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Am folgenden Morgen hatte Frau Scheuermann in aller Frühe schon einen Boten auf das Hüttenwerk gesendet, um dort zu melden, daß Friederike wohlbehalten nach Hause gekommen sei. Denn sie war eine umsichtige Frau, und erkannte es als eine Forderung der Klugheit, die Unruhe und den Verdruß der Nachbarfamilie nicht bis zu einem solchen Grade sich steigern zu lassen, daß ein wirklicher Bruch der geselligen Beziehungen entstünde. Bis sich der Hausherr aus den Federn erhob, hatte sie auch bereits die Sache mit ihrer Tochter abgemacht, und derselben einen strengen Verweis ertheilt. Stumm und demüthig hörte diese die lange Strafpredigt an; nur hin und wieder schaute sie mit ernstem schmerzlichem Blick in das zürnende Mutterauge.
»Ich hätte nicht in die Comödie gehen sollen« – sagte sie endlich.
»Und da dich deine Eltern gehen ließen, hättest du dich anständig benehmen sollen.«
»Aber worin fehlte ich gegen den Anstand?« – fragte Rike traurig.
»Schweig!« – sagte die Mutter wieder strenger, nachdem sie durch das treuherzig zu ihr aufgeschlagene Auge des Kindes schon halb versöhnt war. – »Du hast dich einfältig benommen; ich hätte deinem Verstände mehr zugetraut.« –
»Kann man sich in seinen heiligsten Gefühlen misshandeln lassen?« – rief Rike plötzlich laut aus, und flammende Röthe glühte auf ihrem Gesichte.
»Da sieh einer den Trotzkopf!« – versetzte die Mutter. »Konntest du nicht, wenn du nun einmal durchaus nicht bleiben wolltest, bei dem Hofgärtner warten, bis das Theater beendet war, und dann mit Frau Hähnchen heimfahren?« ?
»Ich« ? Rike stockte und der Purpur ihres Gesichtes wich einer plötzlichen Blässe.
»Nun? Was will das Ich?« ? fragte ungeduldig die Mutter.
»Ich – fürchtete mich vor ihr« – sagte Rike kaum hörbar.
Frau Scheuermann schwieg betroffen.
»Mutter!« – sagte Rike.
»Was willst du, mein Kind?« – entgegnete Jene in ganz mildem Tone.
»Du hättest es nicht gemacht, wie Frau Hähnchen. Du wärest mit mir gegangen.« ?
»Meinst du!« ? versetzte die Mutter. Ihre Stimme klang unsicher, fast wie gerührt.
Frau Scheuermann war sich in dieser Sache, wie es den Menschen so oft zu gehen pflegt, selber nicht klar. Warum man es in dem Theater nicht aushalten könne, wenn die ganze gebildete Welt der Residenz ruhig sitzen bleibt, und sich köstlich unterhält – konnte sie nicht begreifen. Doch hielt sie selber im Leben zu viel auf Zucht und Sitte, als daß sie nicht gewünscht hätte, ihre Tochter vor jedem Anstoß bewahrt zu sehen. Abenteuer, Sonderbarkeiten, Schlüpfrigkeiten waren für sie nur in ihren Romanen zugelassen. Im tiefsten Grunde ihres Herzens freute sich aber die energische Frau des Muthes und der Selbständigkeit, wovon Friederike die Probe abgelegt hatte. Hierin verstand sie ihre Tochter vollkommen, und war ganz zufrieden mit ihr, wenn sie es auch nicht auszusprechen für gut fand.
Eine zweite Unterredung hatte Frau Scheuermann mit ihrem Gatten. Sie wurde lauter, als die frühere mit der Tochter. Denn der Eheherr zeigte sich nicht so ergeben und unterwürfig, wie die Tochter. Doch konnte der Hausfrau auch hier, wie sich von selbst versteht, der Sieg schließlich nicht ausbleiben.
