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Dritte Stunde: Zur Mitternachtsstunde

1

Die Lampe war ausgegangen, und der Mondschein erstreckte sich in großen, breiten Vierecken ganz bis zum Tisch und zum Flügel.

Der weiße, zitternde Schein erfüllte das Zimmer, so daß Werner und Helwig, die am Tisch saßen, deutlich jeden Zug und jeden Stimmungswechsel in ihren Gesichtern unterscheiden konnten; aber die zarten, bleichen Mondschatten verwischten, veränderten und gaben allen Linien einen eigenen, geheimnisvollen Reiz. Der Blick leuchtete dunkel wie hinter einem zitternden Schleier; und die Stimme, die bei dem feierlichen Licht gedämpft, fast flüsternd wurde, klang aufrichtig und betörend, als sei es das Herz selbst, das sich öffnete und sprach.

Als Doktor Sylt und Fräulein Selma ins Zimmer traten, übersahen die kleinen, scharfen Augen des Doktors schnell die Situation.

»Aha,« sagte er, »Sie sitzen hier zusammen im Mondschein und plaudern miteinander wie zwei ganz natürliche Menschenkinder.«

Hilsöe richtete sich auf, sah ihn fest an und sagte:

»Als was sollten wir sonst miteinander plaudern?«

»Nein, natürlich! Ich konstatiere nur eine Tatsache.«

Der Doktor blieb neben dem Flügel stehen und starrte in den Mondschein, der auch ihn berauschte.

»Es war kein Petroleum mehr auf der Lampe!« sagte Frau Helwig erklärend und legte sich mit geschlossenen Augen im Stuhl zurück.

Fräulein Selma ging um ihren Stuhl herum zum Tisch und hob die schwere Lampe.

»Ich werde sie hinaustragen und füllen!«

Frau Helwig streckte die Hand aus und hielt sie zurück.

»Ach nein – die Nacht ist so schön!«

Dann richtete sie sich auf und sagte ins Zimmer hinein:

»Herr Hilsöe und ich haben gemeinsame Bekannte gefunden.«

»Ja, die Welt ist klein!« sagte Hilsöe.

Der Doktor setzte sich auf das Taburett vorm Flügel und sah mit seinen kleinen, scharfen Augen zu Frau Helwig hinüber.

»Ja, ja! Und wenn man einen großen Bekanntenkreis hat!«

Frau Helwig merkte den forschenden Blick und erhob sich.

»Wie geht es denn dem Patienten?« fragte sie.

»Ich dachte mir wohl, daß Sie ungeduldig seien, etwas zu erfahren, Frau Hjarmer, deshalb kamen wir so schnell wie möglich herunter.«

Es klang ganz geradezu und unschuldig. Trotzdem fühlte Frau Helwig, wie ihr das Blut in die Ohren stieg.

»Sie ist etwas heiser!« begann der Arzt, indem er sie von der Seite anblickte. »Sie hat auch etwas Atemnot.«

Frau Helwig bemerkte nicht den feinen Übergang im Ton.

»Das kommt wohl alles von den Zähnen?« sagte sie, halb geistesabwesend, und strich sich über die weiße Stirn.

»Hm – die Zähne!« Der Doktor sah zur Seite und sann einen Augenblick nach, während er seinen schweren Oberkörper auf dem Taburett hin und her wiegte. »Ja, ja, wir werden sehen, Frau Hjarmer!«

»Was ich noch sagen wollte,« fügte er hinzu und erhob sich, »es ist ein kleiner Belag da, den ich gern näher untersuchen möchte. Wenn ich von der Leichenbesichtigung komme, gehe ich mal bei mir zu Hause vor und hole die Instrumente.«

Fräulein Selma wurde es plötzlich angst zumute.

»Die Instrumente, Herr Doktor?«

Auch Frau Helwig wandte sich hastig zu ihm um.

»Soll sie geschnitten werden?«

»Ach was, geschnitten!« sagte der Doktor spöttisch. »Es gibt so viele Sorten Instrumente bei uns Tausendkünstlern, Frau Hjarmer. Mit den bloßen Fäusten geht es ja nicht immer.«

»Dann kommen Sie wieder hierher, Herr Doktor?« fragte Fräulein Selma.

»Ja, das tue ich!« antwortete der Doktor und sah auf seine Hände herab.

»Noch heute nacht?« fragte sie weiter und strich die aschblonde Locke von den Augen zurück.

Doktor Sylt sah zu ihr auf und sagte sanft und geradezu:

»Ja, weshalb nicht, kleines Fräulein? Man soll nicht bis zum folgenden Tag aufschieben, was man in einer hellen und stillen Sommernacht tun kann.«

Frau Helwig lächelte:

»So heißt es nun nicht, Doktor.«

»Sie wissen wohl, daß ich meinen eigenen kleinen Sprichwortschatz habe! Und da man nun einmal in den Kleidern ist – und die Leichenschau – und so weiter.«

Dann schloß er die Jacke und ging auf die Kontortür zu.

»Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, Doktor Sylt!« sagte Frau Helwig – und fügte hinzu, als er die Tür erreicht hatte:

»Wir lassen die Tür offen stehen; es kann ja doch niemand von uns schlafen.«

Doktor Sylt sah sie mit seinen kleinen, scharfen Augen an und sagte gleichgültig:

»Nein, das läßt sich denken!«

Fräulein Selma ging rasch auf ihn zu:

»Sie bleiben wohl nicht zu lange fort, Herr Doktor?«

»Und weshalb?«

»Wenn die arme Kleine nun keine Luft bekommen kann?«

Der Doktor klopfte ihr die Wange mit seiner behaarten Bärentatze.

»Setzen Sie sich zu ihr, und halten Sie ihre Hand, dann wird sie schon ruhig werden. Ich komme, sobald ich kann – das wissen Sie.«

Dann ging er durchs Kontor hinaus.

*

 

2

Nachdem Doktor Sylt gegangen war, stand Fräulein Selma einen Augenblick mitten im Zimmer.

Sie sah verstohlen zu Frau Helwig hinüber, die sich gegen den Tisch lehnte und in den Mondschein starrte, während Herr Hilsöe schweigend und unbeweglich im Lehnstuhl saß, als warte er nur darauf, daß sie gehen solle.

Es ärgerte sie, ihn dort in des Amtsvorstehers Stuhl sitzen zu sehen, als wäre er in diesem Zimmer bereits zu Hause; und es wurde ihr plötzlich klar, daß es ein Unglück sei, daß er überhaupt gekommen war.

Da bekam sie eine Idee.

»Ach richtig, Herr Hilsöe,« sagte sie, »ich sollte Ihnen sagen, daß das Fremdenzimmer hergerichtet ist. Wenn Sie so freundlich sein wollen, mir zu folgen, will ich Ihnen hinaufleuchten.«

Helwig verstand, was in dem jungen Mädchen vorging. Sie richtete sich auf und sagte:

»Das Zimmer ist nur klein; aber wir haben es nicht besser, darum muß ich Sie bitten, fürlieb zu nehmen!«

»Ich bin nicht anspruchsvoll, Frau Hjarmer!« Hilsöe stand langsam auf. »Im übrigen –«

»Was schadet es, daß das Zimmer klein ist,« sagte Fräulein Selma, froh, daß ihre List gelungen war, »wenn man nur das Fenster aufstehen läßt. In so einer Nacht!«

»Das ist es ja gerade, mein Fräulein. In so einer Nacht finde ich es schade, überhaupt zu schlafen.«

Frau Helwig begann im Zimmer hin und her zu gehen.

»Sie müssen doch sehr müde sein, Herr Hilsöe – nachdem Sie den ganzen Tag gereist sind – und dann nach all dem Schrecklichen!«

»Ich werde nicht so leicht müde. Und wenn gnädige Frau doch aufbleiben, wie ich hörte, so bitte ich um die Erlaubnis, Ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen, bis der Herr Amtsvorsteher zurückkommt.«

»Wie Sie wollen, Herr Hilsöe,« sagte sie zögernd, »mein Mann muß ja übrigens bald wieder hier sein.«

Fräulein Selma konnte kaum ihre Enttäuschung verbergen; sie sah mit heimlicher Bekümmerung von einem zum anderen.

»Ja, ja,« sagte sie schließlich, als keiner von ihnen Miene machte, zu sprechen, »dann gehe ich zum Kind hinauf! – Bitte, klingeln Sie nur, Frau Hjarmer, wenn Sie etwas wünschen.«

»Danke – was sollte das sein?«

»Ich meine nur – wenn Stine zu Bett gehen sollte.«

»Danke, Fräulein Sindal – es ist gut.«

*

 

3

Als Fräulein Sindal die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb Frau Helwig wieder im Mondlicht stehen und starrte in den Garten hinaus, die Hände hinter dem Nacken verschlungen. Sie hörte, wie Werner Hilsöe sich ihr auf dem Teppich näherte; aber sie rührte sich nicht. Das Licht bannte sie.

»Weshalb wollen Sie gegen Ihr eigenes Ich ankämpfen?« fragte er leise.

»Ich kämpfe gegen das Märchen!« antwortete sie still, ohne den Kopf zu wenden.

Er betrachtete ihre schlanke Gestalt, wie sie dort stand, das feine Profil leicht zurückgebogen, die halbgeschlossenen Lider und die kurze, flaumige Oberlippe, die von dem Stimmungsspiel, das sie gefangen hielt, hochgezogen wurde. Er sah das seidenfeine Bronzehaar in dem zitternden Licht flimmern, während der kräftige Bogen des Busens sich hob und senkte.

»Es waren von jeher zwei Naturen in Ihnen!« sagte er. »Die beherrschte und vorsichtige Landratstochter – und dann die –«

»Welche?« fragte sie.

»Sie erzählten mir einst von dem Geschlecht Ihrer Mutter!« kam es nach einem Augenblick des Zögerns.

Sie verstand die Andeutung, die in seinen Worten lag.

»Und weil meine Großmutter eine Abenteuerin – eine Zigeunerin – ein Nomade war – deshalb meinen Sie –«

Er trat dicht an sie heran und flüsterte ihr warm und leise ins Ohr:

»Erinnern Sie sich noch des jungen, strahlenden Weibes, dessen nackten Hals ich einst vor dem Spiegel küßte?«

Helwig nickte langsam. Sie sah es wie ein Bild vor sich, leibhaftig im Mondenschein; und sie fühlte von neuem das berauschende Beben, das sie damals gefühlt hatte.

»Das war die echte Helwig Lönfeldt?« flüsterte er.

»Sie war noch ein Kind.«

»Nein, sie war ein Weib. Sie war keine Dame, die an Ansehen und Ehe dachte – an all das Gewisse und Sichere. Sie war ein Weib von der Hand der Natur, deren große, tiefe Augen mit Stolz verrieten, was sie ehrlich fühlte.«

Helwig erinnerte sich Fräulein Sindals Worte von vorhin.

»Wenn ich Sie nun wegen Ihrer Dreistigkeit geschlagen hätte?« sagte sie. Sie fühlte seinen heißen Blick auf ihrem Hals und zitterte dabei.

