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Der Heldenvater und Bonvivant Tschipzow, ein hochgewachsener, vierschrötiger Mann, der nicht nur wegen seines Bühnentalents, sondern auch seiner ungewöhnlichen physischen Kraft wegen berühmt war, hatte sich während der Vorstellung mit dem Direktor gezankt und mitten in der hitzigsten Schimpferei auf einmal gespürt, wie ihm in der Brust etwas zerrissen war. Gewöhnlich fing der Direktor am Schlusse jeder solchen erregten Auseinandersetzung hysterisch zu lachen an und fiel dann in Ohnmacht, heute aber hatte Tschipzow dieses Ende der Diskussion nicht abgewartet, sondern hatte gemacht, daß er heimkam. Der Zank und das Gefühl dieses Risses in der Brust hatten ihn so aufgeregt, daß er vergessen hatte, sich vor dem Verlassen des Theaters abzuschminken. Nur den Bart hatte er sich abgerissen.
In seinem Hotelzimmer ging Tschipzow lange auf und ab, aus einer Ecke in die andere, dann setzte er sich auf das Bett, stützte den Kopf in die Fäuste und verfiel in Gedanken. So saß er, ohne sich zu rühren oder einen Laut auszustoßen, bis zum folgenden Tag um zwei Uhr, wo der Komiker Sigajew zu ihm hereinkam.
»Du, Hanswurst Iwanowitsch, warum warst du nicht auf der Probe?« stürzte der Komiker auf ihn los, er atmete asthmatisch und verbreitete einen scharfen Branntweindunst im Zimmer. »Wo hast du gesteckt?«
Tschipzow antwortete nicht, sondern starrte den Komiker nur mit trüben, umschminkten Augen an.
»Wenn er sich nur die Fresse gewaschen hätte!« fuhr Sigajew fort: »Schäm dich! Vollgesoffen hat er sich, oder . . . bist du krank, was? Ja, warum sagst du denn nichts? Ich frag dich, ob du krank bist?«
Tschipzow schwieg. So verschmiert sein Gesicht auch war, als der Komiker näher zusah, konnte er nicht umhin, seine erschreckende Blässe, den kalten Schweiß und das Zittern seiner Lippen zu bemerken. Seine Arme und Beine zitterten ebenfalls, und der ganze kolossale Körper des riesigen Bonvivants schien gewissermaßen verknüllt, flach gedrückt. Der Komiker sah sich schnell im Zimmer um, aber er erblickte weder Gläser noch Flaschen, noch sonst welche verdächtigen Gefäße.
»Also, Mischutka, du bist krank!« sagte er aufgeregt. »Straf mich Gott, du bist krank! Du hast ja gar kein richtiges Gesicht!«
Tschipzow schwieg und sah niedergeschlagen zu Boden.
»Du mußt dich erkältet haben!« fuhr Sigajew fort und faßte seine Hand, »was für heiße Hände du hast! Was tut dir denn weh?«
»I–ich will nach Hau–Hause,« murmelte Tschipzow.
»Ja, bist du denn vielleicht nicht zu Hause?«
»Nein . . . Nach Wjasma . . .«
»O je, was du dir ausdenkst! Nach Wjasma kommst du in drei Jahren nicht . . . Was, zu Papa und Mama will er? Du lieber Gott, die sind dir längst verfault, nicht mal ihre Gräber wirst du finden können . . .«
»Es ist meine Hei–Heimat . . .«
»Na, na, werd' nur nicht so melancholisch. Das sind so psychopathische Gefühle, alter Freund, laß das . . . Werd' gesund, morgen mußt du im ›Knjas Serebjannyj‹ den Mitjka spielen. Es ist ja kein anderer da. Trink was Heißes und nimm Rizinusöl. Hast du Geld zu Rizinusöl? Oder wart' mal, ich laufe und hol' dir welches.«
Der Komiker suchte in seinen Taschen, fand fünfzehn Kopeken und lief in die Apotheke. Nach einer Viertelstunde kam er wieder.
»Na, trink!« sagte er und hielt dem Heldenvater das Fläschchen an den Mund: »Gleich aus der Buddel . . . Mit einem Ruck! So . . . Und jetzt iß mal eine Gewürznelke, damit dir von dem Dreck nicht übel wird.«
Der Komiker saß noch eine Zeitlang beim Kranken, dann küßte er ihn zärtlich und ging. Gegen Abend sprach der erste Liebhaber, Brahma-Glinskij, bei Tschipzow vor. Dieser talentvolle Künstler hatte Halbschuhe mit Tucheinsätzen an den Füßen, auf der linken Hand trug er einen Handschuh, er rauchte eine Zigarette und hatte sogar einen Heliotropduft an sich, sah aber nichtsdestoweniger sehr einem Reisenden ähnlich, der in ein Land verschlagen ist, wo es weder Badeanstalten, noch Waschfrauen, noch Schneider gibt . . .
