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»Mein Sohn Werner!« sagte die Matrone. »Die Damen sind so freundlich, zu erlauben, daß ich dich ihnen vorstelle. Frau Theresia Schneppe und Fräulein Wilma Schneppe – wenn ich recht verstanden habe.«
»Ganz recht, Frau Rodek. Freue mich unendlich, Herr Baumeister – habe schon von dem schönen neuen Theater gehört, das Sie entworfen haben und jetzt ausführen. Die Pläne natürlich. Habe auch schon Abbildungen gesehen. Sehr schöne Gotik.«
»Renaissance, wollen die gnädige Frau sagen.«
»Renaissance, natürlich, Renaissance. Ich verspreche mich immer; zum Glück habe ich Wilma, die mich jedesmal korrigiert. Meine Tochter interessiert sich sehr für alle schönen Künste, besonders für Architektur. Sie hat auch das Buch – wie heißt doch das Buch, Wilma?«
»Lübke – aber du merkst dir auch gar nichts, Mama!«
»Richtig, Lübke, Lübke – den hat sie gelesen. Und sie zeichnet selbst auch. Heutzutage müssen die Mädchen ja alles mögliche können. Hast du deine Zeichnungen nicht da, Wilma? Du solltest sie doch Herrn Rodek zeigen, er würde dir gewiß an die Hand gehen, wenigstens was die Bauwerke betrifft. Ich sage, man muß sich immerwährend beschäftigen; meinen Sie nicht auch, Frau Rodek? Das Leben, wie es gewisse Damen hier im Bade führen, ist in der Tat unbegreiflich. Es heißt wirklich dem lieben 220 Herrgott den Tag abstehlen. Ich will keine Namen nennen.«
Die Matrone, welche von ihrer Tischnachbarin, als sie sich von der Tafel erhoben, so ganz in Beschlag genommen worden war, suchte auch diese Ungenannten milde zu entschuldigen und fand mit der Bemerkung, daß ein Bad ja doch eigentlich zur Erholung und zeitweiligen Unterbrechung der gewöhnlichen Beschäftigung dienen solle, die lebhafteste Zustimmung. Daß dieselbe nicht ganz im Einklang mit ihrer früheren Äußerung stand, beirrte Frau Schneppe nicht im geringsten. Sie sprach gern und viel, da blieb von einem Satz zum andern nicht sonderlich Zeit zur Überlegung. Der bedurfte sie aber auch nicht, da es ihr weniger darauf ankam, die eigne Meinung als vielmehr die ihrer jedesmaligen Zuhörer zu äußern, mit denen sie sich in Harmonie zu wissen liebte.
Ihr Äußeres verriet dazu keineswegs etwas von dieser anschmiegsamen Natur, wenn man von der Toilette absah, welche in ihrer etwas barocken Zusammenstellung Konzessionen an alle Extravaganzen der Mode zeigte. In dem von nicht gerade wunderwirkender Hand zusammengekünstelten Flitterstaate bewegte sich eine hagere und eckige Gestalt mit nichts weniger als einnehmenden Zügen, die sich – durch die Jugend kaum gemildert – auch auf die Tochter vererbt hatten. Ebenso mager, ebenso seltsam kostümiert, unterschied sich diese von der Mutter nur durch das in offenen Wellen getragene strohgelbe Haar, das für das krankhaft blasse, mit Sommersprossen übersäte 221 Gesicht den möglichst ungünstigsten Hintergrund abgab. In der Redefertigkeit blieb sie, wie in allem andern, nicht hinter ihrer Mutter zurück. Das Zünglein war wohl noch um eine Nuance schärfer geschliffen, wenn man nach der momentanen Paralleläußerung schließen durfte.