»Dann stände ich nicht hier in dieser Nacht!«

»Da sehen Sie selbst, – ich hätte es tun sollen!«

»Aber Sie taten es nicht!« flüsterte er wieder dicht an ihrem Ohr. »Und soll ich Ihnen sagen, weshalb?«

Sein Mund berührte fast ihre Schläfe. Sie fühlte die Nähe seiner hohen, starken Gestalt wie eine Kraft, der sie sich hingeben oder weichen mußte. Sie löste die Hände von ihrem Nacken und zog sich von ihm ans Fenster rechts zurück.

Er aber folgte ihr und flüsterte:

»Weil Sie mir Ihr ganzes, junges Herz in jenem Augenblick schenkten!«

»Woher wissen Sie das?«

Ihre Stimme wurde nicht kalt und fremd, wie sie es gewollt hatte. Sie wurde ängstlich und bebend.

»Sonst hätten Sie mich ja geschlagen!« sagte er; und sie merkte an seiner Stimme, daß ein Lächeln um seine Lippen lag.

Er hatte sie überrumpelt. Jetzt schwieg sie.

»Und späterhin« – er kam ihr wieder ganz nah; jetzt verfolgt er seinen Sieg, dachte sie – »das junge, strahlende Weib, das Freude um sich verbreitete, wo es ging und stand – die auf die verabredeten Schläge gegen die Wand lauschte, um sich hinauszuschleichen, wenn alles im Hause schlief – um mit dem Freund auszufliegen, der ihr das ganze geheimnisvolle Leben zeigen sollte, das hinter dem Gewissen und Sicheren lag – das war die stolze, das war die Helwig Lönfeldt, die ihr Herz ohne Vorbehalt gab.«

Sie sah alles im Mondlicht vor sich; der tiefe, warme Klang seiner Stimme gab dem allem von neuem Leben. Sie beugte den Kopf und flüsterte still und bebend in den Mondschein hinaus:

»Wie glücklich waren wir damals!«

»Ja, wir waren glücklich! – Und wir waren stolz – und trotz all der Ungebundenheit – trotz aller hämischen Verleumdungen der Neidischen: nicht ein Fleck, nicht ein Hauch auf Ihrer Frauenehre! – Und jetzt – jetzt, da Sie zu dem Sicheren und dem Gewissen zurückgekehrt sind – in den Augen der Welt Ehre und Ansehen zurückgewonnen haben – schämen Sie sich jetzt nicht im Grunde Ihres Herzens?«

Ja, sie schämte sich. Sie fühlte, wie das Blut ihr in die Wangen stieg – das Blut der Scham. Sie schämte sich in ihrem Herzen, daß sie hätte weinen können.

»Weshalb nahmen Sie mich damals nicht zu eigen?« flüsterte sie, während ihre Kniee zu zittern begannen.

»Und das fragen Sie? – Haben Sie die eine helle Nacht vergessen? – Haben Sie den Duft der Syringen in der Laube vergessen? – Haben Sie vergessen, daß ich Sie in meine Arme nahm, daß ich ...«

Sie konnte es nicht länger ertragen.

»O, schweigen Sie!« bat sie mit Tränen in den Augen. »Sprechen Sie jetzt nicht davon!«

Aber Werner Hilsöe ließ sich nicht länger zurückhalten. Er sprach von dem, was seines Lebens Schicksal geworden war. Einige reumütige Frauentränen konnten ihn nicht zum Schweigen bringen.

»Konnte ich dafür, daß man uns vermißte, daß man rief? – Konnte ich dafür, daß der Augenblick zerstört wurde, der uns für ewig zusammenbinden sollte?«

Sie senkte den Kopf; – es war, als ob sie unter dem Gewicht der Tränen, die aus ihrem gequälten Herzen heraufquollen, zusammenbrechen mußte. Sie wandte den Kopf von ihm ab und legte ihre Hand über die Augen, während ihr Körper von einem lautlosen Schluchzen geschüttelt wurde.

»Ach, Helwig – weshalb kam dieser Augenblick nicht zurück?«

Sie schwieg noch immer und nahm die Hand nicht von den Augen.

Da legte er den Arm um ihre Taille und flüsterte:

»Wenden Sie sich um und sehen Sie! – Nein, nehmen Sie die Hand von den Augen! – Sehen Sie, es ist eine Nacht wie damals! – Hören Sie, es flüstert im Mondenlicht von entschwundenen Träumen! Es flimmert und schwirrt wie von tausend unsichtbaren Glücksfäden, die wir hätten greifen sollen! – Geliebte, wie konntest du mir das antun?«

Ihr Kopf sank gegen seine Schulter, während das Schluchzen nachließ.

»Merkst du den Duft der Syringen? Siehst du, wie es dort draußen im Mondschein unter der Kastanie tanzt? – Hörst du, es klingt wie von Flöten, die uns rufen – fort von dem Sicheren und Gewissen, das dich so lange gefangengehalten hat – hinaus zum Märchen, das uns von neuem in der stillen Nacht zusammenführt. Sieh, wie die Elfen ihre lichten Schleier dort hinten zwischen den Stämmen schwingen! – Sieh nur, sieh! – Die ganze große, freie Welt liegt dort im Licht vor uns! – Komm, laß uns hinausgehen!«

Werner Hilsöe zog Frau Helwig mit sich in den Garten hinaus in die stille, mondhelle Nacht.

*

 

4

Bald darauf ging die Haustür, und man hörte Hjarmers Stimme aus dem Kontor:

»Sie können gehen, Herr Arrestvorsteher, aber vergessen Sie nicht dem Pferdehändler Sörup zu telephonieren! Petersen soll hierbleiben und weitere Order entgegennehmen!«

Als der Amtsvorsteher mit Mamsell Berg ins Zimmer trat, blieb er stehen und sah sich überrascht um.

»Niemand hier? – Und die Lampe ausgegangen? – Das ist doch –«

Da sah er, daß die Verandatür offen stand. Er legte die dicke Dokumentenmappe, die er unterm Arm trug, auf den Rauchtisch, trat in die Tür und rief zu dem großen Rasen hinaus, der mit den Kastanienbäumen im Mondlicht gebadet dalag:

»Ist da jemand?«

Keine Antwort.

»Bist du da, Liebste?« rief er wieder.

»Hallo!«

Es war die tiefe Stimme des Ingenieurs.

»Ah, Sie sind es, Herr Hilsöe? – Ist meine Frau da?«

»Wir sitzen hier in der Laube!« antwortete Frau Helwig von draußen. Und Werner Hilsöes tiefe Stimme fügte hinzu:

»In der schönen, warmen Nacht!«

»Ja, meinetwegen gern!« antwortete Hjarmer beruhigt. »Wenn du dich nur nicht erkältest!«

»O, das hat keine Not!« rief Hilsöe zurück.

»Dann verhandle ich inzwischen mit Mamsell Berg.«

Hjarmer schloß die Glastür, weil er Zugluft fürchtete, und trat ins Zimmer zurück.

»Wir können inzwischen ungestört miteinander reden, Mamsell Berg! Bitte, nehmen Sie Platz! Ich will nur eine Lampe holen!«

Während er ins Kontor ging, nahm die Haushälterin mit ihrer langen, eckigen Gestalt in einem der Lehnstühle Platz. Sie blickte sich neugierig im Zimmer um, musterte den Gardinenstoff mit ihrem scharfen Vogelblick, soweit die Entfernung es zuließ, und befühlte die Güte der Tischdecke mit ihren knochigen Fingern.

Hjarmer kam mit der Studierlampe zurück, die er im Nebenzimmer angezündet hatte. Er setzte sie auf den Tisch und trug die Wohnzimmerlampe mit dem grünen Seidenschirm auf die Kaminplatte.

Dann nahm er die Dokumentenmappe vom Rauchtisch.

»So!« sagte er und setzte sich auf den Puff vor Mamsell Berg, öffnete die Mappe, die mit einem Schlüssel verschlossen war, und zog eine alte, steife Lederbörse hervor.

»Sehen Sie – das Portemonnaie war also unberührt!«

Er öffnete und untersuchte die Fächer.

»Hier ist etwas Silber – vier – fünf Kronen – und etwas Kupfer – und dies ist ein alter Stempel, wie es scheint.«

Mamsell Berg sah andächtig zu.

»Den kenne ich nicht!« sagte sie.

Dann öffnete er den innersten Raum, der einen Extraverschluß hatte.

»Und hier,« fuhr er interessiert fort, »ist ein Stück Papier, worauf Nummern geschrieben stehen. – Sie meinen also, Mamsell Berg, daß dies die Nummern –«

»Ja – das sind die Nummern der Hundertkronenscheine, die er aufschrieb, während der Pferdehändler Sörup und ich dabeisaßen.«

»Das ist ein sehr wichtiges Indizium!« sagte Hjarmer, während er den Zettel wieder hineinsteckte, die beiden Schlösser sorgfältig verschloß und das Portemonnaie in die Mappe legte.

»Wenn Sie richtig gesehen haben, Mamsell Berg, dann kann der Mörder also nicht einen einzigen der gestohlenen Scheine ausgeben, ohne daß wir ihn sofort haben.«

»Jesses ja!« seufzte sie, bewegt von dem Gedanken an das viele schöne Geld, das der böse Mensch gestohlen hatte.

»Sehen Sie!« begann der Amtsvorsteher wieder, indem er sich an den Kopf griff, der sich durch einen plötzlichen Schmerz bemerkbar machte. »Außer diesem Zettel mit den Nummern haben wir noch einen Gegenstand. Petersen fand, als er die Mordstelle untersuchte, einen Zigarettenstummel.«

Er suchte in der Mappe und zog die Streichholzschachtel hervor, in der er den Stummel aufbewahrt hatte.

»Hier ist er,« sagte er und untersuchte ihn sorgfältig.

»Es ist eine ägyptische Zigarette – wohl eine teure Marke. Papier und Tabak sind ganz trocken – als wäre sie eben erst fortgeworfen!«

Mamsell Berg betrachtete den Stummel mit einem Blick, als wäre es die Mordwaffe selbst.

»Heiliger Himmel.«

Der Amtsvorsteher legte den Stummel wieder hinein und schob die Schachtel in die Mappe, die er sorgfältig verschloß.

»Nun sagen Sie mir, Mamsell Berg, erinnern Sie sich, ob der Verstorbene jemals Zigaretten geraucht hat?«

»Nein, niemals. Herr Hilsöe rauchte eine einzige Zigarre nach Tisch und sonst nur seine Meerschaumpfeifen. Er hatte eine für jeden Tag in der Woche.«

»Haben Sie darauf geachtet, ob der Pferdehändler Sörup rauchte, als er kam?«

»Jesses ja! Sörup kam immer mit seiner Holzpfeife an, und die nahm er nicht aus dem Mund, außer wenn er aß und trank.«

»Und soviel Sie wissen, ist niemand heute, gestern oder vorgestern über die Verandatreppe zu Herrn Hilsöe gekommen?«

»Jesses nein! Es kam keiner zu ihm, der nicht über die Haupttreppe ging.«

Der Amtsvorsteher erhob sich.

»Ja, Mamsell Berg,« sagte er, indem er die Mappe auf den Rauchtisch legte, »mehr Fragen habe ich wohl im Augenblick nicht an Sie zu stellen. Nur noch eines – was ich Ihnen hier mitgeteilt habe, erfordert natürlich strengste Diskretion!«

»Was erfordert es?« Mamsell Berg sah ängstlich, verständnislos mit ihrem Vogelblick zu ihm auf.

