Vorstellung eines Reiches Gottes im Himmel, wohin der Mensch nach seinem Tode, in einer mehr oder minder verklärten Leiblichkeit, zu gelangen hoffte – und zwar nicht sofort bei seinem Tode, sondern beim »Weltende«; schließlich faßte – angeregt durch das während Jahrhunderte weitverbreitete Werk des Augustinus, De Civitate Dei – der Gedanke bei Vielen Fuß, das Reich Gottes sei das Reich der die Welt beherrschenden katholischen Kirche. Es bedarf meinen Lesern gegenüber kaum des Beweises, daß keine dieser Vorstellungen sich an irgendeinem Punkt mit der Lehre des Heilandes von dem Reiche, »das inwendig in uns liegt«, berührt. Doch, um dies noch überzeugender empfinden zu lassen, wollen wir einen Blick werfen auf des Heilandes Stellungnahme der Tatsache der Sünde gegenüber – eine Stellungnahme, die völlig unverständlich bleibt, solange seine Lehren von Gott und dem Gottesreich in ihrer Einfalt und ihrem Tiefsinn nicht begriffen worden sind.


Man mag, welches theologische Buch man will, aufschlagen, immer wird man den Verfasser verlegen und heimlich entsetzt darüber finden, daß Jesus wenig Wesens von der Sünde macht; so schnell es geht, pflegen die Theologen über diese ihnen bedenkliche Tatsache fortzueilen, um baldigst bei Paulus und den Urchristen anzukommen, wo sie sich wieder in der Atmosphäre der Sünde, der Sündenvergebung und der Erlösung aus der Sündenschuld heimisch fühlen. Das Gute und das Böse, die Tugend und die Schuld kannten alle Völker; doch die juristisch scharfe Ausarbeitung des Begriffes der Sünde ist das Werk in erster Reihe der Ägypter, sodann aber namentlich der Juden, von denen wir sie übernommen haben. Und zwar hängt die Sünde untrennbar eng mit dem Begriffe des gottgegebenen Gesetzes zusammen. Ein Gott, der, wie der jüdische, zahlreiche Gesetze erlassen hat, die das gesamte Leben umfassen und den Menschen Pflichten über Pflichten auferlegen, schafft damit zugleich die Sünden, die das Gesetz abwehren soll. Paulus schreibt: »Die Sünde wäre mir nicht zur Erkenntnis gekommen, wenn nicht durch das Gesetz. Hätte ich doch auch von der Lust nichts gewußt, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte: Laß dich nicht gelüsten; die Sünde aber hat das Gebot benutzt, um alle Lüste in mir ins Leben zu rufen; denn ohne Gesetz fehlt der Sünde das Leben« ( Röm. 7, 7 fg.). In der Folge nahm die Sünde einen zunehmend breiteren Raum in der Gedankenwelt der christlichen Kirche ein, bis dann schließlich »durch Augustin das Bewußtsein der allgemeinen Sündhaftigkeit die ausschließliche negative Grundstimmung der Christenheit geworden ist« (Harnack, D. G., 4. Aufl., 1, 71). Welche ungeheure Bedeutung die Vorstellung der Sünde in Martin Luther's religiösem Leben besitzt, weiß ein jeder: »Die Sünde tritt uns mit Füßen«, schreibt er aus eigenster Erfahrung, »bis daß die Gnade komme und trete die Sünde mit Füßen.« Und in unseren Tagen hat der Theolog unter den Theologen, Albrecht Ritschl, den Satz aufgestellt, »der Wert der Leistung Christi und der Unwert der Sünde« seien »durchaus korrelate Größen«, d.h. einander an Bedeutung gleich ( Rechtfertigung und Versöhnung, 4. Aufl., 1, 217).

