Karl Capek
Der gestohlene Kaktus und andere Geschichten
Karl Capek

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Gericht des Herrn Havlena

»Wenn schon von Zeitungen die Rede ist«, sagte Herr Beran, »so möchte ich Ihnen auch etwas erzählen: Sie wissen doch – die meisten Leser schlagen, wenn sie ihr Blatt in die Hand nehmen, vor allem andern den ›Gerichtssaal‹ auf. Man weiß bis heute nicht, ob das auf die verborgenen verbrecherischen Instinkte der Menschen oder auf ihr Bedürfnis nach Befriedigung ihrer Moral und ihres Rechtsempfindens zurückzuführen ist.

Sicher ist, daß nichts so leidenschaftlich gelesen wird wie die Prozeßberichte. Einen Tag ohne Gerichtsfall darf es also für eine Zeitung nicht geben. Nun gibt es aber doch, wie Sie wissen, die Zeit der Gerichtsferien. Die Gerichte sind geschlossen, aber in der Zeitung darf die Spalte ›Aus dem Gerichtssaal‹ auch da nicht fehlen. Dann kommt es auch vor, daß sogar in der Saison an einem Tag, an dem verhandelt wird, kein einziger interessanter Fall vorliegt, der Gerichtssaalberichter aber muß einfach seinen interessanten Fall haben, woher er ihn nimmt, danach wird nicht gefragt. Was soll so ein Mann tun? Er muß sich seine Fälle geradezu aus den Fingern saugen. Es gibt eine richtige Börse für solche erfundene Gerichtsfälle, dort wird verkauft, gekauft, geborgt, getauscht; die Leihgebühr besteht in zwanzig Zigaretten oder ähnlichem. Ich kenne dieses Geschäft; bei meiner Quartierfrau wohnte einmal so ein Gerichtssaalberichterstatter; ein Säufer war er, ein Schlampsack, aber im übrigen sehr begabt und viel zu schlecht bezahlt.

In dem Kaffeehaus, in das die Gerichtssaalreferenten gewöhnlich gingen, tauchte eines Tages ein neuer Mann auf, ein merkwürdiger Kerl, schäbig, dreckig und aufgedunsen. Er hieß Havlena und war ein verbummelter Jusstudent, eine verkommene Existenz. Niemand wußte, wovon er eigentlich lebte, nicht einmal er selbst konnte es sagen. Dieser Havlena also, dieser Tagedieb, war eine merkwürdige Mischung aus Begabtheit für Verbrechen und für Jurisprudenz. Gab ihm einer der Journalisten eine Virginia und ein Bier, so kniff er die Augen zusammen, tat ein paar Züge und erzählte den schönsten und sensationellsten Kriminalfall, den man sich nur vorstellen kann. Dann skizzierte er die Hauptstützpunkte der Verteidigung und die entsprechende Replik des Staatsanwaltes, und schließlich sprach er im Namen der Republik das Urteil. Wenn er fertig war, schlug er, als erwachte er aus einem Traum, die Augen auf und brummte: ›Und jetzt pumpen Sie mir fünf Kronen.‹

Einmal machten die Leute mit ihm ein Experiment. Und er ersann tatsächlich in einer Sitzung einundzwanzig Strafsachen, eine schöner als die andere. Erst bei der letzten besann er sich einen Augenblick, dann sagte er: ›Halt, dieser Fall gehört weder vor den Einzelrichter noch vor den Senat; für den ist das Geschworenengericht zuständig, und Schwurgerichtssachen mache ich nicht.‹ Er war ein grundsätzlicher Gegner der Schwurgerichte. Aber eines mußte man ihm lassen: seine Urteile waren streng, aber juristisch prachtvoll fundiert. Darin lag sein größter Ehrgeiz.

Als die Journalisten diesen Havlena entdeckt hatten und die Beobachtung machten, daß seine Fälle viel weniger alltäglich und weniger öde waren als diejenigen, die sich in der Wirklichkeit des Karlsplatzes abspielten, schlossen sie mit ihm sozusagen einen Kartellvertrag: für jeden von ihm erdachten Fall erhält Herr Havlena die sogenannte Gerichtstaxe, d. i. eine Virginia und zehn Kronen, außerdem für jeden Monat von ihm verhängter Strafe zwei Kronen. Denn je größer die Strafe, um so schwerer der Fall. Nie vorher wurde die Gerichtssaalrubrik mit solcher Gier verschlungen als zu der Zeit, da Havlena die Fälle lieferte. Heute sind die Zeitungen längst nicht mehr das, was sie damals waren; jetzt finden Sie in den Blättern nichts als Politik und Presseauseinandersetzungen. Wer soll das lesen?

