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Von allen Werken Goethes scheint die »Pandora« am meisten einer abstrakten »philosophischen« Auslegung fähig zu sein und ihrer, zum vollen Verständnis ihres Gehalts und Aufbaus, zu bedürfen. Selbst der zweite Teil des Faust fordert eine solche Auslegung nicht in gleicher Stärke heraus: denn er besitzt ein ursprünglich-dichterisches Eigenleben, eine innere künstlerische Beziehung aller Einzelelemente, die uns immer wieder auf das eigentümliche Formgesetz der Goetheschen Dichtung als den wahrhaften Quellpunkt und als das eigentliche »Erklärungsprinzip« zurückführt. Für die Pandora indessen scheint sich auch der individuelle dichterische Gehalt erst zu erschließen, wenn man den allegorischen Gehalt des Werkes, der in allgemeinen Begriffen aussprechbar ist, sich zu eigen gemacht hat. Goethe selbst hat die Pandora als Beispiel für den Stil seiner Altersdichtung angeführt, die nicht mehr unmittelbar auf »Varietät und Individualität« ziele, sondern »mehr ins Generelle« gehe. In der inneren, wie in der äußeren Form des Werkes tritt dieser Zug zum Generellen hervor. Nirgends hat Goethe mit so bewußtem technischen Interesse die verschiedenartigsten Rhythmen und Metren gemeistert wie hier; hat er eine solche Mannigfaltigkeit poetischer Stilformen auf einen so engen Raum zusammengedrängt. Aber eben in dieser vollendeten Beherrschung aller Formen scheint zu liegen, daß keine mit dem Werk eigentümlich und notwendig verwachsen ist, so daß sie der schlechthin einzigartige und zwingende Ausdruck seines Empfindungsgehalts wäre. Es scheint dieser Fülle etwas von Willkür, dieser Neugewinnung und Neubelebung antiken Erbguts eine gewisse virtuose, halb gelehrte, halb dichterische Absicht anzuhaften. Und noch deutlicher tritt der didaktische Zug, den hier die Dichtung selber annimmt, hervor, wenn man auf ihren Inhalt und Grundplan hinblickt. Bestand dieser Plan – wie zumeist angenommen wird – darin, eine Darstellung vom Werden und Wachsen der Kultur und von ihrem Eintritt in die Menschenwelt zu geben; in symbolischen Bildern zu zeigen, wie Wissenschaft und Kunst sich dieser Welt zuerst mitgeteilt und aus ihren ersten Keimen entfaltet haben, so läßt sich nicht leicht ein abstrakteres und somit undramatischeres Thema denken als dies. Und doch braucht man sich auf der anderen Seite nur dem reinen und unbefangenen Eindruck des Werkes selbst zu überlassen, um sich sogleich in eine völlig andere Sphäre versetzt zu fühlen: in ein Gebiet, in welchem alle begriffliche Ausdeutung des Einzelnen unzulänglich wird und nur noch das Ganze der Dichtung als lyrisch-dramatisches Ganzes vernehmlich ist. Durch die Gesamtheit der Dichtung wirkt eine einheitliche Grundstimmung, wirkt der Ton jener Melodie, die am reinsten und stärksten in dem leidenschaftlichen Ausbruch des Phileros, in Epimetheus' Hymnus auf die Schönheit und in der Klage der Epimeleia erklingt. Hier muß jeder Zweifel und alles theoretische Grübeln über den einheitlichen »Sinn« des Gedichts aufhören; denn man fühlt sich unmittelbar auf den Mittelpunkt von Goethes eigenster künstlerischer Gestaltungsweise zurückgewiesen. Goethes Naturgefühl und sein individuelles Menschen- und Lebensgefühl sprechen sich hier in einer Kraft und Tiefe aus, die an die vollendetsten lyrischen Schöpfungen des alten Goethe – an die Marienbader Elegie oder an das Diwan-Gedicht »Wiederfinden« gemahnt. Will man freilich selbst diese eigentlichen lyrischen Höhepunkte der Pandora-Dichtung nur als »lyrische Einlagen in eine dramatische Allegorie« gelten lassen: will man in ihnen, wie es noch jüngst ein so feiner Beurteiler wie Gundolf getan hat, nur gleichsam »Bravourarien« sehen, die, wie in der alten Oper, aus dem Ganzen des Werkes herausfallen, so löst sich damit die künstlerische Einheit des Werkes auf: so muß man sich entschließen, in der Pandora nur noch ein »Stück in Stücken« zu sehen. Es ist eine Auffassung, wie sie Goethe selbst frühzeitig entgegengetreten ist und mit der er sich resigniert abgefunden hat. Als Frau v. Stein Goethe eingestand, daß sie nur einzelne Teile des Werkes sich wahrhaft anzueignen vermocht habe, da erwidert er ihr, daß in der Tat das Ganze auf den Leser nur gleichsam geheimnisvoll wirken könne. »Er fühlt diese Wirkung im Ganzen, ohne sie deutlich aussprechen zu können; aber sein Behagen und Mißbehagen, seine Teilnahme oder Abneigung entspringt daher. Das Einzelne hingegen, was er sich auswählen mag, gehört eigentlich sein und ist dasjenige, was ihm persönlich konveniert. Daher der Künstler, dem freilich um die Form und den Sinn des Ganzen zu tun sein muß, doch auch sehr zufrieden sein kann, wenn die einzelnen Teile, auf die er eigentlich den Fleiß verwendet, mit Bequemlichkeit und Vergnügen aufgenommen werden.«
Diesen Sinn des Ganzen, der Goethe als Künstler gegenwärtig war, wollen die folgenden Betrachtungen auszusprechen suchen: aber es liegt hierbei freilich in der Eigenart und in der Anlage des Gedichts selbst begründet, daß er uns zunächst in einer zweifachen und scheinbar gegensätzlichen Erscheinungsweise entgegentritt. Die Begriffs- und Gedankenform ist hier nicht von Anfang an völlig in die Erlebnis- und Dichtform aufgelöst, sondern sie besitzt ihr gegenüber einen selbständigen, ablösbaren Bestand. Aber es bleibt, je weiter das ursprüngliche gestaltende Motiv sich entfaltet, nicht bei diesem Dualismus: sondern wie in allen reifen Goetheschen Altersdichtungen stellt sich eine neue eigentümliche Einheit von Sinnen und Schauen, von Gedanke und Erlebnis her. Wir versuchen zu zeigen, wie innerhalb der Dichtung dieser Zusammenschluß sich vollzieht, – wie das künstlerische Bild allmählich immer reiner die Prägung des Gedankens und der Gedanke andererseits die Prägung des Bildes und der Empfindung annimmt; denn in diesem Doppelprozeß tritt erst hervor, was die Pandora im Ganzen der Goetheschen Dichtung und im Ganzen der Goetheschen Welt- und Lebensansicht bedeutet.
Stellt man die Frage in diesem Sinne, so scheidet für die Betrachtung zunächst alles aus, was lediglich zu den stofflichen Voraussetzungen der Dichtung, zu dem Inhalt der Pandora-Sage und des Pandora-Mythus gehört. Aus dem mythischen Bilde der Pandora, wie es ihm die antike Überlieferung darbot, vermochte Goethe wohl gewisse äußere Anregungen zu schöpfen, aber in der eigentlichen schöpferischen Gestaltung wurde er durch dasselbe in keiner Weise bestimmt. Ja er mußte dieses Bild zunächst umformen und in einem wesentlichen Punkte in sein Gegenteil verkehren, ehe er es sich aus seiner Lebensansicht und seiner künstlerischen Empfindung heraus zu eigen machen konnte. Das Werk selbst bietet hierfür einen bezeichnenden Hinweis. Als Prometheus in seinem Gespräch mit Epimetheus der Pandora der griechischen Sage gedenkt, die, nach dem bekannten Berichte des Hesiod, auf Zeus' Geheiß von Hephaistos gebildet und von Athene und Hermes, von den Charitinnen und Peitho zum Verderben der Menschen mit allerlei trügerischen Gaben ausgestattet worden ist, da weist Epimetheus unwillig »solchen Ursprungs Fabelwahn« zurück. Die Pandora Goethes ist nicht der lockende Dämon, aus dessen Gefäß alle Übel aufsteigen und sich über die Menschenwelt verbreiten, sondern sie ist die Allbegabte und Allgebende. Denn von den Göttern naht den Menschen kein Übel: das Platonische Motto des θεὸς ἀναίτιος gilt auch für Goethe, zum mindesten für den Goethe der klassischen Zeit. »Was zu wünschen ist, Ihr unten fühlt es; Was zu geben sei, Die wissen's droben.« So ist die Pandora Goethes ein Dämon nur in dem Sinne, in dem der Platonische Eros es ist: dazu bestimmt, Mangel und Fülle, Endliches und Unendliches, Sterbliches und Unsterbliches miteinander zu verknüpfen und dadurch »das All zusammenzubinden«.
