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Ein reiches und bewegtes Leben bringt den Menschen in tausendfältige Berührungen mit seinen Zeitgenossen, und je bedeutender seine Natur ist, desto bedeutender werden die Begegnungen des Menschen mit Menschen sein. Es ist natürlich nicht daran zu denken, hier ins einzelne einzugehen und über dergleichen Verhältnisse in Goethes Leben sich insbesondere zu verbreiten, aber was ich wünschte zur hellen Einsicht zu bringen, ist, nur anschaulich zu machen, wie auch hier die Entwicklung einer so bedeutenden Individualität nur unter Einwirkung vielfältiger anderer bedeutender Persönlichkeiten als möglich gedacht werden konnte. Regt es uns nämlich an sich schon zu merkwürdigen Betrachtungen auf, daß Entfaltung eines wahrhaft menschlichen Daseins nur unter der Bedingung des Vereinlebens des einen mit mehreren möglich ist, und daß der Mensch, der allein und sich selbst überlassen erwächst, nur ein tierisches, kein menschliches Dasein erreicht, so muß es zwiefach interessant sein, einem so bedeutenden Lebensgange nachzudenken und zu beachten, mit welchen Individualitäten er in Berührung kommen mußte, um gerade diese Höhe zu erreichen. – Bei Goethe mehr als bei vielen andern möchte es interessant sein, zu unterscheiden, welches Verhältnis in seinem Lebensgange sich zu Männern und welches sich zu Frauen entwickelt hat, und auf welche Weise jedes dieser Verhältnisse gerade auf sein Wesen gewirkt habe. – Was zuerst anbetrifft sein Verhältnis zu Männern, so hat es mir immer von unberechenbarem Einflusse geschienen, daß ihm zeitig und selbst wiederholt das Glück zuteil wurde, einen – man erlaube mir die Bezeichnung – wohlgesinnten Widersacher – einen feindlichen Freund oder freundlichen Feind anzutreffen, welcher, indem er einerseits wahres Interesse an ihm nehmen mußte, andererseits, mit Witz und Schärfe ihm aufregend, erfrischend, erweckend entgegentrat.
Mehr, als man glauben sollte, bedarf auch der Höherbegabte des Widerspruchs und der widerstrebenden Wirkung, wenn er mit Energie vorwärts dringen soll, und in Goethes Leben ist darum früherhin der Mephistopheles Merck und der wunderliche Behrisch und späterhin der oft ironisch bitter ihm entgegentretende Herder von der höchsten Bedeutung. – Es ist nicht zu sagen, wieviel dem Menschen entgeht, wenn eine frische, scharfe Gegenwirkung ihm fehlt. Kaum eine Einrichtung des alten römischen öffentlichen Lebens hat mir daher so tiefsinnig und bedeutungsvoll geschienen, als daß den Triumphatoren, wenn sie im höchsten Ruhmesglanz zu den Toren der Weltstadt einzogen und indem ihnen die größten Ehren zuteil wurden, zugleich Spottlieder entgegengesungen werden durften, und daß sie den Witzworten der Soldaten sich vollkommen preisgegeben fanden. Ebenso war es ein gesundes, natürliches Gefühl, welches den Fürsten des Mittelalters die Schalksnarren beigesellte, damit die Geißel der Satire und des Spottes auch dem gekrönten Haupte nicht fehle und damit eine kernige Individualität unter solcher Einwirkung zu voller Reife gelangen könne. Gewiß, es fehlt eine wesentlich fördernde Einwirkung, wenn dem Menschen auf keine Weise dergleichen Spitzen und Neckflammen in den Weg geworfen werden, und es kann der Entwicklung fürstlicher Personen unserer Zeit keineswegs zum Vorteil gereichen, daß alles, was nach solchen scheinbaren Hemmnissen schmeckt, ihnen überall sorgfältig aus dem Wege geräumt wird. – Kopf und Herz erstarken unter Gegenwirkungen dieser Art, wie leibliche Bildung und Gesundheit sich stählen muß, wenn der Mensch nicht allein hinter dem warmen Ofen und unter weichen Bedeckungen schonend gehalten, sondern wenn er zeitig in Kampf gegen oft unfreundlich andringende Elemente geführt und geübt wird, und gewiß weniger oft würde man über Fürsten sich beklagen hören, könnte ihrem Leben dieses wohltuende Element sarkastisch anregender Widersacher auf geeignete und genügende Weise zugeteilt werden. – Man sage nicht, es fehle den Fürsten in unserer Zeit die Opposition keineswegs, da überall das Prinzip der Demokratie ihnen entschieden entgegenzutreten sucht; das alles ist keineswegs, was wir oben gemeint haben. – Eine vollkommen feindliche Gegenwirkung kann zwar zuweilen auch erstarken, öfter aber nur erbittern oder lähmen; dahingegen die sarkastische Geißlung unserer wirklichen Schwächen von einem uns doch im Grunde Wohlgesinnten, nie ohne kräftigende, ermunternde, anregende Wirkung bleibt und gegen das Unglück der Selbstgefälligkeit am besten bewahrt. – Wie gesagt, Goethe vermißte glücklicherweise nicht in seinem Leben eine Einwirkung dieser Art; und was ihm für den Augenblick zuweilen widerwärtige, ja schmerzhafte Empfindungen hervorgebracht haben mag, erkannte er späterhin selbst ganz entschieden als fördernd und heilsam für Entfaltung seines geistigen Lebens.
Wir wollen und können hier nicht in das einzelne der Schilderung dieser verschiednen feindlich-freundlichen Einwirkungen eingehen, denn diese Blätter sollen nur denen bestimmt sein, denen Goethe schon aus seinen Werken bekannt ist; und in seinen Werken, namentlich in seinem Leben und in seinen Tages- und Jahresheften, findet sich alles, was hierhin gehört, aufs deutlichste vor; aber ich empfehle allen denen, welchen es wahrhaft darum zu tun ist, Goethes Wesen sich deutlich zu machen, daß sie einmal seine Werke besonders in dieser Beziehung durchgehen wollen. – Ein eigentümliches, merkwürdiges psychologisches Schauspiel werden sie sich damit bereiten. – Man gewahrt nämlich, zumal in dem noch jungen Goethe, eine gewisse Weichheit, eine bei den lebendigsten Flügelschlägen des Genius oft mancherlei Unvollkommenheiten und Schwächen darbietende Eigentümlichkeit. Dieses mitunter molluskenartig schwankende, unreife Wesen, aus dem doch wiederum hie und da die hellsten Strahlen des Genius aufleuchten (so etwa geben gerade die weichsten fast formlosen Geschöpfe des Meeres das hellste Meeresleuchten), hat den Tadlern Goethes immer das breiteste Feld gegeben, welche den jungen Mann nur als wohl durchgebildeten Gymnasiasten und als fleißigen, zum ernsten Geschäfts- und Ehemann sich vorbereitenden Studiosus ihres Beifalls würdig gefunden hätten. Dergleichen Leute bedenken nicht, daß der Kristall, der zu schnell erhärtet, sich nicht weiter fortbilden kann, und daß eben eine gewisse jugendliche Formlosigkeit, Unstetigkeit und Weichheit allein es möglich macht, daß eine lange fortgehende Entwicklung die höhere Vollendung des Ganzen endlich herbeiführt. – Aber bleibend durfte freilich sich jenes Weichliche und Unreife nicht erhalten, fortgedrängt mußte der Geist werden von Stufe zu Stufe, immer weiter hinan gegen seine höhere und höchste Entfaltung, und dazu bedurfte es zwar tausend günstiger wohlwollender Einwirkungen, aber auch mancher scharfen und reizenden Berührungen; so etwa hat man in neuerer Zeit gefunden, daß ein junger Baum, wenn er rasch und kräftig emporwachsen soll, zwar der Wohltat geeigneten Bodens und Klimas wie günstiger Pflege und Witterung bedarf, daß er aber fast um das Sechsfache seiner Entwicklung gefördert werden kann, wenn ihm statt reinen Wassers ein Wasser zugeführt wird, dem die Schärfe des Chlors in rechtem Maße beigemischt worden war.
Bei alledem darf man nicht verkennen, daß auch auf spätere Zeiten in Goethes Leben hinaus dieser Kampf einer innern Weichheit gegen äußere antagonistische Einwirkungen sich behauptet hat; für das Verständnis jenes ablehnenden, förmlichen, ministeriellen Wesens, welches gerade dem Dichter so oft verargt worden ist und welches nicht nur als Notwehr gegen unbedeutende Überlästige gebraucht wurde, sondern oft auch ganz tüchtige, aber etwas heterogene Naturen (man denke an Bürger) widerwärtig berührte, mag diese Betrachtung sehr wichtig genannt werden. – Oft drehte sich sogar hier das Verhältnis um; Goethe, im Gefühl der inneren Weichheit, verbarg sich unter der härtern Schale der Förmlichkeit und drückte und reizte dadurch die, welche an ihn sich anzuschließen bereit waren. – Schillers innerlich festere Natur mochte wohl dieser Rüstung nicht bedürfen, und dessenungeachtet hat Goethes Wirkung wie im Leben so in der Poesie auf so außerordentlich viel weitere Regionen sich ausgedehnt; – wohl eben nur darum, weil allemal das Weichere nicht bloß das Mehrverletzbare, sondern auch das Mehrlebendige sein wird.