Friederikens Mutter sah nämlich ein, daß es der Anstand erfordere, die Tochter bei der Familie Hähnchen zu entschuldigen. Sie war selbst dazu, aus verschiedenen Gründen, nicht die geeignete Person. Vor Allem fürchtete sie, Frau Hähnchen, ihre »theuere Freundin«, durch den Besuch nur noch mehr zu reizen. Denn daß die Großfabrikantin durch das Benehmen Friederikens in einer höchst aufgeregten Stimmung war, vermuthete sie mit Recht. Es blieb also keine Wahl, der Vater mußte die Tochter entschuldigen. Herr Scheuermann sah das nun wohl selber ein; aber dieser Besuch war ihm nicht nur heute ungelegen, sondern von vornherein überaus widerwärtig. Er sträubte sich daher gegen die vernünftigen Gründe seiner Frau aufs Äußerste; und es geschah ihm, wie es stets zu geschehen pflegt, wenn man selber von der Haltlosigkeit der eigenen Gründe überzeugt ist. Er wurde ärgerlich, und brauste zuletzt auf. Aber dießmal half ihm sein »Punctum« nichts, so oft er es auch wiederholte. Das Punctum der Frau Scheuermann siegte schließlich.
Unwirsch kleidete sich derjenige, welcher den Titel des »Herrn im Hause« führte, an und brummte unterdessen etwas vor sich hin von »jungen Schneegänsen« und »eigensinnigen Weibern« – doch nicht so laut, daß das Letztere von seiner Gemahlin hätte verstanden werden können. Rike brachte ihm sein Frühstück, und bot ihm freundlich den Morgengruß. Der Papa strafte sie jedoch mit feierlichem Stillschweigen, und schien ganz in die neueste Nummer der Nationalzeitung vertieft, welche er, wie zur Abwehr, mit beiden Händen ausgebreitet vor das Gesicht hielt.
Eigentlich war aber Papa Scheuermann mit etwas ganz Anderem, als mit den neuesten politischen Nachrichten beschäftigt. Der gestrige Abend hatte seine alte Furcht vor den Fra Diavolos und Herren von Syllabus aufs Neue aufgeregt, zuerst durch die Gespräche des Herrn Hähnchen, dann durch den unseligen Zeitungsartikel, und endlich durch den Schreck, welchen ihm seine eigene Tochter noch um Mitternacht bereitet hatte. Zu allem Überfluß hatte er die zweite Hälfte der Nacht eine ganz hübsche Serie von Räubergeschichten geträumt, welche im Roman zu lesen, sicherlich für Frau Scheuermann der höchste Genuß gewesen wäre. In allen diesen, theils blutigen und schauerlichen, Abenteuern der vergangenen Nacht spielte, wie wir schon gehört haben, die verhaßte Figur jenes Erzgauners, über dessen Persönlichkeit der gute Öconom damals in der Restauration der Residenz die zuverlässigsten Notizen erhalten hatte, die erste Rolle. Das Signalement des Herrn von Syllabus war eben nicht nur in das Taschenbuch des Herrn Scheuermann eingeschrieben, sondern auch fest, wie das Einmaleins des Abcschülers, seinem Gedächtnisse, selbst im Traume, eingeprägt. Beim Erwachen hatte er aber sofort den Entschluß gefaßt, den Tag zu benützen, um entschiedene Maßregeln gegen eine solche unausstehliche Landplage einzuleiten, und nicht nur aufs Neue dem Gesinde verdoppelte Wachsamkeit einzuschärfen, und die Flurschützen und die Forstleute aufmerksam zu machen, sondern auch den Bürgermeister des Dorfes allen Ernstes aufzufordern, nächtliche Streifen durch die Bauern ausführen zu lassen, damit er doch endlich wieder einmal ruhig schlafen könne.
