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V

Es gibt grausige Nächte mit Donner, Blitz, Regen und Sturm, die der Volksmund Höllennächte nennt. Genau solch eine Höllennacht habe ich neulich in meinem persönlichen Leben durchgemacht ...

Ich wache nach Mitternacht auf und springe mit einem Satz aus dem Bette. Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl habe, daß ich sofort eines plötzlichen Todes sterben werde. Woher kommt das? Ich spüre in meinem Körper keine von den Erscheinungen, die auf ein baldiges Ende hindeuten, aber meine Seele wird von einem Entsetzen gepeitscht, als hätte ich auf einmal eine ungeheuere dräuende Feuersbrunst erblickt!

Ich mache eilend Licht und trinke Wasser, direkt aus der Karaffe, dann laufe ich ans offene Fenster. Draußen ist ein wundervolles Wetter. Ein Duft von Heu und noch etwas Schönem in der Luft. Ich sehe die Latten des Zaunes, die kümmerlichen Bäume, die vor meinem Fenster schlafen, die Straße, den dunkelen Streifen des Waldes; am Himmel in tiefer Ruhe und leuchtender Pracht der Mond, und nicht eine einzige Wolke. Stille, kein Blatt rührt sich. Ich habe ein Gefühl, als lauschte und spähte alles zu mir herüber, wie ich nun gleich sterben werde ...

Es ist unheimlich. Ich schließe das Fenster und laufe an mein Bett. Ich fasse nach meinem Puls, und als ich ihn im Handgelenk nicht finden kann, suche ich ihn in den Schläfen, dann unter dem Kinn, dann wieder im Handgelenk; und wohin ich fasse, fühle ich mich kalt an und glitschig vor Schweiß. Mein Atem geht immer schneller und schneller, mein Körper zittert, mein ganzes Eingeweide ist in Aufruhr, auf dem Gesicht und der Glatze habe ich ein Gefühl, als läge ein Spinngewebe darauf.

Was soll ich tun? Soll ich meine Angehörigen rufen? Nein, das hat keinen Zweck. Ich weiß nicht, was meine Frau und Lisa tun würden, wenn sie jetzt hereinkämen.

Ich stecke meinen Kopf unter das Kissen, schließe die Augen und warte, warte ... Mich friert im Rücken, es ist, als ob er sich nach innen zöge, und ich habe ein Gefühl, als ob der Tod ganz sicher von hinten an mich herankäme, leise, leise ...

»Kiwi, Kiwi,« höre ich plötzlich ein Piepsen in der nächtlichen Stille, und ich weiß nicht, woher es kommt, aus meiner Brust, oder von draußen, von der Straße?

»Kiwi, Kiwi!«

Lieber Gott, wie schrecklich das ist! Ich würde noch einmal Wasser trinken, aber ich fürchte mich zu sehr, als daß ich die Augen aufzumachen oder den Kopf zu heben wagte. Dies Grausen bei mir ist animalisch, ich kann mir keine Rechenschaft darüber geben und kann auf keine Weise begreifen, woher es kommt: daher, daß ich noch am Leben bleiben möchte, oder weil mich ein neuer, niegekannter Schmerz erwartet?

Von oben, durch die Zimmerdecke, dringt ein seltsamer Ton herunter, es ist kein Stöhnen und auch kein Lachen, und hat doch von beidem etwas ... Ich lausche. Nach einer kleinen Weile höre ich Schritte auf der Treppe. Jemand geht eilig hinunter, dann wieder nach oben. Nach einer Minute höre ich die Schritte wieder unten, jemand bleibt an meiner Tür stehen und horcht.

»Wer da?« schreie ich.

Die Tür geht auf, ich öffne mit einem kühnen Entschluß die Augen und sehe meine Frau. Ihr Gesicht ist bleich und ihre Augen sind verweint.

»Schläfst du nicht, Nikolai Stepanytsch?« fragt sie.