Einmal nun fiel dem Havlena der folgende Fall ein – er hatte schon weit bessere erfunden, aber die hatten weiter keine Folgen nach sich gezogen, bei diesem aber flog die Geschichte auf. Die Sache war in Kürze diese: Ein alter Junggeselle lebte auf Kriegsfuß mit einer ehrenwerten Witwe, die auf dem gleichen Gang ihm gegenüber wohnte. Er schaffte sich einen Papagei an und brachte ihm bei, immer, wenn die Nachbarin auf diesem Gang erschien, aus vollem Halse ›Du Schlampe!‹ zu schreien. Die Witwe verklagte den Herrn wegen Ehrenbeleidigung. Das Bezirksgericht erkannte, daß der Beklagte die Privatklägerin durch den Papagei dem öffentlichen Gespött preisgegeben habe und verurteilte ihn im Namen der Republik zu vierzehn Tagen Gefängnis mit Bewährungsfrist und zur Tragung der Kosten. ›Ich bekomme elf Kronen und die Virginia‹, schloß Havlena die Verhandlung.

Dieser Fall des Herrn Havlena erschien in fünf oder sechs Zeitungen, freilich in unterschiedlichen journalistischen Aufmachungen. In einer Zeitung führte er den Titel: ›Im stillen Haus.‹ In einem zweiten Blatt lautete die Schlagzeile: ›Der Hausherr und die arme Witwe.‹ Ein drittes schrieb: ›Der angeklagte Papagei‹ – und so weiter. Eines Tages aber erhielten sämtliche Zeitungen, die den Fall gebracht hatten, eine Zuschrift des Justizministeriums: ›Das unterfertigte Ministerium ersucht um Mitteilung, vor welchem Bezirksgericht sich der in Nummer so und so Ihres geschätzten Blattes angeführte Ehrenbeleidigungsprozeß abgespielt hat. Das angeführte Erkenntnis ist, sowohl was die Verschuldensfrage als auch was das Urteil selbst betrifft, nichtig sowie gesetzwidrig, da es nicht der Angeklagte war, der sich den inkriminierten Ausspruch zuschulden kommen ließ, sondern der Papagei. Es läßt sich also keineswegs als erwiesen annehmen, daß sich die Äußerung besagten Vogels zweifelsfrei auf die Klägerin bezogen hat . . . Demnach‹, ging es weiter, ›könne besagter Ausspruch nicht als Ehrenbeleidigung angesehen werden, sondern äußerstenfalls als grober Unfug oder als Erregung öffentlichen Ärgernisses, welch beide Vergehen lediglich mit einer polizeilichen Verwarnung zu ahnden wären, mit einer Ordnungsstrafe oder mit einer Aufforderung, besagten Vogel zu entfernen. Das Justizministerium wünsche deshalb festzustellen, welches Bezirksgericht sich mit diesem Streitfalle beschäftigt habe, um eine entsprechende Untersuchung einzuleiten . . .‹ und so weiter, wie es eben bei einer richtigen Amtsaffaire weiterzugehen hat.

›Jesus Maria, da haben Sie uns was Schönes angerichtet, Herr Havlena!‹ fuhren die Gerichtssaalberichterstatter auf ihren Lieferanten los. ›Da – sehen Sie nur, Ihr Urteil in der Papageienaffaire ist nichtig und gesetzwidrig!‹

Havlena wurde weiß wie eine Wand. ›Was?‹ schrie er, ›gesetzwidrig soll mein Urteil sein? Zum Teufel, so etwas wagt das Ministerium zu behaupten? Von mir? Von Havlena?!‹ Die Journalisten erzählten mir, sie hätten nie einen tiefer beleidigten und aufgeregteren Menschen gesehen. ›Na, die werden schauen!‹ brüllte Havlena außer sich. ›Denen werde ich noch zeigen, ob mein Urteil gesetzwidrig ist oder nicht! So was kann ich mir nicht gefallen lassen!‹