Ich habe nun zuerst von den antagonistischen Einwirkungen auf Goethe gesprochen, weil weniger als recht sie bisher in der Geschichte seiner Entwicklung übergangen worden sind; viel mehr beachtet und oft genug beneidet sind die günstigen Verhältnisse worden, welche sich in bezug auf persönliche Teilnahme in seinem Leben begeben haben. Schon in einem Briefe vom Jahre 1775 sagt er von sich: »das ist der Goethe, dessen größte Glückseligkeit es ist, mit den besten Menschen seiner Zeit zu leben« und in einem Maße wie selten irgendeinem ist ihm diese Glückseligkeit zuteil geworden. Wären es freilich nur die besten nivellierten Gestalten eines modernen sozialen oder Furierschen Systems gewesen, mit denen Goethe im Leben zusammentraf, so möchte die Einwirkung auf ihn schwerlich eine bedeutende und günstige geworden sein. Ich habe jedoch schon im Eingange der Betrachtung der Individualität Goethes bemerklich zu machen gesucht, daß die Menschen des vorigen Jahrhunderts darin allerdings eine sehr wesentliche Verschiedenheit von denen der jüngern Zeit erkennen lassen, daß ihnen bei einer weit minder gleichmäßigen Politur und Kultur ein zäheres Festhalten an ihrer besondern Natur ganz bestimmt angehört. – Nach dem guten altpersischen Spruche daher: »ein Messer wetzt das andere und ein Mann den andern« konnten nur Personen, die wirklich Individuen sind, auf eine entschiedene Individualität nachhaltig und fördernd einwirken; und es mußten Begegnungen solcher Art auf eine so reichbegabte Natur als Goethes auch doppelt fördernden Einfluß alsbald gewinnen. – Am meisten ist wohl als fördernd zu nennen die Konstellation, welche Goethe mit dem Großherzoge von Weimar, Carl August, zeitig in Berührung brachte. Gleich zwei entgegengesetzten magnetischen Polen zogen diese Naturen unaufhaltsam sich an, so wie ihre Wirkungssphären sich berührten, um nie wieder, selbst in der Gruft nicht, sich zu trennen! – Es ist nicht zu sagen, daß Goethe nicht ohne den Großherzog Goethe geblieben wäre (Werther und Götz von Berlichingen waren vorher geschaffen); aber es leidet keinen Zweifel: die volle befriedigende Erscheinung des mächtigen Geistes fordert auch in seinem äußern Sich-Darleben eine gewisse Größe der irdischen Existenz, die bei Goethe gerade nur durch die Beziehung zu einem Fürsten von der Großartigkeit und Frischheit der Gesinnung, wie sie in Carl August vorhanden war, erreicht werden konnte. Es sind mir von Männern, welche zu jener Zeit Weimar sahen, so manche eigentümlichen Züge aus dem Zusammenleben dieser beiden Geister mitgeteilt worden, welche die Stellung des einen zu dem andern merkwürdig verdeutlichen, und selbst die Briefe, die wir von beiden besitzen, geben hier ein bleibendes Zeugnis eines Verhältnisses, welches zu den glücklichsten und bedeutungsvollsten gehört, die uns die Geschichte bewahrt hat. Der Regent nährte und erfreute sich an den Strahlen, die ihm der befreundete Genius spendete, und der Dichter und Kosmopolit erhielt wieder von dem Herrscher, was Archimedes verlangte, um die Erde zu rühren: – »gib mir, wo ich stehe, und ich werde sie bewegen!« –
Dergleichen Begegnungen und Verhältnisse sind es daher, deren Betrachtung uns immer am deutlichsten mit der Ahnung jener wunderbaren geheimen Macht erfüllt, die ruhig und ewig uns zu Häupten waltet und Großes wie Kleines in ein unendliches, unbegreifliches, organisches Ganzes rastlos verwebt! – Daß Goethe gerade diese Begegnung, und gerade zur rechten, frischen, bildsamen Zeit seines Lebens erfahren mußte, daß gerade nur diese Beziehungen seiner Stellung in der Welt diese Bedeutung geben konnten, – daß gerade diese Stellung wieder in diesem Sinne die Entwicklung seiner ganzen geistigen Wirkung in solchem Maße erfüllte und bedingte – kann zu den weitgreifendsten Gedankenzügen Veranlassung geben. – Muß doch Tausendfältiges zusammenwirken und zusammentreffen, ehe irgendeine menschliche Individualität, geschweige denn eine so ausgezeichnete, die Höhe ihrer Entwicklung erreicht! – Übrigens, wenn für so manches Dasein schon ein einziges Verhältnis, wie das bezeichnete von Goethe zu Carl August, vollauf genügte, das Leben zu reifen, so tritt uns sogleich bei Goethe ein zweites, wenn auch äußerlich weder extensiv noch intensiv gleich wichtiges, innerlich aber dafür noch weit bedeutungsvolleres entgegen, das Verhältnis zu Schiller. – Dies ist das Verhältnis, welches am meisten abgehandelt, durchgesprochen und beleuchtet worden ist, doch wohl nicht immer auf die wahrhaft sachgemäße Weise. – Ich gestehe, daß das, was man so oft aussprechen hört, von der gegenseitigen Einwirkung dieser beiden Geister aufeinander, von dem besondern Anteil, den jeder derselben an dem Entwicklungsgange des andern gehabt habe und der Förderung und Reifung des Genius, welche der eine dem andern verdanke, so hat mir dies nie recht der Wahrheit gemäß scheinen wollen. Beide Naturen waren eigentlich zu verschieden in ihrem Wesen, beide kamen erst in nahe Berührung zueinander, nachdem ihre Individualität bereits auf sehr entschiedene Weise sich entwickelt hatte, und zwar so, daß, ehe andere Bande sie vereinigten, ein Gefühl des Widerstrebens, um nicht zu sagen, des Widerwillens, sie gänzlich auseinanderhielt. Merkwürdig ist gerade in dieser Beziehung die Schilderung Goethes von seiner ersten Begegnung mit Schiller, denn unverhohlen spricht er es aus, daß, als er, aus Italien wiederkehrend und die reinen Formen der Iphigenie und des Tasso in sich tragend, den damaligen Interessen des deutschen Publikums an der poetischen Literatur sich wieder zuwendete, es ihm einen eigentümlich unheimlichen Eindruck gegeben habe, sich »zwischen Ardinghello und Carl Moor eingeklemmt« zu finden. – Es scheint mir also, daß irgendeine bedeutende fortbildende Einwirkung namentlich auf Goethe durch Schiller wirklich nicht in dem Maße angenommen werden dürfe, in welchem man sie häufigst angenommen findet; dahingegen in anderer Beziehung allerdings das Vereinleben mit Schiller ein höheres Genügen und dadurch eine frischere Lust des Schaffens und Bildens und eine schönere Freudigkeit des Lebens in Goethe insofern herbeiführen mußte, als es überhaupt für den Mann eins der glücklichsten, obwohl zugleich seltensten Begegnisse bleibt, den auf gleichen Bahnen und doch in verschiedenem Sinne wandelnden Freund zu finden, mit dem eine andauernde Wechselwirkung ungestört und durch eine längere Lebensperiode hindurch möglich ist. Eine wichtige Stelle hierüber findet sich unter den einzelnen Reflexionen; sie heißt: »Mein Verhältnis zu Schiller gründete sich auf die entschiedene Richtung beider auf einen Zweck, unsre gemeinschaftliche Tätigkeit auf die Verschiedenheit der Mittel, wodurch wir jenen zu erreichen strebten. – Bei einer zarten Differenz, die einst zwischen uns zur Sprache kam, und woran ich durch eine Stelle seines Briefes wieder erinnert werde, machte ich folgende Betrachtungen: – Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.« – Die Verschiedenheit beider Dichter liegt hierin sehr deutlich vor Augen! – Unzweifelhaft ist es aber, das schöne Glück vereinter Wechselwirkung wurde Goethe durch Schiller zuteil; die lebhafteste Empfindung hiervon findet sich in Briefen und Gedichten ausgesprochen, und wer möchte verkennen, daß so manche Blüte des Goetheschen Genius nicht getrieben worden wäre, hätte dieses Glück ihm gefehlt. Soll doch die echte Poesie aus der wahren, schönen und vollen Genüge des Daseins, als leuchtende Spitze der dunkeln Pyramide des Lebens hervorgehen, und zeichnet sich doch eben Goethes Poesie in diesem Sinne so sehr aus unter dem larmoyanten Wesen der meisten Neuern, deren Inspiration größtenteils dem Gefühle der innerlichen Zerwürfnis, ja oft genug dem der Verzweiflung ihre Quelle verdankt. – Und so hat denn ein gütiges Geschick fort und fort die reichsten Gaben über seinen Liebling ausgegossen! – Was irgend Interessantes und Großes die neuere Zeit an Männern hervorbrachte, führte es bald auf längere, bald auf kürzere Zeit in die Nähe Goethes, und ich habe schon oben bemerkt, wie dankbar auch wir es anzuerkennen haben, daß noch in seinen späten Tagen ihm aus einem armen Hirtenknaben ein sorgsam pflegender junger Freund erzogen wurde, welcher teils durch seine teilnehmende Nähe den gern zur Jugend sich neigenden Greis zu manchen schätzbaren Mitteilungen vermochte, teils diese goldnen Worte mit liebendem Gemüte aufzeichnete und der Nachwelt auf eine Weise bewahrte, daß noch späte Geschlechter aus seinem kleinen Buche sich deutlich machen können: so war im höhern Alter der größte Dichter deutscher Zunge – so war und so lebte und sprach Goethe.