Nirgends nun fällt das Unjüdische und Widerjüdische an unserem Heiland mehr auf als bei der Frage der Sünde; auch steht er dabei in einem ausgesprochenen Gegensatz zu sämtlichen christlichen Kirchen – die ja alle die Sünde und die Rechtfertigung als Mittelpunkt und als Triebkraft der von ihnen gelehrten Religionen behandeln. Hingegen ist es für Jesus bezeichnend, daß er im allgemeinen die Sünder den Gerechten vorzieht – eine auffallende Tatsache, die Luther also erklärt: »Es geschehe, auf daß die Ehre ganz Gott dem Herrn zugelegt werde, darum, daß er aus Gnaden und lauter Barmherzigkeit die Sünde vergibt« ( Konkordanz 4, 296). Jeder muß aber fühlen, wie ungenügend diese Erklärung ist, die stark unter dem Einfluß alttestamentarischer Vorstellung steht. Auch die Antwort, die Jesus selber gelegentlich eines Vorwurfes über seinen Verkehr mit »Sündern« erteilt: »Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken; ... nicht Gerechte zu rufen bin ich gekommen, sondern Sünder« ( Matth. 9, 12 fg.) – diese Antwort trägt mehr den Charakter einer Abwehr als den einer auf den Grund gehenden Auskunft: zunächst ist der Ausdruck »Gerechte« jüdisch zu verstehen, und der Spruch bedeutet somit eine der vielen Ablehnungen des jüdischen Gesetzes; doch beweisen zahlreiche Worte, namentlich in den Gleichnissen, daß noch ein tieferer Sinn darin verborgen liegt. Der Heiland verfolgt ein einziges Ziel: die Menschen in das Reich Gottes einzuführen; dies geschieht vermittelst einer Erleuchtung des Gemütes, begleitet von einer Wendung des Willens; und nun findet sich, daß »Sünder« für die Erleuchtung empfänglicher und zur Willenswendung bereitwilliger sind als »Nichtsünder«. Die Religion Jesu steht eben – wie schon ausgeführt – außerhalb der Zeit und fragt daher nur nach der Gegenwart: diese löscht die Vergangenheit aus, beziehungsweise wandelt ihre Bedeutung im Nu um. Der Verbrecher, der sterbend an den Heiland die Worte richtet »Gedenke mein«, wird keinem Verhör unterworfen, noch wird ihm im Diesseits oder im Jenseits eine Buße auferlegt, vielmehr heißt es: »Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein« ( Luk. 23, 42 fg.). Im Augenblick, wo die Wendung stattfindet, sind seine Missetaten ausgelöscht: »Denn ich bin nicht gekommen, die Welt zu richten, sondern die Welt zu retten« ( Joh. 12, 47). Wenn der Fall des Schächers – als ein gar zu besonderer – nicht überzeugt oder angezweifelt wird, so betrachte man den der Ehebrecherin (den, bezeichnenderweise, die Kirche ihr Bestes getan hat, aus dem Texte zu streichen – vergl. Merx und Rendel Harris). Nachdem auf das Wort des Heilandes: »wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein«, die Ankläger sich nach und nach fortgeschlichen haben, spricht Jesus zu der Ehebrecherin: »So verurteile auch ich dich nicht; gehe hin und sündige von jetzt an nicht mehr« ( Joh. 8, 2–11). Sogar wenn das zuträfe, was einige Gelehrte vermuten, hier läge eine Parabel vor, nicht ein Ereignis, das Wort selbst – und darauf allein kommt es an – gehört zu den unanzweifelbaren; denn es bedeutet einen Schlag ins Gesicht nicht allein aller jüdischen Gesetzgebung und Empfindung, sondern nicht weniger jeder christkirchlichen Lehre und Gepflogenheit von den ersten Zeiten an bis zum heutigen Tage. Die Sünde wird der Frau einfach nicht angerechnet; von Reue, Buße und Strafe hören wir ebenfalls nichts; »sündige von jetzt an nicht mehr«: das genügt. An dieses Beispiel knüpft sich zweckmäßig ein weiteres. Der Heiland sitzt bei einem reichen Manne zu Tisch; da tritt ein wegen ihres unzüchtigen Lebens stadtbekanntes »sündiges Weib« herbei, fällt vor dem Heiland auf die Knie, »läßt nicht nach, ihm die Füße zu küssen«, und salbt sie ihm dann mit wohlriechendem Öle; darüber begreifliche Empörung des Hausbesitzers und seiner Gäste und Verwunderung, daß der Heiland die Berührung eines solchen Weibes nicht von sich weise. Dieser aber nimmt sie in Schutz und verkündet: »Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebet«, und zu der Frau spricht er: »Dein Glaube hat dir geholfen; gehe hin in Frieden« ( Luk. 7, 36–50). Man schaue auch weiter umher und beachte, in welchem Maße verschiedene Sprüche und namentlich Gleichnisse des Heilandes in bezug auf die Sünde unseren kirchlichen Sittenlehren und überhaupt den unter uns verbreiteten Vorstellungen über Sittlichkeit zuwiderlaufen. Wäre uns z. B. das Wort nicht seit Kindesbeinen vertraut, es müßte ein Jeder stutzen, wenn er vernimmt: »So wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die da keine Buße nötig haben« ( Luk. 15, 7): hier wird doch ohne Umschweife dem – nach unseren menschlichen Begriffen – Sündigen der Vorzug gegeben vor dem Tugendhaften! Und solcher Gleichnisse gibt es mehrere. Auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn gehört hierher: wir vernehmen es gern, weil es so schön ist, nichtsdestoweniger widerspricht es ebensosehr unseren religiösen wie unseren weltlichen Ideen und Gewohnheiten.

