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Der junge Portier des Hotels »Versailles« las auf der vergilbten, mit einer Adelskrone geschmückten Visitenkarte nur den Vor- und den Vatersnamen: »Kasimir Stanislawowitsch«; dann kam noch etwas Mehrsilbiges, was noch schwieriger auszusprechen war. Der Portier drehte die Visitenkarte hin und her, warf einen Blick auf den Paß, den ihm der Neuankömmling zugleich mit der Visitenkarte übergeben hatte, zuckte die Achseln – Leute, die im »Versailles« abstiegen, pflegten niemals Visitenkarten vorzuzeigen –, legte beides auf das Tischchen und begann wieder, in den kleinen milchweißen Spiegel über dem Tischchen blickend, seinen üppigen Schopf mit dem Kamm zu ordnen. Er hatte eine ärmellose Jacke und gewichste Stiefel an, die goldene Borte an seiner Mütze war schmierig – das Hotel war schlecht.

Kasimir Stanislawowitsch war aus Kijew am 8. April, am Freitag in der Osterwoche, abgereist, nachdem er aus Moskau ein Telegramm erhalten hatte, das nur die zwei Worte enthielt: »Am Zehnten.« Er verschaffte sich irgendwoher Geld und setzte sich in die zweite Klasse; das Abteil war düster und unfreundlich, gab ihm aber wohl die Empfindung von Prunk und Komfort. Der Wagen war geheizt, und die eigentümliche Eisenbahnwärme, der Geruch und das fortwährende Klopfen in den Heizungsröhren hätten Kasimir Stanislawowitsch andere Zeiten in Erinnerung bringen können. Zuweilen schien es, als ob der Winter wiedergekommen wäre: ein weißes Schneegestöber überschüttete die rötlichen Stoppeln der Felder und die großen bleigrauen Pfützen, auf denen Wildenten schwammen; das Schneegestöber hörte aber oft und unerwartet auf, die Felder lagen wieder schneefrei da, hinter den Wolken ahnte man eine Fülle von Licht, die Perrons auf den Stationen waren naß und schwarz, und auf den nackten Pappeln schrien die Saatkrähen. Kasimir Stanislawowitsch stieg auf jeder größeren Station aus, ging an den Kiosk und kehrte mit einem Haufen Zeitungen in sein Abteil zurück; er las sie aber nicht, sondern saß einfach da im Rauche der dicken, heiß mit Funken brennenden Zigarren und wechselte mit keinem der Mitreisenden – es waren lauter Odessaer Juden, die während der ganzen Fahrt Karten spielten – auch nur ein Wort. Er trug einen Herbstmantel mit abgewetzten Taschen, einen sehr alten Zylinderhut mit Trauerflor und neue, aber grobe Schuhe, wie man sie auf dem Markt kauft. Seine Hände, die typischen Hände eines Gewohnheitstrinkers und Kellerbewohners, zitterten, wenn sie ein Streichholz anzünden mußten. Von Armut und Versoffenheit zeugte auch alles übrige: das Fehlen von Manschetten, der abgetragene Papierkragen, die schäbige Krawatte, das entzündete, äußerst mitgenommene Gesicht und die hellblauen tränenden Augen. Der mit schlechter brauner Farbe gefärbte Backenbart sah unnatürlich aus. Die Augen blickten müde und mit Verachtung.

Der Zug kam nach Moskau am nächsten Tage zu einer ganz unvorgesehenen Zeit: er hatte volle sieben Stunden Verspätung. Das Wetter war unbestimmt, aber besser und trockener als in Kiew. In der Luft lag etwas Aufregendes. Kasimir Stanislawowitsch nahm eine Droschke und ließ sich, ohne zuvor den Preis auszumachen, direkt ins »Versailles« fahren. – »Ich kenne dieses Hotel«, sagte er zum Kutscher, sein Stillschweigen unerwartet unterbrechend, »noch von meiner Studentenzeit her.« – Sobald man seinen mit einem dicken Strick umbundenen Reisekorb ins Zimmer gebracht hatte, ging er aus dem Hause.