Der Mann bildet sich indes nur zum Teil an Männern heran; nicht minder wichtig ist die Heranbildung, welche ihm durch Frauen zuteil wird. Es ist zu beklagen, daß gerade dieses Verhältnis selten in seiner Tiefe und seinem Umfange Gegenstand psychologischer Betrachtung werden kann, weil zuviel eigentümlich zarte Saiten berührt werden müßten, deren Erzittern und Ertönen nur dem eignen Geiste hörbar bleibt, dem Fremden aber entweder nicht vernehmbar werden kann oder nicht vernehmbar werden soll. Manches dieser Art habe ich in dem dritten Briefe über Faust früherhin im allgemeinen und in Beziehung auf Entwicklungsgeschichte des Goetheschen Faust vorgelegt, was ich hier meinen Lesern in die Erinnerung zurückrufen möchte, da es vielleicht auch auf Goethe selbst manche Anwendung leiden könnte. Man erlaube mir jedoch zuvörderst einige allgemeine Bemerkungen: – Ich habe schon mehrmals beiläufig ausgesprochen, daß ich als den Inbegriff aller Künste, als die höchste Kunst schlechthin, die Kunst des Lebens, die Lebenskunst anzusehen mich genötigt fühle. Ich brauche kaum dem Leser, welcher mir überhaupt auf meinem Betrachtungswege zu folgen geneigt und geeignet ist, noch hinzuzufügen, daß ich unter dieser Lebenskunst eben nichts anderes verstehe, als die Kunst, den Wagen und die Zügel des Lebens dergestalt zu lenken und zu leiten, daß die wahrhaft schöne und folgenreiche Entwicklung des Menschen dadurch zu ihrem eigentlichen und höheren Ziele gefördert wird. Diese Lebenskunst aber, eben weil sie die höchste ist, begreift mehrere andere Arten von Kunst unter sich, welche wir am besten in drei Abteilungen sondern, je nach den drei alles Seelenleben umfassenden und erfüllenden Strahlen, das ist: nach dem Erkennen, dem Fühlen und dem freien Wollen. Diese drei Abteilungen nennen wir: die Kunst der Erkenntnis, die Kunst des Gefühls und die Kunst des Willens. – Wenn die erstere der Mann nur im eignen tiefen und geheimen Seelenleben, der Natur gegenüber und im innigeren Hinwenden nach dem Göttlichen ausbildet und durchbildet, wenn er so von Erkenntnis zu Erkenntnis sich steigert und sein Verstand sich entwickelt, bis endlich in der höchsten Region der Vernunft mehr und mehr die eigentliche Idee unseres Daseins in der Welt vernommen wird, so bildet dagegen die Kunst seines Wollens – sein Können – sich offenbar hauptsächlich durch sein Leben in der Welt und unter Männern aus. – Der Mann muß Männern gegenüberstehen, um in seinem Willen zu erstarken, und erst, indem Wille an Willen sich bricht und übt, reift in ihm männliche Kraft, ja endlich geht aus diesen Kämpfen das hohe Bewußtsein der Freiheit des Willens hervor. –
Aber nicht allein Erkenntnis und Wille sollen zunehmen und erstarken; auch die Region des Gefühls soll im Manne gereift und gezeitigt werden, es soll der Sinn des Schönen sich entfalten, und es soll der Herzschlag des Seelenlebens – die Liebe – sich hervorbilden, und für alles dieses ist es vorzüglich das Verhältnis des Mannes zu Frauen, an welchem und durch welches diese Art der Lebenskunst am besten sich entwickeln wird. – Wie in den beiden andern zuvorgedachten Richtungen, so liegt jedoch auch hier ein weiter Kreis, es liegen viele und mannigfaltige Nuancen vor, innerhalb welcher der männliche Geist sich zur Vollendung durchzuarbeiten bestimmt ist. Von der feinen Gesittung in den äußerlichen Formen des Lebens, von der Ausbildung der Anmut in zarten Lebensverhältnissen bis zu den eigentümlichen, oft auf die merkwürdigste Weise die Entwicklung des Mannes fördernden Erregungen leidenschaftlicher Liebe, von der ersten Ahnung der Schönheit, wie sie in weiblichen Formen sich verkörpert, bis zum Gefühl höchster Beglückung im vollen Besitz derselben und bis zum Verständnis der geistigen Zartheit des weiblichen Gemütes und die dadurch vollendeten schönen Formen in den Kunstschöpfungen der Erkenntnis und des Willens im Manne, gibt es unendliche Berührungen und unendliche Verhältnisse, deren Einwirkung insgesamt auf eigentümliche Weise zur Vollendung einer feineren Lebenskunst beiträgt.
Will man nun mit dieser Erkenntnis ausgerüstet im Leben sorgfältig um sich blicken, so wird man gar bald gewahr werden, wie einige bald mehr nach dieser, andere bald mehr nach einer andern Seite der Lebenskunst sich wenden und wie dadurch ihre verschiedenen äußeren Verhältnisse auffallend bestimmt werden. Man wird bemerken, wie der, welcher mehr in der Kunst der Erkenntnis vorzuschreiten berufen ist, sich auf sich selbst zu beschränken mehr und mehr besorgt zu sein pflegt. Im stillen und einsamen Verhältnis der Seele zu sich selbst und zu Gott geht ihm heller und heller das Gestirn des Wissens auf, und so erfüllt sich ihm am genügendsten der Beruf des Lebens; Männer sowohl als Frauen werden ihn durch ihre nähere Berührung überall mehr stören als fördern können. – Wem dagegen die Aufgabe des Wollens und der freien großen Tat im Leben geworden ist, der wird vorzugsweise an Männer sich schließen. Zeitig wird ihm klar werden, daß nur durch Männer in ihm selbst die höchste Kraft des Willens reifen, daß nur in der Verbindung mit Männern die große Tat, deren Pläne ihm aufgegangen sind, vollführt werden kann. – Beispiele zu all diesem bieten sich von selbst dar, ich darf deren Aufsuchung dem Ermessen meiner Leser gern überlassen.
Wo nun endlich die Ausbildung der Kunst des Gefühlslebens der Grundton ist, in welchem die Saiten der Seele erzittern, wo die Richtung auf Schönheit, Poesie und Liebe vorwaltet, da drängt es den Mann, im Leben sich an Frauen anzuschließen, da umweht ihn ein feiner Liebeshauch schon in jugendlicher Entwicklung, und in späteren Jahren noch wird Glück oder Unglück seines Lebens zum großen Teil von seinem Verhältnis zu Frauen abhängen. Man darf nur an die Lebensereignisse der meisten Dichter denken, und die Wahrheit des hier Ausgesprochenen wird alsbald fühlbar werden.