»Du bist krank, hör' ich,« so wandte er sich an Tschipzow und drehte sich auf dem Absatz herum. »Was ist dir? Ja, zum Kuckuck, was ist dir?«
Tschipzow schwieg und rührte sich nicht.
»Warum sagst du nichts? Ist dir schwindlig im Kopf? Was? Na, schweig' meinetwegen, ich sage gar nichts . . . Schweig . . .«
Brahma-Glinskij (so heißt er auf dem Theater, in seinem Paß figuriert der Name Gußjkow) ging zum Fenster, steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute auf die Straße hinaus. Vor seinen Augen breitete sich ein großer freier Platz, von einem grauen Zaun umgeben, an dem sich ein ganzer Wald von vorjährigen Klettenstauden entlang zog. Hinter dem freien Platz sah man eine dunkle, verfallene Fabrik mit dicht vernagelten Fenstern. Um den Schornstein zog eine verspätete Dohle ihre Kreise. Ueber dies ganze langweilige, unbelebte Bild legte sich schon langsam die Abenddämmerung.
»Nach Hause will ich!« hörte der jugendliche Liebhaber.
»Wohin? Nach Hause?«
»Nach Wjasma . . . in meine Heimat . . .«
»Bis Wjasma sind's fünfzehnhundert Werst . . .« seufzte Brahma-Glinskij und trommelte auf den Scheiben. »Was willst du denn in Wjasma?«
»Dort möchte ich sterben . . .«
»Aha, das fehlte grade! Was du dir ausdenkst! Zum erstenmal im Leben ist er krank, und gleich bildet er sich ein, jetzt ist der Tod da . . . Nein, Freundchen, so einen Büffel wie dich kriegt keine Cholera klein. Hundert Jahre wirst du mindestens . . . Was tut dir denn weh?«
»Weh tut mir nichts, aber ich fühl' es . . .«
»Nichts fühlst du. Das ist alles nur überschüssige Gesundheit. Die Kräfte rumoren in dir. Du solltest dich tüchtig bekneipen, so saufen, weißt du, daß deine ganze Natur sich umdreht. Der Suff ist was wunderbar Erfrischendes . . . Weißt du noch, wie du dich in Rostow am Don vollgenommen hattest? Herr, du mein Gott, ich denke mit Schrecken zurück! Das Fäßchen mit dem Branntwein konnten Sascha und ich zu zweit mit Mühe hereinschleppen, und du trankst es allein aus, und dann ließt du noch Rum holen . . . Du warst so voll, daß du mit einem Sack Teufel fingst und eine Gaslaterne mit der Wurzel ausrissest. Weißt du noch? Und dann gingst du noch, Griechen verprügeln . . .«
Unter dem Einfluß so angenehmer Erinnerungen hellte sich Tschipzows Gesicht ein wenig auf, und seine Augen fingen zu blitzen an.
»Aber weißt du noch, wie ich den Direktor Sawoitin durchgehauen habe?« murmelte er und hob den Kopf. »Aber das ist ja nicht der Rede wert! Dreiunddreißig Theaterdirektoren hab' ich in meinem Leben verhauen, und was so Leute zweiter Güte angeht, da weiß ich selbst nicht mehr, wieviel. Und was für Direktoren hab' ich gehauen! Kerle, wo der Wind Angst hatte, sie anzublasen! Zwei berühmte Schriftsteller hab' ich durchgehauen, und einen Kunstmaler!«
»Warum weinst du denn?«
»In Chersson hab' ich einen Gaul mit der bloßen Faust erschlagen. Und in Taganrog überfielen mich mal in der Nacht Strolche, fünfzehn Stück. Ich nahm ihnen einfach die Mützen weg, und sie liefen hinter mir her und baten: ›Gnädiger Herr, gib uns unsere Mützen wieder.‹ Ja, das haben wir alles mitgemacht.«
»Was weinst du denn, Schaf?«
»Aber jetzt: matsch . . . Ich fühl's. Nach Wjasma möcht ich!«
Es trat eine Pause ein. Nach einem kurzen Schweigen sprang Tschipzow plötzlich auf und griff nach seiner Mütze. Er sah verwirrt aus.