Es dämmerte, die Luft war warm, die schwarzen Bäume auf den Boulevards zeigten hie und da grüne Knospen, und überall fluteten Menschen, Equipagen und Lastfuhrwerke. Moskau trieb seinen Handel und wickelte seine Geschäfte ab; es kehrte nach den Feiertagen zu seiner gewohnten hastigen Arbeit zurück und freute sich unbewußt über den Frühling. Wie einsam muß sich doch ein Mensch, der sein Leben verwüstet und hinter sich hat, an einem solchen Frühlingsabend in einer fremden belebten Stadt fühlen! – Kasimir Stanislawowitsch ging zu Fuß den ganzen Twerskoi-Boulevard entlang und sah aus der Ferne wieder die erzgegossene Gestalt des nachdenklichen Puschkin und die goldenen und fliederfarbenen Kuppeln des Strastnoi-Klosters ... Beinahe eine ganze Stunde saß er im Café Filippow, trank Schokolade und blätterte in zerfetzten Witzblättern. Dann ging er in ein Kino, dessen flammendes Reklameschild weit durch die dunkelblaue Dämmerung leuchtete. Aus dem Kino fuhr er in ein Boulevard-Restaurant, das er ebenfalls aus seiner Studentenzeit kannte. Der Droschkenkutscher war ein gebückter, trauriger, düsterer, tief in sich selbst, in sein Alter und in seine trüben Gedanken versunkener Greis, der während der ganzen Fahrt mit seinem ganzen Wesen dem trägen Pferde nachhalf, ihm immer etwas zuflüsterte und ab und zu bittere Vorwürfe machte; endlich kam er doch ans Ziel; er war nun die Last los und holte, als der Fahrgast ihn bezahlte, tief Atem.

»Ich hab' dich nicht verstanden, ich glaubte, du willst ins ›Prag‹«, sagte der Kutscher, den Wagen wendend. Er schien sogar unzufrieden, obwohl das Restaurant »Prag« eine Strecke weiter lag.

»Ich kenne auch das ›Prag‹, Alter«, entgegnete Kasimir Stanislawowitsch. »Fährst du schon lange in Moskau herum?«

»Ob ich lange herumfahre?« fragte der Alte. »Zweiundfünfzig Jahre schon.«

»Hast also vielleicht auch mich schon einmal gefahren«, sagte Kasimir Stanislawowitsch.

»Kann schon sein«, entgegnete der Alte trocken. »Es gibt so viel Menschen auf der Welt, daß man sich alle gar nicht merken kann.«

Vom alten Restaurant, das Kasimir Stanislawowitsch kannte, war nur noch der Name übriggeblieben. Jetzt war es ein großer, teurer, wenn auch zweitklassiger Betrieb. Über dem Eingang brannte eine Bogenlampe, mit einem unangenehm heliotropfarbigen Licht die frechen und gegen ihre müdegehetzten knochigen Traber erbarmungslosen Kutscher zweiter Güte beleuchtend. Im feuchten Vestibül standen in Kübeln Lorbeerbäume und tropische Pflanzen, wie man sie von Beerdigungen zu Hochzeitsfeiern und umgekehrt auf eigenen Wagen zu transportieren pflegt. Im Durchgang fielen Kasimir Stanislawowitsch einige Kellner auf, die ebenso üppige Frisuren hatten wie der Portier im »Versailles«. Im großen grünen, im Rokokostil ausgestatteten Saal mit einer Menge breiter Spiegel und einem dunkelroten Lämpchen vor dem Heiligenbild in der Ecke war es noch leer und brannten nur wenige Gasflammen. Kasimir Stanislawowitsch saß lange, ohne etwas zu unternehmen, da. Er fühlte, daß die lange Frühlingsdämmerung hinter den weißen Fenstervorhängen noch nicht ganz erloschen war, und hörte das Klopfen von Pferdehufen auf dem Pflaster; eintönig plätscherte mitten im Saal eine kleine Fontäne im Aquarium, in dem verblichene, irgendwie von unten her durch das Wasser beleuchtete Goldfische herumschwammen. Der weißgekleidete Kellner brachte ihm ein Besteck, Brot und eine Karaffe mit kaltem Schnaps. Kasimir Stanislawowitsch trank den Schnaps ohne etwas dazu; er behielt jeden Schluck, ehe er ihn herunterwürgte, lange im Mund und roch dann wie angeekelt an einem Stück Schwarzbrot. So plötzlich, daß er beinahe erschrak, begann das Orchestrion zu dröhnen; es war ein Gemisch von bald übertrieben stürmischen und ausgelassenen, bald übertrieben zärtlichen, gedehnten und traurigen russischen Volksliedern. Von diesem süßlichen, näselnden Stöhnen wurden Kasimir Stanislawowitschs Augen rot und begannen zu tränen.