Nun treten aber freilich hier wie überall bei solchen Unterscheidungen in der Wirklichkeit die verschiedenen Klassen nicht so scharf gesondert hervor, wie wir sie in Gedanken verfolgen dürfen. Die Poesie selbst, je mehr sie einen tatkräftigen Charakter annimmt, desto mehr wird sie den Mann mit Männern in Berührung bringen, und wiederum je mehr ein poetischer Hauch oder das Streben nach praktischer Anwendung den Erkenntnis-Suchenden durchdringt, desto mehr wird er mitten in seiner stillen Forschergrotte durch Einfluß bald mehr der Frauen, bald mehr der Männer bewegt werden. Und so lassen sich tausenderlei Nuancierungen aufstellen, von welchen wir hier absehen müssen und deren wir nur gedacht haben, um uns zu einer deutlicheren Erkenntnis zu führen hinsichtlich der Lebensverhältnisse von Goethe. Auch in solcher Hinsicht bietet aber dieser wunderbare Geist Stoff zu den mannigfaltigsten Betrachtungen dar. – Wir wollen hier nicht darauf eingehen, wie eigentümlich gefahrvoll dem Geiste des frauenhaft gesinnten Mannes dieses innere Bedürfnis und Verlangen werden kann; wir wollen nur flüchtig daran erinnern, wie viele in Wahnsinn, Tod und Verzweiflung geendigt haben, weil das Sehnen ihres Innern unbefriedigt blieb, weil sie sich von kalten oder trügerischen Naturen zurückgestoßen und tödlich verletzt fanden; wir dürfen vielmehr nur zurückweisen auf das, was Goethe selbst in der obenangeführten Stelle vom Lebensüberdruß sagt, daß nämlich auch die Liebe unter die Erscheinungen gehöre, welche einem gewissen Kreislaufe unterworfen seien, welche steigen und fallen, sich erneuern und wieder vergehen und bei deren Umschwung und Wechsel, sobald der Mensch sich nicht auf den höheren Standpunkt erheben könne, wo dieses alles als organische Notwendigkeit ebenso für ein Regelmäßiges und Schönes genommen wird wie der Kreislauf der Tages- und Jahreszeiten, allerdings die Gefahr lebhaft hervortrete, in alle Qualen des bittersten Lebensüberdrusses zu geraten. – Wenn nun Goethe, der Dichter, er, dessen Lebenskunst des Gefühls sich ebenfalls nur unter Einfluß der Frauen zu entwickeln vermochte, aus diesen Gefahren doch glücklich und siegreich hervorging, so ist es jedenfalls der Betrachtung wert, zu untersuchen, was ihm hierbei das schützende Element gewesen? –
Erwogen muß es in dieser Hinsicht zuerst werden, daß schon seine Individualität zu groß war, um ganz einseitig auf die Gefühlswelt und so auch im Leben auf den Umgang mit Frauen gerichtet zu sein. Dem Erkennen wie dem Willen und der Tat war sein Wesen gleichmäßig zugewendet, und in seiner Poesie selbst hauchte deshalb ein Geist des reinen und vollen Menschlichen, welcher, wie er ihn selbst zur Form des Altertums immer wieder hinzog, auch seinen Dichtungen die Gediegenheit einer klassischen Welt aufdrückte. – Es ist in dieser Hinsicht sehr merkwürdig, zu beachten, daß das nie genug zu bewundernde Werk – Götz von Berlichingen –, welchem einen durchaus Herodoteischen Charakter wir in jeder Beziehung zuerkennen müssen, das erste war, was ihn nachhaltig beschäftigte, was nicht wie der Werther augenblicklich als Krisis eines kranken Zustandes plastische Form gewann, sondern was als erste große gesunde Blüte eines mit Bewußtsein vorwärtsstrebenden Dichtergeistes hervortrat. Hier war also schon eine Tonart der Gefühlswelt angeschlagen, welche, ohne irgendeine Verweichlichung zu begünstigen, die Entschiedenheit und Willenskraft des recht eigentlich männlichen Geistes atmete. Hätte Goethe lauter Sachen wie den Götz von Berlichingen geschrieben, so könnte von Bedürfnis weiblichen Einflusses auf seinen Entwicklungsgang überhaupt ebensowenig die Rede sein, als etwa bei Äschylos und Sophokles. Zeugnis dessen sei die Rede Götzens zu Weislingen. »Da hielt dich das unglückliche Hofleben und das Schlenzen und Scherwenzen mit den Weibern. Ich sagte es dir immer, wenn du ihnen erzähltest von mißvergnügten Ehen, verführten Mädchen, der rauhen Haut einer dritten oder was sie sonst gern hören, du wirst ein Spitzbub, sagt' ich, Adelbert.« – Und dabei doch wieder, neben dieser Erhebung über allen Einfluß der Frauen, die volle reine Darstellung echter Weiblichkeit in Götzens Hausfrau und Schwester, und dagegen das Urbild reizender Verführung in Adelheid, mit einer Tiefe gezeichnet, welche bei dem durch alle Schulen des Lebens gegangenen Manne Bewunderung erregen mußte und bei dem Jüngling Goethe fast unerklärlich erscheint! – Und welche weiblichen Charaktere hat er nicht fernerhin gegeben! – sind sie nicht alle fast zu historischen Personen geworden! – Von Clavigos kränklicher Marie und Gretchen im Faust und Egmonts Klärchen bis zu Tassos beiden Leonoren und zur Iphigenia und so viel andern, welche Beobachtungen mußten gemacht werden, welche Erfahrungen mußten ihm kommen, und wie sehr mußte alles dies wieder bezeugen, daß er viel unter Frauen gelebt habe! – Sucht man nun den Lebensereignissen zu folgen, soweit es aus seinen Schriften, Briefen und sonstigen Mitteilungen möglich ist, und versucht man dann ein Resultat zu ziehen über die Eigentümlichkeit seiner Begegnungen mit Frauen, so ergibt sich nach sorgfältiger Beachtung und Vergleichung alles Verschiedenartigen, wie mir scheint, nur eine und eine von den gewöhnlichen Urteilen sehr abweichende Wahrnehmung – nämlich bei durchgehendem lebendigstem Gefühl für Anmut, Schönheit und Liebe, ein entschiedener, überall wiederkehrender Zug von Entsagung. – Wie oft hat mir nicht schon in frühen Jahren jenes wunderbare Gedicht eigene Gedanken gemacht, in dem es heißt:
»Trink, o Jüngling, heil'ges Glücke
Taglang aus der Liebsten Blicke;
Abends gaukl' ihr Bild dich ein,
Kein Verliebter hab' es besser;
Doch das Glück bleibt immer größer,
Fern von der Geliebten sein.«
Es geht dieser Zug von Entsagung auf eine sehr eigentümliche Weise durch sein Leben hindurch und scheint mir nur dann erklärlich und nur dann vom rechten Standpunkte aufgefaßt, wenn wir bedenken, welcher Genius in seinem Innern waltete und welchen geheimen Tempeldienst dieser Genius forderte, wenn sein Walten ungestört bleiben und sein Ziel erreicht werden sollte. Die Ehrfurcht vor der Weihe dieses Tempeldienstes, die innere Nötigung, darüber zu wachen, daß das wunderbare Wehen von den Flügelschlägen dieses Geistes rein vernommen werden könne, so unruhig auch an den Außenseiten der Tempelmauern das Meer der Leidenschaft stürmte, das ist es, was ihn die zu rechter Zeit eintretende Entsagung lehrte, welche gegen den Reiz der Frauen zu üben dem am schwersten geraten mußte, dem das lebendigste Gefühl dafür geworden war. – Der vieljährige Freund Goethes, Kanzler v. Müller, sagt einmal über ihn: »Von Rom her, aus der Mitte des reichsten und großartigsten Lebens, datiert sich die ernste Maxime der Entsagung, die er sein ganzes späteres Leben hindurch geübt hat und in der er die einzig sichere Bürgschaft inneren Friedens und Gleichgewichtes fand.« Ich möchte aber kaum zugestehen, daß nur von Rom her diese Lebenslehre sich schreiben sollte, denn hat er sie auch vielleicht erst seit dieser Zeit ausgesprochen, so schwebte sie doch sicher schon viel früher, gleich einer die Strahlen versengender Sonne abhaltenden Wolke mehr unbewußt und doch nicht minder wirksam über seinem Leben. – Und doch ist es auch hier sehr schwer, über Gegenstände dieser Art sich vollkommen verständlich und deutlich zu machen! – Immer fragt es sich zuerst: was versteht man unter Entsagung? – Der Stoiker, der sich mit einem Mantel, mit einem Trunk Wasser und mit Wurzeln des Waldes begnügt, wirft vielleicht dem äußerst Mäßigen, welcher die größte Entsagung zu üben glaubt, übermäßigen Luxus vor, während der im Wohlleben eingewohnte Reiche es für eine besondere Entsagung sich anrechnet, wenn er statt zweier Feste des Tages nur eines feiert, und der dem Leben überhaupt Entsagende wiederum den Stoiker noch einen Weichling nennt, weil ihm zur letzten Entsagung der Mut fehle. Also nach äußerlichem Maßstabe kann gewiß keineswegs geurteilt werden, wenn über das Wesen der Entsagung wir eine Bestimmung finden wollen. – Den echten Begriff der Entsagung kann also nur die Rücksicht auf inneres Seelenleben gewähren. – Es verdient daher nur Entsagung genannt zu werden, jene edle und freiwillige Selbstbeschränkung, welche bei reiner Freude am Erfassen und Gebrauchen aller Glücksgüter des Lebens alles und jedes ausschließt, was für eine wahrhafte und schöne Entwicklung des in uns gelegten Göttlichen irgend behindernd und störend werden müßte, entweder weil es dasselbe in niedere Regionen herabziehen, oder weil es mitten in dem wohl sehnlich gewünschten Übermaße augenblicklicher Lust ihm Fesseln anlegen würde, durch welche eine weitere und höhere Entfaltung fürderhin unmöglich bliebe. Dieser Begriff der Entsagung ist es, welcher uns allein der schöne und wahrhaft vernünftige erscheint, dieser ist es, welcher sich im Physischen und Psychischen gleichmäßig bewährt, dieser ist es, welcher uns mahnt, keinem noch so anmutigen Genusse uns hinzugeben, wenn er unserem höheren Sein Gefahren droht, und dieser ist es, welcher uns vor Verhältnissen warnt, bei welchen wir unter allen Beglückenden, so sie uns zunächst verheißen, unsere geistige Freiheit und die Erfüllung am Baue der Pyramide unseres Seelenlebens notwendig gefährdet fänden. Wer diesen Maßstab anlegt, wird keineswegs versucht sein, auch jenem Glücke zu entsagen, an welchem in frischem Lebensäther ein rein menschliches Dasein sich freudig höher hinanrankt, nicht versucht sein, in den Wahnsinn eines nur sich selbst quälenden Stoikers zu verfallen, er wird keinem beglückenden Verhältnisse sich entziehen, wenn in ihm sein höheres Selbst hinlängliche Nahrung findet; aber er wird allemal prüfend erkennen, inwieweit es gerade ihm, gerade seiner Lebensaufgabe wahrhaft gemäß sei, oder inwieweit ihm von dorther unter Schein von Glück und Freude wirkliches Unglück und zerstörender Schmerz drohe.