»Ich meine, Sie dürfen niemand gegenüber erwähnen, was gefunden worden ist – was ich Ihnen eben mitgeteilt habe. Verstehen Sie? Ich mache Sie dafür verantwortlich!«

Mamsell Berg zog erschrocken ihren eckigen Oberkörper zurück.

»Heiliger Himmel! – Nicht ein Wort soll über meine Lippen kommen!«

»Gut, dann sind wir fertig für diesmal. Sie werden später – vielleicht schon bei einem Verhör morgen – Ihre Erklärungen unter Eid wiederholen müssen.«

Mamsell Berg sah ihn feierlich an und hob die Knöchelhand, als ob sie gleich einen Eid ablegen wolle:

»Ich kann jedes einzige Wort beschwören, Herr Amtsvorsteher!«

»Nun, um so besser!«

Hjarmer reichte ihr die Hand.

»Gute Nacht, Mamsell Berg!«

Die Haushälterin aber blieb stehen, drehte sich verlegen und strich mit ihren groben Händen über die Taille.

»Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?« fragte Hjarmer und sah sie müde an.

»Ja, was ich noch sagen wollte –« kam es zögernd, während es um den strammen Mund zuckte, »man ist ja so unwissend wie ein neugebornes Kind!«

»In welcher Beziehung?«

»Was aus einem werden soll und so – denn der Tod des Herrn Hilsöe ist ja solch ungeheurer Verlust für mich.«

»Es tut mir leid um Sie, Mamsell Berg,« der Amtsvorsteher rieb sich ungeduldig die weißen Hände, »aber ich weiß nichts Besseres, als daß Sie sich an den Erben wenden und ihn bitten, im Namen des Verstorbenen etwas für Sie zu tun!«

»Die Sache ist aber die, Herr Amtsvorsteher,« Mamsell Berg wurde eifrig, und die blauroten Flecke vergrößerten sich auf den Backenknochen, während die dunkelgerandeten, hellgrauen Augen unruhig blinkten, »ich weiß nicht recht, wie ich mit dem jungen Hilsöe stehe.«

»Mich dünkte, er sagte, daß er Sie von früher her kenne!«

Hjarmer verbarg ein Gähnen hinter seiner weißen Hand.

»Ja, aber sehen Sie, das hat nun so seine eigene Bewandtnis, denn offen gestanden – aber Herr Amtsvorsteher müssen mir versprechen, daß es unter uns bleibt – der junge Hilsöe wurde seinerzeit fortgeschickt, weil er den Namen des Alten auf einem Wechsel gefälscht hatte – oder wie man es nennt!«

»Was Sie sagen!« Hjarmer war wieder ganz Ohr. »Woher wissen Sie das, Mamsell Berg?«

»Das hat mir Herr Hilsöe gesagt. Denn er war so fuchswild, als er den Brief von der Bank bekam, daß er seine Galle an jemand auslassen mußte. Und dazu gebrauchte er gewöhnlich mich – weil er wußte, daß von mir nichts unter die Leute kam, was nicht weiterkommen sollte.«

»Sie meinen also, daß Herr Hilsöe Ihnen nicht freundlich gesinnt ist!« schnitt Hjarmer ihren Wortstrom ab, der sich in die Länge zu ziehen drohte.

»Nein, sicher nicht.«

Mamsell Berg nickte entschieden mit dem Kopf und wischte sich ihre lange Nase mit der Knöchelhand, bevor sie wieder begann:

»Denn sehen Sie, da war ja die Enterbung – und das ist es eben, was mir bei der ganzen Sache vollständig unbegreiflich ist, denn ich hab doch das Papier, das er damals schrieb, mit meinen eigenen Augen gesehen – darauf könnte ich einen Eid leisten!«

»Das Testament, von dem Sie sprachen und das Sie nicht finden konnten?«

»Ja! – Denn es war dasselbe, in dem er mich, rein herausgesagt, wegen meiner treuen Dienste bedachte und im übrigen der Stadt und dem Amtsbezirk das Ganze vermachte.«

»Ja, ja!« unterbrach der Amtsvorsteher. – »Im Erbschaftsamt werde ich später Gelegenheit haben, mich näher mit dieser Sache zu beschäftigen. Aber ich will Ihnen doch jetzt schon so viel sagen, Mamsell Berg« – und der Amtsvorsteher richtete seine Augen schärfer auf sie – »wenn Sie, die sie alle Verhältnisse kannten und – hm! – den Schlüssel zu seinen Schubfächern hatten – wenn Sie dieses Papier nicht finden konnten – dann wird es wahrscheinlich gar nicht mehr existieren. Er hat sich wohl später eines Besseren bedacht und es vernichtet.«

Mamsell Berg schluckte. Es zuckte wie Weinen um ihre schmalen Lippen.

»Ach, Himmel – das ist ja das Traurigste bei der ganzen Geschichte!«

Den Amtsvorsteher dauerte die offenbare Ratlosigkeit der ältlichen Person. Sie war doch Zeit ihres Lebens eine treue Dienerin gewesen.

»Ich will gern,« sagte er zögernd – »das heißt, wenn Sie es ausdrücklich wünschen – Herrn Hilsöe darauf aufmerksam machen, wie viel Sie augenscheinlich seinem Onkel gewesen sind.«

Mamsell Berg bekam plötzlich Tränen in die Augen, die klar wie Glas wurden. Sie ergriff Hjarmers Hand und sagte, während sie geräuschvoll durch die lange, knochige Nase atmete:

»Dafür wäre ich Ihnen von Herzen dankbar, Herr Amtsvorsteher!«

»Ja, ja, soll geschehen!« sagte Hjarmer tröstend und zog seine Hand zurück.

»O, tausend Dank, Herr Amtsvorsteher! – Und Gottes Segen über Sie!«

»Schon gut, Mamsell Berg!«

*

 

5

Fräulein Selma kam aus dem Eßzimmer.

»Ah, da ist Fräulein Sindal!« sagte Hjarmer. – »Dann müssen Sie mich jetzt, bitte, entschuldigen.«

Mamsell Berg wischte sich den Mund mit ihrem sorgsam gefalteten Taschentuch.

»Gute Nacht, Herr Amtsvorsteher! Und vielen Dank auch! – Und wenn ich Sie bitten dürfte, die gnädige Frau zu grüßen und Herrn Hilsöe, bitte, auch!«

»Danke, danke!«

Hjarmer begleitete sie zur Kontortür.

»Gute Nacht, Fräulein!« sagte sie und wandte sich in der Tür zu dem jungen Mädchen um, das schweigend nickte.

Als sie glücklich draußen war, atmete Hjarmer tief auf und griff sich an den Kopf mit einem schmerzlichen Zug um die Lippen.

»Ist der Kopf wieder schlimm, Herr Hjarmer?« fragte das junge Mädchen und sah ihn mit ihren großen, treuherzigen Augen teilnahmvoll an.

»Ja, das kann ich nicht leugnen!«

»Es ist auch furchtbar viel passiert heute. Mich dünkt, während der ganzen Zeit, die ich hier im Hause gewesen bin, ist nicht so viel vorgefallen wie in dieser einen Nacht.«

Sie sah sich zu dem Mondlicht um, während ein plötzliches Gefühl des Unbehagens ihr ans Herz griff.

»Ich weiß nicht wieso; – aber mir ist, als würde noch viel passieren, bevor es Morgen wird!«

Hjarmer lächelte ihr zu:

»Na, na, kleines Fräulein, werden Sie mir nicht auch nervös, Sie, die die Stärkste von uns allen waren? – Ohne Sie können wir gar nicht fertig werden!«

»Wo ist Frau Hjarmer und Herr Hilsöe?« fragte sie, indem sie ihre Besorgnis zu verbergen suchte.

»Sie waren im Garten, während ich mit Mamsell Berg sprach.«

Fräulein Selma wandte sich ihm plötzlich ganz zu und sagte ärgerlich:

»Hören Sie mal, Herr Hjarmer, können Sie diesen Hilsöe nicht dazu bewegen, zu Bett zu gehen?«

»Aber weshalb denn?« Hjarmer sah sie mit seinen bleichen, müden Augen erstaunt an. »Es ist doch gut, wenn er sich wohl bei uns fühlt.«

Fräulein Selma rümpfte ärgerlich die Nase.

»Erst hat man die Mühe gehabt, Zimmer und Bett instand zu setzen – und nachher spaziert er die ganze Nacht im Garten umher.«

Hjarmer legte freundlich seine Hand auf ihre Schulter:

»Sie haben einen langen, anstrengenden Tag gehabt, Fräulein Sindal – und nun ist das Kind auch noch krank!«

»Ach – meinetwegen hat es nichts zu sagen!« Fräulein Sindal zog hastig ihre Schulter zurück und errötete. »Aber ich fürchte, Frau Hjarmer wird sich erkälten. Es fällt wohl starker Tau.«

»Nein – der Tau fällt gleich nach Sonnenuntergang. In diesen klaren Mondnächten ist es ganz trocken.«

Er griff sich hastig wegen eines plötzlich jagenden Schmerzes an den Kopf.

»Ach, ja, ja!« seufzte er müde.

»Ist es so schlimm?« fragte sie und sah ihn ängstlich an. »Soll ich Ihnen nicht Ihre Pulver holen?«

»Danke, liebes, kleines Fräulein! – Wenn ich mich nicht hinlegen kann, dann nützen sie nichts.«

»So gehen Sie doch zu Bett, Herr Hjarmer!«

»Wo denken Sie hin! – Ich warte ja auf den Doktor. – Und außerdem – ich hab den Kopf so voll von der großen, neuen Sache, daß ich unmöglich schlafen kann.«

»Hören Sie mal – sagen Sie mir ganz ehrlich,« fügte er ängstlich hinzu, »was glauben Sie, daß Doktor Sylt mit Ellen vorhat?«

»Ich weiß es nicht!« Sie bedachte sich einen Augenblick, während ihre runden Finger über den Samt des Sessels strichen. Dann fügte sie vorsichtig hinzu, ohne ihn anzusehen:

»Ich glaube, er will etwas im Hals untersuchen.«

Hjarmer versuchte ängstlich ihren Blick aufzufangen.

»Im Hals? – Hat er nicht? – Er hat wohl nicht von Serum oder dergleichen gesprochen?«

»Davon hat er nichts gesagt, Herr Hjarmer!«

*

 

6

Im selben Augenblick ging die Haustür, und der Doktor kam durchs Kontor herein.

»Ah, da sind Sie ja!« sagte Hjarmer und ging rasch auf ihn zu. »Wir sprachen eben von Ihnen. Wir finden, daß Sie so geheimnisvoll tun, Herr Doktor.«

Der Ton sollte munter sein, aber es glückte Hjarmer schlecht, seine Furcht zu verbergen.