Dann brachte ihm ein Georgier mit grauen Locken und schwarzen Augen einen halb rohen, duftenden »Schaschlik« auf eisernem Spieß; er schnitt ihm mit eigenartiger Eleganz eine Scheibe herunter und streute darauf, um die asiatische Einfachheit zu unterstreichen, mit eigener Hand gehackte Zwiebeln, Salz und rostrotes Berberitzenpulver – während das Orchestrion im leeren Saal einen ausgelassenen Cakewalk spielte. Dann brachte man Kasimir Stanislawowitsch Roquefortkäse, Obst, Kaffee, Mineralwasser und Liköre. Das Orchestrion war längst verstummt. Statt dessen spielte auf dem Podium ein deutsches Damenorchester in weißen Kleidern; im beleuchteten Saal, der sich allmählich füllte, war es warm geworden; die Luft wurde dick vor Tabaksqualm und Speisendunst; die Kellner flogen wie der Wind umher, betrunkene Gäste ließen sich Zigarren geben, vor denen es sie bald darauf übelte; die Oberkellner verschwendeten übertriebene Zuvorkommenheit, die sich mit gespanntester Wahrung eigener Würde paarte; in den trüben Abgründen der Spiegel ging etwas Kompliziertes, Großes und Geräuschvolles vor; Kasimir Stanislawowitsch war schon einige Male aus dem heißen Saal in die kühlen Gänge und die kalte Toilette, wo es seltsam nach Seetang roch, gegangen und hatte sich jedesmal, als er zurückkam, wieder Wein geben lassen. Gegen ein Uhr nachts raste er mit geschlossenen Augen, die nächtliche Kühle mit gierigen Nüstern in seinen benebelten Kopf einziehend, in einer Droschke auf Pneumatik-Rädern in ein »Etablissement« vor der Stadt und sah in der Ferne unendliche Reihen später Lichter, die bald bergab und bald bergauf liefen, es war ihm aber dabei so zumute, als ob im Wagen nicht er selbst, sondern jemand anderes säße. Im »Etablissement« kam es beinahe zu einer Schlägerei zwischen ihm und einem korpulenten Herrn, der ihm schreiend erklärte, daß ihn das ganze denkende Rußland kenne; dann lag er angekleidet auf einem breiten Bett mit atlasner Steppdecke in einem kleinen Zimmer, an dessen Decke eine milde blaue Ampel brannte und in dem es süßlich nach parfümierter Seife roch; an einem Haken in der Tür hing ein Haufen Kleider; neben dem Bett stand eine Schale mit Obst; das Mädchen, das die Pflicht hatte, Kasimir Stanislawowitsch zu unterhalten, verzehrte mit großem Appetit eine Birne, während ihre Freundin mit bloßen dicken Armen, im bloßen Hemd, das sie furchtbar jung erscheinen ließ, am Toilettentisch in großer Eile einen Brief schrieb, ohne den beiden anderen irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken; sie schrieb und weinte – warum? Es gibt auf der Welt so viele Menschen, und man kann nicht alles wissen ...

