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Radolice, eins der ärmsten und kleinsten Dörfer im sandigen Teil der Provinz Posen, war eines milden Apriltages in ungewöhnlicher Aufregung. Die Weiber standen vor den niedrigen Türen der baufälligen Hütten, schrieen durcheinander, gestikulierten und rannten wie eine aufgescheuchte Geflügelschar immer von neuem nach dem Kruge, um den Männer und junge Mädchen sich unentschlossen drängten.
»Wer geht? Sind neue notiert? Bewahr dich die heil'ge Jungfrau, Kascha Rej!« klang es wirr durcheinander. Ein Fluch dazwischen, ein lautes Gelächter, wenn ein Bursch irgend ein Mädel zärtlich geknufft hatte.
»Er hat kein Glück bei uns,« sagte ein Alter schmunzelnd. »Geld ist Geld, aber Ketzer bleibt Ketzer. Ein halbes Jahr keine Messe – was soll da werden?«
»Aber auch ein halbes Jahr keinen Hunger, Pan!« schrie ein kräftiger Bursche und spuckte aus. »Das Geld klingt. Die Rüben bringen's. Nun, Anastasia Pasek, schönes Schätzchen, wie wär' das? Man bringt ein Heiratsgut mit!«
Die Dirne lachte kurz auf und zuckte die Achseln. Sie hatte ein volles Gesicht, aber, wie die meisten, schlechte Zähne. Die ungenügende Ernährung war schuld daran. »Wenn du meinst, Lukas Woronicz, so geh selber. Aber es gibt dort keine Barbara Bryk, der man nachlaufen kann!«
Die Umstehenden lachten.
»Hört, wie das Schätzchen eifersüchtig ist! Aber bei allen Heiligen, wenn Barbara Bryk –«
Er konnte nicht aussprechen.
»Seweryn Kalinka hat Handgeld genommen!« scholl es von der Schenktür.
Zweifelnd, fragend, erstaunt ward der Name von zwanzig Stimmen wiederholt.
»Seweryn Kalinka geht! … Paßt auf, er will heiraten, im November gibt es Hochzeit! … Was wird Barbara sagen?«
Mit jedem Augenblick nahm der Lärm zu. Die Alten schienen erstaunt; die Mädchen zornig; die Burschen verbargen mühsam ihre Freude.
Anastasia Pasek sah über die Schulter. »Die Wölfe haben das Feld frei!«
»Sie werden noch öfter am Waldrand schleichen wie jetzt!« rief höhnisch Veronika Budny.
»Wie Gott will,« nickte Lukas Woronicz, »öfter als vor dem Haus deines Vaters gewiß.«
Hin und her flogen die Worte. Plötzlich rief einer: »Da kommt sie selber – macht Platz! Gelobt sei Jesus Christus, du bist gerad' am rechten Ort, Barbara Bryk!«
Raschen Schrittes hatte sich ein Mädchen dem Kruge genähert. Sie war mittelgroß, von kräftigem Wuchs. Ein grellrotes Kopftuch hatte sie um das schwarze Haar geschlungen. Ihr Gesicht war weißer als das der anderen; zwei kühne, dunkle Augen blitzten trotzig daraus. Auch um den vollen Mund lag ein trotziger, gleichsam kampfbereiter Zug. Und das Rassige des Gesichts ward noch gehoben durch den feinen schwarzen Flaum, den die Oberlippe trug.
Das war Barbara Bryk. Mit leichtem Neigen des Kopfes erwiderte sie den Gruß und schritt geradeswegs durch den Menschenknäuel, der eine schmale Gasse für sie bildete, in das dunstige Schanklokal. Wie sie so dahinging, sah es aus, als wolle der Fuß von dem Fleckchen Erde, das er jeweilig bedeckte, ein für allemal Besitz nehmen – so fest und sicher trat sie auf. Sie beachtete dabei weder die glühenden, begehrlichen Blicke der jungen Burschen, noch die hämische Neugier, mit der die Mädchen ihr ins Gesicht sahen.
Eine der Kecksten trat ihr entgegen. »Weißt du die Neuigkeit schon, Barbara Bryk? Dein Liebster will zur Rübenernte! Geh mit, weißes Täubchen! Was soll aus Seweryn Kalinka in Sachsen werden?«
»Vielleicht bringt er dir einen Mann mit, Veronika Budny. Du könntest ihn brauchen!« Ruhig schob Barbara Bryk dabei das Mädchen zur Seite. Aber es schien, als sei ihr Gesicht um einen Ton bleicher und der Fuß unsicherer.