»So was dürfen Sie mir nicht nachsagen!« antwortete Sylt, legte seinen großen, weichen Hut auf das Taburett vor dem Flügel und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Können Sie uns nicht über Ellen reinen Wein einschenken?«

Doktor Sylt warf ihm einen hastigen Seitenblick aus seinen kleinen, scharfen Augen zu. Dann zog er den Hosenbund hoch und sagte ernst:

»Nein, Hjarmer, das kann ich nicht. Und wenn ich es könnte, würde ich es vielleicht doch nicht tun.«

Hjarmer sah ihn forschend an; aber es war kein außergewöhnlicher Ausdruck in dem runden Gesicht mit dem struppigen Bart zu finden.

»Das klingt ja wie ein delphischer Orakelspruch!« sagte er unsicher.

»Ich geh hinaus und rufe Frau Hjarmer!« sagte Fräulein Selma.

»Ja, das ist recht, Fräulein Sindal.«

Während Fräulein Sindal durch die Glastür in den Garten hinausging, zog Doktor Sylt einen Zettel aus der Brusttasche und reichte ihn Hjarmer.

»Bitte! Ich habe den Sterbeschein gleich zu Hause ausgestellt.«

»Danke!« Hjarmer nahm das Papier und überlief es hastig. »Also näher können wir der Sache nicht kommen, Doktor, als daß der Tod etwa um zehn Uhr eingetreten ist!«

»Nein – mehr ist nicht darüber zu sagen!«

Während Hjarmer das Papier zusammenfaltete und zum Rauchtisch ging, um es in die Mappe zu den übrigen Sachen zu legen, sagte er:

»Ich nahm Mamsell Berg mit hierher. Sie hat dem Verstorbenen scheinbar sehr nahe gestanden.«

Der Doktor nickte bedeutungsvoll.

»So nah, wie eine Frau einem Manne überhaupt stehen kann! Aber das liegt nun schon etliche Jahre zurück.«

Hjarmer verschloß die Mappe wieder und trat an Sylt heran.

»Sie erzählte auch allerhand von dem jungen Hilsöe! Mich dünkt, Sie sagten, Sie kannten ihn?«

»Ich hab ihn mal als ganz jungen Mann behandelt!«

Doktor Sylt setzte sich in den Lehnstuhl, während Hjarmer auf dem Puff gegenüber Platz nahm.

»Was hatte er eigentlich für einen Ruf?« fragte er wieder.

Der Doktor sah verständnisvoll auf:

»Ach so – Sie meinen die Wechselgeschichte?«

»Sie kennen die Sache?«

»Gott ja! Alles sickert ja schließlich durch in dieser Welt. Ich hab es dem alten Widder recht gegönnt! Denn es geschah ihm recht, dem alten Geizkragen! Na, das war damals übrigens eine ganze Tragödie auf dem Ziegelhof.«

»Wieso?« fragte Hjarmer interessiert.

»Ja, sehen Sie –« der Doktor beugte seinen schweren Oberkörper vor und stützte die behaarten Bärentatzen auf die runden Knie – »der junge Hilsöe ist ein uneheliches Kind.«

»Ah so! Vielleicht des Alten eigener Sohn?«

»Nein – von seiner Nichte! Sie war Waise und führte des Alten Haus. Und da ließ sie sich mit einem Steuermann ein – es war in Hilsöes großen Tagen, als er sein eigener Reeder war und Fracht nach England hatte.«

»Und sie sollte den Steuermann nicht haben?«

»Er war nicht gut genug für eine Hilsöe, verstehen Sie? – Da grämte die Ärmste sich und starb im Wochenbett. Mein Vorgänger im Amt hat es mir erzählt. Der alte Widder aber nahm den Knaben zu sich und gab ihm seinen Namen. Und das ist die Geschichte des jungen Hilsöe.«

»Ob er sie selbst kennt?«

»Ohne Zweifel!«

»Glauben Sie, daß er sich Ihrer erinnert?«

»Meiner? – Ich glaube es fast. Ich möchte nur wissen, weshalb er mir einbilden will, daß wir nicht mit demselben Zug gekommen sind.«

»Ein Mißverständnis, Doktor!«

*

 

7

Frau Hjarmer und Werner Hilsöe kamen aus dem Garten, von Fräulein Sindal gefolgt.

Hjarmer ging Hilsöe entgegen und sagte lächelnd:

»Na – Sie genießen die Juninacht wohl ordentlich!«

Doktor Sylt zog die Schultern hoch und sah Frau Helwig von der Seite mit seinen kleinen, scharfen Augen an:

»Haben Sie den großen Pan gesehen, Frau Hjarmer?«

Sie erinnerte sich ihres Gespräches von vorhin und lächelte ihm mit ihren grauen Augen zu, die jetzt groß, tief und strahlend waren.

»Ja – er saß im Syringengebüsch und blies die Flöte!«

Hjarmer trat zu ihr:

»Du hättest deinen Schal umlegen sollen, Liebste! – Wenn man still sitzt, schleicht sich die Kälte heran. Die Nacht ist hinterlistig.«

Frau Helwig ging an ihm vorbei zum Flügel, mit ihren langen, starken Schritten, die Hände gegen die Hüften gepreßt.

»Ach – die Luft ist so still und milde!« sagte sie, ohne ihn anzusehen.

Es roch plötzlich nach Tabak. Fräulein Selma sah sich um. Ja, der Ingenieur rauchte. Er hatte sich in der augenblicklichen Verwirrung, als Fräulein Sindal sie in der Laube störte, eine Zigarette angezündet.

»Herr Hjarmer hat Kopfschmerzen!« sagte sie und sah den Ingenieur herausfordernd mit ihren großen, blauen Augen an. »Sie sollten das Rauchen lieber lassen, Herr Hilsöe!«

»Eine einzelne Zigarre –« beeilte Hjarmer sich zuvorkommend zu sagen, »schadet gar nichts!«

»Ja, aber Zigaretten!« sagte sie und sah eifrig zu Herrn Hilsöe hinüber, der die Zigarette aus dem Mund genommen hatte und nicht wußte, was er damit machen sollte.

Hjarmer wandte sich hastig um.

»Zigaretten?« wiederholte er unwillkürlich, während ihm eine plötzliche Ideenverbindung wie ein Blitz durch den Kopf schoß und jeden Schmerz verjagte.

»Herr Hjarmer kann den Geruch des verbrannten Papiers nicht vertragen!« sagte Fräulein Selma und sah sich nach einem Aschbecher um.

Hjarmer ging auf Herrn Hilsöe zu, während er nervös seinen Rock zuknöpfte.

»Ah – Sie rauchen Zigaretten!« sagte er und sah starr auf die Zigarette in Hilsöes Hand.

»Ich werde sie beiseite legen!«

Hilsöe ging zum Kamin, um sie fortzuwerfen.

Hjarmer kam ihm hastig zuvor.

»Einen Aschbecher!« sagte er zuvorkommend. »Lassen Sie mich, bitte!«

Damit ging er auf den Rauchtisch zu, von wo Fräulein Sindal ihm schon mit einem Aschbecher entgegenkam. Er nahm ihn ihr aus der Hand und reichte ihn Hilsöe, der die Zigarette darauf legte.

Den Blick starr auf den Aschbecher gerichtet, ging Hjarmer zum Rauchtisch zurück. Er zögerte einen Augenblick und vergewisserte sich, daß er nicht beobachtet wurde. Dann öffnete er die Mappe, nahm einige Dokumente heraus und öffnete in deren Schutze die Streichholzschachtel, in der der Zigarettenstummel aufbewahrt lag, den Petersen an der Mordstelle gefunden hatte.

Während Hjarmer am Rauchtisch stand und dem Zimmer den Rücken zukehrte, war Fräulein Selma damit beschäftigt, den Tisch abzuräumen. Sie setzte Teller und Teetassen auf das Servierbrett. Als sie auch die Gläser und die Whiskyflasche nehmen wollte, streckte der Doktor, der der häuslichen Geschäftigkeit der rundlichen Finger zugesehen hatte, abwehrend die Hand aus.

»Halt, Fräuleinchen! Den Whisky dürfen Sie nicht entführen. Herr Hilsöe und ich wollen noch ein Glas auf alte Bekanntschaft miteinander leeren.«

»Ich danke, Herr Doktor!« sagte Hilsöe. »Lieber ein andermal!«

»Wie Sie wollen!« Doktor Sylt ergriff die Flasche, schenkte sich selbst ein Glas ein und trank mit Wohlbehagen.

Dann zog er die Nachtluft ein und sagte:

»Niemand kennt die Nacht, bevor die Sonne aufgeht! – Man weiß nie, was einem zustoßen kann, wenn die Elfen Ringelreigen tanzen und die alte Schlange im Syringengebüsch auf der Lauer liegt.«

Er wandte sich an Frau Helwig, die an den Flügel gelehnt stand und, die Hand unterm Kinn, ins Mondlicht hinausstarrte.

»Was meinen Sie dazu, Frau Hjarmer?« fragte er mit seiner heimlichen Munterkeit.

Sie richtete sich hastig auf, schob die Brust vor, trat zu ihm an den Tisch und ergriff ein Glas.

»Schenken Sie mir ein, Doktor!« Ihr großer, grauer Blick strahlte in tiefem, seltenem Glanz, während die kleinen Augen des Doktors sie scharf betrachteten.

»Es lebe der Instinkt!« sagte sie und hob das Glas. »Es lebe der große, befreiende Sündenfall!«

Frau Hjarmers Stimme hatte einen eigenen, bebenden Klang, der Fräulein Selma erstaunt und besorgt aufblicken ließ.

Der Doktor hielt ihren Blick fest.

»Wie gelehrig Sie heute nacht sind, Frau Hjarmer!« sagte er leise mit seiner tiefen, heiseren Stimme. Dann fügte er hinzu, indem er den Kopf zu ihr hinneigte, als hätten sie Geheimnisse miteinander: »Sie haben wohl dem Flötenspiel draußen in der Mondscheinnacht gelauscht?»

Sie sah ihm fest und strahlend in die kleinen, scharfen Augen und antwortete im selben vertraulichen Ton:

»Die Schale beginnt abzufallen, Doktor, und wir fühlen plötzlich, daß wir ganz natürliche Menschenkinder sind!«

Der Doktor wandte den Blick ab, trank aus, richtete seinen schweren Oberkörper auf und sagte hart, fast streng, indem er das Glas aus der Hand setzte:

»So – jetzt wird es Zeit, daß ich zum Patienten hinaufgehe!«

Er wandte sich kurz und kalt zu Frau Hjarmer:

»Haben Sie etwas Salizylwatte?«

»Ich will nachsehen!«

Frau Hjarmer ging ins Eßzimmer, und er folgte ihr.

Während sie und Doktor Sylt am Büfett standen und nach Watte suchten, beugte Fräulein Selma sich in einer plötzlichen Eingebung über den Tisch zu Werner Hilsöe und flüsterte: »Gehen Sie!«

Er sah sie mit seinen dunklen Augen überrascht an.

»Reisen Sie fort!« flüsterte sie, während ihr das Blut in die Wangen stieg und ihre großen, blauen Augen streng und drohend wurden. »Sie bringen Unglück mit sich.«

»Ich verstehe Sie nicht!« flüsterte er zurück, kalt und abweisend.

Sie aber beachtete seine Antwort nicht.