Am 10. April erwachte Kasimir Stanislawowitsch sehr spät. Beim Erwachen schlug er die Augen erschrocken auf, woraus man schließen konnte, daß das Bewußtsein, in Moskau zu sein, und die Erinnerung an die letzte Nacht ihn für einen Augenblick niederschmetterten. Er war erst gegen fünf Uhr heimgekommen. Schwankend war er die Treppe im »Versailles« hinaufgestiegen, hatte aber sofort sein Zimmer im langen, übelriechenden Korridor gefunden, der von einem einzigen verschlafenen qualmenden Lämpchen erleuchtet war. Vor allen Zimmertüren standen Stiefel und Schuhe – sie gehörten fremden Menschen, die einander nicht kannten und miteinander auch verfeindet waren. Plötzlich war eine Tür aufgegangen und an der Schwelle ein alter Mann im Schlafrock erschienen, der an einen schlechten Schauspieler in der Rolle des »Wahnsinnigen« von Gogol erinnerte; und Kasimir Stanislawowitsch hatte eine Lampe mit grünem Schirm gesehen, ein Zimmer voller Möbel und allerlei Sachen, die Behausung eines einsamen alten Junggesellen, mit Heiligenbildern in der Ecke und zahllosen Schachteln von Zigarettenhülsen, die sich neben den Heiligenbildern fast bis zur Decke türmten ... War es vielleicht derselbe halbverrückte Verfasser von Heiligenleben, der im »Versailles« auch schon vor dreiundzwanzig Jahren gewohnt hatte? – Im dunklen Zimmer Kasimir Stanislawowitschs war es schwül und roch nach etwas Ätzendem und Trockenem. Ein schwacher Lichtschein drang durch die Luke über der Tür. Kasimir Stanislawowitsch ging in den Alkoven, nahm den Zylinder von seinen dünnen steifgewichsten Haaren und warf seinen Mantel über das Kopfende des nackten Bettes. Sobald er sich niedergelegt, hatte alles unter ihm zu kreisen begonnen, alles war in einen Abgrund gestürzt, und er war augenblicklich eingeschlafen. Im Schlaf hatte er immer den schlechten Geruch des eisernen Waschtisches, der dicht vor seinem Gesicht stand, gefühlt, aber einen Frühlingstag und blühende Bäume gesehen, den Saal in einem großen Herrschaftshause und eine Menge Leute, die mit Angst und Ehrfurcht auf den Metropoliten warteten; und diese Erwartung hatte ihn die ganze Nacht gequält ... Nun schrillten im Korridor von »Versailles« die Klingeln, man lief hin und her und schrie. Die Sonne schien durch die staubigen Doppelfenster in den Alkoven herein, und es war beinahe heiß ... Kasimir Stanislawowitsch zog Rock und Weste aus, läutete und begann sich zu waschen. Der Zimmerkellner, ein sechzehnjähriger Bengel mit lebhaften Augen und fuchsrotem Flaum auf dem Kopfe, in einem Rock, der ein rosa Hemd sehen ließ, kam hereingestürzt.

»Den Samowar, ein Weißbrot und eine Zitrone«, sagte Kasimir Stanislawowitsch, ohne ihn anzublicken.

»Befehlen auch Tee und Zucker?« fragte der Zimmerkellner mit echt Moskauer Dienstfertigkeit.

Nach einer Minute kam er mit dem kochenden Samowar, den er auf der Handfläche vor der Schulter hielt, deckte in einem Nu den runden Tisch vor dem Sofa und stellte ein Tablett mit einem Teeglas und einer zerbeulten kupfernen Spülschale auf den Tisch und den Samowar auf das Tablett. Während der Tee zog, schlug Kasimir Stanislawowitsch mechanisch das »Moskauer Tageblatt« auf, das der Kellner mit dem Samowar gebracht hatte; sein Blick fiel auf einen Bericht, daß man gestern irgendwo einen unbekannten Menschen in bewußtlosem Zustande aufgefunden hätte ... »Der Unbekannte wurde ins Krankenhaus gebracht.« Nachdem er dies gelesen, warf er die Zeitung weg. Er fühlte sich recht unbehaglich. Er stand auf und öffnete das Fenster, das auf den Hof ging. Frische und Großstadtluft wehten ihn an, er hörte die melodischen Ausrufe der Hausierer, das Läuten der hinter dem Hause gegenüber vorbeifahrenden Pferdebahnen, das Poltern von Wagen und das musikalische Dröhnen der Kirchenglocken ... Die Stadt war an diesem hellen, lustigen, beinahe sommerlichen Tag schon längst zu ihrem lauten, großen Leben erwacht. Kasimir Stanislawowitsch drückte in sein Teeglas die ganze Zitrone aus, schluckte gierig die saure Flüssigkeit herunter und ging wieder in den Alkoven. Im »Versailles« herrschte nun Ruhe. Jetzt war es schön still und gemütlich; sein Blick streifte träge das Plakat an der Wand: »Angefangene drei Stunden werden wie ein voller Tag berechnet«; eine Maus rollte in der Kommode ein Stück Zucker herum, das ein Logiergast zurückgelassen hatte ... Kasimir Stanislawowitsch lag im Halbschlummer, bis die Sonne aus dem Zimmer verschwand und durchs Fenster eine neue, abendliche Frische hereinzog.