Die Schenkstube war dicht gefüllt. Mit wartenden Augen saß allein an einem großen Tische der Agent. Er spielte mit dem Bleistift, blätterte in den Listen, die vor ihm lagen, und ließ eine angebrochene Rolle harter Talerstücke ab und zu dumpf gegen das Holz schlagen.
Begehrlich hafteten ein paar Dutzend Blicke an dem Gelde. Und immer, wenn der Agent sich räusperte und die alte Frage wiederholte: »Hat noch jemand Lust, sich gegen den bekannten hohen Lohn zu verdingen?«, belebten sich die stumpfen Gesichter, und die Muskeln zuckten wie in einem inneren Kampfe. Einer blickte stets den anderen an, doch jeder sah alsbald scheu zur Seite, wenn der Agent irgend einen von ihnen schärfer ins Auge faßte.
Ungeduldig klopfte er endlich mit dem Bleistift auf. »Wenn ihr nicht wollt, Leute,« sagte er achselzuckend und begann die geöffnete Geldrolle einzuwickeln, »so wollt ihr eben nicht. Mein Schade wird's nicht sein, höchstens der eure. Ich krieg' Leute genug. Bei dem hohen Lohn will jetzt jeder die Sachsengängerei mitmachen. Was habt ihr hier? Euer Sand gibt gerade so viel, daß ihr nicht zu verhungern braucht. Verdingen muß sich die Hälfte von euch so wie so. Na, den Lohn, den ihr hier bekommt, den kennt ihr allein. Dagegen haltet, was ich euch biete! Anfang November könnt ihr aus dem Anhaltischen wieder zurück sein, Oktober vielleicht schon, je nachdem die Ernte dies Jahr ausfällt. Die Reise wird bezahlt, und Handgeld ist gutes Geld! Wer sparsam ist, hat im November die Tasche so voll, daß er den Winter wie ein Graf leben kann. Aber wie gesagt: mir ist es gleich. In Szeklewo drängen sie sich dazu!« Er rief den Wirt zum Zahlen und ließ die Rolle Geld in seiner Tasche verschwinden.
»Macht's mir keiner nach?« rief Seweryn Kalinka und leerte auf einen Zug sein Glas. »Freies Leben – schönes Leben – wie ein König, heirassa!« sang er.
»Ich, Euer Hochwohlgeboren,« sprach da eine kleine stämmige Dirne und drängte sich mit rotem Kopf an den Tisch, » Psia krew, was kann dabei sein?«
»Immer nur 'ran, Pockennarbige! Schöne Leute brauchen sie in Sachsen!«
Unter lautem Hallo meldeten sich noch zwei Mädchen.
Barbara Bryk hatte am Schenktisch inzwischen ihre Einkäufe besorgt – denn der Wirt hielt auch die notwendigsten Waren feil – und wollte die Stube eben verlassen, als Seweryn Kalinka sie bemerkte. Die Augen, die bisher begehrlich nach den Talern geschielt hatten, wandten sich nun einen Moment ihr zu.
»Was sagst du zu mir, Barbara Bryk?« rief Seweryn. »Ich geh' mit den Sachsengängern!« Er rief es unsicher, aber bemühte sich, einen herausfordernden Ton anzunehmen.
»Ist nicht das Schlechteste,« erwiderte das Mädchen ruhig. »Gott gebe dir Reichtum, und wenn du gleich dableibst, wünsch' ich dir ein langes Leben!« Als wollte sie jede Erwiderung abschneiden, verließ sie rasch den Krug und schritt durch die noch immer vor der Tür versammelte Menge die Dorfstraße hinab. Nach einer Weile bog sie links auf einen Fußpfad, der drüben nach dem Walde und ihrem Häuschen führte.
Noch finsterer und trotziger war ihr Gesicht geworden. Lange blickte sie nicht auf. Erst als ihr ein Tropfen auf die Nase fiel, hob sie das Haupt. »Aprilregen,« murmelte sie verächtlich. Aber als die Tropfen sich immer schneller folgten, sah sie sich doch nach einem Schutze um.