Freilich ist es auch hier wie bei dem, was ich weiter oben die Kunst des Wachseins nannte; sowie die Entsagung zu einer peinlichen Abwägung des geringern oder größern Vorteils, der ängstlichen, egoistischen Befürchtung wird, geht sie wieder über die reine Mitte hinaus und verfällt in ein widerwärtiges Extrem. Wie das Wachsein, so muß die rechte Entsagung (welche eigentlich im höchsten Sinne mit jenem zusammenfällt) von dem unbewußten Walten des Genius diktiert werden, und so erst wird dann das Schmerzliche der Entsagung sich wieder in höhere Freudigkeit lösen. Wer peinlich einem Glücke, einem anlockenden Verhältnisse entsagt, und wer dadurch nur einer ängstlichen Sorge für seinen Vorteil, und sei dieser auch ein durchaus geistiger, Genüge tun will, oder wer in dieser Entsagung nur einem gewissen Stolze Genüge leistet, oder in wem sie bloß aus einem hartnäckigen Geiste des Widerspruchs hervorgeht, der steht unfehlbar auf einem weit niedrigern Standpunkte als der, welchen die Liebe zu irgendeinem wahrhaft Schönen verleitet, minder streng über sich selbst zu wachen und seine Fortifikationslinien nicht zu rechter Zeit zu schließen. – Ja, man kann hier wohl die Frage aufwerfen: Gibt es nicht in wunderbaren besonderen Fällen eine gewisse selige Verschwendung des gesamten Daseins, welche, durch unwiderstehliche Liebe geboten, über den Menschen waltet und von welcher man, wie Schiller vom Fatum der alten Tragödie, sagen kann, daß sie: »den Menschen erhebt, wenn sie den Menschen zermalmt«? – Gewiß! wir treten hier in die geheimsten Regionen des Seelenlebens, wo es auf der Schärfe eines Messers liegt, zu entscheiden, was höher, was edler sei! – Dem Menschen ist es einerseits allerdings die reinste und erste Aufgabe, durch Entsagung gegen alle störenden Einflüsse, die Pyramide seines eigenen Daseins unverdrossen und unverzagt von der Basis bis gegen die Spitze hin vollständiger und größer auszubauen, und andererseits liegt wieder etwas so Mächtiges und Schönes darin, dies ganze Dasein unter gewissen Umständen dranzuwagen, von Liebe so ergriffen zu sein, daß auf die Gefahr hin, daß dieser ganze Bau zu Trümmern gehe, alle Entsagung aufgegeben werde und die volle Hingebung des eigenen Selbst an das Geliebte erfolge. – Wenn das erste dem Weisen eignet, der festen Schrittes den Pfad eigner, höherer Entwicklung verfolgt, so liegt dagegen in dem andern der Reiz des Liebenden, den wiederum die Selbstaufopferung, eigentlich die Entsagung oder die Entäußerung seiner selbst, mit einem ganz besonderen Zauber verschönt. Der Schritt vom ersten zu einem harten geistigen Egoismus ist ebenso nahe, als der des letztern zur Selbstvernichtung und zum Wahnsinn, und Hunderte von Fällen können gedacht werden, wo ein ewiger Streit stattfinden wird, welches größer, welches rühmlicher sei, und welches nicht. –
Ich brauche nun kaum hier weiter auszuführen, daß insbesondere auf das Verhältnis des Mannes zu Frauen jene Betrachtungen angewendet werden mögen; und fassen wir nun wieder die Lebensverhältnisse Goethes ins Auge, und erkennen wir in ihnen wirklich durch und durch eine gewisse Abgemessenheit und eine bewußte Entsagung, deren Verdeutlichung er sogar die Fortsetzung des auf eigne Entwicklung so beziehungsreichen Wilhelm Meister gewidmet hat, so kann uns das ferner zu manchen wichtigen Betrachtungen Gelegenheit geben: – Die verschiedenartigsten Individualitäten und Beziehungen treten uns hier entgegen; von der ersten jugendlichen Neigung zu Gretchen in Frankfurt, von der idyllischen Friedrike, der heitern, fast schon mit Goethe versprochenen Lilli, der nur durch Briefe geliebten Gräfin Stolberg, bis zu der ihn im Alter noch zu den Dichtungen von Suleika begeisternden Geliebten, zu alle diesen und noch so manchen andern ergeben sich Verhältnisse, welche in ihrer Weiterfortbildung eigentlich die entschiedenste Umgestaltung in Goethes Leben bedingen mußten, hätte nicht eine gewisse schon bei dem ersten halb kindischen Verhältnisse sich äußernde Scheu, und bei allen spätern eine bestimmte innere Notwendigkeit der gewiß oftmals schmerzlichen Entsagung, ihn auf dem Pfade erhalten, innerhalb welches er sich allein zu entwickeln bestimmt fühlte.
Hier tritt nun auch der Fall ein, wo die Ansichten über Goethe vielleicht mit am meisten auseinanderweichen. Von der einen Seite wird ihm seine Entsagung, sein Sich-Zurückziehen als kaltberechnender Egoismus verdacht, als grundlos Treu- und Wortbrüchigen stellen ihn die Strengrichtenden dar, und die milder Gesinnten zeihen ihn wenigstens der Kälte und der Lust am Wechsel. Von der andern Seite preisen die Freunde die Selbstentäußerung, die Macht, sich im Zügel zu halten und die klare Vernunftanschauung dessen, was ihm dient, sein Leben auf die ihm wahrhaft angemessene Weise zu gestalten. Ich gestehe, daß mir scheint, die Wahrheit liege in der Mitte zwischen beiden Extremen. Die ersten Vorwürfe können ihm nur gemacht werden von Personen, die das merkwürdige, unbewußte, instinktmäßige Walten eines Geistes von solcher Energie nicht zu ahnen vermögen und nicht wissen, wie diese Energie ebensowohl abwehrend als bewältigend und heranziehend wirken muß, wenn sie als schaffend und fortbildend sich bewähren soll. Den Ruhm der letztern wollen wir deshalb nicht zu hoch stellen, weil einesteils jene unbewußte Nötigung das Verdienst der freien Tat aufhebt und weil nun auch mit dieser ablehnenden Verneinung, mit dieser Stärke der Entsagung jenes Element der unbedingt sich hingebenden Liebe durch und durch beeinträchtigt erscheint, von dessen Bedeutung und Schönheit wir oben schon gesprochen haben. – Hier liegt jedenfalls etwas, das wir für Goethe bezeichnend erklären dürfen und was das Körnlein Wahrheit ist, was wir in den vielen Deklamationen gegen Goethe als eigentlich und allein Treffendes nennen mögen und wodurch diese Deklamationen selbst allein einigermaßen gerechtfertigt werden. Nämlich es fehlte ihm gerade durch diese große Selbständigkeit, durch dieses Prinzip der Entsagung die Gewalt und Macht der hingebenden Liebe. – Eben in jenem dritten Briefe über Faust glaube ich es aber ausgesprochen zu haben, daß die Liebe selbst, als Liebesleidenschaft, gerade dann einen höhern Sinn gewinnt, wenn wir bedenken, wohin sie eigentlich deutet. – Wir meinen aber, sie deute allerdings auf das Vernichten alles Selbstischen und auf das höchste Aufgehen – man könnte auch in einem andern und höhern Sinne sagen – verwesen im Göttlichen, und wenn der Mensch schon im gewöhnlichen Leben es für ein Höchstes nimmt, wenn er sagt, »er sei außer sich« – so ist es die Liebe des einen Wesens zum andern, an welchem es gleichsam lernt, außer sich zu sein, sich zu jener Höhe zu steigern, wo es sich selbst nichts mehr ist und wo sein Wesen ganz und gar in einem andern und zuhöchst im Göttlichen aufgeht. – Liegt es doch hierin, daß uns selbst die Liebesleidenschaft auf Erden eine gewisse Ehrfurcht einflößt, wo wir ihr begegnen, und man darf wohl sagen, daß es in diesem Sinne Shakespeare gelungen sei, jene schönen Gestalten, die uns als Julia und Romeo eine Art von höherer historischer Wahrheit erhalten haben, gleichsam zu Heiligen der Liebe zu verklären. – Diese Liebe nun, die ihrer selbst ganz vergißt, die von allen andern Entsagungen, nur nicht gegen die Geliebte wissen will und wissen kann – diese Liebe, die in ihrer Stufenfolge, von der Wurzel irdischer Verhältnisse bis zu dem Aufgehen im Göttlichen, ebenfalls ein ganzes Leben durchdringen kann, und sich vielleicht in diesem Sinne niemals merkwürdiger und schöner dargelebt hat als in Dante, – diese Liebe als Bestimmungsgrund der ganzen Existenz, – von ihr dürfen wir wohl sagen, sie war der Individualität Goethes nicht bestimmt, und dieser Mangel ist es, welcher ihn jener Entsagungen fähig machte, die, so nötig wir sie auch wohl in seinem Verhältnisse zu Friedrike, zu Lilli und andern, für die Möglichkeit seiner ganzen spätern Entwicklung erkennen mögen, uns immer ein gewisses herbes Gefühl zurückläßt.
Aber fern sei es von uns, ihm darüber besondere Vorwürfe zu machen! – Zu allen Dingen gehören besondere Anlagen und besondere Konstellationen, und wer will sagen, daß gerade bei den seinigen die Entwicklung jener selbstvergessenden Liebe möglich war! – Dürfen wir nicht beklagend sagen: es sei ihm überhaupt nie das Glück geworden, ein Wesen zu finden, dem es gegeben sein konnte, gerade bei Goethes mächtiger, alles überragender Individualität den Eindruck zu machen, daß jene, ein ganzes Leben durchdringende Liebe sich hätte entzünden können? – Dürfen wir nicht darauf hindeuten, wie eigne Verhältnisse selbst bei andern sich hervorheben müssen, wenn dergleichen sich begeben soll? – Wäre selbst Dantes Liebe in dieser Tenazität und fortgehenden Steigerung möglich gewesen, wenn nicht das gewaltige Ereignis des frühen Todes der Beatrice die Bedingung gegeben? – und endlich: mußte nicht gerade Goethe so frei, so in sich zurückgezogen und so entsagend sich entwickeln, wenn überhaupt alles das ihm zu vollenden möglich werden sollte, was wir an ihm zu bewundern nicht aufhören können? – Wenn Goethe übrigens einer Liebe entbehrte, wie wir sie hier jener Entsagung gegenübergestellt haben, so müssen wir bedenken, daß eben dadurch ihm selbst ein Glück entging, welches vielleicht allein fehlte, um einen Sterblichen mit allem zu krönen, was die Götter unter ganz besondern Konstellationen dem Leben Herrliches einflechten.