Vor Gram und Ärger soff er sich sofort sternhagelvoll, dann ließ er sich einen Bogen Papier geben und schrieb eine ausführliche juristische Analyse des Falles, die zur Stützung seines Urteils diente: dadurch, daß der Herr seinen Papagei lehrte, die Nachbarin zu beschimpfen, habe er den Vorsatz deutlich bekundet, sie zu beleidigen und herabzusetzen; der Dolus sei mithin unverkennbar; der Papagei sei nämlich nicht Subjekt, sondern nur das Instrument zur Herbeiführung besagten Deliktes gewesen . . . und so fort. Es soll die großartigste und spitzfindigste juristische Abhandlung gewesen sein, der die Journalisten in ihrem Leben begegnet waren. Er unterschrieb die Eingabe mit J.U.C. Wenzel Havlena, m.p. und schickte sie an das Justizministerium. ›Solange das nicht erledigt ist‹, erklärte er hart, ›werde ich keine Urteile mehr fällen; ich muß erst Satisfaktion erhalten.‹

Das Justizministerium dachte natürlich nicht daran, auf Havlenas Zuschrift zu reagieren. Havlena lief indessen verbittert herum, übel gelaunt, er magerte sogar ab und verkam immer mehr. Als er schon aufhören mußte, mit einer Antwort des Ministeriums zu rechnen, wurde sein Aussehen nachgerade unheimlich, mit irrem Blick spuckte er schweigend vor sich hin, führte aufreizende Reden, und endlich erklärte er: ›Passen Sie auf, jetzt werde ich den Leuten zeigen, wer Recht hat.‹

Zwei Monate lang ließ er sich nicht blicken, dann aber erschien er plötzlich angeheitert und strahlenden Blickes und meldete: ›Also, endlich ist die Klage gegen mich eingereicht worden. Verdammte alte Schachtel. Uff, hat das eine Arbeit gegeben, sie dazu zu kriegen! Man sollte nicht glauben, wie friedliebend so ein altes Frauenzimmer sein kann! Ich mußte ihr sogar einen Wisch unterschreiben, daß ich auf jeden Fall ihre Kosten bezahle . . . Aber jetzt, Kinder, kommt die Sache vors Gericht!‹

›Was für eine Sache?‹ fragten die Journalisten.

›Die Geschichte mit dem Papagei, natürlich‹, meinte Havlena. ›Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich die Sache nicht auf sich beruhen lasse. Ich habe mir also einen Papagei gekauft und ihm hundertmal vorgesagt: »Du Schlampe! Du scheußliche alte Schachtel!« Leute, das war eine Viechsarbeit! Sechs Wochen lang habe ich kein menschliches Wort gesprochen als nur: »Du Schlampe! Du scheußliche alte Schachtel!« Jetzt kann es der Papagei schon ausgezeichnet, nur daß der verfluchte Ochse gar nicht aufhören will damit; und er will sich nicht und nicht angewöhnen, es nur meiner Nachbarin und sonst niemandem über den Hof zuzuschreien. Die ist ein altes Weib, eine Musiklehrerin aus besserer Familie, eine brave Person. Aber bei uns im Haus gibt es kein anderes Weibsbild, und so mußte ich sie eben für meine Zwecke nehmen. Wissen Sie, sich so einen Fall auszudenken ist kinderleicht, aber ihn auszuführen, Herrgott noch einmal, ist das eine Arbeit! Ich konnte es dem Kerl von einem Papagei nicht und nicht beibringen, daß er nur sie zu beschimpfen hatte. Er beschimpft ganz einfach jeden. Ich glaube, er tut es aus Bosheit.‹

Havlena tat einen tiefen Schluck und fuhr fort: ›Ich mußte die Sache also anders anpacken. Sobald sich die alte Jungfer am Fenster oder auf dem Hof zeigte, riß ich rasch das Fenster auf und der Papagei schrie: »Du Schlampe! Du scheußliche alte Schachtel!« Dann machte ich das Fenster schnell wieder zu, und so war es gewissermaßen nur sie, die er beschimpfte. Die Alte aber lachte darüber und rief nur: »Ach, Herr Havlena, haben Sie aber einen herzigen Vogel!«‹

›Der Schlag soll die Alte treffen!‹ knurrte Herr Havlena weiter. ›Volle vierzehn Tage lang mußte ich auf sie einreden, bis sie damit einverstanden war, mich zu verklagen. Aber das ganze Haus ist Zeuge. Und jetzt wird die Sache also vor Gericht ausgetragen!‹ Herr Havlena rieb sich die Hände. ›Das müßte schon verhext sein, wenn sie mich nicht wegen Ehrenbeleidigung verurteilen! Das schenke ich ihnen nicht, den Herrschaften oben im Ministerium!‹

Bis zum Tag der Verhandlung soff Havlena wie ein Bürstenbinder, und seine Erregung und Ungeduld waren unerträglich. Vor Gericht aber betrug er sich ungemein würdevoll, hielt selbst eine messerscharf zugespitzte Rede gegen seine Person, berief sich hiebei auf alle Mitbewohner des Hauses, mit Bezugnahme auf das öffentliche Ärgernis, und beantragte strengste Bestrafung. Der Richter, ein rechtschaffener alter Herr Rat, kraute sich den Bart und erklärte, er müsse den Papagei hören. Er vertagte also die Verhandlung und trug dem Herrn Angeklagten auf, den Vogel als Corpus delicti respektive als Zeugen zum nächsten Termin mitzubringen.