Unzweifelhaft nämlich hatte Wilma dieselben gewissen Damen wie ihre Mutter im Auge, als sie sich zu dem ihr eben erst Vorgestellten neigte und mit einem lächelnden Zwinkern, das unverzüglich ein vertrauliches Einverständnis herstellen sollte, ihm zuflüsterte:
»Wie hat Ihnen das Beispiel von exklusivem Koteriewesen gefallen, das sich hier breitmacht? – Ach, es war wirklich zu nett, wie Sie es ihnen gegeben haben! Ich habe mich so gefreut und das Lachen kaum verbeißen können. Am liebsten hätte ich in die Hände klatschen mögen. Gerade dieser Prinzessin Rührmichnichtan habe ich es so sehr gegönnt.«
Werner Rodek hörte aber in diesem Augenblicke nicht auf den gespendeten Beifall, sondern auf die an sein Ohr schlagende Bemerkung, die auf ihn selbst gemünzt war. Er hatte in der Tat kein Wort verloren, hielt es aber unter seiner Würde, darauf Rücksicht zu nehmen. Ein Schatten glitt über seine Stirn, und sein ernstes, klares Auge blickte eine Sekunde lang so hart und drohend, daß Fräulein Wilma, die im Eifer ihrer Mitteilung von dem Ausfall hinter dem Rücken des abziehenden Siegers nichts vernommen hatte, beinahe erschrak. Doch dünkte ihr der feindselige Ausdruck dieser wohlgebildeten, intelligenten 222 Züge keineswegs abstoßend, schon im nächsten Moment glaubte sie darin sogar ein Zeichen der Übereinstimmung mit ihren eignen Gefühlen erblicken zu dürfen, wiewohl der bisher festgeschlossene Mund das Schweigen nur brach, um an sie die Frage zu richten, ob es nicht angenehmer wäre, den heißen Saal zu verlassen.
»Wenn Sie vielleicht auch in das Kurhaus gehen? Ich glaube, Mama hat die Führung schon übernommen. Wir trinken dort immer Kaffee,« entgegnete sie und beeilte sich, den ihr auf diese Andeutung dargebotenen Arm anzunehmen.
Es war doch hübsch, einen so stattlichen Begleiter zu haben, und vergnügt ließ sie ihre Blicke rechts und links schweifen, um den dadurch hervorgerufenen Eindruck zu beobachten, während sie so, zwischen den Gruppen der Aufbrechenden hindurchschreitend, den Vorangegangenen folgten.
Der Kursaal war bald erreicht. Kaum einige hundert Schritte vom Freihofe entfernt, erhebt sich auf der nördlich das Tal abschließenden Anhöhe der luftige Kiosk, der den Badegästen zum Vereinigungspunkt dienen soll. Junge Gartenanlagen dehnen sich vor demselben aus, in denen zu gewissen Tageszeiten die Kurkapelle spielt. Zwischen niedrigen Bosketten hindurch blickt das Auge frei in das grüne Hochtal hinab, über die Dächer zierlicher Häuser auf saftige Wiesen, die sich von der gestreckten Sohle zwischen dunkeln Nadelwäldern an den sanften Hängen hinanziehen. Ein Bach schlängelt sich durch den Grund, weiße Straßen durchschneiden ihn, helle Häuschen sind überall ausgestreut, 223 da und dort kleine Weiler bildend, fast bis zu den Kuppen der sanften Hügel hinan, die das anmutige Idyll rings einschließen. Nur im Südwesten ragt aus ihnen der Kayen höher empor. Im Glanze der Nachmittagssonne kann es kein friedlicheres Bild geben.