Genau das gleiche wie bei der Sünde beobachten wir bei deren Gegenstück, dem guten Werke: das angebliche Verdienst pflegt der Heiland; ebenso wie die Sünde, als nebensächlich einzuschätzen. Hierfür zeugt z. B. das Gleichnis von dem Herrn des Weinberges, der allen seinen Arbeitern abends den selben Lohn auszahlt, gleichviel, ob sie vom frühen Morgen an tätig gewesen waren und »die Last und Hitze des Tages getragen haben«, oder ob sie nur eine einzige letzte Stunde an der Arbeit teilgenommen hatten. Den murrenden Tagelöhner bescheidet er: »Nimm das deine und gehe. Ich will aber diesem, der der Letzte ist, so viel geben wie dir auch; darf ich nicht mit dem Meinen tun, was ich will? oder siehst du scheel dazu, daß ich gut bin?« ( Matth. 20, 1–16). Man beachte, daß der Heiland diese Erzählung ausdrücklich als »ein Gleichnis vom Reiche Gottes« bezeichnet. Nicht anders steht es um das Gleichnis von dem Knechte, der müde und hungrig vom Felde heimkehrt und seinem Herrn erst das Mahl richten und ihm aufwarten muß, ehe er selber ruhen und essen darf. »Erwirbt sich etwa dieser Knecht ein Verdienst, daß er getan, was ihm befohlen war? So auch ihr; wenn ihr getan habt alles, was euch befohlen ist, so saget: wir sind Knechte, wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren« ( Luk. 17, 7–10, nach dem ältesten Text). So bestimmt und scharf weist Jesus – nicht freilich die guten Werke von sich, wohl aber die Vorstellung, daß sie »ein Verdienst« ausmachen und einen Anspruch begründen: hiermit fällt aber ein weiterer Teil unserer kirchlichen Religionslehre.

Kann ich auch bei diesen Ausführungen, wie überall, nur andeutend verfahren, ich hoffe doch, jeder Leser beginnt zu begreifen, welche metaphysische Tiefe die Religionslehre des Heilandes vor den Lehren der Kirchen auszeichnet. Wohl wird – wie früher besprochen – diese Lehre des Heilandes mit unnachahmlicher Einfalt vorgetragen und gewinnt dadurch über einfältige Herzen Gewalt; auch eignet ihr in einer anderen, tieferen Beziehung Einfalt ohnegleichen: dem Lehrenden ist eine Welt unergründlicher Gedankentiefe so vertraut, er fühlt sich in ihr so heimisch, daß er an eine gedankengemäße(metaphysische) Darstellung nicht erst heranzugehen sich veranlaßt findet und in vollkommener Einfalt Dinge vorträgt, die der weiseste Mensch kaum zu fassen vermag. Töricht aber ist es, über der Einfalt die Tiefe zu übersehen; wohin dies führt, wissen wir: zu der Behauptung, Jesus habe überhaupt keine Lehre hinterlassen (S. 102 fg.).

Keineswegs will ich zu verstehen geben, um den Segen zu empfangen, der von des Heilandes Lehre ausstrahlt, sei es unerläßlich, in die tiefsten Tiefen des menschlichen Denkvermögens hinabzusteigen; unter uns Heutigen ist aber die reine Einfalt eine seltene Gabe, und wer sie nicht besitzt, muß sich schon entschließen, den anderen Weg – den Weg der Besinnung – einzuschlagen, sonst bleibt ihm kein Zugang zu der Botschaft Jesu; außerdem wird man entdecken, daß gerade das allertiefste Denken zur Einfalt zurückführt. Schwerlich kann einer in die metaphysische Tiefe der Lehre von dem Reiche Gottes – wie Jesus sie in seinen Gleichnissen vorträgt – und in die ganze damit zusammenhängende Weltanschauung und Lebensauffassung Einsicht gewinnen, der nicht bei den größten Denkern des Ostens – Badarayana und Cankara – sowie bei den größten Denkern des Westens – Plato und Kant – Unterweisung genossen hat; kaum ein Mensch unter vielen Millionen ist befähigt, aus eigener Kraft und eigenem Antrieb zu solchen Erkenntnissen zu gelangen, – vielmehr können wir der Anleitung dieser seltensten Denker, die uns allen vorgedacht haben, nicht entraten.

Namentlich die indischen Weisen besitzen für uns in diesem Falle besonderen Wert, weil ihr ganzes Denken ausschließlich einem religiösen Belange dient; mögen sie sich noch so tief in die Gesetze des menschlichen Denkens und Erfahrens versenken und sie noch so unerhört feinsinnig zergliedern, ihr einziger Beweggrund zu dieser Mühewaltung und ihr niemals aus dem Auge verlorenes Ziel ist und bleibt die »Erlösung« – die Erlösung aus einer Welt des Scheines, der Irrnis und der Sünde; diese Erlösung wird aber – genau wie bei Jesu – gedacht, als durch eine innere Umwendung (Wiedergeburt) erreicht, dank welcher der Mensch plötzlich die Gegenwart Gottes gewahrt und damit in dessen Reich eintritt: der Ausdruck »Reich Gottes« mag bei diesen Weisen nicht vorkommen, der Begriff deckt sich aber im wesentlichen mit dem, den der Heiland diesem Worte beilegt. Und so finden wir denn auch dort die Lehre, daß bei dem Eintritt in das Reich Gottes die begangenen Sünden ebenso wie die Verdienste sich ablösen und auflösen.