Herr Havlena erschien also zur nächsten Verhandlung mit Käfig und Papagei. Als der Papagei das erschreckte Fräulein Schriftführerin erblickte, rollte er mit den Augen und schrie aus vollem Halse: ›Du Schlampe! Du scheußliche alte Schachtel!‹

›Das genügt mir‹, sagte der Herr Rat. ›Aus der Aussage des Papageis Lory geht hervor, daß die von ihm ausgestoßenen Beschimpfungen sich nicht in direkter und zweifelsfreier Weise auf die Privatklägerin bezogen haben.‹

Der Papagei sah ihn an und kreischte: ›Du Schlampe!‹

›Es steht vielmehr fest‹, fuhr der Richter fort, ›daß er die inkriminierten Ausdrücke allen Personen gegenüber, sogar ohne Unterschied des Geschlechtes verwendet. Es fehlt die beleidigende Absicht, Herr Havlena.‹

Wie von einer Tarantel gestochen, fuhr Havlena auf.

›Herr Rat‹, protestierte er aufgeregt, ›der Dolus besteht darin, daß ich das Fenster immer wieder nur geöffnet habe, wenn der Papagei Gelegenheit hatte, direkt und ausschließlich die Frau Privatklägerin zu beschimpfen!‹

›Die Sache ist nicht einfach‹, erklärte der Herr Rat. ›In diesem Öffnen des Fensters mag ja ein gewisser Dolus liegen, aber das Öffnen eines Fensters bildet an sich nicht den Tatbestand der Beleidigung. Ich kann Sie doch nicht verurteilen, weil Sie von Zeit zu Zeit das Fenster aufgemacht haben. Sie können nicht schlüssig nachweisen, Herr Havlena, daß Ihr Papagei auch wirklich die Frau Privatklägerin gemeint hat.‹

›Aber ich habe sie gemeint‹, kämpfte Havlena weiter.

›Möglich, aber kein Zeuge kann darüber etwas sagen‹, wendete der Herr Rat ein. ›Sehen Sie, aus Ihrem Mund hat niemand die inkriminierten Ausdrücke gehört. Es hilft nichts, Herr Havlena‹, und er setzte sich das Barett auf, ›es hilft nichts, ich muß Sie freisprechen.‹

›Ich erhebe Nichtigkeitsbeschwerde und lege Berufung gegen den Freispruch ein!‹ schrie Havlena, griff nach dem Vogelkäfig und rannte wütend aus dem Verhandlungszimmer; ein Wunder, daß er nicht weinte.

Wir sahen ihn dann noch manchmal, immer betrunken und immer in tiefer Verzweiflung. ›Sagen Sie, Herr‹, schluchzte er, ›heißt das noch Gerechtigkeit? Gibt es noch ein Recht auf der Welt? Aber ich gebe keine Ruhe. Ich treibe die Sache bis zur letzten Instanz! Ich muß Satisfaktion bekommen. Jawohl, meine Herren! Und wenn ich bis zu meiner letzten Stunde prozessieren müßte . . . Es geht ja nicht um mich, es geht um das Recht!‹

Wie die Sache von Seiten der Berufungsinstanz entschieden wurde, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß schließlich der Oberste Gerichtshof die Sache im Revisionsverfahren einfach abwies.

Nun blieb Havlena verschwunden, als hätte der Erdboden ihn verschluckt. Es gibt Leute, die ihn wie einen Schatten durch die Straßen irren gesehen und etwas vor sich hinmurmeln gehört haben wollen. Überdies heißt es, daß noch heute mehrmals im Jahr umfängliche und flammende Beschwerdeschriften in der Angelegenheit ›Beleidigung, begangen durch einen Papagei‹ beim Justizministerium einlaufen. Aber die Belieferung der Gerichtssaalberichterstatter mit Straffällen hat Herr Havlena vollkommen eingestellt. Vermutlich weil sein Glaube an Recht und Gerechtigkeit erschüttert war.«


 << zurück weiter >>