Nun machte er sorgfältig Toilette: er band seinen Korb auf, wechselte die Wäsche, holte ein billiges, aber sauberes Taschentuch hervor, fuhr mit der Kleiderbürste über den glänzenden Gehrock, Zylinderhut und Mantel, nahm aus der zerrissenen Manteltasche eine zerknüllte Kijewer Zeitung vom 15. Januar heraus und warf sie in die Ecke ... Nachdem er sich angekleidet und den Backenbart nachgefärbt hatte, zählte er seine Barschaft: in seinem Geldbeutel waren noch vier Rubel siebzig Kopeken. Dann verließ er das Haus. Punkt sechs war er vor der alten kleinen Kirche auf der Moltschanowka. Hinter der Kirchenmauer grünte schon ein alter Baum und spielten Kinder; einem schmächtigen kleinen Mädchen, das über eine Schnur sprang, rutschte fortwährend der schwarze Strumpf herunter; auf einer Bank saßen vor den Kinderwagen mit den schlafenden Säuglingen Ammen in Nationaltracht. Der ganze Baum schallte von Spatzengezwitscher, die Luft war weich, beinahe sommerlich, es roch sogar wie im Sommer nach Staub, in der Ferne hinter den Häusern leuchtete golden der Himmel, und man fühlte, daß es irgendwo in der Welt wieder Freude, Jugend und Glück gab. In der Kirche brannte der Kronleuchter, und vor dem Altar lag ein kleiner Teppich. Kasimir Stanislawowitsch nahm sich vorsichtig, um die Frisur nicht zu zerstören, den Zylinder vom Kopf und trat schüchtern in die Kirche. Er war schon seit dreißig Jahren in keiner Kirche gewesen. Er drückte sich in eine Ecke, aber so, daß er den Altar sehen konnte. Er betrachtete die Wandmalereien, hob die Augen zur Kuppel, und jede seiner Bewegungen, jeder Seufzer aus seinem Munde widerhallte laut in der Stille. In der goldstrahlenden Kirche flackerten erwartungsvoll die Kerzen. Und nun kamen, sich bekreuzigend, doch unbefangen, die Priester und die Chorsänger herein, dann alte Frauen, Kinder, ausgeputzte Hochzeitsgäste und besorgte Ordner ... Als aber im Sand vor dem Portal die Räder des vorfahrenden Brautwagens knirschten, als alle Blicke sich auf die Tür richteten und der Chor das Begrüßungslied anstimmte, bekam Kasimir Stanislawowitsch heftiges Herzklopfen, wurde leichenblaß und trat unwillkürlich einige Schritte vor. Und nun ging sie ganz nahe an ihm vorbei, ihn sogar mit ihrem Brautschleier streifend und mit Maiglöckchenduft anwehend, sie, die nicht einmal von seiner Existenz etwas wußte; sie ging vorüber, das reizende Köpfchen geneigt, in einer durchsichtigen Gazewolke, ganz in Blumen, ganz weiß und makellos, glücklich und scheu, wie eine Prinzessin, die zur ersten Kommunion schreitet ... Den Bräutigam, der ihr entgegenkam, einen kleingewachsenen, breitschultrigen Mann mit kurzgeschnittenen blonden Haaren, konnte Kasimir Stanislawowitsch kaum sehen. Während der Trauung sah er nur das eine: das geneigte Köpfchen in Schleier und Blumen und das kleine Händchen, das zitternd die brennende, mit einem weißen Seidenband umwundene Kerze hielt ...