Knapp neben dem Eingange in den Saal, im Schatten eines Vorsprungs, hatte die kleine Gesellschaft noch ein Plätzchen gefunden. Bald stand das blinkende Geschirr auf dem Tische, und während sich ihr Begleiter auf ein wenig zurück und aus dem Wind gerücktem Sessel, damit der Rauch nicht gegen die kranken Augen getrieben werde, seine Zigarre anbrannte, gaben sich die Damen einer eingehenden Würdigung des füglich kaum zu den Genüssen dieses Kurortes zu rechnenden Getränkes hin, das von Mokka auf das unbefugteste den Namen führte. Urteil und Begründung nahmen übrigens nicht viel mehr Zeit weg, als dazu gehörte, die Methode der Kaffeebereitung gründlich auseinanderzusetzen, welche Frau Schneppe als geborene Wienerin und daher gleichfalls geborene Kennerin für die unübertrefflichste erklärte – wobei sie nebenher auch einen kleinen Seufzer über die Provinzstadt, in der sie durch die Anstellung ihres verstorbenen Gatten zu leben gezwungen war, und auch dessen Titel und Rang mit einflocht.
Die verwitwete Frau Obersteuerinspektor blieb aber nach dieser wichtigen Mitteilung nicht lange bei der Beschäftigung mit dem lieben eignen Ich, sondern ging bald wieder zu der ihr geläufigeren mit dem Tun und Treiben und der Persönlichkeit ihrer teuren Nebenmenschen über, wobei ihrem zuweilen lückenhaften 224 Gedächtnisse eifrig durch das Töchterchen nachgeholfen wurde, welches sein Talent für die edle Malerkunst hauptsächlich im Aufsetzen der wirksamsten Schlaglichter bekundete.
Die vorgeführten Genrebilder gaben Zeugnis von der sorgfältigsten Zeitverwendung der beiden Damen, welchen es gelungen war, binnen einer verhältnismäßig kurzen Frist schon die erstaunlichste Lokalkenntnis zu erwerben. Eine Reihe artiger Anekdoten und geheimnisvoller Andeutungen schmückten die eingehenden Berichte über das bunte Badepublikum aus, und diese beschränkten sich keineswegs allein auf die Gäste des Freihofes. Es waren schon allerlei Einzeln- und Gruppenbilder aufgenommen worden, als Frau Schneppe wieder auf die Schilderung der schon einmal erwähnten und ihr sichtlich als schwerster Alp auf der flachen Brust liegenden Koterie zurückkam.
»Am ärgsten treiben es aber doch die Oxles und Boxles,« erklärte sie.
»Aber Mama,« fiel hier Wilma überlegen lächelnd ein, »sie heißen ja gar nicht so. Die eine Familie ist die des Reverends Mr. Huxley –«
»Nun ja, ich sage ja Oxle.«
»Huxley, Mama, mit einem H.«
»Ach was! – Oxles und Boxles. Ich sage einmal so, und es paßt auch ganz ausgezeichnet, und man weiß doch auch gleich, wen man damit meint. Da gehören die Sarnbergs auch dazu und Graf Marchegg und die ganze exzentrische Gesellschaft, die tut, als ob sie von Gottes Gnaden Pension erster Klasse genösse, obwohl sie nur ganz dieselben Preise bezahlen wie wir andern 225 auch. Die leibhaftige chinesische Mauer möchten sie um sich herum aufrichten, sie bilden das reine himmlische Reich der Mitte.«
»Bis auf die Damen, die wahrhaftig nicht auf den berühmten kleinen Füßen der Chinesinnen wandeln,« bemerkte Wilma dazu und hatte sich dabei so gedreht, daß der junge Architekt ihren schmalen Schuh und den dünnen Knöchel beachten mußte, wenn er nicht ein kaltherziger Barbar war.