Unweit des Pfades stand eine baufällige Hütte, schon windschief und vergraut. Fenster hatte sie nicht mehr, und eine Schütte faulen Strohes war alles, was auf dem gestampften Lehmboden lag. Um die Hütte herum häuften sich Steine, Flaschenscherben und anderer Plunder; wahrscheinlich hatten die Pflüger von den benachbarten Äckern alles mit Fleiß auf diesen unwirtlichen Platz geworfen. Die längst nicht mehr bewohnte Hütte hieß im Volksmunde das »Hexenschloß«, und auf das Hexenschloß steuerte Barbara Bryk jetzt zu.
Plötzlich hörte sie hinter sich ein sich wiederholendes Geräusch, als ob ihr jemand in heftigen Sprüngen nacheile. Sie wandte sich: richtig! Und sie wußte im Augenblick genau, wer mitten durch den Regen hinter ihr dreinlief. Es war kein anderer als Seweryn Kalinka. Ein rascher Schimmer freudiger Befriedigung flog über ihr Gesicht. Im nächsten Moment war es wieder wie immer. Auch als sie ihren Namen rufen hörte, ließ sie sich mit dem Umdrehen immer noch Zeit.
Keuchend, halb außer Atem, erreichte sie der Bursch. Es war ein baumlanger Kerl, sehnig wie nur einer. Den Hut mochte er im Wirtshaus gelassen haben. Das Haar fiel ihm in die niedrige Stirn.
»Hast einen guten Schritt am Leibe!« rief er ihr zu.
»Es gibt Leute, die auch nicht an Langsamkeit leiden,« antwortete sie.
»Wie man's nimmt! – Ich geh' also nun, Barbara Bryk; werd' ein Sachsengänger.«
»Bist du mir deshalb nachgelaufen, um mir das zu sagen? Ich hab's schon im Krug verstanden.«
Falten gruben sich in seine Stirn. »Du fängst an, wie du gestern aufgehört hast. Machst mir das Weggehen nicht sauer.«
»Warum auch? Süß schmeckt besser, sagt meine Mutter.«
»Barbara!«
»Nun ja, ja. Wenn du schon nach Sachsen gehst, so geh! Was willst du noch hier?«
»Weshalb hab' ich denn Handgeld genommen? He? Vorgestern hätt' ich noch selber gelacht, wenn mir's einer gesagt hätt'. Da kam gestern der Zank – zum wilden Tier kannst du einen machen! Und wenn ich nicht wie verhext wär' von deinen Augen, hätt' ich gestern –«
Er hob den Arm wie zum Schlage. Ein kurzes Spottlächeln kräuselte ihre Lippen.
»So aber lief ich davon und nahm in der Wut Handgeld. Mein Name steht da, geschrieben ist geschrieben. Wie
lange noch, und weg muß ich. Drei Tage, acht Tage, dann geht's in die Fremde. Wie ich dich heut' gesehen, hab' ich mich gegrämt, daß ich weg soll. Aber dann denk' ich wieder: ein Sommer vergeht rasch, und wenn ich im November mit Geld klimper', hab' ich Weihnachten eine Frau.«
Sie hatte mit gleichgültigem Gesicht, aber aufmerksam zugehört.
Stärker rauschte jetzt der Regen. Ohne zu antworten, nahm sie hastig die Röcke zusammen und lief der unwirtlichen verlassenen Hütte zu.
»Wohin willst du?«
Sie deutete hinüber.
»Maria Joseph, ins Hexenschloß! Bist du von Sinnen?«
Statt jeder Erwiderung lief Barbara Bryk nur schneller. Bald hatte sie das schützende Dach erreicht. Sie schüttelte sich wie ein verregneter Pudel.
Unsicher war der Bursch ihr nachgegangen. Doch er blieb auf dem Raine stehen, welcher den unwirtlichen Platz vor der Hütte vom nächsten Acker schied.
»Bitt die heil'ge Jungfrau, daß sie dich vor Schaden bewahrt,« rief er und schlug ein Kreuz. »Es geht keiner unter das verfluchte Dach!«
»Hast du Angst, Seweryn Kalinka?«
»Angst – Angst!« Er ballte die Faust. »Stell mich hin gegen zehn, und dann wart ab! Gegen Hexen jedoch ist alles vergeblich. Du weißt ganz gut, wer hier gewohnt hat. Du hast sie nicht gesehen – ich aber sah sie schleichen. Mit dem Teufel hat sie ein Bündnis gehabt, die Verfluchte, und der Teufel hat Macht über den Platz. Viele Jahre schon ist sie fort aus der Gegend. Meine Mutter hat sie reiten sehen auf dem Besenstiel durch den Schornstein. Der Platz jedoch blieb verhext: nur Steine wachsen darauf!«
Ohne sich von der Stelle zu rühren, ohne sich um den heftigen Regen zu kümmern, sprach er. Barbara Bryk strich derweil das feuchtgewordene Haar zurecht.