Und damit dringen wir nun sogleich in eine tiefere gedankliche Schicht der Dichtung ein. Der innere Bezug, der zwischen ihr und der Gedankenwelt Platons besteht, ist unverkennbar. Er ist, nachdem bereits frühere Erklärer auf ihn hingedeutet hatten, besonders von Wilamowitz in seinem Festvortrag über die Pandora betont und entwickelt worden. Für ihn bedeutet das Reich der Pandora schlechthin das Platonische Ideenreich: jenes Reich, das Wissenschaft, Kunst und Schönheit umschließt, aber sich in keiner dieser drei Grundmanifestationen erschöpft. Für diesen Zusammenhang mit Platon hat Wilamowitz auf eine Fülle äußerer Symbole hingewiesen, denen wir in der Dichtung begegnen. Vor den Toren Athens lag die »Akademie«, lag der heilige Hain, in welchem Platon seine Schule gegründet hat – bezeichnet durch einen Altar des Eros, vor dem die Jünglinge, die sich der Platonischen Lehre hingaben, ihr Opfer vollzogen, bezeichnet weiterhin durch den heiligen Ölbaum, der an dieser Stätte stand. Und ein Ölbaum ist es, den auch Pandora bei ihrer Wiederkehr herabbringt, als wunderbares, himmlisches Symbol und zugleich als Ausdruck für die Versöhnung des Prometheus. »Die Akademie Platons an der Stätte des Prometheus und des Eros« – so schließt daher Wilamowitz – »lieferte Goethe den für seine ganze Erfindung entscheidenden Gedanken, daß die Wiederkunft Pandoras den Menschen zur sorgenden und liebenden Arbeit an den idealen Gütern Wissenschaft und Kunst erhoben habe. In dem Moment, wo er diesen Gedanken faßte, hatte er sein Gedicht konzipiert.« Aber so bestechend diese Deutung ist, so muß man freilich gestehen, daß sie durch die Dichtung selbst nicht unmittelbar und zwingend dargeboten wird. Denn der Phileros der Dichtung ist zwar der Liebende – aber seine Liebe zu Epimeleia ist eine ganz individuelle, ganz sinnliche, ganz konkrete Leidenschaft und nichts in ihr deutet auf jenen allgemeinsten mythischen und philosophischen Gehalt, den der Platonische Eros in sich faßt. Was vollends den Ölbaum betrifft, den Pandora als Geschenk der Götter zur Erde herabbringen soll: so stützt sich die Auslegung hier auf eine einzige Stelle, die sich in dem uns erhaltenen Goetheschen Schema zur Fortsetzung der Pandora findet. »Schönheit, Frömmigkeit, Ruhe, Sabbat, Moria«, das sind die Güter, die Pandora zur Erde herabbringen sollte. Ob aber die »Moria« in diesem Zusammenhang den heiligen Ölbaum der Athener bedeutet, das ist nach den gewichtigen Gründen, mit denen Max Morris in seinen »Goethe-Studien« Wilamowitz' Auslegung bestritten hat, zum mindesten zweifelhaft: die ältere Deutung, die an die »Morija« der biblischen Schriften, als Bezeichnung für den Tempel in Jerusalem erinnert, bleibt jedenfalls als möglich fortbestehen. So würde die äußere Symbolik und Bildersprache der Pandora für sich allein keinen genügend sicheren Grund abgeben, das Werk an Platon und die Platonische Gedankenwelt heranzurücken, wenn sich nicht eine andere, rein dem Gedankeninhalt selbst entnommene Beziehung aufweisen ließe, durch die diese Deutung gestützt und erweitert wird.
Um diese Beziehung auszusprechen, wird es freilich notwendig, über das abgeschlossene Werk hinaus- und in die Jahre vor seiner Entstehung zurückzugehen. Denn in diesen Jahren war der Platonismus Goethe auf einem neuen Wege genaht und hatte sich ihm in einer ganz bestimmten geschichtlichen Ausprägung anschaulich dargestellt. Den ersten Entschluß zur Ausarbeitung von »Pandorens Wiederkunft« hat Goethe, wie bekannt, im Herbst 1807 gefaßt, als er von Seckendorf und Stoll um einen Beitrag zu der von ihnen neu gegründeten Zeitschrift »Prometheus« gebeten wurde. Aber nur den äußeren Anreiz zur Ausführung, nicht das Motiv selbst hat er in diesem Augenblick empfangen. Wie er selbst vielmehr äußert, daß ihm »der mythologische Punkt, wo Prometheus auftritt, immer gegenwärtig und zur belebten Fixidee geworden war«, so wird ihn auch die Gestalt der Pandora, ehe sie ihre bestimmte Formung erhielt, seit langem begleitet haben; gleich jenen Motiven zu seinen vollendetsten lyrischen und epischen Dichtungen, von denen er selbst diesen Prozeß des allmählichen Wachsens und Reifens berichtet hat. »Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Überliefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch, ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer entschiedeneren Darstellung entgegenreiften.« Und nun läßt sich zeigen, wie in dieses innere Wachstum von außen her eine bestimmte gedankliche Einwirkung eingreift und ihm eine neue entschiedene Richtung gibt. Im August 1805 hat sich Goethe in das Studium von Plotins Enneaden und insbesondere in die Abschnitte, die Plotins Lehre vom »intelligiblen Schönen« enthalten, vertieft. Er liest Plotins Werk zunächst in lateinischer Übersetzung; aber sie erweckt ihm bald das Verlangen nach dem Original, das er kurz darauf durch Vermittlung von Fr. Aug. Wolf erhält. Was ihn an dem Werk des »alten Mystikers«, wie er es nannte, ergriff und fesselte, das hat er selbst genau bezeichnet, indem er die entscheidenden Stellen für Zelter heraushob, dem er sie, von einem knappen, aber charakteristischen Kommentar begleitet, am 1. September 1805 übersandte. Wir müssen diese Stellen in Goethes Übertragung hier im einzelnen wiedergeben: denn sie sind der bezeichnendste Ausdruck dafür, auf welchem Wege zuerst er sich einem Gedanken- und Anschauungskreis genähert hat, der in der »Pandora« als ein fertig gegebener überall im Hintergrund steht. »Da wir überzeugt sind, daß derjenige, der die intellektuelle Welt beschaut und des wahrhaften Intellekts Schönheit gewahr wird, auch wohl ihren Vater, der über allen Sinn erhaben ist, bemerken könne, so versuchen wir denn, nach Kräften einzusehen und für uns selbst auszudrücken – insofern sich dergleichen deutlich machen läßt – auf welche Weise wir die Schönheit des Geistes und der Welt anzuschauen vermögen. Nehmet an daher, zwei steinerne Massen seien nebeneinander gestellt, deren eine roh und ohne künstliche Bearbeitung geblieben, die andere aber durch die Kunst zur Statue, einer menschlichen, oder göttlichen ausgebildet worden … Euch wird aber der Stein, der durch die Kunst zur schönen Gestalt gebracht worden, alsobald schön erscheinen, doch nicht weil er Stein ist – denn sonst würde die andere Masse gleichfalls für schön gelten – sondern daher, daß er eine Gestalt hat, welche die Kunst ihm erteilte. Die Materie aber hatte eine solche Gestalt nicht, sondern diese war in dem Ersinnenden früher, als sie zum Stein gelangte. Sie war jedoch in dem Künstler nicht, weil er Augen und Hände hatte, sondern weil er mit der Kunst begabt war. Also war in der Kunst noch eine weit größere Schönheit; denn nicht die Gestalt, die in der Kunst ruhet, gelangt in den Stein, sondern dorten bleibt sie, und es gehet indessen eine andere, geringere, hervor, die nicht in sich selbst verharret, noch auch wie sie der Künstler wünschte, sondern insofern der Stoff der Kunst gehorchte. Denn indem die Form, in die Materie hervorschreitend, schon ausgedehnt wird, so wird sie schwächer, als jene, welche in Einem verharrt. Denn was in sich eine Entfernung erduldet, tritt von sich selbst zurück. Daher muß das Wirkende trefflicher sein als das Gewirkte. Wollte aber jemand die Künste verachten, weil sie der Natur nachahmen, so läßt sich darauf antworten, daß die Naturen auch manches andere nachahmen, daß ferner die Künste nicht geradezu nachahmen, was man mit Augen siehet, sondern auf jenes Vernünftige zurückgehen, aus welchem die Natur bestehet und wornach sie handelt. So konnte Phidias den Gott bilden, ob er gleich nichts sinnliches Erblickliches nachahmte, sondern sich einen solchen in den Sinn faßte, wie Zeus selbst erscheinen würde, wenn er unseren Augen begegnen möchte.«