Man sieht daraus, wie sehr Herrn Scheuermann der Vorschlag seiner Frau bezüglich des Besuches auf dem Hüttenwerke in die Quere gekommen und wie gerecht sein längeres Sträuben dagegen gewesen war. Ohne etwas in der so wichtigen Sache gethan zu haben, wollte er jedoch das Haus nicht verlassen. Wußte er doch nicht, ob er am Ende gar bei Herrn Hähnchen zu Tische geladen würde, um ein förmliches Versöhnungsessen zu feiern. Er würde dann jedenfalls erst gegen Abend nach Hause kommen; aber noch einmal eine Nacht angstvoll durchwachen oder schrecklich durchträumen, das war für Herrn Scheuermann zu viel. Er wollte heute Abend wenigstens sein Haupt mit dem Bewußtsein niederlegen, nicht nur in einem hochcivilisierten Staate zu leben, sondern auch eine energisch gegen die Räuber und Gauner organisirte Nachtstreife der Bauern in Thätigkeit zu wissen. Das konnte doch in aller Bescheidenheit ein Provincialrath und gewesener Landtagsabgeordneter verlangen.
So beschloß er denn, ehe er die unangenehme Fahrt nach dem Hüttenwerk antrete, wenigstens seinen Großknecht mit der brennenden Syllabusfrage vertraut zu machen, damit sein Haus nicht während seiner Abwesenheit von dem gefürchteten Feinde heimgesucht werden könnte, ohne daß man vor demselben auf der Hut wäre. Seiner Frau, was doch das Natürlichste gewesen wäre, in dieser so hochwichtigen Angelegenheit Mittheilungen zu machen, vermied er. Er sagte sich selbst, daß er sie und die Kinder nicht unnöthiger Weise erschrecken wolle; aber der eigentliche Grund, welchen er sich weislich selber verschwieg, war, daß er sich vor seiner Frau ? schämte. Sie hatte ihn zu oft in solchen Ängsten gesehen, und er fühlte es wohl heraus, daß er dadurch nicht in der Achtung der Frau Scheuermann stieg, sondern vielmehr stets entschiedener die Herrschaft im Hause verlor, welche er übrigens, genau bei Licht betrachtet, eigentlich der Sache nach nie gehabt hatte.
Hans, der Getreue, wurde daraufhin auf das Zimmer des Gebieters beschieden, und empfing zu seinem anfangs sprachlosen Erstaunen die nöthigen Verhaltensmaßregeln. Herr Scheuermann glich einem heldenmüthigen General, welcher einen Ausfall aus der belagerten Veste vor hat, und den Oberbefehl des Platzes kundiger Leitung für den Fall anvertraut, daß er vor dem Feinde falle. Wie stieg aber erst die Verwunderung des guten Knechtes, als der Herr sein Taschenbuch herbeiholte und ihm das Signalement des Herrn von Syllabus vorlas. Gerne hätte Herr Scheuermann dem Diener das Signalement schriftlich hinterlassen, damit sich derselbe genau darüber unterrichte. Aber Hans hatte zwar die deutsche Volksschule vorschriftsmäßig nach den Dutzenden von Schulplänen, welche während seiner Jugendzeit erlassen wurden, absolvirt, aber über dem Ackern, Dreschen, Reiten und Fahren das Lesen wieder glücklich verlernt. Es blieb also nichts anderes übrig, als das Gedächtnis des Großknechtes, so viel als möglich, in Anspruch zu nehmen.
»Haare pechschwarz« – las Herr Scheuermann mit großem Ernste aus seiner Brieftasche. »Merk' dir's!« –
»Weiß schon – der Kerl hat pechschwarze Haare« – erwiderte Hans.
»Augen schielend.«
»Schielt das Scheusal auch noch!« – rief Hans. »Ei, daß dich!« – Herr Scheuermann war sehr zufrieden mit der Auffassungsgabe, welche sein Großknecht an den Tag legte.
»Nase« – fuhr der Hausherr fort und stockte; denn er konnte das Folgende selber nicht mehr recht lesen, obgleich es seine eigene Handschrift war. Endlich hatte er es buchstabirt:
»Nase den Augen proportionirt« –
»Was heißt das?« – fragte etwas kleinlaut der Knecht.
Der Herr wurde verlegen; er wußte es selbst nicht. Der Übermuth des jungen Husarenoffiziers in der Restauration, welcher ihm das dictirt hatte, war allerdings auch zu groß gewesen.