»Was willst du?«

»Um Gottes willen, komm doch mal zu Lisa und sieh sie dir an. Ich weiß nicht, was sie hat ...«

»Schön ... Mit Vergnügen ...« brumme ich, todfroh, daß ich nicht mehr allein bin, »schön ... Im Augenblick!«

Ich gehe hinter meiner Frau her, ich höre, daß sie mit mir spricht, aber ich verstehe vor innerer Erregung kein Wort. Auf den Treppenstufen tanzen Lichtflecken von ihrer Kerze, zittern unsere langen Schatten, meine Beine verwickeln sich in die Schöße des Schlafrocks, die Luft geht mir aus, und ich habe ein Gefühl, als ob einer mir nachjagte und kalte Finger in meinen Rücken krallte. »Im nächsten Augenblick sterbe ich, hier auf dieser Treppe,« denke ich, »im nächsten Augenblick ...« Aber da sind wir schon oben, haben den dunkeln Gang mit dem italienischen Fenster durchschritten und treten in Lisas Zimmer. Sie sitzt aus dem Bett, im bloßen Hemd, läßt ihre nackten Füße baumeln und stöhnt.

»Ach, du lieber Gott ... ach, du lieber Gott!« murmelt sie und blinzelt in unser Licht. »Ich kann nicht, ich kann nicht ...«

»Lisa, Kind,« sag' ich, »was hast du?«

Als sie mich sieht, schreit sie auf und fliegt mir an den Hals.

»Mein lieber Papa ...« schluchzt sie, »mein guter Papa ... Du Liebster, Bester ... Ich weiß nicht, was mir ist ... So schwer ist mir zumut!«

Sie umarmt mich, küßt mich und flüstert Kosenamen, die ich zuletzt von ihr gehört habe, als sie noch ein kleines Mädchen war.

»Werde nur wieder ruhig, Kind. In Gottes Namen,« sag' ich, »du mußt nicht weinen. Auch mir ist schwer zumute.«

Ich decke sie zu, meine Frau gibt ihr zu trinken, und wir beide stoßen uns unbeholfen vor ihrem Bett herum; ich stoße mit meiner Schulter an ihre, und da kommt es mir in den Sinn, wie wir einst unsere Kinder gebadet haben.

»So hilf ihr doch, hilf ihr!« fleht mich meine Frau an, »tu doch etwas für sie!«

Was kann ich da tun? Das Mädel hat irgendeine Last auf der Seele, aber ich verstehe, ich weiß nichts davon und kann nur murmeln:

»Es ist ja nichts, es ist nichts ... Das geht schon vorüber ... Schlaf' nur, schlaf' ...«

Und als gehörte das mit dazu, beginnt auf einmal ein Hundegeheul auf unserem Hof, zuerst leise, unentschlossen, dann laut, zweistimmig. Ich habe solchen Vorzeichen, wie Hundegeheul und Käuzchengeschrei, nie eine Bedeutung beigelegt, aber jetzt krampft sich mein Herz qualvoll zusammen, und ich beeile mich, eine Erklärung dafür zu finden.

»Unsinn ...« denke ich. »Der Einfluß des einen Organismus auf den andern. Meine starke Nervenanspannung hat sich auf meine Frau, auf Lisa, auf den Hund übertragen, das ist das Ganze ... Durch solche Uebertragungen erklären sich alle Ahnungen und Vorzeichen ...«

Als ich nach einer Weile wieder in mein Zimmer trete, um ein Rezept für Lisa aufzuschreiben, denke ich schon nicht mehr daran, daß ich bald sterben werde, nur so schwer und traurig ist mir ums Herz, daß es mir fast leid tut, daß ich nicht plötzlich gestorben bin. Lange stehe ich mitten im Zimmer, ohne mich zu rühren, und denke nach, was ich Lisa verschreiben soll, aber das Stöhnen droben verstummt, und ich beschließe, ihr überhaupt nichts zu verschreiben; aber doch stehe ich immer noch so da ...