»Sie haben Frau Hjarmer behext!« fuhr sie fort, und sie mußte sich Gewalt antun, um nicht laut zu sprechen. »Sie ist wie umgewechselt, seit Sie hier sind! O, wie können Sie es übers Herz bringen – solch guten Mann, wie sie hat! Und das Kind!«

Hjarmer war mit seiner Untersuchung fertig. Er hatte die Schachtel mit dem gefundenen Stummel wieder fortgesetzt. Auch Herrn Hilsöes Zigarette hatte er zur Seite gebracht. Alles lag wohl verwahrt in der Mappe, und die Mappe war abgeschlossen. Als Frau Helwig mit Doktor Sylt hinausgegangen und es still im Zimmer geworden war, wandte er sich plötzlich um. Denn in der Stille hörte sein scharfes Ohr ein Flüstern, und er sah zu seinem großen Erstaunen, daß Fräulein Selma mit roten Wangen und blitzenden Augen über den Tisch gebeugt stand und dem Ingenieur etwas zuflüsterte.

Im selben Augenblick kam Frau Helwig zurück und rief von der Eßzimmertür:

»Fräulein Sindal! Doktor Sylt wartet auf Sie!«

»Ich komme, Frau Hjarmer!« rief Fräulein Selma zurück, hob das schwere Servierbrett vom Tisch und ging damit hinaus.

*

 

8

Hjarmer ging auf seine Frau zu, indem er mit dem nervösen Unbehagen kämpfte, das sich seiner bemächtigt hatte.

»Liebste, gehst du nicht mit nach oben?«

Frau Helwig ging an ihm vorbei zum Tisch.

»Ich tauge nicht an ein Krankenbett!« sagte sie und griff sich ins Haar, als ob es ihr plötzlich zu schwer würde. »Alles, was krank und unschön ist, drückt mir das Herz ab!«

Sie breitete die Arme aus und atmete tief:

»Ach, ich sehne mich nach Gesundheit – Freiheit – Glück!« stieß sie hervor.

Hjarmers Gedanken waren von dem, was er eben erfahren hatte, viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß ihm der seltsam exaltierte Ton in den Worten seiner Frau aufgefallen wäre.

»Ja, ja, natürlich!« sagte er mechanisch.

Dann trat er an den Tisch, wo Hilsöe Platz genommen hatte.

»Wie schlecht die Lampe heute doch brennt! – Es ist hier ja halbdunkel,« sagte er nervös, beugte sich vor, schraubte die Lampe so hoch wie möglich und gab dem Lampenschirm gleichzeitig einen kleinen Stoß, so daß das Licht voll und stark auf Hilsöes Gesicht mit den großen, scharfgeschnittenen Zügen fiel.

»Das kommt vom Mondschein!« sagte Hilsöe. »Der macht, daß das Lampenlicht so matt erscheint.«

»Ja, ja! – Sie haben ganz recht!« Hjarmer sprach schnell und so hoch, daß seine nervöse Stimme ganz schrill klang.

Dann setzte er sich in den Sessel, wo er Hilsöes stark beleuchtetes Gesicht gerade vor sich hatte. Er legte seine weißen Hände nervös gegeneinander und begann zu konversieren:

»Na, Herr Ingenieur – Sie haben wohl die Absicht, sich in unserer Gegend niederzulassen?«

»Ich weiß es noch nicht, Herr Amtsvorsteher!« kam es zögernd, und Hilsöe sah vor sich nieder, als genierten ihn Hjarmers bleiche, rechtschaffene Augen, die gerade auf die seinen gerichtet waren.

»Ich verstehe! – Es ist natürlich nicht leicht, sich von den großen Verhältnissen draußen in der Welt loszureißen.«

Hjarmer zögerte einen Augenblick, während er seine hübsch geformten und gepflegten Nägel eingehend betrachtete.

»Apropos!« begann er wieder. »Finden Sie nicht, daß sich manches hier in der Gegend verändert hat, seit Sie zuletzt hier waren?«

»Ich habe noch nichts von der Gegend gesehen!«

Hilsöe blickte verstohlen zu Frau Helwig hinüber, die im Mondlicht auf und ab ging, die Hände hinterm Nacken verschlungen, als könne ihr Gemüt nicht zur Ruhe kommen. Jedesmal, wenn sie kehrt machte, suchte ihr großer, exaltierter Blick den seinen; da ihr Gesicht aber im Schatten war und ihm selbst das Licht stark in die Augen schien, konnte er ihren Ausdruck nicht erkennen.

»Nein – das ist richtig – Sie sind ja erst heute abend gekommen!« Hjarmer griff sich wegen seiner fatalen Zerstreutheit an die Stirn. »Mit dem Acht-Uhr-Zug – oder mit dem, der um 9.17 aus der Stadt geht und um 10.25 hier ist? Ich erinnere mich nicht mehr.«

Seine hellen Augen fixierten scharf das starkbeleuchtete Gesicht mit dem bläulichen Schatten des rasierten Bartes.

»Ich kam mit dem Nachtzug!« sagte Hilsöe und wandte hastig den Blick von Frau Helwig ab. Das Antworten fiel ihm schwer, so stark arbeiteten seine Gedanken mit der Frage, ob es ihm schließlich glücken würde.

»Richtig! – Sie hörten zufällig von dem Mord – und kamen dann gleich hierher!«

»Ja – um zu melden –«

»Aber dann haben Sie ja gar kein Abendbrot bekommen, Herr Hilsöe?«

Wieder fixierten Hjarmers helle Augen Hilsöes Gesicht.

»Doch, ich aß im Bahnhofsrestaurant!«

»Richtig, richtig, jetzt entsinne ich mich!« Hjarmer griff sich wieder an den Kopf; diese schreckliche Zerstreutheit. »Erst aßen Sie, und dann kamen Sie hierher!«

Dann erhob er sich hastig und schlug sich vor die Stirn.

»Das ist wahr! – Das hätte ich fast vergessen! – Diese Zerstreutheit! Aber verzeihen Sie, ich habe einen kleinen Kassenbestand, der gleich morgen früh an die Amtsstube abgesandt werden muß ... Ich sehe mich gezwungen, den Brief gleich zu schreiben und zu siegeln! Entschuldigen Sie mich, bitte, so lange!«

»Lassen Sie sich durch mich nicht stören!«

Hilsöe mußte seine Stimme bezwingen, damit sie seine Freude nicht verriete, weil er Helwig wieder für sich allein haben konnte.

*

 

9

Während Hjarmer mit seinen raschen, nervösen Schritten auf die Kontortür zuging, erhob sich Hilsöe in plötzlicher Entschlossenheit.

Kaum hatte die Tür sich hinter dem anderen geschlossen, als er mitten ins Zimmer trat, wo Helwig im Mondlicht stehen geblieben war und ihn mit großen, strahlenden Augen ansah.

»Helwig!« flüsterte er mit ausgebreiteten Armen.

Sie stand in aufrechter Haltung vor ihm, aber er sah, daß sie am ganzen Körper zitterte, indem sie den Kopf zurückbog.

»Geliebter!« hauchte sie ihm in einem tiefen Atemzug entgegen.

»Die Tür steht offen!« flüsterte er.

»Werner!«

Ihre Hände zitterten in den seinen, aber sie zog sie nicht zurück.

»Jetzt muß es sein!« sagte er fest und zog sie mit sich.

Aber mit einem plötzlichen Ruck machte sie ihre Hände frei und verbarg ihr Gesicht darin.

»Ich kann nicht ...« stammelte sie, »ich kann nicht!«

Er trat so nah an sie heran, daß sie seinen heißen Atem fühlte, und umfaßte ihre Handgelenke, doch ohne Gewalt.

»Wurdest du nicht mir und dir selbst untreu, als du ihn wähltest?« fragte er; seine Stimme war ruhig, aber gebietend und tief.

Sie antwortete nicht; aber er sah an dem Beben ihrer Brust, daß sie mit Tränen kämpfte.

»Tötetest du nicht unser Glück – deines sowohl wie meines,« fuhr er fort, »des Gewissen und Sicheren wegen?«

Wieder schwieg sie; aber er merkte an dem Zittern ihrer Hand, daß ihr Herz »Ja« flüsterte.

»Wünschst du es ungeschehen zu machen?«

Dieses Mal antwortete sie.

»Du weißt es ja!« sagte sie und bewegte den Kopf.

Er las den Gedanken, der hinter ihren Worten verborgen war, und beantwortete ihn gleich:

»Glaubst du, daß ich hierbleiben und mir täglich das Glück stehlen will, das mein gutes Recht ist?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie fühlte selbst in diesem Augenblick, daß es unmöglich sei.

»Und du?« fragte er wieder, indem er ihre Hände mit Gewalt von den Augen zog. Er wollte die Antwort ihres Herzens sehen. »Könntest du hier in seinem Hause bleiben – Tisch und Bett mit jemand teilen, der dir stets fremd gewesen ist – jetzt, da du mein bist mit Leib und Seele?«

Ihre großen, grauen Augen starrten ihn willenlos an, von seinem festen, dunklen Blick gebunden, der sie mit einer Macht zwang, vor der sie sich beugen mußte.

Sie schüttelte nur zur Antwort den Kopf.

Da ergriff er wieder ihre Hände und zog sie mit sich zur offenen Glastür, von wo das Licht schräg hereinflutete.

Indem ihr Kleid das Taburett vor dem Flügel streifte, glitt der große, weiche Hut des Doktors herab und rollte im Mondlicht vor ihren Füßen über den Teppich.

Hilsöe schob ihn mit dem Fuß zur Seite; im selben Augenblick aber sah Helwig, was es war, und plötzlich kam das Leben und die Wirklichkeit ihr wieder in die Erinnerung.

In diesem Augenblick stand der Doktor über das Bett ihres Kindes gebeugt. Vielleicht galt es Leben oder Tod, so verblümt wie er sich ausgedrückt hatte.

Der Gedanke traf sie wie ein Schlag. Sie riß ihre Hände aus den seinen und blieb im Mondlicht stehen.

»Das Kind!« flüsterte sie.

Er fühlte, was in ihr vorging. Er wußte es, bevor sie noch den Mund geöffnet hatte; denn Doktor Sylts Hut hatte denselben Gedanken in ihm geweckt.

Sein Gemüt wurde von heftiger Bewegung ergriffen. Mit plötzlicher Gewalt versuchte er sich wieder ihrer Hände zu bemächtigen, indem er sich zu ihrem Antlitz herabbeugte und hart, fast brutal flüsterte:

»Das Kind ist seines – nicht deines und meines! Und bei ihm wird es gut aufgehoben sein.«

Sie aber legte hastig ihre Hände auf den Rücken und zog sich von ihm zurück, an den Flügel.

Im selben Augenblick hörte man Hjarmers Schritte im Kontor.

›Es ist vorbei,‹ dachte Hilsöe, indem er an den Tisch trat, während die tiefe Enttäuschung ihm Tränen in die Augen trieb.

*

 

10

Hjarmer stand in der Kontortür mit einem Geldschein in der Hand.

»Liebste, denke dir, wie fatal!« sagte er zu Frau Helwig, die sich gegen den Flügel lehnte und ihm den Rücken kehrte; sie hatte in augenblicklicher Verwirrung des Doktors Hut ergriffen und war jetzt eifrig beschäftigt, den Staub davon abzuklopfen.