Sei es daher jetzt genug der Besprechung über einen Gegenstand, welcher so tief in die geheimsten Regionen des Lebens eingreift, daß wir ihn schon deshalb mit vieler Zartheit und Rückhaltung betrachten müssen; denn wenn wir oft in Zweifel sein können, bei einem Blick in unsern eignen Busen, in welchem Verhältnisse bei uns selbst Liebe und Entsagung stehen – so ist es immer ein doppelt gewagtes Beginnen, in die Seele eines andern schauen oder nun gar dort das Richteramt üben zu wollen. – Sei deshalb auch hier der Entsagung der Vorzug gegeben, damit wir nicht weiter als billig in die Mysterien eines so großen Geistes einzudringen zu wagen in Verdacht kommen.
Soviel muß jedenfalls dem, der den Lebensweg Goethes verfolgt, deutlich werden, daß die Schule der Frauen ihm keineswegs gefehlt habe, und daß von dem eigentümlichsten Einflusse der Mutter an bis zu anmutiger Geselligkeit, geistreicher Anregung und mannigfachen leidenschaftlichen Zuständen, ferner bis zu einer vollen, poetisch-schönen Beglückung des Besitzes, wie er in den römischen Elegien ausgesprochen ist, und bis zu den ganz ideellen Beziehungen zu einer hohen fürstlichen Frau, so wie in spätern Jahren zu so mancher anmutigen jüngeren Freundin, Goethe den Frauen die mannigfaltigsten fortbildenden Einwirkungen auf sein Leben verdankte; Einwirkungen, durch welche seine Lebenskunst überhaupt und die der Gefühlssphäre insbesondere Entwicklungen empfingen, deren Resultate in seinen Produktionen auf das Nachhaltigste zutage gelegt erscheinen, und wodurch insbesondere jene Gefügigkeit, jene Anmut und jene Vollendung der Form gefördert worden ist, welche wir in seinen Werken nie aufhören zu bewundern.
Wenn wir aber auf solche Weise aufmerksam betrachtet haben, wie sich die Lebensverhältnisse Goethes zu einzelnen Personen gestaltet und welche Wirkung sie auf Entwicklung seiner eignen Individualität gehabt haben, so dürfen wir nun jedenfalls auch weiter gehen und uns fragen: In welchem Verhältnisse steht dieser merkwürdige Geist hinwiederum zum Entwicklungsgange der Menschheit? – Ich erlaube mir zuvörderst, um hier den Standpunkt deutlich zu machen, von welchem unsere Gedankenfolge ausgehen soll, ein paar Stellen anzuziehen aus meinem System der Physiologie: – Es heißt dort im ersten Teile bei Gelegenheit der Physiologie der Menschheit unter anderm: – »Es gehört zu den höchsten Aufgaben des Menschen, von der Menschheit als einem Ganzen, als einem ideellen Organismus, einen Begriff zu erlangen, aufzuhören, sich als ein einzelnes Stück unter einzelnen zu fühlen und gewahr zu werden, daß der Mensch nur als Glied eines höhern Ganzen eine bleibende und tiefere Bedeutung erreichen und behaupten kann« – und späterhin: »Wie aber infolge der Beziehung aller Teile und Glieder eines Organismus auf seine ideelle Einheit einige mehr zentral und höher, andere mehr peripherisch und niedriger erscheinen müssen, so auch in der Menschheit. Der Maßstab der geringern oder höhern Bedeutung des einzelnen kann auch hier nur gegeben sein durch den Grad, bis zu welchem sich in ihm die Idee der gesamten Menschheit wederholt. Die Persönlichkeit, welche die universellen Gedanken, so die Menschheit zu realisieren bestimmt ist, in ihrem Geiste trägt, die Persönlichkeit, in welcher die Ideen von Willenskraft und Schönheit, Wahrheit und Liebe, welche das höchste Eigentum der Menschheit sind, am entschiedensten, soweit dies dem Individuum möglich ist, sich betätigen, wird die höchste sein, und von hier aus wird sich dann die Gradation weiter finden lassen. Auf ähnliche Weise kann die physiologische Geschichte des Tieres wie des einzelnen Menschen zeigen, daß sich diejenigen Organe als die höchsten bewähren, welche die Idee animalen Lebens am konzentriertesten enthalten, weshalb denn die Nervengebilde (denn das ganze Tier und der ganze Mensch ist ursprünglich eine den Begriff des Nervenmarks enthaltende Punktmasse) billig hier die höchste Stelle einnehmen. Ja man ahnt sogar auf das Bestimmteste die Analogie zwischen gewissen Arten der Persönlichkeit in der Menschheit und gewissen Arten von Organen im Menschen. – Ist nicht ein Raffael gleichsam ein Auge der Menschheit und ein Mozart ein Ohr der Menschheit!« – Es ist noch nicht versucht worden, das, was man Geschichte, Geschichtschreibung nennt, einmal ganz in diesem physiologischen Sinne zu behandeln und zu betrachten, wie bedeutende einzelne Menschen am Ganzen der Menschheit, während seiner fortschreitenden Entfaltung, gleichwie Knospen und Blüten am fortwachsenden Baume, hervortreten; daß indes in einer solchen Betrachtungsweise eine hohe, ja man darf wohl sagen, die höchste Aufgabe aller historischen Forschung liege, wird bei sorgfältigem Nachdenken nicht verkannt werden können. So viel hiervon war jedoch an diesem Orte nur zu erwähnen, um genauer zu bezeichnen, in welchem Sinne wir hier noch einige Gedanken über Goethe anzuschließen beabsichtigt haben.
Gewiß ist es aber, der Dichter – er, der diesen Namen wahrhaft verdient – der große Dichter – steht überhaupt in einem eigentümlichen und sehr merkwürdigen Verhältnisse zur Menschheit. Selten und einzeln nur aus der breiten insignifianten Menge auftauchend, erscheint in ihm auf wunderbare Weise ein vergeistigtes Abbild der mit ihm lebenden Menschheit, und die Bestrebungen wie die Schmerzen, die Erduldungen wie die Freuden seiner Zeit, seines Volkes, klingen auf geheimnisvolle Weise in seinen Werken wider. – So spiegelt etwa unter seltnen günstigen Verhältnissen, aber freilich nur als vergängliches Luftbild, die Fata morgana die schönen Küsten Siziliens mit Bergen und Orangengärten in erwärmten höhern Dunstschichten ab – während im Dichter das eigentümlich verklärte Bild seinerzeit noch den spätesten Geschlechtern deutlich bewahrt wird. – Oder wäre es etwa nicht an dem, daß mehr als in allem andern, was sonst aus hellenischem Altertum zu uns gekommen ist, im Homer und in den großen Tragikern die Blüte griechischen Volkslebens uns bewahrt ist, daß aus Dante und aus Bojardo und Ariost die sublime geistige wie die frische und heitere Schönheit des mittelalterlichen Italiens immer noch deutlich zu uns herüberleuchtet, und daß das grundkatholische Rittertum des alten Spaniens am schönsten nur im Calderon widergespiegelt erscheint, während aller Humor und aller Ernst, alle Tatkraft und aller Tiefsinn von Alt-England im Shakespeare immer noch so verklärt und gegenständlich vor uns steht, als wäre das alles wirklich noch jetzt auf jener seltsamen Insel einheimisch, dort, wo doch jetzt Maschinenwesen und Politik, Eisenbahnen und Puritanersekten von jenem Alt-England so blutwenig übriggelassen haben. –
Wie also könnte es möglich sein, daß Goethe so groß als Dichter wäre, und daß nicht in ihm ein sublimiertes Bild seiner Zeit und seines Volkes erscheinen sollte! Gilt es doch nicht bloß vom Schauspiel, sondern vom echten Dichter überhaupt, was Shakespeare sagt: »Es sei sein Zweck, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bild, und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.« – Es ist übrigens genug darüber geschrieben und gesprochen worden, wie eigentümlich das Verhältnis sei, in welchem der Deutsche gegenüber seinen Nachbarvölkern erscheine, nur müssen wir freilich dabei festhalten, wie verschieden solch ein Volkscharakter zu verschiedenen Zeiten sich gestaltet. Der alte Deutsche, wie ihn Cäsar und Tacitus schildern, war so ein wesentlich anderer als der des Mittelalters, und so tut sich auch schon in der Generation dieses Jahrhunderts wieder eine Physiognomie hervor, die von der des vorigen Jahrhunderts, wie ich oben bemerklich machte, gar wesentlich abweicht. Was aber überall dem Deutschen eignet, ist: in der Gefühlssphäre das tiefere, innigere Gemüt, in der Sphäre der Intelligenz das Streben nach Universalität und Tiefe, und in der Willensregung eine besondere Tenazität und ein gewisser Kosmopolitismus der Tat. – Gerade hierdurch haben Deutsche sich überall leichter das Fremde angeeignet, gerade hierdurch haben sie es tiefer empfunden oft als die Fremden selbst, gerade hierdurch haben sie sich aber auch häufig zerstreut, und gerade hierdurch erscheinen sie selbst nicht als ein Volk, sondern als Volk von Völkern. –