Wer jenes Höchst' und Tiefste schaut,
Dem spaltet sich des Herzens Knoten,
Dem lösen alle Zweifel sich,
Und seine Werke werden nichts.

Im besonderen gilt dies von der Sünde. »Wie an dem Blatte der Lotosblüte das Wasser nicht haftet, so haftet keine böse Tat an dem, der solches weiß« und: »Wie die Rispe des Schilfrohrs, ins Feuer gesteckt, verbrennt, so verbrennen alle Sünden (des Wissenden).« Diese Lehre ist um so bemerkenswerter, als an der gleichen Stelle die Fortdauer von Strafe und Lohn, von Bußleistung und Schuldvernichtung ausdrücklich betont wird, nur gelten diese Dinge einzig innerhalb der Sinnen- und Verstandeswelt, wogegen der »Gottwisser« bereits in die andere Welt eingetreten ist, in welcher die Bedeutung unseres Lebens – nunmehr als außerhalb des Raumes und der Zeit liegend erkannt – unter einem neuen Augenpunkt erblickt wird: »Auch von dem guten Werk gilt ebenso wie von dem bösen, daß es bei dem (Gott-)Wissenden vernichtet wird und ihm nicht anhaftet; warum? weil auch das gute Werk eine ihm entsprechende Vergeltung bedingt und somit die Frucht der Erkenntnis (Gottes) verhindern würde; daher die Schrift in Worten wie ›er überwältigt beide‹ die Vernichtung des guten Werkes ebensowohl wie die des bösen (beim Gottwisser) lehrt« (Çankara, Die Sutra's des Vedanta, 4, 1, 13 und 14). Was unser Heiland von göttlicher Höhe aus mit einem einzigen Blick erfaßt und daher mit vollendeter Einfalt ausspricht, dahin – zu dieser Erkenntnis – sehen wir hier ehrlich um die Wahrheit ringende Menschen in unablässiger Gedankenarbeit mühevoll hinanklimmen. Der Weg, den sie einschlugen, konnte nie zu einem vollen Erfolge führen; ihr Werk scheiterte an der Ungeheuerlichkeit der an die Denkkraft der Menschen gestellten Ansprüche; Gott und das Reich Gottes mußten in der Person des Mittlers uns vor Augen treten, sollten sie jedem Menschengemüte zugänglich werden; nichtsdestoweniger wollen wir uns hüten, einen derartigen Höhepunkt heilig-ernsten menschlichen Strebens nach Gott und seinem Reiche unbeachtet abseits liegen zu lassen: der Tief sinn indischer Gottesforschung ist geeignet, unsere Augen für die göttliche Einfalt der Lehren Jesu zu öffnen, an der wir Geblendete achtlos vorübergehen, indem wir vor lauter Licht nichts zu erblicken wähnen.