»Ich habe alle meine Hundertkronenscheine fortgegeben, als ich dem Landinspektor heute morgen einen Fünfhundertkronenschein wechselte. Jetzt stehe ich hier mit dem einen großen Schein und weiß nicht, wie ich mir helfen soll. Ich muß zweihundertundfünfzig Kronen mit dem ersten Zug abschicken – es ist der äußerste Termin. Was machen wir nur?«

»Das weiß ich wirklich nicht!« sagte Frau Helwig, indem sie sich ihm halb zukehrte.

Hjarmer fuhr fort mit seiner nervösen Stimme, die jetzt so hoch klang, daß sie fast gellte:

»Wie soll ich es nur möglich machen, bis morgen früh gewechselt zu bekommen!«

Er wandte sich wie in einer plötzlichen Eingebung an Hilsöe, der in einem Album blätterte.

»Wenn Sie so viel Geld bei sich haben, Herr Ingenieur,« bat er, »würden Sie mir einen großen Gefallen tun, mir den Schein zu wechseln! – Oder, wenn Sie mir vielleicht zwei Hundertkronenscheine bis morgen leihen würden! – Den Rest hab ich in kleinerem Geld. Ich möchte das Kuvert gleich versiegeln!«

Hilsöe zog seine Brieftasche aus der Brusttasche.

»Ich kann Ihnen den Schein wechseln!« sagte er.

Hjarmer ging rasch auf ihn zu.

»In Hundertkronenscheine?« fragte er; seine Spannung war so groß, daß seine Stimme überschlug und er einen Hustenanfall vorgeben mußte, um sich nicht zu verraten.

»Ja!«

»Das ist ja herrlich!«

Hilsöe zählte ihm die Scheine in die Hand:

»Eins – zwei, drei, vier, fünf! – Bitte!«

»Danke – vielen Dank!« Hjarmer hielt die Scheine fest umschlossen, damit der andere sich nicht bedenken und sie ihm wieder rauben konnte. Er war so in Anspruch genommen, daß er fast vergaß, Hilsöe den Fünfhundertkronenschein zu geben.

»Hier ist der große Schein!« sagte er endlich und wandte sich um. Und indem er hastig zum Rauchtisch ging, wo die Dokumentenmappe lag, sprach er ununterbrochen hoch und schrill:

»Sie wissen nicht, welchen Dienst Sie mir erwiesen haben, Herr – Herr Ingenieur Hilsöe!«

Er suchte den Schlüssel hervor und öffnete fieberhaft die große Mappe.

»Jetzt wollte ich nur noch – hier muß – hier muß doch –«

Den Rücken gegen Hilsöe gewendet, öffnete er das Portemonnaie und zog den Zettel hervor, während er so tat, als suche er etwas in der Mappe.

»Hier muß doch ein – ein großes –« Fieberhaft las er die Nummer auf dem obersten der Scheine; und während seine Hände vor Aufregung zitterten, daß sie kaum den Zettel zu halten vermochten – »ein großes Kuvert – muß doch hier liegen –« suchte und fand er die Nummer zwischen denen, die der alte Hilsöe vor wenigen Stunden mit seiner eckigen Handschrift niedergeschrieben hatte – »ein großes Kuvert!« kam es fast triumphierend.

Dann wurde das Portemonnaie wieder weggelegt und die Mappe eiligst zugeklappt; diesmal aber nahm er sie mit sich ins Kontor hinein.

»So!« sagte er. »Besten Dank! – Ich werde sofort –«

*

 

11

Indem Hjarmer die Tür öffnete, um ins Kontor zurückzukehren, kam Doktor Sylt hastig aus dem Eßzimmer, von Fräulein Sindal gefolgt.

Der Amtsvorsteher drehte sich auf das Geräusch hin um. Im selben Augenblick, als er des Doktors Gesicht sah – er war ganz weiß um die Nase herum, und die Lippen waren fest aufeinandergepreßt – wußte er, daß es schlimm mit Ellen stand.

»Doktor!« sagte er atemlos und streckte die Hand nach ihm aus.

Der Doktor warf ihm einen hastigen Blick zu und sah dann gleich wieder fort. Dann sagte er kurz und hart:

»Das Fieber ist gestiegen, und die Atemnot nimmt zu. Ich habe eine Einspritzung gemacht!«

Hjarmer wurde bleich. Er musterte die kleinen, scharfen Augen und fragte angstvoll:

»Morphium?«

»Nein!« sagte der Arzt und hob die Schultern.

»Sagen Sie es!« drängte der Amtsvorsteher.

Doktor Sylt sah ihn fest an und antwortete:

»Serum, Hjarmer!«

»Diphtheritis?« fragte er leise und atemlos.

»Ich fürchte es!«

Frau Helwig, die am Flügel stand, hatte sich zu Doktor Sylt umgewandt und folgte dem Gespräch mit einem seltsamen, halb unbewußten Ausdruck in ihren großen, exaltierten Augen.

Als das schicksalschwangere Wort fiel, wechselte sie die Farbe. Sie blieb einen Augenblick stehen, wie um sich zu sammeln, dann stürzte sie auf Doktor Sylt zu und packte ihn am Arm:

»Diphtheritis?«

Es klang wie ein Schrei.

Er sah sie überrascht an; und als er nicht antwortete, fügte sie mit einer Stimme hinzu, die vor Angst bebte:

»Es ist also Gefahr vorhanden?«

Er zögerte einen Augenblick, als überlegte er, wieviel er ihr sagen dürfte.

»Es ist stets Gefahr vorhanden, Frau Hjarmer,« sagte er ausweichend, mit seiner ernsten, melancholischen Stimme – »es ist stets Gefahr vorhanden für uns arme Menschenkinder!«

Sie stand einen Augenblick und sah ihn an, während ihre Augen größer und größer wurden. Dann verzog die Oberlippe sich wie im Krampf. Sie faßte sich mit beiden Händen an die Schläfen und rief:

»Ich bin es! – Es ist meine Schuld!«

Werner machte eine plötzliche und heftige Bewegung auf sie zu, als wolle er sie greifen und stützen. Dann hielt er inne und ballte die Hände wegen seiner Ohnmacht, während Hjarmer sich ihr verblüfft und ängstlich mit ausgebreiteten Armen näherte:

»Aber Liebste!«

»Ich will mein Kind sehen!« rief sie, stieß den Arzt beiseite und lief an Fräulein Selma vorbei, die mit großen, klaren Tränen in ihren treuherzigen Augen die Hand ausstreckte, um sie zurückzuhalten, und eilte zur Eßzimmertür.

»Ellen!« rief sie in größter Angst.

Da sprang Doktor Sylt hinzu, und es gelang ihm, ihre Arme von hinten zu fassen, bevor sie draußen war.

»Jetzt nicht!« sagte er gebietend und hielt sie mit Gewalt zurück.

»Lassen Sie mich los!« Sie wandte den Kopf mit einem zornigen Blick zu ihm um und versuchte sich mit aller Kraft loszureißen. »Ich will mein Kind sehen!«

Doktor Sylt aber war stärker. Seine behaarten Bärentatzen hielten sie fest.

»Sie bleiben hier!« sagte er kurz und streng. »Das Kind soll Ruhe haben.«

Fräulein Selma konnte nicht länger an sich halten. Sie stürzte auf ihn los und sagte mit großen, erzürnten Augen:

»Sie, der Sie von Instinkten sprechen, wollen eine Mutter verhindern, zu ihrem Kind zu gehen?«

»Das verstehen Sie nicht!«

Frau Helwig warf den Kopf zurück, während ihr Gesicht sich verzerrte.

»Sie stirbt!« rief sie hysterisch. »Und es ist meine Schuld! – Ich will mein Kind sehen!«

Ihre Brust arbeitete heftig, und die feinen Nasenflügel zitterten krampfartig, während ein leidenschaftliches Weinen sich Bahn brechen wollte.

Hjarmer war herangetreten. Er streckte ihr bittend die Hand entgegen:

»Liebste – hör doch, was Doktor Sylt sagt!«

Doktor Sylt aber sagte in ruhig gebietendem Ton, indem er sie fest ansah:

»Wenn Sie in diesem mondsüchtigen Zustand, in dem Sie sich befinden, zu ihr kommen, ist sowohl für Sie wie für das Kind Gefahr vorhanden. Haben Sie mich verstanden?«

Jetzt saß ihr das Weinen in der Kehle; es wurde zu einem Schluchzen, das sich in Tränen Luft machte und ihren Widerstand brach. Sie beugte den Kopf; ihre Arme erschlafften, und sie ließ sich willenlos von Doktor Sylt zum Lehnstuhl führen, den er für sie zurechtstellte. Liebevoll und tröstend sagte er zu ihr wie man zu einem betrübten Kind spricht:

»So, meine liebe Frau Hjarmer, setzen Sie sich jetzt! – Eine augenblickliche Gefahr ist nicht vorhanden. Aber es gilt beizeiten auf dem Posten zu sein. Darum habe ich die Einspritzung gemacht.«

Als er sah, daß der Anfall ganz vorüber war und die Tränen an ihrem gesenkten Antlitz hinabrannen, während die Brust sich wieder beruhigte, richtete er sich auf und sagte:

»Jetzt muß ich zu Bäcker Jörgensens. Es wurde nach mir geschickt, als ich vorhin zu Hause war. Wenn ich dort fertig bin, komme ich zurück; dann wird es sich zeigen, ob –«

»Ob was?« fragte Hjarmer flüsternd, als der Arzt unwillkürlich innehielt.

»Ob ich ohne Grund gefürchtet habe. Im Augenblick kann ich nichts weiter tun. Auf Wiedersehen!«

*

 

12

Als Doktor Sylt gegangen war, wurde von keinem der Anwesenden ein Wort gesprochen.

Frau Helwig saß leise weinend im Lehnstuhl, während Fräulein Selma über den Sessel gelehnt stand und ihr sanft mit ihrer rundlichen Hand über das feine Bronzehaar strich.

Hjarmer stand am Flügel und sah sie an, wußte aber nicht, was er sagen sollte.

Werner Hilsöe war der erste, der das Schweigen brach.

Er saß mit den Händen zwischen den Knieen und starrte vor sich hin wie ein Mann, dem plötzlich etwas zertrümmert worden ist.

Dann erhob er sich langsam, knöpfte seinen Rock zu und fragte:

»Herr Amtsvorsteher, sagen Sie mir, bitte, wann der erste Zug geht.«

Hjarmer richtete sich auf und fragte nervös:

»Wollen Sie abreisen?«

»Ja, ich will abreisen!« antwortete er leise und klanglos.

Hjarmer sammelte sich. Er fühlte, daß er seiner ganzen geistigen Kraft bedurfte, fühlte, daß er in diesem Augenblick nicht länger an Frau und Kind denken durfte.

»Fürchten Sie sich vor Ansteckung?« fragte er und näherte sich ihm.

»Nein!« kam es abweisend.

»Sie haben sich schnell umgestimmt, Herr Ingenieur!«

Er legte mit Absicht einen Klang von Ironie in seine Stimme.