»Nase den Augen proportionirt« – sagte endlich Herr Scheuermann, welcher es seiner Würde schuldig war, dem Großknecht Bescheid auf seine Frage zu geben. – »Das will sagen, daß die Nase zwischen den Augen steht, wie eine Portion?«
Hans dachte unwillkürlich an die leckere Portion Schweinefleisch, welche ihm nach einem flüchtigen Blicke, den er in die Küche gethan, heute Mittag in Aussicht stand, aber er wagte keine geistreiche Anspielung; desto geistreicher half sich sein Gebieter.
»Das heißt also: eine ungeheuer große Nase« – sprach er höchst autoritativ, und zu Bekräftigung dieser authentischen Interpellation, fügte er mit gehobener Stimme hinzu:
»Punctum.«
Er war froh, über diese schwierige Frage hinaus zu sein, und fügte rascher hinzu:
»Gesichtsfarbe bleich – Statur von mittlerer Größe.«
»Mittlerer Größe« – wiederholte Hans kopfnickend.
»Ist modisch gekleidet. Das heißt, wie die Stadtleute – verstehst du, Hans?«
»Ich kenne schon die Zierbengel« – sagte der Knecht mit freundlichem Grinsen.
»Dann merke dir noch wohl: Trägt eine goldene Brille und schwere goldene Uhrenkette.«
»Alles gestohlen!« – murmelte Hans.
Kurz darauf saß Herr Scheuermann im Wagen und kutschirte sich selber nach dem Palaste des Großfabricanten. Wenn sich der Vater Friederikens auch auf einige gereizte Worte von Seiten der Frau Hähnchen gefaßt gemacht hatte, so erkannte er bald nach den ersten überaus steifen Begrüßungsworten, welche ihm von dieser und von ihrem Manne zu Theil wurden, daß sich an eine wirkliche Beilegung der Sache, so viele Worte auch die Großfabrikantin machte, nicht denken lasse. Diese spielte zwar die Großmüthige, und ihr Gemahl übertraf sie noch darin; dabei aber wußte die feingebildete Frau dem armen Öconomen mit ewigem Lächeln auf dem Munde so viel giftige Stiche zu versetzen, daß diesen das Gefühl überkam, in ein Wespennest geraten zu sein. Von einer Einladung zu Tische war gar keine Rede; und je mehr Herr Scheuermann den Besuch verlängerte, von der falschen Hoffnung geleitet, einen gütlichen Ausgleich zu finden, desto kühler und trotziger wurde das Gespräch. Endlich überzeugte sich unser guter Öconom an einer höchst bitteren Bemerkung der Hausfrau, daß die guten nachbarlichen Beziehungen durch den fatalen Theaterabend gründlich zerstört seien, und verließ das Haus mit dem Gefühle, daß er und die Seinen es nie mehr betreten würden.
Unser Landwirth war bei allen seinen Schwächen ein zu ehrenhafter Charakter, und hatte ein viel zu gerades Herz, um nicht zu erkennen, daß das Betragen der Leute, aus deren Haus er eben mit den schönsten Redensarten hinauscomplimentirt worden war, eigentlich ein ganz abscheuliches gewesen sei. Zwar kam ihm hin und wieder der erneute Unwille über das übertriebene Wesen seiner Tochter; aber er mußte sich doch auch fragen, daß diese Frau Hähnchen keine Person sei, welcher man Kinder anvertrauen könne, und daß man Friederiken es nicht verargen dürfe, wenn sie sich in solcher Gesellschaft zum Fortlaufen unheimlich fühlte. Angenehm war ihm freilich die Sache nicht, und er hätte sicher gewünscht, daß sie einen besseren Ausgang genommen. Aber der Gedanke stieg ihm doch leise auf, daß es vielleicht ein Glück für ihn und seine Familie sei, zu den feinen Leuten auf dem Hüttenwerke keine Beziehungen mehr zu haben. Nur wollte er diesen Gedanken nicht recht Raum geben.
Da gewahrte er erst, daß der Braune sich die tiefen Meditationen seines Herrn zu Nutzen gemacht hatte, und ganz gemächlich im Schritte den schattigen Waldweg ging.