»Adieu! Ich fahr' nach Wjasma!« sagte er und taumelte.
»Und das Reisegeld?«
»Hm! . . . Ich geh' zu Fuß!«
»Du bist ja duselig . . .«
Sie sahen einander an, wahrscheinlich, weil in ihren Köpfen auf einmal derselbe Gedanke auftauchte . . . Der Gedanke an unübersehbare Felder, unendliche Wälder, Sümpfe.
»Du bist ja übergeschnappt, scheint's!« entschied der jugendliche Liebhaber. »Weißt du was, Freundchen . . . Jetzt leg dich vor allen Dingen hin, und dann trink Kognak mit Tee, das treibt den Schweiß heraus. Na, und dann Rizinusöl, selbstverständlich. Wart' mal, wo kriegen wir nur Kognak her?«
Brahma-Glinskij überlegte und beschloß, in den Laden der Frau Zitrinnikow zu gehen und bei ihr wegen des Kredits auf den Busch zu klopfen: vielleicht würde das Frauenzimmer Mitleid haben und ihn auf Borg hergeben! Der jugendliche Liebhaber ging und kehrte nach einer halben Stunde mit einer Flasche Kognak und Rizinusöl zurück. Tschipzow saß nach wie vor unbeweglich auf dem Bett, schwieg und starrte auf den Boden. Das Rizinusöl, das sein Kollege ihm anbot, trank er wie ein Automat, ohne daß es ihm zum Bewußtsein gekommen wäre. Wie ein Automat saß er hernach am Tisch und trank Tee mit Kognak. Mechanisch trank er die ganze Flasche leer und ließ sich von seinem Kollegen zu Bett bringen. Der jugendliche Liebhaber deckte ihn mit der Decke und seinem Mantel zu, empfahl ihm, tüchtig zu schwitzen, und ging.
Die Nacht kam. Tschipzow hatte eine ganze Menge Kognak getrunken, schlafen konnte er aber nicht. Er lag unbeweglich unter seinen Hüllen und schaute zur dunklen Decke hinauf. Dann erblickte er den Mond, der ins Fenster schien, und wandte die Augen von der Decke auf den Trabanten der Erde und lag so mit offenen Augen bis zum Morgen. Am Morgen, um neun, stürmte der Direktor Schukow herein.
»Wie, mein Engel, Sie sind nicht wohl?« gackerte er los und machte eine krause Nase. »Oh, oh! Kann man mit so einer Natur überhaupt unwohl sein? Ob, oh, schämen Sie sich! Und ich hab' mich erschreckt, müssen Sie wissen! Am Ende, hab' ich mir gedacht, hat unser Zwist ihn so mitgenommen? Teuerster, ich hoffe, daß ich es nicht war, der Sie krank gemacht hat! Sehen Sie, und Sie haben mir ja auch, gewissermaßen . . . Und außerdem geht's ohne das unter Kollegen mal überhaupt nicht ab. Sie haben mich ja auch geschimpft und . . . und sind mit den Fäusten auf mich los, aber ich, ich hab' Sie gern! Bei Gott, ich hab' Sie gern! Ich schätze Sie sehr und hab' Sie gern! Na, sagen Sie doch selbst, warum ich Sie so gern habe? Sie sind mit mir weder verwandt, noch verschwägert oder verheiratet, aber wie ich hörte, Sie wären unwohl, ist es mir durch und durch gegangen, wie ein Messer.«
Schukow erklärte ausführlich seine Zuneigung, dann küßte er ihn, und schließlich ging sein Gefühl ganz mit ihm durch, so daß er hysterisch zu lachen anfing und sogar beabsichtigte, in Ohnmacht zu fallen. Aber es fiel ihm wohl ein, daß er weder bei sich zu Hause noch im Theater war, und so verschob er die Ohnmacht auf eine passendere Gelegenheit und fuhr ab.