Die Denker des Westens standen nicht im Dienste der Religion, sondern in dem der Wissenschaft; darum finden wir bei ihnen keine so unmittelbaren Beziehungen zu unserem Gegenstand. Dennoch wird für manchen unter uns Kant's Kritik der reinen Vernunft die rechte Vorbereitung bilden zu dem Verständnis von Jesu Predigt; denn Kant allein führt in die Welt der zeitlosen Gegenwart ein, in welcher des Heilandes Denken lebt. Dem Leser kann ich die Mühe nicht ersparen, zu der Quelle aufzusteigen; wollte ich mich dessen unterfangen, ihn zu unterweisen, der Versuch müßte notwendig fehlschlagen: derartige Erkenntnisse lassen sich nicht für träge Geister mundgerecht gestalten, sie müssen erarbeitet werden. Man beachte in Kant's Hauptwerk vor allem den großen Abschnitt: Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft in Ansehung aller kosmologischen Ideen. Hier lernt man den Unterschied zwischen der Welt der Sinne und der Notwendigkeit einerseits und andrerseits der Welt der Freiheit genau einsehen: in der Welt der Freiheit war Jesus daheim, aus ihr heraus ist alles, was er über Gott und Gottes-Reich lehrt, gesprochen zu denken. Wenn auch Kant in jenem Werke die sittlichen Fragen sonst nicht in Betracht zieht, er findet sich doch veranlaßt, uns in einer Anmerkung auf folgende Tatsache aufmerksam zu machen: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten« (1. Aufl., S. 551). Einzig aus dieser Erwägung heraus läßt sich das Verhalten des Heilandes den Sündern und den Sünden gegenüber verstehen. Jedem wird sofort das Wort einfallen: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet« (Matth. 7, 1) – ein Wort, mit dem keine Kirche etwas anzufangen weiß, da es unsere landläufige Auffassung der »Sünde« – als einer gegebenen und leicht zu beurteilenden Tatsache – über den Haufen wirft. Die völlige Übereinstimmung mit Kant erhellt noch deutlicher aus dem im Johannes-Evangelium berichteten Spruch: »Ihr richtet nach dem Fleisch, ich richte niemands« (8, 15, vos secundum carnem judicatis: ego non judico quemquam). Nach dem Fleische ist eine Wendung, welche als leicht faßlicher Ausdruck genau dem von Kant philosophisch festbestimmten Begriff des »empirischen Charakters« entspricht; die Erklärung, ich richte niemands (so lautet der echte Luthertext), entspringt der gleichen Überzeugung wie Kant's: »die eigentliche Moralität der Handlungen bleibt gänzlich verborgen«. Im selben Zusammenhang mache ich auf ein weiteres Wort Kant's aufmerksam: »für einen heiligen Willen gelten keine Gebote« (Grundlegung z. Metaphysik d. Sitten, 2. Abschn.). Diese Lehre entspricht buchstäblich der indischen, nach welcher die Begriffe gut und böse auf einen heiligen Menschen keine Anwendung finden; ich meine aber, erst in diesem Lichte wird manches beim Heiland verständlich, so z.B. wenn, angesichts des Todes, eine innere Wendung den Verbrecher am Kreuze umwandelt, und Jesus im selben Augenblick alle Missetaten von ihm abfallen sieht, als wären sie nie gewesen; oder wenn die Ehebrecherin, unter dem Eindruck des Auges und der Stimme Jesu, ebenfalls eine derartige Neugeburt erfährt, daß der Heiland, ohne ein Wort des Tadels, sie entlassen kann: gehe hin und sündige von jetzt an nicht mehr.

Mit diesen Andeutungen über die Auffassung der Sünde hoffe ich manchem Leser die Augen geöffnet zu haben über die reine Religionslehre des Heilandes im Unterschied von – fast könnte man sagen im Gegensatz zu – allen »christlichen« Kirchenlehren. Einmal aufmerksam geworden, wird ein jeder immer tiefer in diese neue Welt des Vaters und seines Reiches hineinwachsen, oder vielmehr diese neue Welt wird wie der Baum des Gleichnisses (S. 99), um ihn her in die Höhe wachsen und ihn umgeben: ohne daß er recht weiß, wie es zugegangen ist, wird er sich im Reich Gottes geborgen und aus Menschenängsten gerettet finden.

 

Diese Religion Jesu ist die einfachste, die jemals verkündet wurde, zugleich die duldsamste: sie erfordert gar keinen äußeren Apparat, da sie sich lediglich an den inneren Menschen wendet, noch rüttelt sie an bestehenden Gebräuchen. So haben wir z. B. gesehen, in welchem unmittelbaren Gegensatz des Heilandes Lehre zum Judentum steht, und wir kennen die bitteren Worte, in denen der Liebevolle häufig der Priester und Schriftgelehrten jenes Volkes gedenkt; dennoch verblieb er selber innerhalb dieser Gemeinschaft, in deren Mitte er aufgewachsen war, und gab seinen Jüngern ein Beispiel – wenn nicht der Befolgung der Gesetze, die er, wie wir wissen, wo es ihm gut dünkte, durchbrach – so doch des treuen Festhaltens an den althergekommenen Religionsgebräuchen. Ebenso bemerkenswert ist es, daß wir ihn niemals an die Heiden, mit denen er vielfach in Berührung kommt, ein tadelndes oder geringschätzendes Wort über ihre Religion richten hören, vielmehr es öfters erleben, daß er gerade Heiden wegen der Kraft ihres Glaubens – »dergleichen er in Israel nicht gefunden habe« – preist.