In allen diesen Beziehungen gibt Goethe zu vielfältigen Betrachtungen Anlaß. – Zuerst was das Aneignen des Fremden betrifft, so steht er unbedingt da als die merkwürdigste Erscheinung der Dichterwelt.– Wir haben unsterbliche Werke von Griechen, von Italienern, von Spaniern und von Engländern – aber jeder blieb durch und durch entweder Grieche, Italiener, Spanier oder Engländer, während Goethe bald auf eine Weise in das griechische Altertum tauchte, daß in Reinheit der Form und Nationalität der Charaktere wir uns mitten unter den großen Tragikern zu befinden glauben, bald hinwiederum in den Orient hinüberzog, daß wir ihn in der Karawane als einen zweiten Hafis erblicken und die wunderbarsten durchaus morgenländischen Klänge von ihm vernehmen. Darunter klingen dann wieder Gedichte so sehr gegen deutsche Vorzeit hingeneigt, daß wir versucht sein könnten, sie dem Hans Sachs zuzuschreiben, während andererseits seine orphischen Verse und wissenschaftlichen Gedichte der Zeit selbst vorauszueilen scheinen und philosophische Tiefe mit einer Schönheit deutscher Diktion vereinigen, daß wir darin eine ganz eigentlich auf Schauen der Wahrheit gegründete höhere und echt germanische Poesie nicht verkennen können. – Doch nicht minder als dieser Kosmopolitismus und als diese Universalität ist das tiefinnige deutsche Gemüt sein unbeschränktes Eigentum. – Solange deutsche Herzen sich regen, werden die Jugendgedichte Goethes ein unbestreitbarer Schatz deutscher Literatur bleiben. Seine Lieder »an den Mond«, sein »Nachgefühl«, seine »Neue Liebe, neues Leben«, sein »Mailied« und so viel ähnliche sind tief in das Herz des Volkes gedrungen, während wieder das ungeheuerste Werk seines Geistes – sein Faust – alle tiefgewurzelte philosophische Bestrebung – alle Sehnsucht der Erkenntnis – alle Qualen des Durstes nach Wissen dergestalt zeichnet, daß gerade hierin ein den deutschen Geist so scharf Charakterisierendes, ein so für alle Zeit als durchaus deutsch Erscheinendes sich darstellt, daß wir es wohl vergleichen dürfen den großen alten Domen, den Werken echt deutscher herrlicher Baukunst. Mag man nun zu alle diesem Glänzenden auch die schwächeren Seiten der Erscheinung hinzunehmen, ein gewisser, mitunter wirklich fast altreichsstädtischer Pedantismus, eine im Notfall ziemlich steife Repräsentation, und endlich die volle deutsche Tenazität an einmal tief aufgefaßten wissenschaftlichen, ästhetischen oder politischen Grundsätzen – so dürfen wir wohl uns vollkommen berechtigt halten, in Goethe das sublimierte Bild alles Deutschtums aus den letzten Dezennien des achtzehnten Jahrhunderts deutlichst anzuerkennen. Und doch bei alledem ist es seltsam genug! Der größte deutsche Dichter – er, der ebenso gewiß nach Jahrhunderten ein echtes Denkmal deutschen Zustandes auf der Grenze des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts sein wird, als Shakespeare uns ein Spiegelbild englischen Zustandes auf der Grenze des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts bleibt – er, der so ganz eigentlich als poetische Blüte aus der besonderen Blätterfülle Deutschlands hervorgewachsen ist – er wird in der jetzigen deutschen Welt großenteils für einen undeutschen Dichter gehalten, er wird – weil ihm – ihm, der im Egmont meisterhafter als irgendein neuerer Dichter das demokratische Prinzip dem monarchischen gegenüberstellte – die demokratisch-konstitutionellen Richtungen des Tages fremd scheinen, fast als verschollen und abgetan ausgerufen!
Seltsam! – Und wie denn das Leben seine Wogen so gleich dem großen Golfstrom des Atlantischen Ozeans immer in wunderlichen Kreisen so fort und fort zieht, und wie unmerklich die eine Richtung hinwiederum die andere gebiert, so kam denn auch in Goethe selbst zuweilen eine hypochondrische Stimmung vor, die ihn wieder gewissermaßen an seiner Wirkung auf Deutschland verzweifeln ließ. – Jenes Epigramm hat mir immer als der entschiedenste Ausdruck hiervon gegolten, wo es heißt:
»Vieles hab ich, versucht, gezeichnet, in Kupfer gestochen,
Öl gemalt, in Ton hab ich auch manches gedruckt,
Unbeständig jedoch, und nichts gelernt noch geleistet;
Nur ein einzig Talent bracht ich der Meisterschaft nah:
Deutsch zu schreiben. Und so verderb ich unglücklicher Dichter
In dem schlechtesten Stoff leider nun Leben und Kunst.«
Das alles schadet aber nichts! – Goethe bleibt für Deutschland unverloren und Deutschland für ihn! Es war seine Bedeutung für die Menschheit, das poetische Element seines Volkes und seiner Zeit in höherer Konzentration darzustellen,– so zieht der konvex geschliffene Kristall das zerstreute Licht in den leuchtenden Brennpunkt zusammen – und wie sehr dies poetische Luftbild oder Lichtbild wieder rückstrahlend auf die Menschheit gewirkt hat, zeigt sich in tausendfachen Richtungen, ja diese Wirkung ist noch nicht beschlossen, sondern sie klingt fort und fort, und wie Shakespeare und wie die Griechen noch nach Jahrhunderten und Jahrtausenden auf so unzählige feiner organisierte Gemüter wirken, so hat Goethes Wirkung eigentlich nur erst angehoben, aber von Beendigung kann nach irgendeinem Zeitmaße durchaus nicht die Rede sein. – Es ist überhaupt mit Bestimmtheit auszusprechen: die Wirkung eines wahrhaft großen Dichtergeistes sei durchaus ganz unberechenbar! – Wer will denn sagen, was alles in dem Gange der Weltgeschichte nach solchen Einflüssen sich umgestaltet habe! Was in einzelnen tatkräftig einwirkenden Geistern bald die Griechen, bald Dante, bald Shakespeare angeregt oder geschaffen haben können!– Hätte Alexander seine großen Züge durch Asien vollführt, ohne daß Homers Gesang vom Achill ihn begeisterte! – Und ohnfehlbar, je feiner, intelligenter und sensibler das fortschreitende Zeitalter die Menschheit gestaltet, um so mächtiger muß die Einwirkung der Poesie werden! – Schon das, was man im eigentlichen Sinne des Wortes die Stimme der Menschheit nennen kann, die Sprache (denn die ursprüngliche Stimme des Einzelnen ist eigentlich nur der Laut) wird wesentlicher durch Dichter als durch Gelehrte fortgebildet; – und wie außerordentlich ist die Einwirkung Goethes auf die Sprache deutschen Menschheitsstammes! – Gleich Dante, welchem die italienische Sprache ihre höhere innere Ausbildung verdankt, hat Goethe, aber weit vielseitiger, auf die deutsche Sprache gewirkt. Welche Masse neuer Wortformen und tief poetisch erfaßter Wortzusammensetzungen, wieviel neu versuchter oder durch ihn zuerst in ihr Recht eingesetzter Dichtungsweisen! Und wie groß die Einwirkung auf andere Dichter, ja in dieser Hinsicht selbst auf Schiller, durch welche alle sodann der innere Reichtum und die feine Gefügigkeit der Sprache dergestalt vermehrt wurde, daß in unseren Tagen die Rede fast von selbst sich zum Gedichte rundete und Schiller ganz recht hat (obwohl es ganz vergebens gesagt ist), dem Dilettanten zuzurufen:
»Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein?« –
Wollen wir dies alles beachten, so wird Goethes mächtige Einwirkung auf Menschheitleben klar genug vor uns liegen und in ihrer inneren organischen Notwendigkeit erkannt sein. Natürlich meinen wir damit gar nicht, daß sie deshalb in allen Einzelnen eine durchaus fördernde und wohltuende gewesen sei, wie etwa von Homer und von Sophokles gesagt werden könnte! – Der Moderne wird sich immer dadurch von dem Antiken unterscheiden, daß mehr Krankheit mit unterläuft, daß viele Wirkungen von krankhaften Zuständen ausgehen! – Wer wollte behaupten, daß die Einwirkung des Werther auf die Masse eine überall veredelnde und beglückende gewesen sei? – Selbst die Wahlverwandtschaften wirkten mehr stoffartig und aufregend, als, wie sie sollten, zum tiefern Nachdenken über Lebensverhältnisse leitend – und so hoch auch der Standpunkt war, auf welchen der Faust die Mitlebenden führen sollte, so haben doch vielleicht Tausende mehr Verzweiflung als Förderung daraus schöpfen müssen. Dafür haben andere Tausende wieder höchstes Genügen, Freudigkeit des Daseins und Anregung zu reinem Bestrebungen diesem merkwürdigen Geiste zu danken, und wenn uns jetzt dieses alles deutlicher geworden ist, so möchten wir vielleicht nur darüber unsern Gedanken Raum geben, daß wir zu verfolgen versuchen, wie das Bewußtsein dieser weitverbreiteten Wirkung auf Goethe selbst eigentümlich rückgewirkt habe. – Begreifen kann man vielleicht diese Wirkung am besten, wenn man von dem Gegensatze ausgeht, das heißt, wenn man die Stimmung beachtet, wie sie in so manchen unserer Tagesschriftsteller herrscht, welche gleich den Ephemeren in den warmen Abenden des Augustmonats nur vorübergehend die Luft erfüllen, um dann rettungslos dem Lethe, wie diese Ephemeren den Fischen der Flüsse, zur Beute zu werden. In ihnen mischt sich auf seltsame Weise die Bitterkeit der Empfindung einer raschen Vergänglichkeit mit der Süßigkeit der Eitelkeit, ein augenblickliches Aufsehen erzeugt zu haben, und so entstand dann leicht ein Mißbehagen im Ganzen, welches durch Unzufriedenheit, zerrissenes Wesen und eine gewisse feindliche Gesinnung gegen Menschen und zunächst gegen ihr Vaterland und ihre Verhältnisse sich kundgibt. – So vieler sogenannter Weltschmerz unserer Tage hat nur diesen zweideutigen Ursprung! – Von dergleichen krankhaften Gefühlen hat nun der Kern Goethescher Poesie und Goetheschen Lebens sich durchaus frei erhalten! – Die schöne Milde seines höheren Alters, die Klarheit und das Braminenhafte feiner Lebensweisheit hielten ihn in einer andern und höhern Region. Er fühlte es, daß die Glückseligkeit, die er in jungen Jahren sich ersehnt hatte, »mit den Besten seiner Zeit gelebt« und ihnen wahrhaft Genüge getan zu haben, ihm im Alter im vollen Maße zuteil geworden sei, und dies gibt ihm jene Ruhe, jene Heiterkeit des Daseins und Wirkens, welche der Menschheit aus seinen Werken noch in späte Zeiten sich fühlbar machen kann, ja für immer sich fühlbar machen wird.