»Wird nicht so schlimm sein,« erwiderte sie dann. »Der Lehrer sagt, es gibt keine Hexen!«
»Pah, der Lehrer! Frag im Dorf, wen du willst. Der Satan braucht Hilfe. Allein kann er nicht genug Verderben bringen. Gott schütze deine Seele!« Er schwieg. Nur der Regen rann und rauschte. Nach einer Pause: »Es wird so wie so nötig sein, daß er dich in seine Obhut nimmt, wenn ich weg bin!«
Heftig warf das Mädchen den Kopf hoch. »Ich kann mich schon wehren,« sprach sie finster.
»Gegen zehn, zwölf Burschen? Psia krew, sie warten nur darauf, daß ich weg bin. Wie die Wölfe sind sie ja hinter dir. Wärst du nicht gestern so gegen mich gewesen, hätt' ich das Handgeld nicht genommen. Vielleicht wär's besser gewesen!«
Ihre Lippen preßten sich zusammen. »Vielleicht! Aber was ist da zu reden?«
»Wenig und viel. Wenn ich im November zurückkomme, will ich nicht hören, daß du das Liebchen von Lukas Woronicz oder von Roman Czarnecki bist. Der Waldhüter ist der schlimmste. Denkt, daß er wunderwas ist!«
»Er hat mich bis jetzt in Ruhe gelassen, Seweryn Kalinka. Wenn mich einer grüßt, grüß' ich wieder.«
»Und wenn er Augen macht wie ein verliebter Kater –?«
»An den Augen ist noch keiner gestorben. Wenn der Lukas und der Siegmund und der Mieczyslaw und weiß Gott wer nur Augen machen, kannst du ruhig sein!«
»Sie sollen nur mehr wagen!« rief er drohend. »Höre, Barbara: wir trinken Abschied im Kruge! Bruderherz, sag' ich und zeig' meine Faust, wer die Barbara Bryk anrührt, solang ich fort bin, den schlag' ich nieder damit, daß er die Engel und Erzengel pfeifen hört! Nun, paß auf: keiner wird etwas wagen.«
Ein kurzes Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens. »Versuch's! Ein Schade kann nicht dabei sein. Sachsen jedoch ist weit. Es ist besser, ich wehr' mich selber, als daß ich auf dich warte! Wenn die Mannsleut' 'mal toll sind, hilft eben rein gar nichts.«
Der stärkste Guß war inzwischen vorübergegangen. Nur ein feiner Sprühregen fiel noch.
Barbara Bryk band das rote Kopftuch fest und trat aus der verrufenen Hütte. Als sie neben dem Burschen stand, machte er über sie und sich das Zeichen des Kreuzes.
»Besser ist besser. Wer weiß, was du mitschleppst!«
Langsam schritten sie nebeneinander. Der Wald kam näher; näher kam das Häuschen der Bryks.
»Geh jetzt! Ich hab' zu tun. Ohne Feuer kocht keine Kartoffel.« Ihre Stimme war gepreßt.
»Und wenn ich schon morgen oder übermorgen fahr', Barbara?«
»Dann geb' dir die heilige Jungfrau viel Gutes!«
Er seufzte. »Ein halbes Jahr geht rasch. Denk an mich, wenn die Wölfe heulen, und laß dich nicht fressen. Komm' ich wieder, hab' ich Geld. Dann kann Hochzeit sein, wenn's dir recht ist.«
»Ist mir schon recht. Und die Wölfe werd' ich schon scheuchen. Das versprech' ich dir!«
»Dann leb wohl!«
Es glomm in seinen Augen auf. Mit kräftigem Ruck faßte er sie um die Hüften und riß sie an sich.
Sie wehrte sich einen Augenblick wild, Blitze in den Augen und heiße Röte im Gesicht. Dann zitterten ihre Lippen; in letztem Widerstreben bog sie sich zurück. Doch als sein Mund den ihren berührte, da fühlte auch er das heiße, durstige Brennen ihrer Lippen.
Jäh machte sie sich dann frei. »War nicht vonnöten,« sprach sie mit rotem Gesicht. Und ohne sich umzusehen, schritt sie nach ihrem Häuschen und verschwand darin.
* * *