Hier haben wir in der Tat alle wesentlichen Grundzüge der Neuplatonischen Metaphysik und Ästhetik vor uns: die Idee, die dem Stoff die Gestalt gibt und ihm damit die Schönheit mitteilt, die aber nichtsdestoweniger, unbeschadet dieser Mitteilung, rein in sich selbst verharrt, als das Ewig-Eine, das sich der Vielheit niemals völlig hingibt und sich, wenn es im Mannigfaltigen heraustritt, doch niemals in ihm verliert. So behält das Urbild stets die unendliche Vollkommenheit gegenüber dem sinnlich-stofflichen Abbild; als das Zeugende gegenüber dem Gezeugten. Eben an diesem Punkte aber setzt nun Goethes Einspruch ein. »Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des Einen dringen, woher alles entspringt und worauf alles wieder zurückzuführen wäre. Denn freilich ist das belebende und ordnende Prinzip in der Erscheinung dergestalt bedrängt, daß es sich kaum zu retten weiß. Allein wir verkürzen uns an der anderen Seite wieder, wenn wir das Formende und die höhere Form selbst in eine vor unserem äußeren und inneren Sinn verschwindende Einheit zurückdrängen. Wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung angewiesen; diese beiden allgemeinen Formen sind es, in welchen sich alle übrigen Formen, besonders die sinnlichen, offenbaren. Eine geistige Form wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, daß ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende; ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann, als das Zeugende.« Wo Plotin daher nur eine Selbstentäußerung des Einen, einen Abfall von seiner »intelligiblen« Wesenheit sieht, – da sieht Goethe vielmehr seine notwendige Entfaltung und Selbstoffenbarung. Der metaphysischen Transzendenz des »Absoluten« setzt er die Immanenz seines künstlerischen Weltgefühls und Weltbildes entgegen. In diesem Sinne hat er Zeit seines Lebens ausgesprochen, daß er vom »Absoluten im theoretischen Sinne« nichts zu sagen habe: das aber dürfe er behaupten, daß derjenige, der es in der Erscheinung anerkannt und immer im Auge behalten habe, sehr großen Gewinn davon erfahren werde. Und noch einmal war Goethe, unmittelbar bevor er an die Ausarbeitung der »Pandora« schritt, der ganze Inhalt der Gedankenwelt, die sich ihm zuerst durch die Lektüre Plotins erschlossen hatte, zu lebendigem Bewußtsein gebracht worden. Im Oktober 1807 war es, als ihm Schelling seine bedeutsame, auch im Ganzen der Schellingschen Philosophie epochemachende Münchener Antrittsrede »Vom Verhältnis der bildenden Künste zur Natur« übersandte. Die Neuplatonischen Lehren vom »intelligiblen Schönen« sind hier wie in einem Brennpunkt vereint und sie sind zugleich durch einen ganz eigentümlichen Zug bereichert. Denn was Plotin und seine philosophischen Nachfolger gefordert und geweissagt hatten, – das sah Schelling in Goethe, dem Dichter und dem Naturforscher, erfüllt. Schellings gesamte Lehre von der »intellektuellen Anschauung« ist in der Tat nur der Versuch, das geistige Verfahren, das er in Goethe wirksam sah oder in ihm wirksam zu sehen glaubte, in allgemeinen methodischen Begriffen auszusprechen. So mußte Goethe in Schellings Rede alsbald sich selbst und seine Grundanschauungen wiedererkennen. Wirklich erklärte er sogleich, daß seine Überzeugung mit der Schellingschen »völlig zusammenfalle«. Aber wie er nicht als Metaphysiker, sondern als Dichter diese Übereinstimmung empfand, so führte sie ihn auch wieder aufs neue zu dem rein dichterischen Bilde zurück, das ihn in dieser Zeit gefangen hielt. Und von hier aus gewinnt nun die leidenschaftlich bewegte Schilderung, die Epimetheus von Pandoras Wesen und Ursprung gibt, ihren besonderen gedanklichen Accent:
»Der Seligkeit Fülle, die hab' ich empfunden,
Die Schönheit besaß ich, sie hat mich gebunden,
Im Frühlingsgefolge trat herrlich sie an.
Sie erkannt ich, sie ergriff ich, da war es getan!
Wie Nebel zerstiebte trübsinniger Wahn,
Sie zog mich zur Erd' ab, zum Himmel hinan.
Sie steiget hernieder in tausend Gebilden,
Sie schwebet auf Wassern, sie schreitet auf Gefilden,
Nach heiligen Maßen erglänzt sie und schallt,
Und einzig veredelt die Form den Gehalt,
Verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt:
Mir erschien sie in Jugend, in Frauengestalt.«
Hier weht uns in der Tat Platonische Luft und Platonische Gedankenstimmung an, aber es ist der völlig eigenartige und individuell geprägte Platonismus Goethes, der aus diesen Worten spricht. Denn eben dies bezeichnet hier die »Form«, daß sie nicht einem »überhimmlischen Ort« angehört, sondern daß sie mitten in der Dynamik des Lebens, in der Gestaltung und Umgestaltung der Natur, im Rauschen der Welle und im Wandel und den sichtbaren Umrissen der Körper hervortritt. Nicht in eine vor dem äußeren und inneren Sinn verschwindende Einheit ist sie zurückgedrängt, sondern sie steigt hernieder, um sich im Strom und Rhythmus des Werdens für uns zugleich zu verhüllen und zu enthüllen. Als eine der frühesten Übersetzungen der Platonischen »Idee« begegnet uns in der deutschen philosophischen Sprache der Terminus der »Gestalt«: und durch Schillers philosophische Gedichte wird diese Bedeutung der »Gestalt« allgemein und für immer festgestellt. »Nur der Körper eignet jenen Mächten, die das dunkle Schicksal flechten; Aber frei von jeder Zeitgewalt, Die Gespielin seliger Naturen, Wandelt oben in des Lichtes Fluren, Göttlich unter Göttern die Gestalt.« Für Goethes Weltgefühl aber ist dies das Bezeichnende, daß ihm das Reich der reinen Gestalten nicht jenseit und über der Sinnenwelt sich erhebt, sondern daß es in ihr selbst lebendig und gegenwärtig ist. So wird ihm die Gestalt zu einem zugleich Dauernden und Beweglichen, zu einem Identischen und Vielfältigen, zu einem Allgemeinen, das nur in seinen Besonderungen ist und lebt. In der Natur, in der Kunst, im Sittlichen selbst, findet er nun dieses Grundverhältnis wieder. Für ihn verharrt daher nicht die reine Gestalt, jeder Zeitgewalt enthoben, in einem abgelösten und unzugänglichen Bereich, sondern sie unterliegt, indem sie ins Zeitliche heraustritt, der Macht und der Schranke des Zeitlichen selbst. Indem sie sich begrenzt, wird sie dem Sinn des Menschen erst faßbar und vernehmlich und spricht in vertrauten Zeichen zu ihm. Auf diese Weise ist Pandora mit ihren Gaben zuerst dem Epimetheus genaht. In ihr und durch sie hat sich ihm zuerst der Blick für das Ganze des Seins und Werdens erschlossen; indem sie ihn verließ, ist das Dunkel über ihn hereingebrochen, ist die geformte Wirklichkeit wieder ins Chaos zurückgesunken. Der Gehalt des Lebens ist zunichte geworden und an seiner Statt ist nur das Einerlei der sich immer erneuernden Tage, vor dem es kein Entrinnen gibt, zurückgeblieben. Mit elementarer Kraft kommt dieses Grundgefühl in den Eingangsworten seines Monologs zum Ausbruch:
»Ein tiefer Schlaf erquickte mich, von Glück und Not;
Nun aber nächtig immer schleichend wach umher
Bedaur' ich meiner Schlafenden zu kurzes Glück,
Des Hahnes Krähen fürchtend, wie des Morgensterns
Voreilig Blinken. Besser blieb es immer Nacht.