Über seine Anschauung jedoch ließ die verhüllende Rauchwolke, die seinem Munde eben entqualmte, nicht recht zur Klarheit kommen. Die Mutter nickte dem witzigen Töchterchen beifällig lächelnd zu, ehe sie fortfuhr: »Ich versichere Sie, Frau Wegbauinspektor« . . . auch diesen Titel hatte sie schon in Erfahrung gebracht und bediente sich seiner gewissenhaft, um desto sicherer auf Reziprozität zählen zu dürfen . . . »ich versichere Sie, ich sage nicht zuviel. Sie haben den Oberkellner bestochen, daß immer wenigstens eine spanische Wand zwischen ihnen und den andern eingeschoben bleibt. Wir hätten schon früher zu ihnen hinaufrücken sollen, da setzte man aber den Herrn Justizrat dazwischen, nun ist der auch fort, dazu kam aber, daß der zweite Platz heute ebenfalls frei wurde, und so kamen Sie dazu. Haben Sie denn nicht bemerkt, in welcher Verlegenheit der Oberkellner war, er konnte sich doch nicht vor uns auf seinen Auftrag berufen. Und ich möchte nur wissen, was sie eigentlich Besonderes vorstellen wollen! Die Oxles tun so, als ob ihr Vater der Papst selber wäre, und ich glaube nicht einmal, daß er ein Bischof ist.«
226 »Hast du denn nicht gesehen, Mama, daß Miß Mary den Bischofsstab an ihrem Sonnenschirm trägt und den Klingelbeutel am Gürtel?«
»Ja, wahrhaftig, die Plüschtasche sieht ganz so aus. Es ist überhaupt merkwürdig, wie sie sich kleiden, wie Verrückte. Und die Boxles sind noch ärger, die wohnen aber nicht im Freihofe, sondern oben bei der Kirche in einem Privathause. Es heißt, Graf Marchegg soll der Ältesten die Kur machen. Von ihm läßt sich das schon glauben. Seine kranke Frau sitzt bei den Kindern zu Hause – ich bin einmal an ihrem Schlosse, unweit von Wien, vorübergefahren – und er kutschiert in den Bädern herum.«
»Vielleicht ist das die beste Kur für sie.«
»Das kann schon sein, denn das ganze Jahr sein Gefasel anhören, müßte ja den Gesundesten krank machen.«
Nun ließ sich der schweigsame Raucher endlich doch auch vernehmen:
»Nach all dem müssen Sie ja aber dem Oberkellner sehr dankbar sein für die liebevolle Vorsicht, mit der er Sie vor jeder allzu nahen Berührung jenes abgeschlossenen Kreises behütet.«
Frau Schneppe sah ihn etwas verdutzt an; sie wußte im ersten Moment nicht recht, wie das zu verstehen sei; an Ironie dachte sie jedoch nicht.
»Ja – ja – das sind wir auch – natürlich! Wir wären unglücklich, müßten wir – durch die Umstände gezwungen – in irgendein Verhältnis – in einen Verkehr treten. So sind wir ganz unabhängig.«
»Und die Unabhängigkeit ist allerdings das Beste, was sich der Mensch bewahren kann.«
227 »Man muß es nur nicht zu weit treiben,« warf sie auf diesen von ihm mit dem vollen Ernste tiefer Überzeugung getanen Ausspruch ein. »Besonders Frauen und nun gar Mädchen dürfen sie nicht so absichtlich zur Schau tragen, wie dies nur zu häufig geschieht. Wir haben davon ein leuchtendes Beispiel hier, das genug auffällt.«
»Aber das ist ja gerade der Zweck, Mama.«
»Da magst du freilich recht haben. Aber es erscheint uns nur so unverständlich. Wenn man an Bescheidenheit gewöhnt ist, so versteht man nicht, wie jemand den Mut in sich finden kann, sich so vorzudrängen und zum Zielpunkt aller Augen zu machen.«
»Dazu gehört nicht Mut, nur Unverschämtheit.«
»Da hast du auch wieder recht, mein Kind. Es fehlt der feine Takt und die wahre Noblesse der Gesinnung, die man doch beim Adel voraussetzen sollte.«
»Man wird diesen Mangel wohl nirgends verbreiteter finden als gerade in den aristokratischen Kreisen,« sagte Werner, und zwar in einer so scharfen und nachdrücklichen Weise, daß sich darin deutlich ein Gefühl verriet, das mehr dem Haß als der Verachtung glich, die sie kundgeben sollte.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Baumeister,« stimmte Frau Schleppe sofort ein. Sie tat das jedoch auch, als Frau Rodek dem strengen Urteil ihres Sohnes vermittelnd entgegentrat und ihm zu bedenken gab, daß ein so allgemeiner Ausspruch doch wohl vielen unrecht tue.