Bald nach ihm erschien der erste Held, Adabaschew, ein finsterer, halbblinder Mensch, der durch die Nase sprach . . . Er schaute Tschipzow lange an, dachte lange nach und machte dann plötzlich folgende Entdeckung:
»Weißt du was, Misa,« er sagte Misa statt Mischa und gab seinem Gesicht einen geheimnisvollen Ausdruck. »Weißt du was?! Du mußt Rizinusöl einnehmen!!«
Tschipzow schwieg. Er schwieg auch, als ihm der erste Held bald darauf das widerliche Oel in den Mund goß. Zwei Stunden nach Adabaschew trat der Theaterfriseur Jewlampij ins Zimmer, oder, wie ihn die Schauspieler, Gott weiß, weshalb, nannten: Rigoletto. Wie der erste Held schaute er Tschipzow lange an, dann seufzte er wie eine Lokomotive, und begann langsam und bedächtig das Bündel aufzuknoten, das er mitgebracht hatte. In dem Bündel befanden sich etwa zwei Dutzend Schröpfköpfe und einige Fläschchen.
»Hätten Sie mich doch rufen lassen, dann hätte ich Sie längst geschröpft!« sagte er zärtlich und entblößte Tschipzows Brust. »Man darf die Krankheit nicht einreißen lassen!«
Hierauf strich Rigoletto mit der flachen Hand über die breite Brust des Heldenvaters und besäte sie von oben bis unten mit blutsaugenden Schröpfköpfen.
»Ja,« sagte er, während er nach dieser Operation seine von Tschipzows Blute befleckten Instrumente wieder in das Bündel packte. »Hätten Sie nur nach mir geschickt, ich wäre schon gekommen . . . Wegen der Bezahlung brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen . . . Ich tu's aus Menschlichkeit . . . Wo sollen Sie's hernehmen, wenn dieses Ungeheuer keine Gagen zahlen will? Jetzt seien Sie so gut und nehmen Sie diese Tropfen. Sie schmecken sehr gut! Und jetzt trinken Sie, bitte, ein bißchen Oel. Das allerreinste Rizinusöl. So! Prost! Und jetzt, leben Sie wohl . . .«
Rigoletto nahm sein Bündel und entfernte sich, zufrieden mit dem Werk seiner Nächstenliebe.
Am Morgen des nächsten Tages kam der Komiker Sigajew zu Tschipzow und traf ihn im schrecklichsten Zustande. Er lag, mit seinem Paletot zugedeckt, atmete schwer und ließ seine irren Augen über die Decke schweifen. In den Händen knutschte er krampfhaft die zusammengeknüllte Bettdecke.
»Nach Wjasma!« flüsterte er, als er den Komiker erblickte: »Nach Wjasma!«
»Freundchen, ich muß wirklich sagen, das gefällt mir nicht,« sagte der Komiker, lebhaft mit den Händen gestikulierend, »sieh mal . . . sieh mal . . . sieh mal, Freundchen, das ist nicht gut! Entschuldige, aber . . . wahrhaftig, das ist sogar dumm . . .«
»Nach Wjasma will ich! Bei Gott, nach Wjasma!«
»Ich . . . Das hätte ich nicht von dir erwartet!« knurrte der Komiker ganz fassungslos. »Weiß der Teufel! Was hat dich so kaputt gemacht! Aeh . . . äh . . . äh . . . das ist nicht gut! Ein Riese, lang wie ein Leuchtturm, und heult. Kann ein Komödienspieler überhaupt weinen?«
»Keine Frau, keine Kinder,« murmelte Tschipzow, »wär' ich doch nie zum Theater gegangen, wär' ich in Wjasma geblieben! Das Leben ist hin, Ssemjon! Ach, ich möchte nach Wjasma!«
»Aeh . . . äh . . . äh . . . das ist nicht gut! Das ist sogar dumm . . . ja, es ist ekelhaft!«
Sigajew beruhigte sich dann, brachte Ordnung in seine Gefühle und begann Tschipzow zu trösten. Er log ihm vor, die Kollegen wollten ihn auf gemeinsame Kosten in die Krim schicken, und so weiter. Aber der andere hörte nicht zu und murmelte immer wieder was von Wjasma . . . Endlich machte der Komiker eine wegwerfende Handbewegung und fing selbst an, von Wjasma zu sprechen, um den Kranken zu beruhigen.
»Eine schöne Stadt!« begütigte er: »Eine herrliche Stadt, alter Freund! Berühmt durch ihre Pfefferkuchen. Die Pfefferkuchen sind klassisch, aber mit Respekt zu sagen – ich habe gewissermaßen – – – zu viel davon gegessen. Nachher war mir eine ganze Woche so gewissermaßen . . . Aber was da gut war, das war der Kaufmann. Das ist der Kaufmann aller Kaufleute. Wenn der einen freihält, hält er einen auch frei!«
Der Komiker sprach, und Tschipzow schwieg, lauschte ihm und nickte zustimmend mit dem Kopf.