Anton Tschechow
Von Frauen und Kindern
Anton Tschechow

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VIII

Als Olga Iwanowna um die achte Morgenstunde, mit einem nach der schlaflosen Nacht schweren Kopf, unfrisiert, unschön, mit schuldbewußter Miene aus dem Schlafzimmer kam, sah sie einen unbekannten Herrn mit schwarzem Vollbart, anscheinend einen Arzt, ins Vorzimmer gehen. Es roch nach Arzneien. Vor der Tür zum Kabinett stand Korosteljow und drehte sich mit der rechten Hand den linken Schnurrbart.

»Entschuldigen Sie, ich kann Sie zu ihm nicht hineinlassen,« sagte er mürrisch zu Olga Iwanowna. »Sie können sich anstecken. Außerdem hat es auch keinen Zweck. Er ist sowieso bewußtlos.«

»Ist es echte Diphtheritis?« fragte Olga Iwanowna leise.

»Ein Mensch, der sich wissentlich in Gefahr begibt, gehört eigentlich vors Gericht,« brummte Korosteljow, ohne Olga Iwanownas Frage zu beantworten. »Wissen Sie, auf welche Weise er sich angesteckt hat? Am Dienstag hat er einem kranken Jungen mit einem Röhrchen die Diphtheriehäute ausgesogen. Wozu? Einfach aus Dummheit . . .«

»Ist es sehr gefährlich?« fragte Olga Iwanowna.

»Ja, man sagt, es sei eine sehr schwere Form. Eigentlich sollte man den Schreck kommen lassen.«

Es kam ein kleiner rothaariger Mann mit langer Nase und jüdischem Akzent; nach ihm ein langer, gebückter, mit zerzaustem Haar, einem Protodiakon ähnlich; dann ein junger, sehr dicker, mit rotem Gesicht und einer Brille. Es waren die Aerzte, die sich am Krankenlager ihres Kollegen ablösten. Korosteljow ging, wenn seine Zeit um war, nicht nach Hause, sondern blieb da und irrte wie ein Schatten durch die Zimmer. Das Dienstmädchen brachte den Aerzten Tee und lief oft zur Apotheke, und die Zimmer blieben unaufgeräumt. Es war eine stille und traurige Stimmung.

Olga Iwanowna saß bei sich im Schlafzimmer und dachte sich, Gott bestrafe sie dafür, daß sie den Mann hintergehe. Das schweigsame, demütige, unverstandene, durch seine Milde entpersönlichte, charakterlose, in seiner übermäßigen Güte schwache Wesen quälte sich stumpf auf seinem Sofa und klagte nicht. Wenn es aber, und wenn auch nur im Delirium, klagen würde, so müßten alle die Aerzte erfahren, daß hier nicht nur die Diphtherie allein schuld sei. Sie würden den Korosteljow fragen: er weiß alles und blickt die Frau seines Freundes nicht umsonst mit solchen Augen an, als wäre sie die eigentliche Verbrecherin, die Diphtheritis aber nur ihre Mitschuldige. Sie erinnerte sich nun weder jener Mondnacht auf der Wolga, noch der Liebesschwüre, noch des poetischen Lebens im Bauernhause; sie dachte nur noch daran, daß sie aus bloßer Laune mit Armen und Beinen in einen klebrigen Schmutz geraten sei, den sie nie wieder abwaschen könnte . . .

– Ach, wie furchtbar habe ich gelogen! – sagte sie sich, als sie sich der unruhigen Liebe erinnerte, die zwischen ihr und Rjabowskij war. – Ein Fluch liegt über allem . . . –

Um vier Uhr setzte sie sich mit Korosteljow an den Mittagstisch. Er aß nichts, trank nur Rotwein und runzelte die Stirn. Auch sie aß nichts. Bald betete sie in Gedanken und gelobte Gott, daß sie Dymow, wenn er gesund werden sollte, lieben und ihm ein treues Weib sein werde. Bald vergaß sie sich, sah Korosteljow an und dachte sich: – Ist es denn nicht langweilig, so ein einfacher, durch nichts bemerkenswerter, unbekannter Mensch zu sein, und obendrein mit einem so abgelebten Gesicht und so schlechten Manieren? – Bald schien es ihr, daß Gott sie augenblicklich töten würde, weil sie, aus Furcht vor Ansteckung, noch kein einziges Mal bei ihrem Mann im Kabinett gewesen war. Im allgemeinen herrschte aber ein stumpfes, elendes Gefühl vor und die Ueberzeugung, daß das Leben schon verdorben sei und sich nicht mehr ändern ließe . . .

