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Innerhalb der dicken Mauern eines wie aus dem Felsen gewachsenen rätischen Kastells sprudelte ein Quell in klösterlicher Stille. Durch die Zacken bemooster Ahorne rauschte der Abendwind mächtig über den Hof weg, und schon rückte das Spätrot hinauf an dem klotzigen Gemäuer. Am Brunnen aber stand ein junges Mädchen und ließ den heftigen Strahl in einen Becher springen, aus dessen von Alter geschwärztem Silber er schäumend empor und ihr über die bloßen Arme spritzte.
»Berg und Wetter sind gut«, murmelte sie. »Mir brannten die Sohlen von früh an, ihm entgegen zu rennen. Kommt er heute noch? oder erst morgen? oder übermorgen zum allerspätesten! Graciosus verschwor sich, der Bruder ziehe mit dem Kaiser – nein, er reite ihm weit voraus! Und der Kaiser ist nahe, was flüchteten sonst die Lombarden Hals über Kopf? Bum!« machte sie und ahmte den dumpfen Schlag einer Laue nach, dem bald ein zweiter und noch der dritte folgte, denn im Gebirge, das in Gestalt einer breiten blanken Firn über die Firste blickte, hatte es heute in einem fort gerieselt und geschmolzen.
»Die ihr auf weißen Stürzen in den Abgrund schlittet, seid ihm hold, bärtige Zwerge! Verberget ihm nicht den Pfad, verschüttet ihm nicht die Hufen des Rosses! Sprudle, Flut! Spül aus den Hauch des Todes! Lust und Leben trinke der Bruder!« und sie streckte den schlanken Arm. Dann hob sie den gebadeten Becher in die Höhe der Augen und buchstabierte den Elbenspruch, welchen sie sich deutlicher in das Herz schrieb, als er mit erblindeten Lettern in das Silber gegraben stand. Der Spruch aber lautete folgendermaßen:
»Gesegnet seiest du! Leg ab das Schwert und ruh! Genieße Heim und Rast Als Herr und nicht als Gast! Den Wulfenbecher hier Dreimal kredenz ich dir! Erfreue dich am Wein! Willkomm...« |
Hier schloß entweder der zaubertüchtige Spruch oder dann kam noch etwas gänzlich Unleserliches, wenn es nicht zufällige Male der Verwitterung waren.
Eigentlich wußte sie ihn schon lange auswendig. Sie sagte ihn vorwärts, das ging, rückwärts, das ging auch. Dann sah sie ihn darauf an – zum wievielten Male! –, ob er ihr mundgerecht sei und von der Schwester dem Bruder sich sagen lasse, denn Graciosus hatte es erraten: sie liebkoste den Wunsch, mit dem Wulfenbecher dazustehen und ihn Wulfrin zu kredenzen. Ob es die Mutter erlaube? Diese machte sich mit dem Becher nichts zu schaffen, sie ließ ihn, wo er langeher seinen Platz hatte. Der Spruch gefiel dem Mädchen, und es malte sich die Ankunft.
»Das Horn klingt! Oder wäre es möglich, daß er mich still beschliche? mit heimlichen Schritten? Aber nein, er will ja nichts von mir wissen – wenn Graciosus nicht seinen Scherz mit mir getrieben hat. Das Horn dröhnt! Ich ergreife den Becher, fliege der Mutter voran – oder noch lieber, sie ist verritten, und ich bin Herrin im Hause – jetzt naht er! jetzt kommt er!« Ihr Herz pochte. Sie begann zu zittern und zu zagen. Er ist da! er ist hinter mir!« Sie wendete sich zögernd erst, dann plötzlich gegen das Burgtor. In der niedern Wölbung desselben stand kein junger Held, aber lauernd drückte sich dort ein armseliger Pickelhering.
Das Mädchen brach in ein enttäuschtes Gelächter aus und trat beherzt der Fratze entgegen. Es war ein Lombarde, das erriet sie aus den ziegelroten Nesteln seiner schmutzig-gelben Strümpfe. In die schreiendsten Farben gekleidet, wie sie Armut und Zufall zusammenwürfeln, trug der Kleine einen langausgedrehten pechschwarzen Spitzbart, der mit den gezackten Brauen und dem verzerrten Gesichte eine possierliche Maske schuf.
»Wer bist du, und was willst du?« fragte das Mädchen.