Gewaltsam schüttle Helios die Lockenglut;
Doch Menschenpfade zu erhellen sind sie nicht.«
Denn das Reich der »Form«, das sich in Pandora darstellt, gibt sich dem Menschen nicht zu dauerndem Besitz. Wer glaubt, es in einem einzelnen Bilde ergriffen zu haben, der erfährt alsbald an sich, daß es sich unter seinen Händen auflöst – wie Helena Faust entschwindet und nur ihr Gewand und ihren Schleier in seinen Händen zurückläßt. »Immer wechselnd, fest sich haltend« bleibt die Welt der reinen Gestalten für das Prometheische Geschlecht der Menschen, das bestimmt ist, »Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht«, nah und fern und fern und nah. Noch steht der Kranz, der Pandorens Locken von Götterhänden eingedrückt war, vor Epimetheus Sinnen; aber er hält nicht mehr zusammen, sondern entblättert sich, wie er ihn zu fassen sucht. »Alles löst sich. Einzeln schafft sich Blum' und Blume Durch das Grüne Raum und Platz. Pflückend geh' ich und verliere das Gepflückte. Schnell entschwindet's. Rose, brech' ich Deine Schöne, Lilie, Du bist schon dahin!«
Aber wenn für Epimetheus mit dem Bild des Lebens, das sich ihm in Pandora offenbart hat, das Leben selbst dahingeschwunden ist, – so steht ihm gegenüber eine andere Welt, die, rein in sich selbst gegründet und gefestigt, keiner fremden Hilfe, keiner Gabe von oben bedarf. Nur diesen Zug des alten Titanen hat Goethe, als sich ihm noch einmal das Prometheus-Motiv darstellte, aus seiner Jugenddichtung festgehalten; aber im übrigen ist die Gestalt selbst und die Stimmung, in der sie gesehen wird, gegenüber dem ersten Prometheus-Drama völlig verändert. Wenn der Prometheus des ersten Fragments das höchste, gesteigerte Symbol des schöpferischen Menschen ist, in welches Goethe alle eigenen schöpferischen Grunderfahrungen zusammengedrängt hat, so ist der Prometheus der Pandora nur noch der Repräsentant der Wirkenden und Nützenden. Dem Jüngling Goethe, der sich an dem Worte Pindars, an dem ἐπικρατεῖν δύνασθα&ι berauschte, floß reines Gestalten und unmittelbares Schaffen und Wirken noch völlig in eins zusammen; er empfand und genoß im einen das andere. Aber je weiter Goethe in seiner inneren Selbstbildung fortschreitet, um so schärfer tut sich vor ihm der Gegensatz zwischen der Welt des Sinnens und Bildens und der Welt der Tat, der Welt des unmittelbaren, auf die nächsten Ziele gerichteten Wirkens auf. Fortan trägt auch seine dichterische Symbolik die Züge dieses Dualismus. Der Gegensatz zwischen Epimetheus und Prometheus bildet daher – wie mit Recht hervorgehoben worden ist – nur eine besondere Einzelausprägung jenes Grundgegensatzes, der sich durch die gesamte Goethische Dichtung hindurchzieht und der seine tiefste Aussprache und Gestaltung im Widerstreit zwischen Tasso und Antonio gefunden hat. Aber noch bestimmter, fast in der Schärfe und Klarheit einer begrifflichen Antithese, sind hier die Vertreter der beiden Reiche einander gegenübergestellt. »Euch rettet' ich – so redet Prometheus seine Schmiede an – als mein verlorenes Geschlecht Bewegtem Rauchgebilde nach mit trunkenem Blick, Mit offnem Arm sich stürzte, zu erreichen das, Was unerreichbar ist und, wär's erreichbar auch, Nicht nützt, noch frommt; Ihr aber seid die Nützenden.« In dieser Welt des Nutzens schwindet jeder innere Unterschied, jede eigentümliche Wertbeschaffenheit und Wertdifferenzierung des Geistigen dahin. Wo der Maßstab nicht mehr in dem reinen Sein eines Inhalts liegt, sondern in dem, was er für einen anderen, ihm selbst fremden Zweck leistet: da gelten zuletzt alle Güter gleich. Wenn Epimetheus alle Güter unwürdig scheinen, sofern sie nicht dazu dienen, das »höchste Gut« zu erringen, so begegnet ihm Prometheus mit der Frage: »Das höchste Gut? Mich dünken alle Güter gleich.« Auch hierin tritt der Gegensatz gegen die Prometheus-Gestalt, wie sie die Jugenddichtung konzipiert hatte, klar hervor. In dem Fragment des jungen Goethe ist Prometheus in seinem Kampf gegen die Götter nur einer Göttlichen, nur der Minerva verbündet. Sie ist seinem Geist, was er sich selbst ist, sie ist es, die ihn zum Quell des Lebens leitet, aus dem seine Geschöpfe erst beseelt und zum Genuß des Daseins erweckt werden. So ist hier die schöpferische Tatkraft mit der reinen Kraft des Geistigen völlig in eins gesetzt. Der Prometheus der »Pandora« aber weist die Gaben, die ihm durch diese dargeboten werden, als lockende Täuschungen von sich, und er verharrt – wie das Schema der Fortsetzung zeigt – auf dieser Gesinnung, als Pandora selbst zum zweiten Male in vollem Glanze sichtbar und verkörpert zu den Sterblichen hinabsteigt. Er steht diesen Gaben gegenüber – nicht in der Selbstgenügsamkeit der menschlich-titanischen Kraft, sondern in der Selbstgenügsamkeit des festen Besitzes. »Neues freut mich nicht, und ausgestattet Ist genugsam dies Geschlecht zur Erde.« In seinem Bereich der materialen Zwecke, in welchem der Maßstab und die Rechtfertigung alles Strebens nur in seinem Ertrag gesucht wird, hat alles, was der reinen Form als solcher angehört, keine Stätte.
In der Gestalt der Pandora und in der gegensätzlichen Charakteristik des Prometheus und Epimetheus erschöpft sich im allgemeinen dasjenige, was die ausgeführte Pandora-Dichtung an scharf geprägten gedanklich-allegorischen Bestimmungen in sich schließt. Denn die gesamte übrige Handlung, in deren Mittelpunkt die Liebe der Epimeleia und des Phileros steht, gehört bereits einer anderen Schicht an. Hier waltet keine bloße Allegorie mehr, sondern hier stehen wir mitten in echter dichterischer Symbolik. Es ist nicht sowohl ein bestimmter Gedankengehalt, als vielmehr ein bestimmter Erlebnisgehalt, der sich in diesen Teilen des Werkes darstellt und ausdrückt. Nur an einem Punkte hängt diese dichterische Welt mit der Begriffswelt der Pandora unverkennbar zusammen. Phileros und Epimeleia stellen das neue Menschenpaar dar, dem die Gaben der Pandora erst wahrhaft zuteil werden sollen. Denn weder für Epimetheus, noch für Prometheus sind diese Gaben bestimmt. Nicht für jenen – denn wenngleich sich für ihn im Erscheinen der Pandora das Ganze des Seins erst wahrhaft neu belebt, wenn er durch sie dem Dasein wieder zurückgegeben wird, so scheidet er sich doch zugleich von der neuen Ordnung, die durch Pandora in der Menschenwelt gegründet wird. Das Schema der Fortsetzung der Pandora zeigt, wie am Schluß des Ganzen Helios strahlend heraustreten und, zugleich mit Pandora, den verjüngten Epimetheus zu sich emporheben sollte. Prometheus aber, der die Kypsele, die Lade, die Pandoras Gaben in sich birgt, bei ihrem ersten Erscheinen vergraben und verstürzt wissen will und der dem Wunsch der Menge gegenüber »auf unbedingtes Beseitigen insistiert«, steht, als er sich überwunden sieht, grollend abseits. Nur die Jugend und die Menge eignet sich Pandorens Gaben unmittelbar zu – die letztere, weil sie bewundernd und gaffend nach allem Neuen hascht, die erstere allein in dem wahrhaften Gefühl ihres unendlichen Wertes. Phileros ist es, der die Kypsele, wenn sie sich herabsenkt, zuerst begrüßt und Epimeleia tritt als Seherin und Priesterin hervor, um in ihrer Weissagung die verborgenen Schätze des Heiligtums auszulegen. »Phileros, Epimeleia, Priesterschaft« verzeichnet das Schema der Fortsetzung weiter: damit andeutend, daß von beiden eine neue kultische Ordnung gegründet und ihr die Bewachung des Heiligtums anvertraut wird. Deutlich werden hierbei – in den Worten, mit denen Eos den ersten ausgeführten Teil der Dichtung beschließt – Phileros und Epimeleia für sich und für andere als Bringer eines neuen Weltalters angekündigt. Aus dem Gleichmaß der Tage hebt sich der »gottgewählte« Tag ihrer Vermählung heraus: wie beide, indem Phileros aus den Fluten, Epimeleia aus den Flammen hervorsteigt, einander zum ersten Male zu begegnen scheinen, so nehmen sie auch, indem jedes sich erst im anderen wahrhaft weiß und fühlt, die Welt in einem neuen Sinne auf und heben sie damit zu sich empor.