Nach dem Essen brach die Abenddämmerung an. Als Olga Iwanowna ins Gastzimmer trat, schlief Korosteljow auf dem Sofa, ein goldgesticktes Kissen unter dem Kopf. »Kchi-pua . . .« schnarchte er: »kchi-pua.«

Auch die Aerzte, die einander ablösten, merkten diese Unordnung nicht. Daß ein fremder Mensch im Gastzimmer schlief und schnarchte, die Skizzen an den Wänden, die sonderbare Einrichtung und daß die Hausfrau unfrisiert und unordentlich gekleidet war, – weckte in ihnen nicht das geringste Interesse. Einer der Aerzte lachte einmal zufällig auf, und dieses Lachen klang so sonderbar und scheu, daß es sogar unheimlich war.

Als Olga Iwanowna zum zweitenmal ins Gastzimmer kam, schlief Korosteljow nicht mehr, sondern saß und rauchte.

»Er hat Diphtherie der Nasenhöhle,« sagt er leise. »Auch das Herz arbeitet schon recht mäßig. Eigentlich steht die Sache schlimm.«

»Lassen Sie doch den Schreck kommen,« sagte Olga Iwanowna.

»Er war schon da. Er hat ja auch festgestellt, daß die Diphtherie die Nasenhöhle ergriffen hat. Aber was ist Schreck?! Eigentlich nichts. Er heißt Schreck, und ich heiße Korosteljow, – das ist alles.«

Die Zeit zog sich entsetzlich in die Länge. Olga Iwanowna lag angekleidet auf dem Bett, das noch vom Morgen her nicht gemacht war, und schlummerte. Es war ihr, als sei die ganze Wohnung vom Fußboden bis zur Decke mit einem einzigen riesengroßen Stück Eisen angefüllt und daß, wenn man dieses Eisen entfernte, allen sofort leicht und lustig ums Herz werden würde. Als sie zu sich kam, besann sie sich, daß es kein Eisen, sondern die Krankheit Dymows war.

»Nature morte, Port . . .« dachte sie, von neuem einschlummernd. »Port . . . Kurort . . . Und wie ist es mit Schreck? Schreck, Leck, Heck . . . Beck. Und wo sind jetzt meine Freunde? Wissen sie von unserem Unglück? Gott, rette . . . beschütze . . . Schreck, Leck . . .«

Und dann kam wieder das Eisen . . . Die Zeit schleppte sich langsam dahin, und die Uhr einen Stock tiefer schlug auffallend oft. Jeden Augenblick läutete es, die Aerzte kamen und gingen . . . Das Dienstmädchen kam mit einem Tablett, auf dem ein leeres Glas stand, zu ihr ins Schlafzimmer und fragte:

»Gnädige, soll ich das Bett machen?«

Sie bekam keine Antwort und ging. Die Uhr unten schlug wieder, sie träumte vom Regen auf der Wolga, und wieder kam jemand ins Schlafzimmer, anscheinend ein Fremder. Olga Iwanowna fuhr auf und erkannte Korosteljow.

»Wie spät ist es?« fragte sie.

»Gegen drei.«

»Nun, wie steht's?«

»Ach! Ich komme, um es Ihnen zu sagen: es geht zu Ende . . .«

Er schluchzte auf, setzte sich neben sie aufs Bett und wischte sich die Tränen mit dem Aermel. Sie verstand es nicht gleich, fühlte aber eine plötzliche Kälte und begann sich langsam zu bekreuzigen.