»Nur nicht gerufen, kleine Herrin oder vielmehr große Herrin, denn, bei meiner katholischen Seele! du hast die Mutter dreimal handbreit überwachsen. Wo ist sie?« Er schaute sich ängstlich um. Sein Blick fiel auf etwas Graues. In der Mitte des Hofes und im Schatten der Ahorne stand ein breiter Steinsarg, auf dessen Platte ein gewappneter Mann neben einem Weibe lag, das die Hände über der Brust faltete. »Ei, da hält ja unsere liebe Frau neben ihrem Alten stille Andacht«, spaßte der Lombarde, »und trübt kein Wässerchen, während sie zugleich in ihrer grünen Kraft bergauf bergab reitet und hängen und köpfen läßt.« Er blickte bedenklich zu dem prächtig gebildeten leuchterförmigen Ast eines Ahorns empor. »Hier würde ich ungerne prangen«, sagte er. »In Kürze: ich bin Rachis der Goldschmied und habe ein Geschäftchen mir dir. Liebst du deinen Bruder, junge Herrin?«
Diese plötzliche Frage setzte das Mädchen kaum in Erstaunen, das sich heute und gestern mit nichts anderem als nur mit diesem selben Gegenstande beschäftigt hatte. »Wie mein Leben«, sagte sie.
»Das ist schön von dir, aber wenig fehlt, so liebst du einen Toten. Wulfrin der Höfling ist in unsere Gewalt geraten.«
»Er lebt?« schrie das Mädchen angstvoll.
»Zur Not. Herzog Witigis zielt auf sein Herz – aber wird uns die Richterin nicht überraschen?«
»Nein, nein, sie ist nach Chur verritten. Rede! schnell!«
»Nun, ich habe ein feines Ohr und weiß auch ein Loch in der Mauer, denn ich bin hier nicht unbekannter als der Marder im Hühnerhof. Also: dein Bruder ist in einen Hinterhalt gefallen. Er schlug um sich wie ein Rasender, und unser Sechse wichen vor ihm, die einen verwundet, die andern, um es nicht zu werden. Doch sein Pferd rollte in den Abgrund, und er selbst verirrte sich auf eine leere Felsplatte, wo wir ein Treiben auf ihn anstellten und ihm hinterrücks ein langes Jagdnetz über den Kopf warfen. Denn der Herzog wollte ihn lebendig fangen, um ihn über die Wege des Franken, unsers Verderbers, auszufragen. Der Trotzkopf aber verschwieg alles, auch den eigenen Namen. Da legte der Herzog den Pfeil auf den Bogen und« – Rachis tat einen grausamen Pfiff.
»Du lügst! er lebt!« rief das Mädchen mutig.
»Vorläufig. Der Herzog drückte nicht ab, denn – jetzt wird die Geschichte lustig – das junge Weib eines der Unsrigen, eine freigegebene Eigene der Richterin, wenig älter als du« –
»Mein Gespiel Brunetta, das Kind Faustinens« –
»Gerade diese sprang dazwischen. ›Bei der durchlöcherten Seite Gottes‹, heulte sie, ›der arme Herr trägt das Wulfenhorn und ist kein anderer als der Sohn des Comes, der im Steinbild auf Malmort liegt. Seine leibliche Schwester, Herrin Palma, hat mir von ihm erzählt, von klein an und in einem fort ohne Aufhören. Du darfst nicht sterben‹, wendete sie sich an den Gebundenen, ›das wäre ihr ein großes Leid und tötete ihr das Herzchen. Denn wisse, du bist ihr Herzkäfer, wenngleich sie dich noch nie mit Augen gesehen hat. Sende hin, und sie löst dich mit ihrem ganzen Geschmeide. Es sind köstliche Sachen. All ihr Kleinod hat die Richterin dem Kinde, sobald es seinen Wuchs hatte, gespendet und dahingegeben.‹
So erfuhr Herzog Witigis den Namen seines Gefangenen und die blonde Rosmunde, die er um sich hat, das Dasein eines herrlichen Schatzes. Sie umhalste den Herzog und erflehte sich das Geschmeide von Malmort. Ihr Stirnband habe seine Perlen und ihr elfenbeinerner Kamm die Hälfte seiner Zähne verloren. Kurz, Goldschmied Rachis wurde an dich geschickt und bietet dir den Tausch. Wähle: Schmuck oder Bruder!«
Ehe noch der Lombarde geendigt hatte, stürzte das Mädchen gegen die Burg, die steile Treppe hinauf, verschwand in der Pforte und kam atemlos wieder, Schimmerndes und Klingendes in dem zur Schürze gefaßten hellen Oberkleide tragend. Dieses hielt sie mit der Linken, während die Rechte Stück um Stück wie aus einem Horte emporhob und den gekrümmten Fingern des Goldschmieds überantwortete. Spangen, Stirnbänder, Gürtel, Perlschnüre verschwanden in dem Sacke, welchen Rachis geöffnet hatte, auch für die blonden Flechten Rosmundens ein kunstvoller Kamm von Elfenbein mit dem Heiland und den Aposteln in erhabener Arbeit. Jedes durch seine Hände wandernde Stück begleitete der Goldschmied mit dem Lobe des Kenners, nicht ohne ein bißchen Bosheit, die dem begeisterten Mädchen seine Verluste fühlbar machen wollte. Sie zuckte nicht einmal mit dem Mund, sie leuchtete vor Freude bei der Hingabe alles ihres Besitzes.