»Punctum!« ? rief Herr Scheuermann laut aus, und drohte dem Pferde mit der Peitsche. Verwundert hörte er das Echo seines Lieblingswortes aus dem Walde tönen, und der Gaul lief wieder in frischem Trabe dahin.
Jetzt hatte er den Wald verlassen, wo die Straße allmählig abwärts führte und eine freundliche Fernsicht bis zu seinem Hofgute sich eröffnete. Da sah er in ziemlicher Ferne eine Gestalt die einsame Straße daher kommen. Bald konnte er schon deutlich erkennen, daß sie lief. Dann blieb sie wieder stehen, sah sich um, und lief von Neuem. Unwillkürlich griff der Öconom in die Wagentasche, wohin er zu Hause verstohlen eine Pistole gebracht hatte. Der auf der Landstraße laufende Mensch hatte für ihn, der außerdem aufgeregt war, etwas Beängstigendes. Weit und breit sah er auf dem Felde kein menschliches Wesen.
»Ein Flüchtling!« – murmelte er vor sich hin, und spannte den Hahn der Pistole, wobei er jedoch entdeckte, daß der Zündhut fehlte, und sich dann erst erinnerte, daß sie auch nicht geladen sei. Das vermehrte nur seine Unruhe, und er spähte um so schärfer nach dem eiligen Wanderer, welcher ihm immer näher kam. Ohne daß er es wußte, zog er den Zügel an, und der Braune ging wieder langsam im Schritte voran.
»Sollten dem die Gendarmen auf den Fersen sein?« – sprach er zu sich selbst. »Am Ende gar der Herr von« –
Das Wort erstarb ihm auf den Lippen. Denn der Mann hatte offenbar seinen Wagen entdeckt und kam ihm mit drohender Gebärde näher. Deutlich sah es Herr Scheuermann schon, wie er eine Waffe über dem Haupte schwang, und dieselbe aus der Ferne gegen ihn richtete.
Sollte er mit seiner Kutsche umkehren und das Weite suchen? Aber bis er den Wagen gewendet hätte, konnte ihm der Räuber schon im Nacken sein. Angstvoll sah sich der Landwirth nach einem Seitenwege um, auf welchem er über das weite Feld entrinnen könnte. Keiner war jedoch zu erspähen; die große Böschung der Straße fiel überall steil ab. Der Räuber schien es aber auf einen gewaltsamen Unfall abgesehen zu haben; denn je näher er kam, desto wilder drohte er, indem er sein Mordinstrument in die Höhe hielt, welches dem armen Wagenlenker in der Sonne wie ein Mordstahl zu funkeln schien. Da faßte Herr Scheuermann einen verzweiflungsvollen strategischen Entschluß. Er wollte die Passage forciren. Wild hieb er auf den armen Braunen, daß dieser sich zuerst hoch aufbäumte, dann aber mit Ungestüm vorwärts rannte. Schon glaubte der Landwirth das Spiel gewonnen zu haben, und entrinnen zu können, als er den Kerl mit lautem Geschrei auf den Gaul zuspringen sah. Es schwindelte ihm und wurde ihm schwarz vor den Augen. Das Pferd aber stand alsbald fromm und ruhig und schnaufte sich mit schäumendem Buge aus.
»Brav, Liese, brav!« – rief Hans – denn er war es – und streichelte das Thier. »Wolltest durchgehen? Ei, ei!« – Dann wandte er sich rasch zu seinem Gebieter:
»Herr, wir hätten ihn!« – schrie er laut.
»Hans!« – rief Herr Scheuermann, da er den Räuber als seinen Knecht erkannte, und athmete tief auf.
»Herr« ? sagte der treue Diener, und der Öconom bemerkte nun, daß er dessen Knotenstock für eine blanke Klinge angesehen hatte. – »Es ließ mich nicht zu Hause, ich mußte Ihnen entgegenlaufen, um Ihnen Nachricht zu bringen.«
»Was für eine Nachricht? – Und wozu der Prügel?« – fragte der Landwirth unmuthig, welchem mit dem Arger der Muth zurückkehrte.