Totenstille! »Eine Stille, daß sie einem geradezu in den Ohren klingt,« hat irgendein Schriftsteller mal gesagt. Die Zeit schreitet langsam, die Mondscheinstreifen auf dem Fensterbrett verändern ihre Lage nicht, es ist, als wären sie angefroren ... Die Dämmerung ist noch fern.

Aber da knarrt die Tür im Zaun, jemand stiehlt sich herein, bricht einen Zweig von einem der kümmerlichen Bäume und klopft mit ihm vorsichtig ans Fenster.

»Nikolai Stepanytsch!« höre ich eine Stimme flüstern, »Nikolai Stepanytsch!«

Ich öffne das Fenster, und mir ist, als träumte ich; unter meinem Fenster, an die Wand gedrückt, steht eine Frau in schwarzem Kleide, hell vom Monde beschienen, und sieht mich mit großen Augen an. Ihr Gesicht ist bleich, streng und phantastisch im Mondenschein, als wäre es marmorn, ihr Kinn zittert.

»Ich bin's ...« sagt sie, »ich, Katja!«

Im Licht des Mondes sehen die Augen jeder Frau groß und schwarz aus, die Menschen erscheinen höher und bleicher, und darum habe ich sie wahrscheinlich im ersten Augenblick nicht erkannt.

»Was hast du?«

»Verzeihen Sie,« sagt sie, »mir wurde auf einmal so unerträglich schwer ums Herz ... Ich konnte es nicht mehr aushalten und bin hergefahren ... In Ihrem Fenster war Licht und ... ich entschloß mich, anzuklopfen ... Verzeihen Sie ... Ach, wenn Sie wüßten, wie schwer mir ums Herz war! Was tun Sie jetzt eigentlich?«

»Nichts ... Ich kann nicht schlafen.«

»Ich hatte so ein banges Vorgefühl. Dummes Zeug übrigens.«

Ihre Brauen heben sich, ihre Augen glänzen vor Tränen, und ihr ganzes Gesicht wird licht und hell in dem mir einst so gut bekannten, so lange nicht gesehenen zutraulichen Ausdruck.

»Nikolai Stepanytsch!« sagt sie mit flehender Stimme und streckt mir beide Arme entgegen. »Lieber, ich bitte Sie ... ich flehe Sie an ... Wenn Sie meine Freundschaft und Verehrung nicht verachten, so erfüllen Sie mir eine Bitte!«

»Was willst du denn?«

»Nehmen Sie Geld von mir an!«

»Was das wieder für Ideen sind! Was soll ich denn mit deinem Geld?!«

»Sie können irgendwohin fahren und eine Kur brauchen ... Sie haben das unbedingt nötig. Wollen Sie es annehmen? Ja? Lieber, ja?«

Sie bohrt ihre Augen durstig in mein Gesicht und fragt noch einmal:

»Ja? Wollen Sie es annehmen?«

»Nein, liebe Freundin, das tu' ich nicht,« sage ich. »Danke.«

Sie wendet mir den Rücken und läßt den Kopf sinken. Ich habe wohl in einem Tone Nein gesagt, der jedes weitere Wort über das Geld abschneidet.

»Fahr' nach Hause und leg' dich schlafen,« sag ich, »morgen sehen wir uns.«

»Also halten Sie mich nicht für Ihren Freund?« fragt sie niedergeschlagen.

»Das habe ich nicht gesagt. Aber dein Geld kann mir jetzt nichts nützen.«

»Verzeihen Sie ...« sagt sie, und ihre Stimme wird um eine ganze Oktave tiefer, »ich verstehe Sie ... einem Menschen wie mir wollen Sie nichts schuldig sein ... einer ausrangierten Schauspielerin ... also denn, adieu ...«

Und sie entfernt sich so schnell, daß ich nicht einmal Zeit habe, ihr Adieu zu sagen.


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