Da kam ihr denn doch ein Zweifel. »Du bist redlich?« sagte sie. »Du schickst mir den Bruder? Es ist besser, ich begleite dich!« und sie machte sich wegfertig.
»Unmöglich, Herrin«, widersprach der Lombarde, »das geht nicht! Du entdecktest unsere Schlupfwinkel und gefährdetest mit dem Leben des Bruders auch das deinige. Die Richterin aber würde dich von uns geraubt glauben. Sei nicht unklug, und gib dich nicht in fremde Gewalt!« Er belud sich mit dem Sacke. »Ein Schlummerchen, Fräulein! und wenn du die Augen wieder öffnest, hast du den Bruder, der dich Gold und Gut kostet. Das schwöre ich dir!« Er senkte die drei Finger mit einem grimmigen Blicke gegen den Erdboden. »Bei dem da unten!« gelobte er.
»Ein glaubhafter Schwur!« sprach eine weibliche Stimme. Rachis wendete sich erschrocken und bog das Knie vor einer behelmten Frau mit strengen Zügen, die den Speer, den sie in der Hand getragen, einem bewaffneten Knechte reichte. Die Richterin mochte aus Schonung für ihr ermüdetes Tier den steilen Burgweg zu Fuß erklommen haben. Sie faßte Palma schützend am Arm und blickte geringschätzig auf den Lombarden. »Schwürest du bei Gott und seinen Heiligen«, sagte sie, »so schwürest du falsch; eher schwörst du die Wahrheit bei dem Vater der Lügen. Habet ihr euch nicht bei allem Göttlichen verpflichtet, ihr Lombarden, nie mehr in Rätien zu rauben und zu brennen? Und jetzt, da ihr, wie alles Böse, vor den Augen des Kaisers flüchtet, schleudert ihr rechts und links verheerende Flammen! Ich komme von Chur und weiß um eure Taten, Eidbrüchige! Sage du deinem Witigis, die Richterin würde ihm nachjagen und ihn züchtigen, wenn nicht ein Höherer käme, und er ist schon da, dessen Hand ihn erreicht, flöhe er an die Enden der Erde!« Jetzt fielen ihre Augen auf den Sack des Goldschmieds. »Was trägst du da weg, Dieb?« fragte sie verächtlich.
»Ein ehrlicher Handel«, beteuerte dieser und öffnete den Sack, während das Mädchen die Mutter stürmisch umarmte. »Ich kaufe den Bruder!« rief sie. »Er ist in die Gewalt des Witigis geraten, der auf ihn zielt, bis ich der Frau Herzogin« – das unschuldige Kind erhob die blonde Rosmunde in den Ehestand – »meinen Schmuck gegeben habe, und wie gerne gebe ich ihn!«
Die Richterin machte sich von ihr los und fragte Rachis: »Ist das wahr?«
»Bei meinem Halse, Herrin!«
»Ich würde dir nicht glauben, wüßte ich nicht, daß der Höfling Wulfrin dem Kaiser voranreitet, und hätte ich nicht selbst eben jetzt in Chur gehört, daß die Lombarden einen Höfling gefangen haben. Dennoch kann es eine Lüge sein, denn es ist kaum glaublich, daß ein Tischgenosse Karls dem Feinde seinen Namen nennt und zu einem Mädchen um Lösung sendet.«
»Nein, nein, Mutter, so war es nicht!« rief Palma und erzählte den Vorgang.
»Ein eitles Weib, dem ein Leben feil ist für einen Schmuck, das hat mehr Sinn«, meinte die Richterin. Sie schien zu überlegen. Dann warf sie einen Blick auf das Geschmeide. »Ich will den Höfling mit Byzantinern lösen«, sagte sie.