»O gewiß,« bestätigte Frau Schneppe mit der 228 Miene wohlwollendster Unparteilichkeit. »Es sind nicht alle so. Da ist zum Beispiel gleich Baron Sarnberg, das ist ein so stiller und feiner Mann; gegen den könnte man gewiß nichts einwenden.«
»Als daß er gegen Impertinenzen und Extravaganzen, die gewissermaßen unter seinem Schutze ausgeführt werden, selbst nichts einwendet.«
»Das ist freilich wahr, aber du vergißt, liebe Wilma, daß er ein kranker Mann ist.«
»Oh, ich vergess' es nicht.«
»Aber seine Frau, meinst du. Ja, es ist merkwürdig – na, die Herrschaften werden es ja sehen – wie wenig Rücksicht sie auf seinen Zustand nimmt. Er sollte immer gehen, rudern, bergsteigen, wie die andern, die doch gesund sind. Sie möchte eben auch überall mit dabei sein, denn etwas von dem tollen Blut ihrer Schwester rinnt auch in ihren Adern. Der arme Mann ist auf dem Rollwägelchen hierhergekommen und nun dürfte sie doch zufrieden sein, daß er nur wieder auf eignen Füßen geht, aber er hat keine Ruhe, und ein Rückenmarksleiden ist doch eine so gefährliche Sache. Zuletzt waren sie in Wildbad und vordem schon einen Winter am Genfersee. Der Arme soll bei einem der wilden Ritte, die seine Schwägerin zu arrangieren liebte, unglücklich gestürzt sein und sich dabei die Krankheit zugezogen haben. Ein junger Kaufmann aus Breslau hat uns das alles erzählt, er kennt die Familie genau, die dort in der Nähe begütert ist.«
»Bei Breslau?« fragte Frau Rodek mit gesteigerter Aufmerksamkeit.
229 »Glaubst du nicht, Mütterchen, daß du dir für den ersten Tag etwas zu viel zumutest? Willst du nicht auf deinem Zimmer ausruhen?« sagte ihr Sohn, in dessen Zügen sich ein wenig Unruhe verriet.
Die alte Dame jedoch beschwichtigte seine Besorgnis. Die Luft tat ihr ja so gut, und von Mattigkeit verspürte sie gar nichts. Es hatte fast den Anschein gehabt, als versuche er die unermüdliche Erzählerin von ihrem Gesprächsstoff abzulenken; wenn das aber sein Zweck wirklich war, so hatte er ihn verfehlt, denn in der Gefahr, ihre Zuhörer zu früh zu verlieren, fuhr sie nur um so lebhafter fort:
»Waren Sie vielleicht einmal in Breslau, und erinnern Sie sich, von der Familie schon gehört zu haben? Der alte Sarnberg soll unmenschlich reich gewesen sein, aber unter dem jetzigen soll es ziemlich mit dem Vermögen abgenommen haben. Nichts als Gesellschaften, Reiten, Jagen, Herumfahren, wie das so geht. Seine Frau ist's eben nicht anders gewohnt von Haus aus. Schlimmer aber noch ist ihre Schwester, die treibt es am ärgsten. Na, Sie haben ja bei Tische das Vergnügen gehabt, Fräulein Lydia kennen zu lernen.«
»Von ihrer liebenswürdigsten Seite.«
»Ja, ja,« lachte Frau Schneppe zur Randglosse ihres Töchterchens, »denn da spielte sie sich doch nur auf die große Dame hinaus.«
»Während sie sich sonst auf den Mann spielt,« warf Fräulein Wilma hier abermals ein und erhöhte dadurch die Heiterkeit ihrer Frau Mama in gleichem Maße, als sie deren Eifer schürte, sich den abspulenden 230 Faden nicht entwinden zu lassen, was sie durch eine fast ans Wunderbare grenzende Beschleunigung ihres Sprechapparats zu verhindern suchte.