An diesem Punkte bricht freilich die Leitung der Dichtung selbst ab, und der Entwurf der Fortsetzung, den wir besitzen, scheint uns nur dürftige und unbestimmte Vermutungen über den eigentlichen Gehalt der Gaben der Pandora zu verstatten. »Kypsele schlägt sich auf. Tempel. Sitzende Dämonen. Wissenschaft. Kunst. Vorhang«, das sind die knappen Worte, die uns übrig bleiben und die für sich allein freilich den verschiedenartigsten Deutungen Raum geben könnten. Denn vor allem: wie kommt die Welt der Kunst und Wissenschaft als ein fertiger Besitz, als eine Gabe von oben, in diese erste Menschenwelt, in diese Welt der Hirten und Krieger? Die Anschauung, daß das Geistige von außen her in die Natur eintrete, daß es sich – um den Aristotelischen Ausdruck zu brauchen – ϑὐραϑεν auf sie herabsenke: diese Anschauung ist freilich ein altüberlieferter metaphysisch-religiöser Besitz, aber sie ist ihrem ganzen Wesen nach so ungoethisch wie nur möglich. Näher werden wir dem Sinn der Allegorie kommen, wenn wir erwägen, daß, wie zuvor Pandora selbst, indem sie in Jugend- und Frauengestalt dem Epimetheus nahte, zugleich die Verkündung der Allgewalt der Form war, die sich in allem Sein und allem lebendigen Werden offenbart, so auch hier Kunst und Wissenschaft nur als einzelne Äußerungen der höchsten bildenden Kraft stehen, die das geistige und das natürliche Universum durchdringt und zur Einheit zusammenfaßt. Das Vorspiel zur Eröffnung des Weimarischen Theaters vom Jahre 1807, das der Pandora zeitlich und inhaltlich nahe steht, spricht den Gedanken unmittelbar aus: »So im Kleinen ewig wie im Großen Wirkt Natur, wirkt Menschengeist, und beide Sind ein Abglanz jenes Urlichts droben, Das unsichtbar alle Welt erleuchtet.« Aber dieses Festspiel bietet nun sogleich noch einen anderen, erhellenden Zug. Nicht unmittelbar gehen das Wirken der Natur und das Wirken des Menschengeistes ineinander auf, so daß sich im einen das andere nur einfach wiederholt und fortsetzt, sondern erst aus dem Gegensatz und dem Widerstreit beider stellt sich die neue Formwelt her, die das Menschengeschlecht als eigentümlichen Besitz für sich erringt. Der Mensch muß zerstören, um wieder aufbauen zu können; er muß, was die Natur nach ihrem dunklen Walten geschaffen hat, aus dieser ersten Gestaltung herauslösen, ihm gewaltsam eine neue Gestalt aufdrängen, wenn er es sich wahrhaft zueignen will. Nicht im Betrachten der Form, sondern im Schaffen der Form bewährt sich die eigentliche bildende Kraft des Menschen. Und sie ist im Größten wie im Kleinsten dieselbe; sie drückt sich ebenso im Machtgebot des Herrschers aus, das eine Welt widerstreitender Bestrebungen zu einem einzigen Ziele zusammenfaßt, wie in jeder noch so eng begrenzten Tätigkeit, durch welche dem Stoff eine neue Form, ein bestimmtes Gebilde abgewonnen wird. »Der Du an dem Weberstuhle sitzest, Unterrichtet, mit behenden Gliedern, Fäden durch die Fäden schlingest, alle Durch den Taktschlag aneinanderdrängest, Du bist Schöpfer, daß die Gottheit lächeln Deiner Arbeit muß und Deinem Fleiße.« Hier bildet jeder innerhalb seines Bezirks den Weltbaumeister ab: denn er steht zur Natur nicht mehr im rein empfangenden, sondern im schöpferischen Verhältnis. Und von hier aus glauben wir nunmehr schärfer zu begreifen, was die Ankunft Pandoras auch für die enge Menschenwelt um Prometheus und Epimetheus bedeutet. Pandora, die bei ihrem ersten Erscheinen nur den beiden Titanen genaht war – für die Menge bedeuteten ihre Gaben nur Luftgebilde, die sich in Schein und Dunst auflösten – gibt sich bei ihrer Wiederkunft zum ersten Male dieser Welt hin. In ihrer Mitte gründet sie ihr dauerndes Heiligtum. Und jeder versucht nun sogleich, für sich und seinen bestimmten Kreis ihre Gaben in Anspruch zu nehmen. Die Schmiede wollen das Gefäß, noch bevor sein Inhalt sich erschlossen, beschützen und es allenfalls stückweise auseinandernehmen, um daran zu lernen; sie erbieten sich sodann zum Schutz des Tempels durch Bepfählung und Umfriedigung, während die Winzer ihn zu umpflanzen wünschen. So bringt jeder dasjenige heran, was er an eigener Fertigkeit und an eigenen Gaben besitzt und empfängt dafür in neuer, reicherer Gestalt diese Gaben zurück. »Pandora erscheint, hat Winzer, Fischer, Feldleute, Hirten auf ihrer Seite. Glück und Bequemlichkeit, die sie bringt. Symbolische Fülle. Jeder eignet's sich zu.« Die neue allegorische Beziehung, die damit entsteht, wird völlig durchsichtig, wenn man sie an die Grundbedeutung hält, die sich bereits allgemein für das Pandora-Symbol ergeben hat. Von neuem steigt nun die Welt der Form zu dem Geschlecht der Menschen hernieder: aber jetzt erst ist sie wahrhaft menschlich geworden. Nicht wie ein fernes, wieder entschwebendes Traumbild und Traumglück zeigt sie sich, sondern sie geht mitten in dies dumpfe und niedere Dasein ein. Das Reich der Form gewinnt Leben und Wirklichkeit im Reich der Tat. Und damit erst ist jene Versöhnung zwischen Prometheus und Epimetheus erreicht, die in der Ehe zwischen ihren Kindern, in der Vermählung von Phileros und Epimeleia ihren symbolischen Ausdruck findet. Die Welt des Epimetheus war die des tatlosen Sehnens und Schauens; – die des Prometheus war die der formlosen, nur auf den äußeren Ertrag gerichteten und an ihn gebundenen Tat. In diesem Sinne mußte er Tat und Feier als gegensätzlich empfinden: »Was kündest du für Feste mir, sie lieb ich nicht: Erholung reichet Müden jede Nacht genug: Des echten Mannes wahre Feier ist die Tat.« Aber dieses Wort soll sich nun in einem neuen, von Prometheus selbst nicht gewußten und vorausgesehenen Sinne erfüllen. In dem Reich Pandoras gibt es keine Arbeit, die ihren Wert erst durch den äußerlichen Zweck, dem sie dient, erhält, sondern hier ist die Tätigkeit selbst ein Ausfluß des ursprünglichen und reinen Formwillens und erhält von ihm aus ihren eigentümlichen und selbständigen Wert. »Dieses Tun, das einzig schätzenswerte« – wir zitieren auch hier das Vorspiel von 1807 – »Das hervordringt aus dem eigenen Busen, Das sich selbst bewegt und seines Kreises Holden Spielraum wiederkehrend ausfüllt« – dieses Tun war dem Epimetheus wie dem Prometheus versagt geblieben. Aber in ihm erst gelangt die Gestalt zur vollen menschlichen Wirklichkeit, bleibt sie nicht als Schatten und Schemen vor dem Menschen stehen, sondern fügt sich seinem Leben innerlich und ursprünglich ein. So empfängt das Pandora-Symbol, indem es ein und dasselbe bleibt, seine eigentliche Bedeutung und Tiefe erst in diesem neuen Zusammenhange. Es ist überall das Eigentümliche von Goethes »ideeller Denkweise«, daß sie das »Ewige im Vorübergehen« schauen will; aber nicht nur im Wandel und Werden der Natur, sondern in der Mannigfaltigkeit menschlichen Strebens und Wirkens sollte es im zweiten, unausgeführten Teil der Dichtung zur Anschauung gelangen. Die reine Gestalt teilt sich dem endlichen Dasein mit; sie steigt in tausend Gebilden hernieder, aber deutlicher noch, als in dem geheimen Leben der Natur, tritt sie in dem offenbaren Wirken des Menschengeistes hervor. Hier äußert sich die Kraft der Form als unmittelbar gegenwärtige Kraft: in einem Gehalt, der über das bedingte Streben nicht schlechthin hinausgreift, sondern in ihm selbst sichtbar wird.