»Das steht nicht in meinem Auftrag und würde der Rosmunde schlecht gefallen.«
»Dann tue ich es nicht.«
»Auch gut«, grinste Rachis. »So lässest du eben den Wulfrin umkommen. Du magst deine Gründe haben. Ganz wie du willst.«
»Das willst du nicht, Mutter!« jammerte Palma und stürzte auf die Knie.
»Nein, das will ich nicht«, sprach die Richterin mit nachdenklichen Brauen. »Warum auch? Nimm das Zeug!« und Rachis war weg.
Das jubelnde Mädchen fiel der Mutter um den Hals und bedeckte den strengen Mund mit dankbaren Küssen. Dann raubte sie ihr den kriegerischen Helm so ungestüm, daß die Flechten des schwarzen Haares sich lösten und niederrollend dem entschlossenen Haupte der Richterin einen jugendlichen und leidenden Ausdruck gaben. Die nicht enden wollende Freude Palmas ermüdete endlich die Richterin. »Geh schlafen, Kind«, sagte sie, »es dunkelt.«
»Schlafen? Wer könnte das, bis Wulfrin ruft?«
»So wirf dich, wie du bist, auf das Polster. Was gilt's, ich finde dich schlummern? Zu Bette, Hühnchen! husch! husch!« und sie klatschte in die Hände.
Palma flog die Stiege hinauf, und die Richterin wendete sich zu Rudio, ihrem Kastellan, der schon eine Weile ruhig harrend vor ihr stand. »Was meldest du?« fragte sie.
»Eine Albernheit, Herrin. Ich sah die Tür zu unserm Kerker sperrangelweit offen. Freilich hatte ich sie nicht verriegelt, da gerade niemand sitzt. Ich steige hinab, und auf dem Stroh liegt ein Geschöpf, das ich in der letzten Helle mir nur mühsam enträtsle. Es war die Faustine, welche, wie du dich erinnerst, mit deiner Erlaubnis ihr Kind, die Brunetta, einem Lombarden, einem leidlichen Manne, den du auf mein Fürwort unter deinem Gesinde duldetest, zum Weibe gegeben hat. Jetzt, da das fremde Volk wandert, hat auch ihr Kind sein Bündel geschnürt, und das muß sie irre gemacht haben. Sie hat sich eine Hand in den Kettenring gezwängt und ist übrigens guten Mutes. ›Meister Rudio‹, redete sie zu mir, ›wetze dein Beil am Schleifstein und tue mir morgen nicht weher, als recht ist.‹ Ich schelte sie und will ihr den Arm aus der Fessel ziehen. ›Welche Posse!‹ sage ich, ›du bist ja die ehrliche Armut am Rocken und im Rübenfeld, die ihr Kind rechtschaffen großgezogen hat. Hier ist nicht dein Ort. Mit deinesgleichen habe ich nichts zu tun.‹ Sie sperrte sich und sagte: ›Das weißt du nicht, Rudio. Geh und rufe die Richterin. Die wird das Garn schon abwickeln und mir armem Weibe geben, was mir gehört.‹ Sollte ich die Törin zerren? Du steigst wohl hinab und bringst sie zurecht.«
Die Richterin hieß Rudio eine Fackel anbrennen und ihr vorschreiten. In dem tiefen Gelasse saß ein gefesseltes Weib, das der Kastellan beleuchtete. Auf einen Wink der Herrin steckte er den brennenden Span in den Eisenring und ließ die Frauen allein.
Stemma beugte sich über die freiwillig Eingekerkerte und befühlte ihr als geschickte Ärztin den Puls der freien Hand, welchen aber kein Fieber beschleunigte. »Faustine«, sagte sie, was ficht dich an? was ist über dich gekommen? Dich verwirrt der Schmerz, daß du dich von deinem Kinde trennen mußtest. Willst du ihr folgen? Noch ist es Zeit. Ich gebe dich frei. Du bist nicht länger meine Eigene. Der Kaiser wird den Lombarden feste Sitze weisen, und du behältst deine Brunetta.«
Faustine schüttelte das Haupt. »Das fehlte noch«, sagte sie, »daß ich mich an die Sohlen der Brunetta heftete und auch ihr zum Fluche würde! Richterin Stemma, nimm mir das ab!« Sie wies auf ihren Kopf. »Du weißt ja wohl und langeher, daß ich meinen Mann ermordete.«