Es entwickelte sich dadurch ein ganz merkwürdiges Duett zwischen Mutter und Tochter, die sich gegenseitig die Worte vom Munde wegfingen, so daß es bei der Ähnlichkeit der Stimmen für jeden, der nicht hinsah, weniger wie ein Wechselgesang als wie das ununterbrochene Abklappern einer telegraphischen Depesche klang.
»Es fehlte nur, daß sie sich den Schnurrbart wachsen ließe.«
»Der Anfang wäre schon da. Ich glaube entschieden, sie rasiert sich.«
»In ihrer ganzen Toilette affektiert sie Einfachheit und Herrenschnitt.«
»Sie trägt nur Männerhüte, das ist ja besonders pikant.«
»Und schwimmt und turnt, es ist wirklich ein Skandal.«
»Und geniert sich gar nicht, mit den Herren zu sprechen, wenn sie in ihren Ruderanzügen sind. Sie ist ganz emanzipiert.«
»Überall will sie den Ton angeben und von allen hofiert sein.«
»Und doch tut sie, als ob für sie niemand auf der Welt wäre.«
»Sie soll – denken Sie nur – in der Jugend Knabenkleider getragen haben.«
»Sie könnte es jetzt noch tun. Ich weiß nicht, was die Herren alle an ihr finden.«
231 »Man würde sie wirklich für einen Mann halten.«
»Groß und breitschultrig genug ist sie dazu.«
»Und ihr Teint wie ein Mulatte.«
»Und diese Wülste von Augenbrauen.«
»Und die Hand eines Holzknechts!«
Mama Schneppe konnte nicht umhin, über das ihr ungemein komisch erscheinende Porträt in ein entzücktes Lachen auszubrechen, und Wilma benutzte die kleine Pause dazu, nachdem sie zuvor ihre anämischen Wangen nicht selbst hatte bespiegeln können, doch wenigstens ihre dünnen, aber recht unschönen Fingerchen gehörig vor die Augen zu rücken. Dann schloß sie das so liebevoll gemalte Bildnis noch mit einem hübschen Schnörkel ab.
»Sie soll das ganze Ebenbild ihres Vaters sein.«
»Auch in Geist und Charakter,« setzte Frau Schneppe hinzu; »derselbe junge Kaufmann, der uns über die Sarnbergs orientierte, kannte auch die Familie Wingerode und hat uns über den verstorbenen Landrat gar hübsche Stückchen erzählt.«
»Wingerode,« kam es zitternd über die Lippen der alten Dame, und als dieselben den Namen fast mechanisch wiederholten, ließ sich in den bleichen und ein wenig abgehärmten Zügen eine auffällige Veränderung wahrnehmen, die nur durch den Umstand einigermaßen der Aufmerksamkeit von Mutter und Tochter Schneppe entging, daß im selben Augenblicke der brave Tuttlinger mit höflichem Anstand grüßte und ein »gutes Nachmittägle« wünschte.
Mit seiner Gattin am Arme war er, gemächlich einherwandelnd, endlich auch am Kiosk angelangt, im 232 Begriff, in denselben einzutreten, aber von ihr zurückgehalten worden.
»Weißt, mer kann doch nicht wisse,« meinte sie, »das Luschthäusle ist so gar leicht baut und könnt grad z'sammefalle, wo mer drunter sitzt.«
»Landrat von Wingerode, sagen Sie?« stammelte die Matrone, mit ihrer Hand nervös an dem Schirme nestelnd.
»Ja freilich. Die Schwestern sind Töchter von ihm. Es ist noch ein andrer Herr von Wingerode hier, Vetter Gero nennen sie ihn, das ist aber eine andre – – Mein Gott, was ist Ihnen denn, Frau Wegbauinspektor?«
»Kennen Sie vielleicht die Familie?« sprang Wilma, als sich ihre Mutter unterbrach, schnell ein, aber Werner kam jeder weitern Frage zuvor.