Wie dieses Grundmotiv, das wir als das eigentliche Hauptthema des zweiten unausgeführten Teils der Dichtung zu erkennen glauben, sich im einzelnen dichterisch gestaltet hätte, – darüber freilich scheint kaum eine Vermutung möglich. Aber mittelbar können wir hierüber vielleicht Klarheit gewinnen, indem wir auf das große Beispiel der Faustdichtung hinüberblicken. Wie für Faust, nach dem Verlust Helenas, sich der neue Sinn des Lebens in der menschlichen Gemeinschaftsarbeit erschließt, und wie er hier der Weisheit letzten Schluß erkennt: so hätte auch die Pandora, in ihren lyrisch-dramatischen Ausdrucksmitteln, zu dem gleichen Bild des Gesamtlebens der Menschheit geführt, das eben in seiner Begrenzung zugleich einen höchsten universellen Sinn verkörpert. Die einzelnen Stimmen der Hirten, der Schmiede, der Krieger waren schon im ersten Teil erklungen; ihnen hätte der zweite Teil, wie das Personenverzeichnis und das Schema der Fortsetzung ergibt, die Stimmen der Winzer, der Fischer und der Feldbauenden zugesellt: und man meint zu hören, wie alle diese Einzelstimmen zuletzt in gewaltiger Kontrapunktik zu einer großartigen Fuge, zu einem brausenden Hymnus sich vereint hätten. Was würde ein solcher Hymnus in diesem Werke bedeutet haben, in welchem Goethe wie in keinem anderen, auf der Höhe seiner bewußten sprachbildnerischen Kraft stand – in welchem er über alle Mittel des Metrums, der Rhythmik und Melodik frei und unumschränkt gebot! Die Anlage des Ganzen, das allmähliche Anschwellen der einzelnen Stimmen, das hier geplant war, ist noch deutlich ersichtlich. Dionysisch setzt die Schilderung der Rettung des Phileros ein. Verzweifelnd hat er sich selbst, nachdem er Epimeleia in leidenschaftlichem eifersüchtigen Ansturm verwundet, vom Felsen ins Meer herabgestürzt; aber der Jugend- und Lebenstrieb in ihm erweist seine Kraft und hebt ihn spielend aus der Flut empor. Bacchantische Begrüßung der Fischer und Winzer empfängt ihn; lächelnd reicht ihm ein Alter, wie Silen dem Bacchus, die gefüllte Schale; der Rausch und Taumel des neugewonnenen Daseins strömt von ihm auf die jubelnde Menge über.
»Klirret Becken, Erz ertöne!
Pantherfelle von den Schultern
Schlagen schon um seine Hüften,
Und den Thyrsus in den Händen
Schreitet er heran, ein Gott!
Hörst du jubeln? Erz ertönen?
Ja, des Tages hohe Feier
Allgemeines Fest beginnt!«
In dieses Fest bricht, streit- und unheilverkündend, das Erscheinen des heiligen Gefäßes der Pandora ein. Die erregte Menge teilt sich: indem die einen auf das Gefäß eindringen, um es zu zerschlagen und zu berauben, stellen sich die anderen schützend vor es auf. Auch nach Epimeleias Weissagung wiederholt sich noch einmal das gleiche Bild: »das Zertrümmern, Zerstücken, Verderben da capo«. Erst Pandoras Erscheinen paralysiert die Gewaltsamen. Indem jeder sich ihre Gaben für seinen Kreis aneignet, geht das gewaltsame Bestreben in den Einklang mannigfacher Betätigung über. Das Dionysische des Rausches wandelt sich in das Dionysische der Tat; und die »Wechselrede der Gegenwärtigen« löst sich in einen Wechselgesang, der an Pandora gerichtet ist, auf.
Aber über diese im Genießen und im Tun, im Empfangen und im Schaffen leidenschaftlich bewegte Welt hebt sich nun die Welt der reinen Betrachtung hinaus, wie Epimeleia, die Sinnende, sie verkündet. Dem dionysischen Rausch der Menge steht die apollinische Klarheit der Priesterin und Seherin gegenüber. »Epimeleia. Weissagung. Auslegung der Kypsele. Vergangenes in ein Bild verwandeln. Poetische Reue. Gerechtigkeit« notiert das Schema der Fortsetzung. Diese Worte scheinen zunächst dunkel; aber sie erhellen sich sofort durch die unverkennbare Beziehung, die hier zu dem obwaltet, was Goethe selbst als das schlechthin Eigentümliche seiner eigenen ideellen und dichterischen Gesamtanschauung der Wirklichkeit empfunden und bezeichnet hat. Als eine Grundrichtung seines Lebens nennt er in »Dichtung und Wahrheit« die Tendenz, alles, was ihn erfreute oder quälte oder sonstwie beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit sich selbst abzuschließen. Der betrachtende Mensch, der allein Gewissen besitzt, – denn »der Handelnde ist immer gewissenlos« – ist, wenn er in dem stürmischen Element der Leidenschaft nicht zugrunde gehen soll, überall an diese Verwandlung des Lebens in ein Bild gebunden, von der die Dichtung nur ein besonderer, wenngleich der höchste Ausdruck ist. In diesem Sinne bedeutet alle Kunst – wie Goethe es, in den Jahren des Pandora-Entwurfs, in den Wahlverwandtschaften ausspricht – die Entfernung vom Leben, um sich dem Leben damit um so fester zu verknüpfen: ein Ansichziehen der Welt, um sich die Welt zu beseitigen. So vollendet sich hier, indem die reine Tatkraft auf ihrer höchsten Stufe wieder in die Bildkraft übergeht, die Herrschaft Pandoras: die Herrschaft der reinen »Gestalt«. Man versteht jetzt, was die sitzenden Dämonen im Innern der heiligen Lade, als allegorischer Ausdruck für Kunst und Wissenschaft, im Ganzen der Handlung bedeuten sollten. Daß – wie Wilamowitz es ausspricht – die Wiederkunft Pandoras den Menschen zur sorgenden und liebenden Arbeit an den idealen Gütern Wissenschaft und Kunst erhebt, kommt darin zweifellos zum Ausdruck; aber Wissenschaft und Kunst stehen hier nur an der Spitze einer Stufenreihe, die alle Formen bildender und gestaltender Tätigkeit von der niedersten bis zur höchsten umfaßt. Damit erschließt sich nun zuletzt noch die Bedeutung eines anderen Symbols, mit welchem die Dichtung schließen sollte. Die Schlußworte sollten, nachdem der Vorhang gefallen, von Elpore gesprochen werden, die noch einmal aus der Szene hervortritt. Aber mit einem neuen Namen, als Elpore thraseia, als »zuversichtliche Hoffnung«, wird sie hier bezeichnet. Hier ist Elpore also nicht mehr das verfließende Traumgebilde, wie es im ersten Teil des Werkes dem schlafenden Epimetheus naht, um sogleich zu verschwinden, wenn er ihm näher zu treten sucht. Sie gehört nicht mehr dem »trüben Reich gestaltenmischender Möglichkeit« an, sondern sie ist ein Teil der Wirklichkeit selbst: sie ist jene Erwartung und Sehnsucht, die zugleich die lebendige Gewähr der Erfüllung in sich trägt. Solche Hoffnung wird nur dem tätigen Menschen, nicht dem bloß sinnenden und betrachtenden zuteil: wie denn Prometheus, im ersten Teil des Gedichts, Elpore als die einzige aus dem Geschlecht der Götter nennt, die auch ihm bekannt und vertraut sei. Aber wenn sein Wirken als Ganzes am Augenblick haftete und der Not des Augenblicks zugewendet blieb, so weist die » Elpore thraseia« dem neuen Geschlecht den Weg zu neuen unbekannten Zielen. In dem Geschwisterpaar Elpore und Epimeleia symbolisiert sich jetzt jene Vereinigung, die von dem alten Goethe – von den Wanderjahren an bis zum zweiten Teil des Faust – beständig als die »Summe aller Weisheit« bezeichnet und gepriesen wird. Das höchste Sinnen gibt dem reinen Mut Gewicht; das Ideelle verlangt die Bewährung im Schaffen und Umschaffen der Wirklichkeit.