»Nun, die Gegend ist unsicher – Sie sagten es ja selbst.«
»Und wozu das rasende Laufen, und das Fuchteln mit dem Prügel? Einfaltspinsel!« ?
»Lauter Freude, Herr!« – jubelte Hans. »Wir haben ihn ja!«
»Wen habt Ihr?« – fragte der Öconom, und sein Herz begann abermals hörbar zu klopfen.
»Nun ja! Den Schelm, den Räuber – den falschen Baron-Schlappfuß!«
»Den Herrn von Syllabus!« – stöhnte Herr Scheuermann. – »Ist er gepackt? Sitzt er sicher?«
»Das noch nicht, aber« –
»Kerl! Mach mich nicht ungeduldig! Gerade habe ich genug!« – rief der Öconom und seine sonst so gutmüthigen Augen funkelten, so daß Hans selber darüber erschrak.
»Aber, lieber Herr, ich kann doch nicht Alles auf einmal sagen. Wir haben den Schurken, das heißt, gesehen hab ich ihn, und er wird uns nicht mehr entwischen.«
»So steig auf den Bock und erzähle. Die Liese findet von selbst den Weg nach Haus.« –
Hans setzte sich rücklings auf den Bock und erzählte, während der Braune wohlgemuth dem Stalle entgegeneilte. Gleich nach der Wegfahrt des Herrn hatte er sein Abenteuer bestanden. Er war in den Forst gefahren, um Holz nach Hause zu führen, als er auf einem einsamen Waldwege einem städtisch gekleideten Herrn begegnete mit einer dicken goldenen Uhrenkette.
»Und goldener Brille?« – fragte bebend der Landwirth.
»Das will ich meinen!« – versetzte Hans und schwang abermals seinen Prügel.
»Und die Haare?« – fragte sein Herr weiter und zog hastig seine Brieftasche hervor, um das Signalement zu controliren. – »Haare pechschwarz.«
»Herrje!« – sagte Hans – »die waren feuerroth.«
»Gefärbt, Hans, gefärbt!« – versetzte Herr Scheuermann mit aller Bestimmtheit. »Man braucht nur in der Nähe der Residenz zu leben, um zu wissen, wie sich das tünchen läßt. – Augen schielend« – las er weiter.
»Nun ja, das sah ich nicht« ? erwiderte Hans. ? »Die Augengläser waren blau.«
»Aber die Brille, sagst du, war von Gold. «
»Gewiß! Das heißt: ob es Gold oder Messing war, weiß ich nicht. Aber goldig sah die Brille aus.« Und Hans besiegelte abermals seine Aussage mit einem Streiche, den er mit seinem Knotenstock in die Luft führte.
»Nase?«
»Nase? Na! Das will was heißen. Ein wahrer Kirchthurm, aber schief.« – Und Hans lachte laut hinaus.
»Da haben wir's!« ?
»Gesichtsfarbe bleich« – las Herr Scheuermann weiter.
»Just gerade nicht« – meinte Hans. »Eher lebhaft, eigentlich roth und Sommersprossen die Menge.«
»Schminke, Hans, nichts als Schminke! Punctum!« ? sagte Herr Scheuermann. »Du glaubst nicht, was die Schminke thut. Es gibt eitle alte Weiber, die sich so täuschend schminken, daß sie es selber für Natur halten. – Endlich: die Statur mittelgroß« – las er aus der Brieftasche.
»Groß? – freilich. Ich hielte ihn eher für lang. Seine Beine könnte ich wenigstens von jenen unsers Storchen nicht unterscheiden.«
»Nun, weißt du, Hans« – versetzte der Öconom, »was das Augenmaß betrifft, – so ist das verschieden. Gerade die Kleinsten halten sich für groß.«
Hans lachte wieder hell hinaus. »Ganz gewiß« – sagte er. »Mein Vetter, der Schneider, ein Knirps, wie eine Bachstelze, klagt immer über das viele Zeug, das er zu seinen Hosen brauche.«
»Kein Zweifel mehr! Er ist's« ? sagte der Landwirth und wischte sich den Angstschweiß von der Stirne. Wir können uns in gewisser Beziehung gratuliren, daß er es ist.«
»Vorausgesetzt freilich, daß wir seiner habhaft werden,« versetzte der Herr.