Legt der Heiland auf die Religionsangehörigkeit der Menschen wenig Gewicht, so fordert er ebensowenig von ihnen irgendwelche Beschränkungen in bezug auf ihre staatlichen und beruflichen Obliegenheiten: alle diese Dinge sind gleichgültig, da Jesus lediglich nach einer Umwandlung der Gesinnung fragt. Das Wort: »So gebet dem Kaiser, was des Kaisers« (Matth. 22, 21) gehört zu den bekanntesten, doch überlegen sich vielleicht Wenige, was damit ausgesprochen wird. Die Juden bestritten mit Leidenschaft die Ansprüche des römischen Reiches; namentlich die Galiläer befanden sich dazumal fast beständig in Aufruhr; die Rechtmäßigkeit der kaiserlichen Regierung anerkennen, hieß die eigene Theokratie verleugnen und die Ansprüche der Juden auf Weltherrschaft aufgeben: dies alles tut Jesus mit jenem Bescheid, den er ruhig und bestimmt den Fragenden erteilt. Gibt sich der Heiland mit jeder politischen Weltordnung zufrieden, so gilt ihm auch keine Lebenslage als Hindernis für die zu erstrebende innere Umwandlung. Sehr auffallend ist, daß Jesus keinerlei Weltentsagung predigt, was sonst bei jedem religiösen Erneuerer der Fall war, und so namentlich auch bei seinem eigenen Zeitgenossen, Johannes dem Täufer. Den Gegensatz zu diesem hebt er sogar einmal ausdrücklich hervor, indem er sagt, Johannes habe auf Brot und Wein verzichtet (strengste Enthaltsamkeit geübt), wogegen er, Jesus, so frei lebt, daß es von ihm heißt: »Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, der Zöllner und Sünder Freund« (Matth. 11, 19, Luk. 7, 34). In diesem Zusammenhang mache ich aufmerksam, daß das Evangelium Lukas zwei Worte Johannes dem Täufer zuweist, die ihm nicht angehören können und sicher vom Heiland gesprochen wurden. Das eine ist an die Zöllner gerichtet – eine Genossenschaft, die wegen ihrer unsauberen Geschäftsgebarung allgemeiner Verachtung anheimfiel (siehe für näheres Schürer) und beantwortet die Frage, was sie tun sollen, damit sie nicht unwert des Reiches Gottes befunden werden: »Nehmet nicht mehr, als wozu ihr angewiesen seid« – also seid redlich! Keine Silbe mehr. Das zweite Wort beantwortet die gleiche Frage, von Soldaten gestellt: »Beunruhiget niemanden, erpresset von niemand und lasset euch genügen an euerem Solde« (3, 12 fg.). Bedenkt man nun die grundsätzliche Ablehnung des militärischen Berufes seitens der Juden sowie die altchristliche Scheu vor Blutvergießen, die in unseren Tagen zu den Überspanntheiten eines Tolstoi führte, so begreift man die Bedeutung eines solchen Wortes und seine enge Beziehung zu des Heilandes Religionslehre. Ähnlich steht es in bezug auf seine Beurteilung der Seelengefahren, die der Besitz irdischer Güter mit sich bringt. Wohl spricht er das Wort: »Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Reich Gottes eingehe« ( Mark. 10, 25); er fügt aber sofort hinzu: »Bei Menschen ist es unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alles ist möglich bei Gott«, und im vorangehenden Vers, wo wir jetzt lesen: »Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes eingehen!« las man in einem früheren Text: »Wie schwer werden diejenigen, die auf ihre Besitztümer vertrauen, in das Reich Gottes eingehen« – wodurch wieder aller Nachdruck auf die innere Gesinnung zurückverlegt wird: nicht darauf kommt es an, ob einer reich ist, sondern auf seine Auffassung der Bedeutung seines Reichtums. Dies geht auch aus einer anderen Stelle hervor, wo der Heiland angeblich von dem » Trug des Reichtumes, welcher das Wort ersticke«, gesprochen hätte – so lasen wir bisher ( Matth. 13, 22), und diente das Wort asketischen Predigern zum Text. Nun haben aber neuere Forschungen und Entdeckungen uns erst jetzt eine genaue Kenntnis des damaligen Volksgriechisch verschafft, der Sprache, in welcher die Schriften des Neuen Testamentes verfaßt sind, und da stellt es sich heraus, daß das Wort apate in der hellenistischen Zeit nicht mehr wie früher »Trug« bedeutete, sondern Vergnügen, Genuß; folglich hat der Heiland nicht behauptet, die Güter dieser Welt seien auf alle Fälle ein Trug und erstickten das Wort, vielmehr geschehe dies, wenn der Reichtum lediglich zum Genüsse diene, anstatt als ein anvertrautes, von Gott zu edlen Zwecken gespendetes Gut verwaltet zu werden (vergl. Milligan, N. T. Documents, S. 75). Wir wissen außerdem, daß Jesus nicht nur von reichen Häusern Einladungen annahm, sondern daß er mit wohlhabenden Familien nahe befreundet war und ihnen gestattete, ihm und seinen Jüngern »aus ihrem Vermögen zu helfen« ( Luk. 8, 3).

