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Ein wie langes und zähes Leben manche Geschichtslügen zu führen vermögen, bewies wieder einmal die in der »Deutschen Revue« 1899 Oktober – Dezember. erfolgte Publikation eines angeblichen Tagebuchs der unglücklichen Zarewna Charlotte, der Schwiegertochter Peters des Großen, das die schon zu wiederholten Malen, unter anderem auch von Bülau in dem ersten der folgenden Aufsätze, widerlegte Erzählung von neuem auftischte, die Prinzessin sei 1715 in Wirklichkeit nicht gestorben, sondern vor den Nachstellungen ihres Gemahls, des rohen Alexei, geflohen und habe sich in Amerika mit einem französischen Edelmann wieder verheiratet. Der Ursprung dieser romantischen Erzählung ist nicht genau bekannt. Soweit sie sich verfolgen ließ, taucht sie zuerst im Jahr 1777, also über sechzig Jahre nach dem Tode der Prinzessin, auf, und zwar in den »Nouveaux voyages d'Amérique septentrionale« des französischen Forschungsreisenden Bossu, der sie von einer »ziemlich großen Anzahl glaubwürdiger Personen« vernommen haben will, doch erschien ihm selbst das Gerücht so unglaublich, daß er jede Bürgschaft für dessen Richtigkeit ablehnen zu müssen erklärt. Weit bestimmter, sonst aber völlig mit Bossu übereinstimmend, findet sich dieselbe Geschichte in den wenige Jahre später von La Place veröffentlichten »Pièces intéressantes et peu connues, pour servir à l'histoire«, Brüssel und Paris 1781, 2. Aufl. 1785, Band I, S. 178 fg. wo sie eine Episode in einer Anekdotensammlung aus dem Nachlaß des Historikers Duclos bildet. Ja Duclos will die Zarewna im Jahre 1768 in Vitri, in der Nähe von Paris, wo sie unter dem Namen einer Frau von Moldack gelebt habe, selbst gesehen haben. Eine Erzählung, die 1797 in dem Journal »Flora, Deutschlands Töchtern geweiht« unter dem Titel »Die deutsche Prinzessin« erschien, beruht wohl auf Duclos' Bericht. Vielleicht ist Zschokke dadurch zu seiner anmutigen Novelle »Die Prinzessin von Wolfenbüttel« angeregt worden, wenigstens schließt er sich ihr im großen und ganzen an, wenn er auch manche Einzelheiten frei gestaltet und dichterisch ausgeschmückt hat. Charlotte Birch-Pfeiffer verarbeitete den romantischen Stoff unter dem Titel »Santa Chiara« Universal-Bibliothek Nr. 2917. zu einem Opern-Libretto, zu dem der Herzog Ernst von Sachsen-Coburg die Musik schrieb, und endlich publizierte Luise Lüdemann die schon erwähnten »Fragmente aus dem ungedruckten Tagebuche einer Großfürstin von Rußland,« die von der Prinzessin einem Buchhändler Nothomb in Brüssel übergeben sein sollen, mit dem Wunsche, sie erst fünfzig Jahre nach ihrem Tode zu veröffentlichen; durch Nothomb soll das Manuskript an Fräulein Lüdemanns Vater gelangt sein. Ohne die bona fides der Herausgeberin im geringsten in Zweifel ziehen zu wollen, wird doch ein Sachkundiger die Unechtheit dieser Memoiren auf den ersten Blick erkennen. Denn abgesehen von zahlreichen unbedeutenderen historischen Unrichtigkeiten, wiederholen sie die schon so häufig, besonders von Guerrier in seiner ausführlichen, auf authentischen Dokumenten und Briefen beruhenden Biographie Die Kronprinzessin Charlotte von Rußland, Schwiegertochter Peters des Großen, nach ihren noch ungedruckten Briefen (Bonn 1875). Charlottens widerlegte Sage von deren Fortleben in Amerika und tragen dadurch den Stempel der Unechtheit an der Stirn. Man lese bei Guerrier die eingehenden zeitgenössischen Berichte über den Verlauf der Krankheit, den Tod und die Beisetzung der Prinzessin, die mit dem angeblichen Tagebuch in krassestem Widerspruch stehen, und man wird nicht den geringsten Zweifel haben, daß es sich nur um eine weitere novellistische Bearbeitung des interessanten Themas handelt, die, mag sie von Nothomb oder einem andern herrühren, ihrem Stil und ihrer Fassung nach auf das Ende des 18. Jahrhunderts hinweist.
Weniger sagenumwoben, in Wirklichkeit aber viel abenteuerlicher ist die Lebensgeschichte des Helden der zweiten Erzählung dieses Bändchens. Wenn jemand den Wechsel des Glückes erfuhr, so war es Alexei Menczikoff, der sich vom Pastetenbäckerjungen zum allmächtigen Regenten des russischen Reiches aufschwang, um endlich in der Verbannung in Sibirien zu enden. Sein Lebensbild ergänzt und setzt die im fünften Bündchen der geheimen Geschichten geschilderte Regierungszeit Katharinas I. fort.