»Ja, ja! Die Nürnberger hängen keinen« ? sagte Hans ? »wenn sie ihn nicht haben.«
»Aber, was fing der Schurke denn an, als er dir begegnete?« fragte Herr Scheuermann. »Warum hast du ihn nicht sofort geknebelt, und auf dem Wagen nach Haus geführt?« –
»Wär eine Kunst gewesen! Zuerst meinte ich freilich, er wolle mit mir anbinden. Aber eh ich mich's versah, war er auch schon im Gebüsche verschwunden.«
»Er scheint den Wald schon ziemlich zu kennen« ? sagte Herr Scheuermann mit bedenklicher Miene.
»Lassen Sie das gut sein!« – rief der Großknecht. »In unserem Wald kennt man sich in acht Tagen noch nicht aus.«
»Aber wer weiß, wie lange sich der Strauchdieb schon darin herumtreibt« – versetzte Herr Scheuermann.
»Das ist allerdings eine andere Sache« – meinte Hans und kratzte hinter den Ohren.
Unterdessen hatte der Braune den Wagen bis zum Hofthore gebracht. Herr Scheuermann stieg in großer Zerstreuung aus, und ließ heute sogar seine Brieftasche in der Kutsche liegen. Voller Erwartung kam ihm seine Frau entgegen, während sich Rike, nicht minder gespannt, aber scheu, in der Küche hielt. Aber wie groß war die Überraschung und der Verdruß der Frau Scheuermann, als ihr der Gemahl in kurzen Worten sagte, daß mit Hähnchens nichts mehr anzufangen sei. Die Gattin wollte ihn mit einer Menge von Fragen behelligen, wozu sie in der That ein Recht zu haben schien. Aber der Herr des Hauses ließ sie reden, suchte nur nach seiner Brieftasche mit dem kostbaren Signalement, und als er sie endlich im Wagen gefunden hatte, eilte er rasch in sein Arbeitszimmer, wohin ihm Hans folgen mußte. Hinter diesem hörte man die Riegel vorschieben.
Nach geraumer Zeit sah Frau Scheuermann zu ihrem nicht geringen Schrecken Hans mit den beiden Pistolen ihres Gemahles und einem Briefe die Treppe herabkommen.
»Aber Hans!« – sagte die Hausfrau – »was geht denn vor?«
»Pst, Pst!« – machte Hans und legte ernst den Finger auf die Lippen. – Dann sagte er lächelnd:
»Pistolen müssen gut geputzt sein; sonst gehen sie nicht los.«
»Und der Brief?« – fragte Frau Scheuermann.
»Den muß ich gleich ins Dorf zum Herrn Bürgermeister tragen.«
Sie schüttelte den Kopf und Rike sah die Mutter erstaunt an.
Entschlossen, wie Frau Scheuermann war, eilte sie hinauf, um von ihrem Manne selber zu erfahren, um was es sich handele. Aber erschrocken blieb sie an der Thüre stehen, da sie denselben im lauten Monologe sprechen hörte. Das war ihr doch in ihrer ganzen Ehe noch nicht begegnet. Sie verstand übrigens kein Wort. Da öffnete sie rasch die Thüre, und mußte sehen, wie ihr Mann im Schlafrock sich den Säbel umgeschnallt hatte, und seinen abgetragenen Mantel, welcher hinter der Thüre aufgehängt war, mit Stichen und Hieben bearbeitete, so daß schon einige Fetzen herunterhingen. Es war offenbar eine Fechtübung, welche er vornahm. Sie beschäftigte ihn dermaßen, daß er das Eintreten seiner Frau nicht einmal gewahrte.
Frau Scheuermann hielt es für gerathen, ihn lieber nicht zu stören, und zog die Thüre leise hinter sich zu.
»Wie gut ist's für die Männer« – sagte sie, indem sie die Treppe herabstieg – »wenn sie gescheidte Frauen haben.«