Es ist, um diese eigentümliche Stimmung auf der letzten Höhe des Lebens recht zu verdeutlichen, erst kürzlich noch ein sehr merkwürdiger Beitrag in einem Goetheschen Briefe uns zu Händen gekommen. Dieser Brief, geschrieben an Wilhelm von Humboldt noch nicht ganz vier Monate vor seinem (Goethes) Tode, enthält folgende merkwürdige Stelle:
»Darf ich mich im alten Zutrauen ausdrücken, so gesteh ich gern, daß in meinen hohen Jahren mir alles mehr und mehr historisch wird; ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen, oder mir ganz nah räumlich im Augenblicke vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich; und da mir meine gute Tochter Abends den Plutarch vorliest, so komm ich mir oft lächerlich vor, wenn ich meine Biographie in dieser Art und Sinn erzählen sollte.« Der Brief ist abgedruckt in der neuen Jenaischen allgem. Lit.-Zeitung 2. Jahrg. Nr. 2 zum 3. Jan. 1843.
In diesen wenigen Worten liegt ein sehr großer – ich möchte sagen, ein in gewisser Beziehung übermenschlicher Sinn! – Wie man von wahrhaft großen Werken sagen darf: »sie seien zeitlos« – im recht eigentlichen Gegensatz zu denen, welche vom Tage geboren, auch sofort vom Abend verschlungen werden, und welche durch und durch zeitlich genannt werden müssen, so tritt auch hier in einem gelegenheitlichen Briefe plötzlich aus der Tiefe der Seele eines auf Erden vollkommen gereiften Genius ein Gedanke hervor, von welchem wir deshalb sagen müssen, er greife über das gewöhnliche Menschliche hinaus, weil er diesen Menschen gewahren läßt als einen aus Zeit und Raum Hinausgerückten, als einen Seienden und doch nicht bloß in der Gegenwart Seienden, sondern einen das Gefühl der Ewigkeit in sich Aufnehmenden, als einen Einzelnen und doch zugleich als eine Gesamtheit, als einen tief in sich Schauenden und doch zugleich als einen Außersichseienden. – Dergleichen geschieht aber immer nur auf der Höhe der Menschheit. – Ich hatte kaum jenen Brief Goethes gelesen, als mir etwas ganz Ähnliches aus einem Briefe Mozarts in die Gedanken kam; dieser sagt, als er von seiner Art zu komponieren an einen Gönner schreibt: »Das erhitzt mir nun die Seele (nämlich die halb unwillkürliche Ansammlung musikalischer Gedanken) da wird es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ichs hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen.« Musikalische Zeitung 1815. Nr. 34 – Wie hier in der Seele Mozarts das Zeitlose sich geltend macht, indem es ihm die Möglichkeit gibt, Melodien, welche eigentlich nur in einer gewissen Zeit am Geiste vorüberzugehen pflegen, auf einmal, und wie ein einziges harmonisches Moment zu erfassen, so ist dort in der Seele Goethes dasselbe Moment wirksam, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich vollkommen innerhalb der Idee der Menschheit zu empfinden. – Gerade in dieser Beziehung daher durfte ich jenen Brief als einen sehr merkwürdigen Beitrag ansehen für das, was mich hier eben beschäftigen sollte –nämlich Goethes Beziehung zur Menschheit zur hellern Anschauung zu bringen; und gewiß, denkt man jener merkwürdigen Stelle recht nach, so wird man darin ein Gefühl des Aufgehens in der Menschheit gewahr, welches zwar einem wahrhaft großen und zum vollen Bewußtsein der Lebensreife gekommenen Geiste niemals fehlen kann und auch wohl nie wirklich gefehlt hat, von welchem aber doch vielleicht gesagt werden darf, daß es noch nie auf diese eigentümlich klare und doch fast bewußtlose Weise ausgesprochen worden ist, als eben in jenen Worten von Goethe.
Ich beschließe hiermit die Betrachtungen, welche zur Vervollständigung eines Bildes von Goethes eigentümlichen Wesen ich meinen Lesern vorzuführen die innere Nötigung empfunden hatte. – Ich fürchte nicht, daß in irgendeinem, der dem Sinne dieser Schilderungen aufmerksam nachgegangen ist, der Gedanke aufsteigen könnte, es solle hier nur von Lobpreisungen und von einem willkürlichen Anhäufen rühmender Prädikate die Rede sein; – nein! – ich habe ihn zu schildern versucht, wie ich als Naturforscher gewohnt bin, irgendein bedeutendes organisches Wesen – eine Pflanze, eine Palme, einen Adler, einen Löwen – zu betrachten und schildernd darzustellen; d. h. ich habe zu zeigen versucht, was »Er« geworden und wie er gerade »Das« werden konnte. – Wir sind nicht gewohnt, in naturwissenschaftlichen Darlegungen uns ausführlich auch darüber auszulassen, was ein Geschöpf nicht geworden ist und was es eben seiner Natur nach nicht sein konnte, und so würde ich es auch für eine sehr unnütze Arbeit halten, hier darauf einzugehen, daß gezeigt werde, was Goethe nicht geworden ist, daß er kein großer Mathematiker, daß er kein großer Zeichner war, daß er kein großer Jurist geworden, daß er kirchlichen Ansichten nicht in dem Sinne der Theologen zugetan war und dergleichen mehr. – Ebensowenig bemühen wir uns, in Naturbeschreibungen zu zeigen, warum der Adler nicht die Augen vom Vogel Minervens hat, und warum der Eichbaum keine Palme ist, sondern wir halten uns befriedigt, wenn von jedem Wesen gezeigt wurde, wie es entstanden, welches die eigentümliche Gliederung seines Baues sei und worin die wunderbare und eigenschöne Harmonie besteht, vermöge welcher es gerade zu dem wurde, als was es uns in seiner Vollendung erscheint. – So also – ganz rein physiologisch – und nur von der Freude erfüllt, welche es uns eben immer gewähren muß, eine einen besondern Gottgedanken rein verwirklichende Persönlichkeit zu betrachten – habe ich Goethe schildern wollen und so habe ich ihn geschildert. Daß die Menschennatur eine bedeutende sein mußte, welche im zwanzigsten Jahre schon den Faust begann, welche im vierundzwanzigsten den Werther und im fünfundzwanzigsten den Götz von Berlichingen vollendete, und aus welcher vor dem zwanzigsten Jahre schon Sachen wie die Mitschuldigen hervorgegangen waren, konnte freilich hierbei nicht unausgesprochen bleiben, aber von einer Absicht, ihn zu loben, fühle ich mich dabei vollkommen frei. – Ich darf vielmehr sagen: ich habe bei diesen Zergliederungen und bei diesem Anschauen, womit manche stille, einem bewegten Leben oft nur mühsam abgewonnene Stunde ausgefüllt wurde, in Wahrheit ganz die Freude empfunden, die mir sooft geworden, wenn ich einer merkwürdigen Pflanzenbildung, einer feinen und seltsamen Tierentwicklung mit Treue und Sorgfalt nachspürte; eine Freude, die bei solchen Dingen, gleichwie bei der wunderbaren Natur Goethes, zuletzt nur darin begründet sein kann, daß in beiden dasselbe Waltende, Webende und Schaffende erkannt und beseligend empfunden werden muß, nämlich der auf solche Weise sich verkörpernde und zeitlich hier unbewußt, dort mit Bewußtsein sich darlebende Gedanke eines und desselben höchsten göttlichen Urwesens.