»Ich sagte Ihnen vorhin, daß ich nicht wüßte, ob ich bleiben könne. Jetzt weiß ich, daß ich es nicht kann.«

Hjarmer ließ sich nicht so leicht abfertigen. »Ist es indiskret, nach dem Grund Ihres plötzlichen Entschlusses zu fragen?«

»Der Grund?« Werner Hilsöe sah abweisend auf ihn herab. »Ist die Krankheit Ihres Kindes nicht Grund genug? – Heute nacht ist ein Fremder hier doch nur eine Last!« fügte er hinzu, ohne den Versuch zu machen, die Bitterkeit in seinem Gemüt zu verbergen.

Fräulein Selma sah auf und sagte mit Entschiedenheit:

»Darin hat Herr Hilsöe recht!«

»Wann der erste Morgenzug geht, kann ich Ihnen nicht sagen,« sagte Hjarmer, »aber ich versichere Ihnen, daß Ihre Anwesenheit – im Fremdenzimmer – in keiner Weise –«

»Der erste Zug geht fünf Uhr zehn, Herr Hilsöe!« unterbrach Fräulein Selma.

»Danke!«

Hilsöe knöpfte seinen Rock zu und sah verstohlen zu Frau Helwig hinüber, die mit abgewandtem Kopf unbeweglich im Lehnstuhl saß.

Hjarmer sah auf seine Uhr.

»Es ist noch lange bis dahin!« sagte er.

»Ich will inzwischen zum Ziegelhof hinübergehen; – ich habe dort verschiedene notwendige Dinge zu ordnen! – Denn ich werde wohl kaum zurückkehren!«

Hjarmer fragte nervös:

»Sie wollen also wieder ins Ausland?«

»Ja! – Adieu, Herr Amtsvorsteher!«

Hjarmer tat, als hätte er es überhört.

»Apropos! Herr Hilsöe!« begann er wieder und stellte sich ihm in den Weg. »Mamsell Berg hat mir von ihrer traurigen Lage erzählt und mich gebeten, ein gutes Wort für sie bei Ihnen einzulegen.«

»Sie mag bekommen, was sie haben will!« kam es müde und unendlich gleichgültig.

Dann streckte er die Hand aus:

»Adieu, Herr Amtsvorsteher!«

Hjarmer aber tat, als sähe er die ausgestreckte Hand nicht, und rührte sich nicht vom Fleck.

»Ich habe bestimmte Gründe, Herr Hilsöe,« sagte er mit seiner nervösen, schrillen Stimme, »Sie zu bitten, Ihren Aufenthalt hier zu verlängern.« Und als der andere überrascht aufblickte, beeilte er sich hinzuzufügen: »Wenigstens bis nach der Beerdigung und der Erbschaftssitzung!«

»Ich bedaure, Ihnen nicht zu Gefallen sein zu können!« antwortete Werner mit kalter Höflichkeit. – »Aber ich werde Ihnen eine Vollmacht hinterlassen.«

»Sie wollen also nicht bleiben, Herr Hilsöe?«

»Ich kann nicht! – Adieu!«

Diesmal drängte er sich an Hjarmer vorbei, aber dieser folgte ihm.

»Und Sie wollen mit dem ersten Morgenzug ins Ausland?« fragte er.

Hilsöe verlor die Geduld. Er machte eine Wendung und sagte:

»Das hab ich Ihnen ja schon gesagt!«

Dann blieb er vor dem Stuhl stehen, in dem Frau Helwig mit geschlossenen Augen zurückgelehnt ruhte.

»Leben Sie wohl, Frau Hjarmer!« kam es leise, fast demütig, während er vor ihr stand und sein Blick auf ihrer weißen Stirn unter dem seidenfeinen Haar ruhte, auf ihren schlanken Händen, auf der ganzen lieben Gestalt.

Frau Helwig öffnete nicht die Augen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und beugte den Kopf wie zum Gruß.

Fräulein Selma trat vor ihren Stuhl und reichte ihm die Hand.

»Adieu, Herr Hilsöe!« sagte sie freundlich und betrachtete teilnahmsvoll seine betrübten, dunklen Augen.

Hilsöe ging auf die Verandatür zu. Aber indem er sie öffnete und sich umwandte, um in einem letzten Blick von derjenigen Abschied zu nehmen, die er liebte, legte Hjarmer, der ihm gefolgt war, die Hand auf seine Schulter und setzte gleichzeitig ungesehen, sicherheitshalber, den Fuß vor die Tür.

»Sie sind verhaftet!« sagte er laut und fest.

Werner Hilsöe wandte sich erstaunt unter dem Druck seiner Hand um. Er sah in die hellen, ehrlichen Augen, als wolle er sich vergewissern, daß der Mann nicht plötzlich seinen Verstand verloren habe.

Hjarmer erwiderte seinen fragenden Blick: »Sie sind wegen Verdachtes des an Ihrem Onkel begangenen Mordes verhaftet!«

Helwig fuhr im Stuhl in die Höhe und starrte die beiden entsetzt an, während Fräulein Selma sich mit beiden Händen an den Kopf griff und einen Schrei der Überraschung ausstieß.

Werner ließ den Türdrücker los.

»Sind Sie verrückt?« fragte er und blickte Hjarmer offen ins Gesicht.

Hjarmer wurde momentan verwirrt und senkte unwillkürlich den Blick. Dann überdachte er das Ganze noch einmal blitzschnell und war seiner Sache wieder gewiß.

»Ich habe so sichere Indizien gegen Sie,« sagte er höflich, aber bestimmt, »daß es ein grobes Amtsvergehen sein würde, wenn ich Sie reisen ließe.«

»Indizien, daß ich ein Mörder bin?« fragte Hilsöe fast heiter.

Diesmal aber schlug Hjarmer den Blick nicht nieder.

»So sichere Indizien, Herr Hilsöe,« sagte er mit tiefem Ernst, »daß die allein genügen würden, Sie zu vernichten.«

Werner Hilsöe ging durchs Zimmer, von Hjarmer gefolgt.

»Sie haben Beweise dafür, meinen Sie, daß ich, Werner Hilsöe, meinen Onkel in dessen eigenem Garten ermordet habe?«

»Ja!«

Hjarmer stellte sich in die Nähe des Rauchtisches bei der Kontortür auf, während Frau Helwig, die ihre Fassung zurückgewonnen hatte, Hilsöe fest ansah und sagte:

»Das ist unmöglich! – Das ist nicht wahr!«

»Liebste, du mußt entschuldigen, daß dieser peinliche Auftritt sich in deiner Gegenwart abspielt. Aber es gab keinen Ausweg ... Ich bitte dich, mit Fräulein Sindal auf deren Zimmer zu gehen.«

Frau Hjarmer blieb, ohne zu antworten, am Tisch stehen, während Hilsöe auf Hjarmer zutrat.

»Sie sind ein sehr mutiger Mann, Herr Amtsvorsteher!«

»Wie meinen Sie das?« fragte Hjarmer, indem er sich ganz bis zur Tür zurückzog.

»Sind Sie nicht bange, daß der angebliche Mörder Ihr schmächtiges Rückgrat zerbrechen könnte?«

Hjarmer streckte hastig die Hand nach dem Türrahmen aus.

»Schutzmann Petersen wartet im Vorzimmer!« sagte er ruhig. »Es bedarf nur eines Druckes auf diese Glocke – eines Schreies – eines Wortes!«

Hilsöe lächelte höhnisch.

»Sie brauchen nichts zu fürchten! – Aber solch grober Scherz wie der Ihrige fordert eine grobe Antwort heraus. – Ich möchte die Beweise sehen!«

»Nein – Sie könnten sie vernichten, aber ich will sie Ihnen nennen. – Ein Stummel von derselben kostbaren Zigarettenmarke, die Sie rauchen, ist an der Mordstelle gefunden worden.«

»Dann hab ich ihn dort wohl hingeworfen!« sagte Hilsöe ganz einfach.

Hjarmer sah ihn verblüfft an und fragte:

»Sie gestehen also, daß Sie dort gewesen sind?«

»Was haben Sie sonst für Beweise?«

»Sie wechselten mir einen Schein in Hundertkronenscheine. Die Nummern dieser Scheine stehen sämtlich auf einem Zettel notiert, der in dem Portemonnaie des Verstorbenen gefunden wurde. – Diese Scheine haben Sie vielleicht von einem Dritten bekommen oder auf der Landstraße gefunden?«

»Ich habe sie von ihm selbst bekommen!«

Wieder sah Hjarmer ihn bei seinen rückhaltlosen Worten verblüfft an.

»Ist das ein Geständnis, Ingenieur Hilsöe?« fragte er nach einem Moment des Stillschweigens.

»Halten Sie es, wofür Sie wollen! Haben Sie mehr Beweise?«

»Dann ist noch das da, was unter Umständen Ihre einzige Zuflucht werden kann.«

»Und das ist?«

»Ihr Alibi. Wenn Sie erst mit dem Nachtzug hier angekommen sind, wie Sie behaupten, dann sind Sie frei. Denn der Mord ist mindestens eine Stunde vorher begangen worden.«

Werner sah ihn an und lächelte spöttisch:

»Dann ist ja alles in Ordnung, Herr Amtsvorsteher!«

Fräulein Selma trat neben Frau Hjarmer, die zwischen Tisch und Puff stand.

›Es endigt schlimm‹, dachte sie, und ihr Herz klopfte heftig bei dem Gedanken, was geschehen würde, wenn der Amtsvorsteher erführe, daß Hilsöe seine Frau heimlich besucht habe.

»Aber Doktor Sylt hat Sie im Achtuhrzug gesehen, Herr Hilsöe!«

»Er könnte sich ja geirrt haben.«

»Und die Bahnrestauration, wo Sie zu Abend gegessen haben wollen, schließt anderthalb Stunden, bevor der Nachtzug kommt.«

»Ich hätte ja vielleicht dem Restaurateur begegnen und ihn extra bezahlen können?«

»Das wird sich alles zeigen. Aber sagen Sie mir doch, Herr Hilsöe, wenn Sie erst mit dem Nachtzug gekommen sind, wie können Sie denn die Scheine von Herrn Hilsöe selbst bekommen haben, der doch nachweislich eine Stunde vorher gestorben war?«

Werner biß sich in die Lippe. Jetzt erst wurde es ihm klar, wie gefährlich seine Lage sei.

»Sie haben recht, Herr Amtsvorsteher! Die Situation ist ernst!«

»Sind Sie also mit dem Nachtzug – oder mit dem Achtuhrzug gekommen?«

Hjarmer sah ihn fest und ernst an; und Werner sah ein, daß es unnütz sei, an etwas festzuhalten, was klar widerlegt werden konnte.

»Mit dem Achtuhrzug!« antwortete er ohne Bedenken.

Fräulein Selma merkte, wie Frau Helwigs Hände zitterten. Sie sah, wie ihre Oberlippe bebte und die Brust krampfartig wogte.

Hjarmer ging auf Hilsöe zu, der mitten im Zimmer stand und in tiefem Nachdenken vor sich hinstarrte.

»Es tut mir leid für Sie, Herr Hilsöe!« sagte er so freundlich, wie er es vermochte. »Ich kann Ihnen sagen, daß in meinen Augen ein mildernder Umstand in dem Unrecht liegt, das der Verstorbene Ihnen und Ihrer Mutter angetan hat.«

Werner taumelte zurück, als habe er einen Schlag bekommen.