Er hatte den Blick fest auf seine Mutter gerichtet gehabt und war beim ersten Zeichen der eintretenden Störung aufgesprungen. Nun legte er sachte den Arm um die Schultern der alten Frau, und in weichen Tönen, die man seinem etwas tiefen und barschen Organe gar nicht zugetraut hätte, forderte er zur Rückkehr in den Gasthof auf.
»Siehst du, Mutter, ich wußte es wohl, daß du dir zu viel zutrautest. An einem Reisetage muß man sich Ruhe gönnen. – Oh, ich danke, mein Fräulein,« lehnte er dann das dargebotene Glas Wasser und darauf auch die übrigen dienstfertigen Bemühungen und Ratschläge von Mutter und Tochter ab. »Ein klein wenig Bewegung und etwas frische Luft – hier ist sie doch zu gesperrt – das ist das Beste, und dann Ruhe – Ruhe!«
233 Bei diesen Worten, die fast wie eine Mahnung klangen, war es ihm schon gelungen, der Mutter aufzuhelfen. Sie sorgsam stützend, führte er sie erst ein paar Schritte vom Tische fort und dann, sobald er den Kaffee bezahlt hatte, weiter dem Ausgange des Gartens zu.
»Seltsam!« sagte Frau Schneppe.
»Ob da nicht etwas dahintersteckt?« versetzte die Tochter, und beide sahen sich gespannt an.
»Das müssen wir herausbringen!« erklärten dann beide zugleich mit der Entschlossenheit eines edeln Vorsatzes.
»Ist's erlaubt?« fragte in diesem Momente der gute Tuttlinger, sichtlich willens, Beschlag auf die beiden freigewordenen Sitze zu legen. »Da ist ja ein prächtiges Plätzle. Siehst, Alte, da haben wir auch Schatten, ein gemütlich's Gesellschäftle dazu. Den Damen wird's auch ein G'falle sein!«
Wie sehr er ihre Gedanken erraten, hätte er an ihren entsetzten und indignierten Blicken absehen können. Einem rettenden Engel gleich erschien ihnen in diesem kritischen Augenblicke Graf Marchegg. Er keuchte und wischte sich die dicken Tropfen von der Stirne und deren ausgiebiger Verlängerung.
»Ah, meine Damen, Sie müssen mich entschädigen,« sagte er in seiner jovial vertraulichen Art. »Ich glaubte noch zurechtzukommen, da erhebt sich Ihr interessanter Nachbar. Hätte gern seine Bekanntschaft gemacht. Baumeister Rodek – könnte schon Baurat sein, will aber nicht. Unabhängigkeit über alles! Genialer Mann – auf dem besten Wege zur Berühmtheit, 234 – weiß alles, – weiß bereits alles. Möchte aber noch mehr wissen, und wende mich daher an Sie, meine Damen.«
Er schien die Quellen zu kennen. Der eben erst noch so wegwerfend Beurteilte wurde mit Entzücken empfangen. Nicht dem geschlagenen Feinde, sondern dem Überläufer wurden hier goldene Brücken gebaut. Es war doch etwas Unwiderstehliches um dieses liebenswürdige, natürliche Sichgehenlassen, das man nur in aristokratischen Kreisen finden konnte, und sicherlich war es nicht allein das Bestreben, sich den gemütlichen Anknüpfungsversuchen des höchst kompromittierenden Tuttlinger Ehepaares zu entziehen, was die beiden gesprächigen Damen veranlaßte, sich von diesem so schnöde ab und dem »lieben Grafen« so hingebend zuzuwenden. Das war doch wenigstens ein Blick über die chinesische Mauer, und wer weiß, vielleicht blieb dieselbe mit einem so vollwichtigen Bundesgenossen doch nicht für alle Zeit unübersteigbar.