»Er stirbt . . .« sagte er mit hoher Stimme und schluchzte wieder. »Er stirbt, weil er sich aufgeopfert hat . . . Welcher Verlust für die Wissenschaft!« sagte er voll Bitternis. »Mit uns allen verglichen, war er ein großer, ungewöhnlicher Mensch! Welche Begabung! Welche glänzende Hoffnungen!« fuhr Korosteljow fort, die Hände ringend. »Mein Gott, er war ein Gelehrter, wie man einen zweiten nicht mehr findet. Ossip Dymow, Ossip Dymow, was hast du angestellt! Ach, mein Gott!«

Korosteljow bedeckte sich vor Verzweiflung das Gesicht mit beiden Händen und schüttelte den Kopf.

»Und diese sittliche Kraft!« fuhr er fort, mit steigender Wut gegen jemand. »Eine gute, reine, liebe Seele, ein Mensch aus Kristall! Er diente der Wissenschaft und starb an der Wissenschaft. Er arbeitete wie ein Ochs Tag und Nacht, niemand schonte ihn, und der junge Gelehrte, der zukünftige Professor mußte Praxis suchen und in den Nachtstunden Übersetzungen anfertigen, um diese . . . gemeinen Lumpen zu bezahlen!«

Korosteljow blickte Olga Iwanowna mit Haß an, ergriff mit beiden Händen das Laken und zerrte daran, als ob es die Schuld trüge.

»Er schonte sich selbst nicht, und auch die anderen schonten ihn nicht. Ach, was soll man da noch reden!«

»Ja, ein seltener Mensch!« sagte eine Baßstimme im Gastzimmer.

Olga Iwanowna erinnerte sich ihres ganzen Lebens mit ihm vom Anfang bis zum Ende, mit allen Einzelheiten, und begriff plötzlich, daß er in der Tat ein ungewöhnlicher, seltener und, im Vergleich zu denen, die sie kannte, großer Mensch war. Sie erinnerte sich auch, wie sich zu ihm ihr verstorbener Vater und alle seine Kollegen verhielten, und begriff, daß sie alle in ihm eine zukünftige Berühmtheit sahen. Die Wände, die Decke, die Lampe und der Teppich auf dem Boden blinzelten ihr höhnisch zu, als wollten sie ihr sagen: »Verpaßt! Verpaßt!« Sie lief weinend aus dem Schlafzimmer, huschte im Gastzimmer an einem unbekannten Menschen vorbei und stürzte ins Kabinett zu ihrem Mann. Er lag unbeweglich auf dem türkischen Sofa, bis zu den Hüften unter der Bettdecke. Sein Gesicht war furchtbar eingeschrumpft, eingefallen und hatte eine graugelbe Farbe, wie sie die Lebenden niemals haben; nur an der Stirn, den schwarzen Augenbrauen und dem bekannten Lächeln konnte man erkennen, daß es Dymow war. Olga Iwanowna betastete ihm schnell die Brust, die Stirn und die Hände. Die Brust fühlte sich noch warm an, aber die Stirn und die Hände waren unangenehm kalt. Und die halbgeöffneten Augen sahen nicht auf Olga Iwanowna, sondern auf die Bettdecke.

»Dymow!« rief sie laut: »Dymow!«

Sie wollte ihn erklären, daß alles nur eine Verirrung gewesen, daß noch nicht alles verloren sei, daß das Leben noch schön und glücklich werden könne, daß er ein seltener, ungewöhnlicher, großer Mensch sei und daß sie ihn ihr Leben lang verehren und anbeten, vor ihm eine heilige Scheu empfinden würde . . .

»Dymow!« rief sie, ihn an der Schulter schüttelnd, und konnte nicht glauben, daß er nie wieder erwachen werde. »Dymow, Dymow!«

Im Gastzimmer sagte aber Korosteljow zum Dienstmädchen:

»Was gibt's noch viel zu fragen? Gehen Sie zum Kirchhofwächter und fragen Sie, wo die Spitalweiber wohnen. Die werden die Leiche waschen und einkleiden und alles besorgen, was nötig ist.«


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