»Ich kenne Ihre Vergangenheit,« beeilte Hjarmer sich zu erklären. »Ihre Abstammung – Ihre ganze unglückliche Kindheit! Sie haben in einem plötzlichen Wutanfall gehandelt, der Sie teilweise Ihrer Zurechnungsfähigkeit beraubte. Aber die Brieftasche,« fügte er hinzu, »daß Sie dem Toten die Brieftasche nahmen – das ist der dunkelste Punkt der Sache.«

Werner sah ihn mit seinen dunklen Augen drohend an.

»Sie meinen, daß derjenige, der den Namen seines Onkels fälschte, auch imstande ist, ihn zu ermorden und seine Brieftasche zu rauben! Mehr Zutrauen kann man so jemand nicht erweisen – nicht wahr?« Er sah sich mit einem eigenartigen Lächeln zu Frau Hjarmer um. »Haben Sie gehört, Frau Hjarmer – das meint er auch!«

Sie aber erwiderte seinen Blick und antwortete:

»Ich glaube es nicht!«

»Gestehen Sie die Mordtat ein?« fragte Hjarmer.

»Sehe ich aus wie ein Mörder?«

Jetzt wurde der Amtsvorsteher ärgerlich.

»Herr Hilsöe,« begann er, »Ihr Zug war neun Uhr zehn hier. Bis zum Ziegelhof hat man mindestens fünfundzwanzig Minuten zu gehen. Sie gestehen also ein, daß Sie dort gewesen sind und von Hilsöe Geld bekommen haben, obgleich er Sie, Ihrer eigenen Auffassung zufolge, enterbt und Ihnen sein Haus verboten hat. Aus der Leichenschau geht hervor, daß der alte Hilsöe ungefähr um zehn Uhr ermordet wurde. Nun frage ich Sie: Können Sie beweisen, daß Sie sich zu diesem Zeitpunkt irgendwo anders aufgehalten haben? Es gilt Ihr Alibi.«

Werner bedachte sich einen Augenblick. Dann antwortete er einfach und aufrichtig:

»Ich habe den alten Hilsöe nicht getötet.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage!« Hjarmer sprach laut und stark. »Können Sie beweisen, daß Sie in der Zeit irgendwo anders gewesen sind?«

Frau Helwig zitterte am ganzen Körper. Ihr Gesicht war totenblaß, und ihre Oberlippe bebte.

»Ja,« sagte sie, »er kann es beweisen!«

Hjarmer wandte sich überrascht um und sah ihren großen, exaltierten Blick, der nicht von Werners hoher Gestalt wich.

»Liebste? –«

Fräulein Selma aber schob sich vor Frau Helwig.

»Und wenn er es nicht beweisen kann – was dann?« fragte sie, indem sie ihre großen, blauen Augen auf den Amtsvorsteher richtete.

»Dann kann Herr Hilsöe gestehen oder leugnen – das Urteil wird in beiden Fällen gleich lauten. Die Indizien genügen, um ihn zu überführen.«

Werner Hilsöe zuckte zusammen. Er sah von einem zum anderen, während Hjarmer hinzufügte:

»Also antworten Sie mir, wenn Sie können: Wo waren Sie um zehn Uhr?«

Werner nahm sich mit aller Kraft zusammen. Jetzt wußte er, was es galt; aber er wußte auch, daß die Rücksicht auf sie ihm Schweigen gebot.

»Wer kann Rechenschaft davon ablegen,« sagte er ausweichend, »wo man in einer Sommernacht überall umhergestreift ist? – Gesetzt, daß ich heimlich bei der Frau des Bahnwärters gewesen wäre! – Dürfte ich dann, um mich selbst zu retten, ihrem Mann ihre heimliche Schuld offenbaren?«

Er erinnerte sich plötzlich Helwigs Worte über das Zutrauen, und er fügte hinzu, indem sein Blick verstohlen den ihren suchte:

»Nein! – Selbst der, der seines Onkels Namen fälschte – selbst der könnte für die Frau, die er liebte, ins Zuchthaus gehen, wenn es ihr Glück gilt!«

Sie sah ihn an. Ein Lächeln ging über ihr schmerzlich verzogenes Gesicht. Sie mußte sich Gewalt antun, um sich ihm nicht in die Arme zu werfen und zu rufen: ›Es gilt nicht mein Glück, ich bin ja dein!‹

Sie sammelte sich für das, was kommen mußte, und vergaß im Augenblick ihren Mann und die Krankheit ihres Kindes.

»Ich kann bezeugen,« sagte sie still, und ihre Stimme war wie verwandelt, – »ich kann bezeugen, wo er war. – Ich kann beweisen, daß –«

Hjarmer starrte sie mit offenem Mund an:

»Du! Liebste – was meinst du damit?«

Eine furchtbare Ahnung stieg in ihm auf.

»Du kannst beweisen – Helwig?«

Fräulein Selma war jedem Wort, jedem Mienenspiel gefolgt. Jetzt sah sie, wie das Mißtrauen in seinem Gemüt zu dämmern begann. Sie sah die tödliche Angst in seinen bleichen, rechtschaffenen Augen; – und in demselben Augenblick, als sie alles verloren glaubte, stand die Rettung – die einzig mögliche – in einer plötzlichen Eingebung vor ihr.

Sie schob Frau Helwig zur Seite.

»Jetzt spreche ich, Frau Hjarmer!« sagte sie rasch, bevor das letzte, entscheidende Wort Helwig entschlüpft war. Dann wandte sie sich an Hjarmer und sagte gebeugten Hauptes:

»Es ist wahr, Frau Hjarmer kann es bezeugen; denn sie überraschte uns zusammen – Herrn Hilsöe und mich!«

Hjarmer taumelte zurück.

»Was sagen Sie? – Überraschte – Sie – und –«

Jetzt, da es gesagt war, verstand sie kaum, wie sie es fertiggebracht hatte. Nun galt es, fest zu bleiben und die Folgen zu tragen.

»Hier im Hause!« sagte sie, während sie fühlte, wie ihr unter Hjarmers Blick das Blut bis in die Schläfen stieg. Und als Werner sie mit seinem dunklen, traurigen Blick ansah – jetzt, da er endlich ihre Absicht verstand – fühlte sie einen Augenblick solche brennende Scham, als habe sie sich ihm wirklich hingegeben und bekenne es jetzt laut.

Hjarmer konnte sich nicht beherrschen. Er packte sie am Arm und fragte atemlos:

»Er war bei Ihnen? – Hier? – Auf Ihrem Zimmer? – Er kam heimlich in der Nacht zu Ihnen?«

»Vom Achtuhrzug aus – ja!«

»Während Sie bei unserm Kind wachen sollten?«

Fräulein Selma konnte es kaum mehr ertragen. Sie hatte sich nicht überlegt, wie schwer es sein würde.

Hjarmer griff sich an den Kopf. Es tat so weh – und es war so unglaublich.

»Sie, Fräulein Sindal?« Seine Stimme zitterte vor Erregung. »Sie, der ich solch grenzenloses Vertrauen schenkte!«

Sie beugte den Kopf, während ihr heiße Tränen über die Hände liefen.

»Sie, die ... so haben Sie uns hinters Licht geführt? Sie, die wie eine Tochter hier im Hause gehalten wurden? Jetzt verstehe ich Ihre Überraschung, als ich Ihnen Herrn Hilsöe vorstellte. Mit einer beständigen Lüge haben Sie in unserer Mitte geweilt – Sie, die –«

Oh, wie war es entsetzlich! Wie traf jedes Wort sie bis ins Herz! Und sie fühlte plötzlich – sie hatte es bis jetzt nicht gewußt, wie lieb sie ihn hatte – diesen Mann einer anderen!

»Ich habe nicht gelogen!« flüsterte sie und griff sich ans Herz.

»Und das Kind, das Ihnen anvertraut war! In demselben Zimmer! Bei dem armen, kranken Kind – haben Sie – und Ihr –«

Die Bewegung übermannte ihn. Er griff sich an den Kopf; und als er wieder Herr seiner selbst geworden war, sagte er kalt und hart:

»Wie lange hat dies heimliche Verhältnis gedauert?«

Selma schwieg. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte.

Er mißverstand ihr Schweigen, besann sich und sagte kalt und fremd:

»Wie Sie wollen! Ich habe kein Recht, mich in Ihr Vertrauen zu drängen. Aber Sie werden begreifen, Fräulein Sindal, daß Sie nach diesem nicht mehr in unserem Hause sein können – adieu!«

Fräulein Selma sah ihm einen Augenblick nach, als hoffte sie, daß er umkehren und seine Worte zurücknehmen würde. Dann stieg der Stolz in ihr auf. Sie richtete sich auf und ging zur Eßzimmertür.

Frau Helwig hielt sie mit beiden Armen fest. Sie war so benommen von dem Heldenmut und der Aufopferung, die Selma gezeigt hatte, daß sie ihre Beweggründe nicht ganz erfaßte. Aber sie fühlte instinktiv, daß es eine Entweihung wäre, wenn sie ihren Edelmut dadurch zuschanden machen würde, daß sie den wahren Zusammenhang verriet. Sie beugte sich ohne Bedenken vor der Notwendigkeit, die solch großes Opfer erzwungen hatte. Aber sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie sie verlieren sollte – gerade jetzt, da sie ihr doppelt lieb geworden war.

»Selma,« flüsterte sie, »Sie dürfen nicht gehen!«

Das junge Mädchen fürchtete, daß ihr Opfer fruchtlos sein könne.

Sie ergriff Helwigs Hände und flüsterte eindringlich:

»Ich bin ja frei und schulde niemand Rechenschaft!«

Frau Hjarmer umfaßte leidenschaftlich ihren Kopf und küßte sie auf Mund und Augen.

Als Selma die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte Hjarmer sich an Werner und sagte mit schneidender Kälte:

»Ihre Unwahrheit betreffs der Zeit beruhte also auf Diskretion – Ihr Alibi ist bewiesen, Sie sind frei!«

Dann fügte er mit einer kurzen, formellen Verbeugung hinzu, ohne ihn anzusehen:

»Ich spreche Ihnen hiermit meine Entschuldigung aus!«

Hilsöe bedachte sich einen Augenblick. Er sah von einem zum anderen. Dann beugte auch er sich vor der Notwendigkeit, die das junge Mädchen so stark empfunden und der es solch edelmütiges Opfer gebracht hatte.

»Leben Sie wohl, Frau Hjarmer!« sagte er leise, fast demütig. Das war alles.

Frau Helwig folgte ihm einige Schritte, indem ihr Herz in einer letzten Unentschlossenheit klopfte.

Dann schloß sich die Verandatür hinter Werner; und Hjarmer ließ sich todmüde in den Stuhl neben dem Rauchtisch sinken.

Als Doktor Sylt einen Augenblick später in der Kontortür stand, ohne daß einer von ihnen sein Kommen gehört hatte, wurden sie beide vom selben Gedanken ergriffen.

Frau Helwig stürzte auf ihn zu.

»O Gott im Himmel! – Retten Sie das Kind!«

Hjarmer aber, der noch zu müde war, um sich zu erheben, sah hilflos zu ihm auf und sagte flehend:

»Ellen darf nicht sterben!«


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