Erst wenn wir alle diese Dinge uns vergegenwärtigen und uns ohne jede kirchliche Voreingenommenheit reiflich überlegen, was sie zu bedeuten haben, geht uns das Verständnis für Worte auf wie: »Mein Joch ist sanft und die Last, die ich zu tragen gebe, ist leicht« ( Matth. 11, 30). Man überlege sich, welche unerträgliche »Last« das nachexilische Gesetz dem unglückseligen jüdischen Volke auferlegt hatte; kein Wunder, wenn Nehemia berichten muß: »Da weinete alles Volk, da sie die Worte des Gesetzes höreten« (Kap. 8–10). Nicht gering ist aber auch die »Last«, welche die christlichen Kirchen den Gewissen auferlegen: da gibt es äußerliche Gebote in Hülle und Fülle, Gebräuche, die zum Seelenheil unerläßlich sein sollen; weit schlimmer aber erachte ich die Seelenpein des Glaubenszwanges an hundert unbegreifliche Dinge, bei Androhung ewiger Strafen ..... Von dem allen finden wir bei Jesu keine Spur: er verlangt einfach, daß ein jeder die Gegenwart des Vaters empfinde und »barmherzig werde, wie der Vater barmherzig ist«; auf diesem Wege »werden wir Söhne des Höchsten, der auch gegen die Bösen und die Undankbaren freundlich milde ist« ( Luk. 6, 35 mit Hinzuziehung des ältesten Textes).

 

Dem Leser wird sich wohl von selbst nach und nach die Überzeugung aufgedrängt haben, daß diese Lehre vom göttlichen Vater und vom Reiche Gottes außerhalb von allem steht, was wir Menschen sonst gewohnt sind uns als »Religion« und als »Kirche« vorzustellen; er hat jedoch zugleich einsehen gelernt, daß es sich keineswegs um eine bloße Sittenlehre handelt; vielmehr wird zu einer höchsten Steigerung lebendiger Glaubenskraft angefeuert, und erst wenn diese den Menschen in die unmittelbare Gegenwart des Vaters geführt hat, erfolgt daraus eine tiefgreifende Umwandlung, die mit einer Neugeburt zu vergleichen ist.

Wie neu die Botschaft auch ist, die der Heiland den Menschen bringt, und wie schwer es darum auch fällt, sie an irgendwelche uns vertrauteren Erscheinungen des Gemütslebens anzugliedern, es hilft doch sehr zu einem volleren Verständnis, wenn man aufmerksam wird, daß Männer aus der arischen Verwandtschaft das, was Jesus in der Vollendung lehrte und lebte, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten, unter Anspannung aller Geisteskräfte erstrebt haben. Um sich davon zu überzeugen, wolle der Leser die Stelle im ersten Kapitel über den ganz reinen Gottesbegriff, wie ihn die arischen Inder und die arischen Germanen gefaßt haben, über den Gott, den Meister Eckehart »einen bleibenden Gedanken in der Seele« nennt, nachschlagen (S. 28). Erhaben über alle diese tastenden Versuche edler Sehnsuchtsvoller steht Jesus von Nazareth – er, der nicht sucht, sondern »redet, was er weiß« ( Joh. 3, 11); doch fühlt man sich dort wie hier von der gleichen Luft umweht und erfährt, wohin man sich zu wenden hat, wenn man auf menschlichen Wegen dem Heilande nahen will. Auch jene Männer erstreben mit ihrem Gottsuchen etwas anderes, als was ihre Religionen ihnen bieten, und preisen sich glücklich, wenn sie mystische Tiefen erreichen, in denen alle Formen und Formeln von ihrem belasteten Gewissen abfallen und sie die Gegenwart des höchsten guten Wesens, des Vaters, empfinden. Diese Armen wurzeln aber so unentwirrbar fest in verwickelten Religionsvorstellungen, daß sie sich nur äußerst mühevoll hinauswinden, ohne je die volle Ungebundenheit erreichen zu können, – immer stand und steht noch heute eine letzte trennende Wand zwischen diesen Männern und ihrem Ziele; wohingegen der Heiland in vollkommener Freiheit von oben herunter schwebt und aus dieser vollendeten Meisterschaft die Einfachheit und Einfalt seiner unergründlich tiefen Lehre sich von selbst ergibt. Er zimmert kein Gefüge von Glaubenssätzen, stiftet keine Kirche, lehrt keine Gebräuche und Andachtsübungen, durch welche ein Gott gnädig gestimmt werden soll, er sieht lediglich auf eine tatsächliche Bewegung im Seelenleben des Menschen, auf ein tatsächliches Emporstreben seines Willens zu dem Höheren (S. 27 fg.), das der Mensch über sich ahnt und weiß, auf ein entschiedenes Ergreifen der Gotteshand; darum fragt er nicht, aus welcher Gegend menschlicher Wahngedanken der Einzelne herkommen mag, noch verurteilt er die verschiedenen angelernten Religionsgebräuche: was uns – in Raum und Zeit Befangene – entscheidend dünkt, ist für ihn ohne Bedeutung; er verfolgt ein einziges Ziel: uns in die Gegenwart des Vaters – und das heißt in das Reich Gottes – einzuführen. Hierhin steht aus jeder Richtung der Weg offen; und hier angelangt, fällt alles andere ab, weil der Mensch durch diese Tat als ein Umgewandelter in die Zeitlosigkeit eingetreten ist: diese Tat, dieses Ereignis nennt der Heiland Glauben, und von ihm gelten die Sprüche: »Fürchte dich nicht, glaube nur!« { Mark. 5, 36) und: »Wenn du glaubst, kann dir alles werden« ( Mark. 9, 23 nach dem ältesten Text).