Gegen zehn Uhr abends war er schon zu Hause. Sein Mantel war ganz von Frühlingsduft durchdrungen. Nachdem er die Kirche verlassen und hinter dem das Abendrot spiegelnden Fensterglas der innen weiß ausgeschlagenen Equipage zum letztenmal das Gesicht derjenigen, die ihm für immer entschwand, gesehen hatte, irrte er lange durch die Straßen und kam einige Mal auf den Nowinskij-Boulevard heraus ...

Nun zog er langsam mit zitternden Händen den Mantel aus und legte auf den Tisch die Tüte mit den zwei Gurken, die er, er wußte selbst nicht warum, von einem Straßenhändler gekauft hatte. Auch die Gurken rochen, selbst durch das Papier hindurch, nach Frühling; in der oberen Fensterscheibe leuchtete blaß der silberne Aprilmond, der hoch an dem noch nicht dunklen Himmel stand. Kasimir Stanislawowitsch zündete eine Kerze an, beleuchtete traurig seine einsame, zufällige Behausung und setzte sich auf das Sofa. Die abendliche Kühle strich ihm übers Gesicht ... So saß er sehr lange da. Er läutete nicht und verlangte nichts; er hatte das Zimmer von innen abgeschlossen, und dies kam dem Zimmerkellner, der gesehen hatte, wie er beim Betreten des Zimmers den Schlüssel aus der Tür nahm, um sie von innen abzusperren, verdächtig vor. Der Kellner schlich einige Male auf den Zehen vor die Tür und blickte durchs Schlüsselloch hinein: Kasimir Stanislawowitsch saß auf dem Sofa, zitterte am ganzen Körper und weinte so bitter und so tränenreich, daß die braune Farbe von seinem Backenbart auf die Wangen herunterfloß.

Nachts riß er die Schnur vom Vorhang herunter und begann sie am Kleiderhaken festzumachen; seine Augen konnten vor Tränen nichts sehen. Die heruntergebrannte Kerze flackerte zugleich mit dem Papier, das schon Feuer gefangen hatte; durch das von innen abgesperrte Zimmer schwankten unheimliche zitternde Schatten; er war alt und schwach und wußte es auch selbst ... Nein, er hatte nicht die Kraft, von eigener Hand zu sterben!

Am nächsten Morgen fuhr er drei Stunden vor Abgang des Zuges auf den Bahnhof. Auf dem Bahnhof ging er still, mit gesenkten verweinten Augen, zwischen den Abreisenden und Begleitenden herum, blieb plötzlich bald vor dem einen, bald vor dem anderen stehen und sagte halblaut, ohne jeden Ausdruck, doch ziemlich schnell:

»Um Gottes willen ... Bin in verzweifelter Lage ... Für eine Fahrkarte bis Brjansk ... Wenigstens einige Kopeken ...«

Und viele bemühten sich, seinen Zylinderhut, den abgeriebenen Samtkragen seines Mantels und sein schreckliches Gesicht mit dem verwaschenen, violetten Backenbart nicht zu sehen, und gaben ihm hastig und verlegen milde Gaben.

Dann mischte er sich unter die Menge, die auf den Perron stürzte, und verschwand in ihr, während man im »Versailles«, in dem Zimmer, das ihm zwei Tage lang gleichsam gehört hatte, den Eimer aus dem Waschtisch hinaustrug, das Fenster aufmachte, um die Aprilsonne und die frische Luft hereinzulassen, die Stühle herumschob, den Fußboden kehrte und mit dem Kehricht auch den Zettel hinausfegte, den er zugleich mit den Gurken vergessen hatte und der unter den Tisch gefallen war.

»An meinem Tod ist niemand schuld. Ich war bei der Trauung meiner einzigen Tochter, die ...«


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