Und damit stehen wir zugleich an dem Punkte, an dem die allegorische Auslegung der Dichtung und ihrer Einzelgestalten unzulänglich wird; an welchem die eigentliche Deutung nicht mehr aus einer abstrakten und losgelösten Gedankenwelt, sondern nur aus der Stimmungs- und Erlebniswelt Goethes zu gewinnen ist. Die Pandora bildet für Goethe die Grenzscheide zweier Epochen: sie bedeutet, rein formal betrachtet, den Höhepunkt seiner klassischen und klassizistischen Periode, aber sie weist anderseits ihrem Gesamtgehalt nach bereits deutlich über diese Periode hinaus. Die Offenbarung der Welt der reinen Gestalt, wie sie Epimetheus durch Pandora zuteil wird, hatte Goethe in Italien erlebt. In den Briefen, die er aus Rom an Frau von Stein richtete, hat er es geschildert, wie hier alles titanische Streben ins Unbestimmte und Grenzenlose von ihm wich und er sich vor dem Anschauen des ewig Schönen, des Gesetzlichen in Natur und Kunst beschied. In voller Bestimmtheit richtete Goethe von nun ab die neue Grundeinsicht, die er hier gewonnen, als alleinigen Kanon und Maßstab auf; in gemeinsamer Arbeit mit Schiller gestaltet er sie zur Theorie und zum Dogma um, von dem auch der eigene dichterische Stil – wie in der »Natürlichen Tochter« – seine entscheidende Einwirkung empfängt. Aber die dramatische Welt der »Natürlichen Tochter« steht bereits als Bild gegen einen dunklen Hintergrund, der freilich hier nur wie von fern her sichtbar wird. Vergebens hat Goethe versucht, die geistigen Mächte der französischen Revolution für sich ideell und dichterisch zu bannen, indem er sie in die Formwelt seines klassischen Stils emporhob. Immer gewaltsamer und unerbittlicher fühlte er – insbesondere seit den Ereignissen des Jahres 1806 – diese Mächte in sein eigenes Leben und in das Dasein seines Volkes eingreifen. Auch jetzt unterlag er ihnen nicht, noch wurde er in seiner eigenen unausweichlichen Richtung durch sie bestimmt und abgelenkt. Aber der Schutz gegen sie – das erkannte er immer tiefer und tiefer – lag jetzt nicht mehr in der Kraft des Schauens, sondern in der Kraft des Handelns. Und wie Goethe zunächst als Erzieher seines Volkes diesen Gedanken ergreift und ihn zuerst in dem Vorspiel von 1807, das der Pandora unmittelbar vorangeht, zur allegorischen Dichtung formt, stellt sich auch für ihn selbst die immer stärkere Rückwirkung desselben dar. In dem Reich der reinen klassischen Form findet er jetzt kein unbedingtes Genügen mehr. Durch seine Dichtung geht fortan jener Dualismus, wie er sich am reinsten und schärfsten im Gegensatz des Schlusses des zweiten Teils des Faust gegen das Helenadrama oder im Gegensatz der »Wanderjahre« gegen die »Lehrjahre« erweist. Dem individualistischen Ideal des deutschen Humanismus, das das höchste Ziel des Menschentums in der Ausbildung aller Kräfte des Einzelnen sieht, tritt das soziale Ideal gegenüber: der Forderung einer Totalität der Menschenkräfte, die im Individuum zur freien Entfaltung kommen sollen, stellt sich die Forderung einer umfassenden gemeinsamen Lebensordnung entgegen, die jeden Einzelnen an seinem Teile und innerhalb seiner begrenzten Leistung in Anspruch nimmt. Wilhelm Meister, der mit dem Ausblick auf jenes höchste individuelle Ideal der Menschenbildung begonnen hatte, beschließt seine Bahn als Wundarzt, und in allen Gestalten des Romans von Jarno-Montan bis zu Philine ist die gleiche Wendung ersichtlich. Zwar in die bloße Sphäre der Nutzbarkeit sollen wir auch hier – so nahe manche Äußerungen Goethes an sie zu streifen scheinen – nicht zurückgeworfen werden: wohl aber wird die gesamte Sphäre der »Bildung« deutlich von der Persönlichkeitsbildung nach der Bildung für die Gemeinschaft und für die Ziele des Ganzen verschoben. Statt der Tätigkeit, die von einem bestimmten Zentrum ausgeht, um sich fortschreitend zum All zu erweitern und im All sich selbst in erhöhter Gestalt wiederzufinden, steht hier eine Mannigfaltigkeit verschiedener, selbst gegensätzlicher Bestrebungen, die aber zuletzt der Disziplin durch einen höchsten Zweck unterstehen. In solcher Einheit soll sich ideelles und reelles Bestreben, soll sich Liebe und Tat zusammenschließen – wie es der Chor der Wanderer ausspricht. »Auch dem unbedingten Triebe folget Freude, folget Rat – Und Dein Streben sei's in Liebe Und Dein Leben sei die Tat.« Wir haben zu zeigen versucht, wie am Schluß der Pandora die gleiche Einheit, die gleiche Versöhnung zwischen der Welt des Epimetheus und des Prometheus sich symbolisch aussprechen sollte; aber freilich weist die Dichtung uns zugleich auf ein anderes Moment hin, in welchem erst die eigentliche Tiefe der Gegensätze, die sie in sich birgt, zum lebendigen lyrisch-dramatischen Ausdruck kommt.