Nachwort

Ich breche hier ab; denn es handelt sich um Dinge, die bloß angedeutet werden können und bei denen – wie ich mich durch den Versuch überzeugt habe – Ausführlichkeit, indem sie Worte und Bilder häuft, den Eindruck des Unaussprechlichen schwächt und verundeutlicht: genügt das Gesagte, einige zu Jesu selbst hinzuleiten, so haben meine Ausführungen ihren Zweck erfüllt. Ein paar Worte sollen eine Brücke schlagen von dieser Betrachtung über den Heiland und seine Lehre zu den drei folgenden Kapiteln über das, was die Menschen aus dieser Erscheinung und dieser Lehre machten, und woraus die kirchliche Religion entstand, die wir Christentum heißen.

Um es kurz vorweg zu nehmen: die Lehre Jesu entschwand, weil unverstanden; doch ihr Verkünder blieb, und damit blieb der lebendige Quell göttlichen Segens der Menschheit erhalten. Der Vater, von dessen unmittelbarer Nähe Jesus uns hatte überzeugen wollen, thronte nunmehr in Weltenfernen, und das Gottesreich, nach dem wir uns bloß zu bücken brauchten, um es zu besitzen, das Reich, das uns schon in diesem Leben wie ein Baum umschirmte, in dessen Zweigen lustige Vöglein sangen, sollte sich uns erst lange nach dem Tode und nach dem furchtbarsten Gerichte, das ewige Strafen androhte, auf tun; auch Jesus selber rückte uns – als Christus – immer ferner: erst hieß er »das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (ein an und für sich recht dunkler Ausdruck), – kaum stehen diese Worte aber auf dem Papier, als sie dem Schreiber nicht mehr genügen, und Jesus Christus wird selber der Weltenschöpfer, »alles ist durch ihn und auf ihn geschaffen, und er ist vor allem, und alles besteht in ihm« ( Kol. 1, 15 fg.); doch neben Christus, dem Gotte, blieb – dank den Evangelien – Jesus der Menschensohn bestehen; er war der Mittler, und fortan glaubten die Menschen an Gott »durch Jesum Christum«. In diesem Worte – wie schon früher bemerkt (S. 79) – liegt der ganze Segen der christlichen Kirchen eingeschlossen: die innere Gewalt dieser Erscheinung siegt über jegliche Verzerrung, über jeglichen menschlichen Wahngedanken, über alle urpriesterlichen Vorstellungen aus der Kindheit der Menschheit, die wir als Ballast weiterschleppen – und immer von neuem steht diese Erscheinung da, strahlend in ihrer Einfalt und Ruhe, – unantastbar. Zu ihr flüchtet aus den verschiedenen Bekenntnissen, wer nur fähig ist, religiösen Segen zu empfangen – und er empfängt ihn, gleichviel was er sonst noch alles an abergläubischem Beiwerk seiner armen strebenden Seele aufgebürdet haben mag.

Innerhalb der frühesten, noch werdenden Christenheit führte das Mittlertum Jesu zu Deutungen,,deren Verschiedenheit heute von den Meisten übersehen wird: so z. B. knüpften die drei ersten Evangelisten an allgemein im Volk verbreitete Vorstellungen an, namentlich an diejenige eines zu erwartenden gottgesandten Helden, der das Reich Davids von neuem aufrichten sollte–des »Messias« (auf griechisch: Christus), wogegen Paulus – durch die Rabbiner in die Kunst der Schriftdeutung eingeführt und zugleich seit früher Jugend von hellenistischen Religionsvorstellungen umgeben – es unternahm, das ganze Alte Testament zu einem neuen Weltenmythos umzudichten, in welchem Jesus von Anfang bis zu Ende die mittlere Gestalt bildet, wodurch der Begriff des Messias völlig umgewandelt wird. Johannes seinerseits schloß sich der hellenistischen Gnostik an, um sie desto wirksamer bekämpfen zu können, und faßte Jesum als den verkörperten Logos auf.

Da diese drei Auffassungen nebeneinander bestehen blieben – dazu als ein Viertes, die von den Evangelien aufbewahrte Gestalt und Lehre des echten Jesus, so entstand in der Kirchenlehre eine unlösbare Verwirrung; doch eines war allen gemeinsam: das Mittlertum Jesu Christi zwischen Mensch und Gott, und dies blieb und bleibt der religiöse Angelpunkt jedes wahren Christentums.


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