Denn nicht gelassen und ruhig trennt sich Goethe, im Gefühl einer neuen Einsicht, die er gewonnen, von dem Ideal seiner klassischen Zeit, sondern es ist ein Stück des eigenen Lebens, das er zugleich mit ihm versinken sieht. Man erinnert sich des Wortes, das er einmal Eckermann gegenüber ausspricht, daß er zu einer Höhe und zu einem Glück der Empfindung, wie sie ihm in Rom zuteil geworden sei, später nie wieder gekommen sei: »ich bin mit meinem Zustand in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden«. Noch versuchte er, nach seiner Rückkehr nach Deutschland, diesen Zustand im Bilde zu erneuern und festzuhalten; aber mehr und mehr erfuhr er allmählich, daß den Forderungen des neuen Lebens auch dieses Bild, in seiner scheinbaren Abgeschlossenheit und Selbstgenügsamkeit, nicht standhielt. Diese Erfahrung erst drückt seiner Altersdichtung und seiner Altersweisheit den Stempel der Entsagung auf. Denn die Entsagung bedeutet ja für Goethe keineswegs die gewöhnliche und alltägliche Mahnung, daß der Mensch auf das Glück des Lebens zu verzichten habe; sondern sie gehört von Anfang an einer anderen und tieferen Schicht an. Das Wort: »Genießen macht gemein« gehört nicht ausschließlich dem Goetheschen Alter an, sondern stammt aus dem Ganzen seiner Persönlichkeit, aus einem Ethos, das sich in allen verschiedenen Epochen und Entwicklungsphasen Goethes gleich geblieben ist. Der eigentliche Sinn der Entsagung und ihre ganz schmerzliche Bedeutung ergibt sich daher für Goethe erst dort, wo sie von dem Menschen nicht nur den Verzicht auf individuelle Güter, sondern auch den Verzicht auf den höchsten ideellen Gehalt verlangt. Und eben diese Forderung ist es, die sich in Goethe, seit der Epoche der Pandora und der Wahlverwandtschaften, innerlich immer bewußter und entschiedener durchsetzt. Mehr und mehr sieht er sich dazu gedrängt, das ausschließende ästhetisch-humanistische Ideal, das er in Italien festgestellt und das er seither im Verein mit Schiller und Humboldt zu seiner höchsten Durchbildung geführt hatte, zu beschränken. Mehr und mehr sucht er, indem er an der Forderung der Ganzheit festhält, das Ganze nicht mehr in dem Einzelnen, sondern in den Einzelnen, nicht in einer höchsten Harmonie aller individuellen Kräfte, sondern in dem Ineinandergreifen dieser Kräfte und ihrer gegenseitigen Ergänzung, die auf der anderen Seite eine immer bestimmtere Spezialisierung und Arbeitsteilung in sich schließt. Auch in diesem Sinne gilt jetzt für ihn, daß der volle jugendliche Kranz der Pandora ihm nicht mehr zusammenhält: »er zerfließt, zerfällt und streuet über alle frischen Fluren reichlich seine Gaben aus«. Und dieses Gefühl des Abschieds von der einstigen Jugendfülle und Jugendganzheit ist es, was der Dichtung ihr eigentümlichstes lyrisches Gepräge gibt. »Dem Glück, der Jugend« – so sagt Prometheus in der Dichtung – »heiß' ich Schönheit nah verwandt: auf Gipfeln weilt so eines, wie das andere nicht.« Auf einem solchen Gipfel stand Goethe jetzt: und mitten in der höchsten Fülle ergriff ihn das Gefühl des kommenden Abstiegs. Das ist es, was, abgesehen von jeder symbolischen Auslegung des Inhalts der Pandora, ihren Klang und Ton so erschütternd macht. Als Rahel Levin zuerst die Pandora las, da war es ihr, als habe sie durch das Medium der Dichtung zum ersten Male die Tragik des Alters angefaßt: »Mir hat's« – so schrieb sie an Varnhagen – »einen entsetzlichen Eindruck gemacht; ich verstand gleich das Alter, ich wurde damals alt. Auch alt wird man plötzlich. Auch das Alter entfaltet sich, wie eine Blüte, plötzlich aus der Knospe, wenn schon die ganze Jugend es vorbereiten muß.« Das ist nicht gedeutet, sondern gefühlt; es ist der Ausdruck der Grundstimmung, die die Dichtung unmittelbar mitteilt. Am reinsten und tiefsten spricht sich diese Stimmung in der Klage des Epimetheus aus:
»Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist,
Fliehe mit abgewendetem Blick!
Wie er sie schauend, im Tiefsten entflammt ist,
Zieht sie, ach reißt sie ihn ewig zurück.
Frage dich nicht in der Nähe der Süßen
Scheidet sie? Scheid' ich? Ein grimmiger Schmerz
Fasset im Krampf dich, du liegst ihr zu Füßen,
Und die Verzweiflung zerreißt dir das Herz.«
Wir wissen nicht und wir brauchen nicht danach zu fragen, ob es ein einzelnes individuelles Leid, ob es ein unmittelbar naher Verlust war, der in diesen Worten zum Ausdruck drängt; – aber nach der eigentümlichen Form der Goetheschen Dichtung und der Goetheschen Liebeslyrik möchte man es eher verneinen, als bejahen. Auch Goethes Alterslyrik ist, wo sie unmittelbar aus einem individuellen Anlaß hervorquillt, in seiner Bezeichnung aufs höchste konkret und bestimmt – während hier, mitten in der tiefsten, leidenschaftlichen Bewegtheit, noch etwas wie Ferne vom leidenschaftlichen Augenblick zu spüren ist, wie dies schon in der Allgemeinheit des Ausdrucks (wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist) zu liegen scheint. Es ist die Stimmung nicht eines einzelnen und besonderen Lebensmoments, sondern die Stimmung einer Lebensepoche, die in den Worten des Epimetheus nachklingt; es ist ein Leid, das nicht aus einer besonderen Lage und Verwicklung des Lebens, sondern aus dem Gesetz des zugleich fortschreitenden und welkenden Lebens selber geschöpft ist. Im Gefühl dieser Tragik löst sich für Goethe auch das Band, das sonst die Natur und das menschliche Dasein umschließt: »Sternenglanz und Mondes Überschimmer, Schattentiefe, Wassersturz und Rauschen sind unendlich, endlich unser Glück nur.« Goethe hat von der »Pandora« gesagt, daß sie, wie die Wahlverwandtschaften, das schmerzliche Gefühl der Entbehrung ausdrücke. Aber wie in den Wahlverwandtschaften führt die Entbehrung nicht dazu, daß der Mensch sich gegen die Mächte, denen er sich unterworfen fühlt, gewaltsam aufbäumt, noch dazu, daß er sich ihnen gegenüber in einem abstrakten und fühllosen Stoizismus, in ruhiger Passivität bescheidet. Im Leiden selbst erlebt er noch eine Notwendigkeit und Gesetzlichkeit des Daseins, die über allem individuellen Glück und Weh steht; aber er ordnet sich anderseits dieser Notwendigkeit nicht in stumpfem Fatalismus unter, sondern behauptet sich ihr gegenüber, auch indem er ihr unterliegt. Aus dieser Grundstimmung heraus vermochte Goethe wiederum die Rettung in jenes Gefühl zu finden, das seinen vollendeten Ausdruck im zweiten, unausgeführten Teil der Dichtung gefunden hätte: in das Gefühl des stets sich erneuernden Gesamtlebens, für das es keinen Stillstand und kein Altern gibt. –
Von hier aus glauben wir daher erst tiefer verstehen zu können, was es bedeutet, wenn Goethe von der »Pandora« gesagt hat, daß er in ihr mehr als in seinen anderen Dichtungen »ins Generelle gegangen« sei. Dieser Zug zum Generellen ist keineswegs eine Wendung ins bloß Abstrakte: denn auch hier noch gestaltete er aus dem unmittelbaren Ganzen seines Lebensgefühls heraus. Diesem Lebensgefühl selbst war jetzt ein neuer Zug des Allgemeinen eigen. Die Grundgegensätze und die Grundphasen des Lebens: das Leben der Jugend und das des Alters; das Leben im Sinnen und Bilden und das Leben in Entschluß und Tat, dies alles sind für Goethe jetzt keine bloß begrifflichen Sonderungen mehr, sondern es sind selbst beseelte und gefühlte Einheiten. Goethe hat in manchen seiner Maskenspiele, z. B. in »Palaeophron und Neoterpe«, solche Gegensätze wie Alter und Jugend bisweilen auch als bloße Masken hingestellt und dargestellt. Die Pandora aber zeigt eben hier den ganzen Abstand, der dieses höchste symbolische Festspiel von der Allegorie der Maskenzüge trennt. Sie steht am Anfang des neuen künstlerischen Altersstils Goethes, – eines Stils, dessen Geheimnis darin besteht, daß er nicht nur die besonderen Lebens erscheinungen, sondern die allgemeinen Lebens mächte sichtbar werden und in geschlossenen Gestalten heraustreten läßt. Das Dringen auf das »Urbildliche« und »Typische«, das Goethes ganze klassische Periode kennzeichnet, ist in ihm aufs höchste gesteigert – aber es hat den Anschein einer fremden, dem Gegenstand selbst von außen aufgedrängten Tendenz verloren, weil es sich mit der individuellen Weise des Sehens und Erlebens, von der Goethe beherrscht ist, rein und vollständig durchdrungen hat.