Franz Xaver Bronner
Ein Mönchsleben aus der empfindsamen Zeit. Zweiter Band
Franz Xaver Bronner

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Zwölftes Kapitel:

Im Konvikt zu Dillingen.

Eintritt in das Konvikt – Die Professoren – Orthodoxie – Art mich zu behandeln – J. M. Sailer – Alumnen und ihre Obern – Kirchenverrichtungen – Der Herr Statthalter – Aufgetragene Arbeiten – Besuche in der Vaterstadt, Wiedersehen mit dem Vater – Eine wohltuende Sammlung – Die 50 Gulden – Das geliebte Fräulein – Leeres Versprechen.

Im November 1786 führte mich Herr von Ungelter nach Dillingen ins Konvikt. Im Wagen sprach er dem Anscheine nach ziemlich vertraut mit mir, so daß ich anfing, ihn lieb zu gewinnen. Ich mußte ihm aus einem geistlichen Buche einige Stellen vorlesen und erhielt, weil ich dies mit Ausdruck und Feuer tat, seinen Beifall. Dies war auch in Augsburg unsre gewöhnliche Unterhaltung gewesen, wenn ich ihm meine Aufwartung zu machen in die Dompropstei kam. Es war mir sonderbar zumute, so oft wir durch ein Dorf fuhren, wenn ich sah, wie alle Bauersleute auf die Knie fielen und seine Exzellenz, der Herr Weihbischof, neben mir, bald rechts bald links, mit einer gravitätischen Amtsmiene gnädig nickend und Kreuze schlagend, seinen Segen freigebigst ausspendete. Sogleich nach unsrer Ankunft in Dillingen führte er mich selbst ins Konvikt, ein Erziehungshaus junger Geistlichen, das an das ehemalige Jesuitenkollegium, nun das akademische Haus genannt, stößt. Der Regent wies mir ein dunkles Zimmerchen an, das keine Aussicht als in einen engen Winkel des Hofraums hatte und zunächst an die unsaubren Asyle des Bedürfnisses grenzte. Ein Tischchen, ein Bett, ein Stuhl und ein Waschgefäß von Zinn waren die Möbel, die zur Bequemlichkeit des neuen Bewohners bereitstanden.

Zum erstenmal rief mich nun wieder, wie im Kloster, das Läuten einer Glocke zum Essen. Herr Statthalter hatte befohlen, mich an den ersten Tisch zu setzen, an welchem der Regent, der Hausmeister, die Repetitoren und einige reichere Alumnen mit bessern Speisen bedient wurden. Die Kost der übrigen Alumnen war sehr geringe und Herr Statthalter besorgte, ich würde dabei in die Länge nicht aushalten. Zudem hatte er mir immer gesagt, ich sollte nicht als ein Büßender betrachtet werden, und nur büßende Geistliche, das sind diejenigen, welche nach dem gewöhnlichen Ausdrucke irgend eines Vergehens halber Kontumaz machen mußten, wurden an den gemeinen Tisch der Alumnen verwiesen. Ich war mit ihm schon damals, als er mir den Vorschlag machte, nach Dillingen ins Konvikt zu gehen, und jetzt von neuem im Reisewagen übereingekommen, daß ich nur insofern an die Statuten dieses Hauses gebunden sein sollte, als nötig wäre, um nicht durch Unordnung jemandem lästig zu werden. Dies beschränkte sich fast allein darauf, daß ich zu rechter Zeit bei Tische erschien und abends nie über die bestimmte Stunde des Pfortenschlusses aus dem Hause blieb.

Die Professoren Sailer und Weber, denen mich de Haiden empfohlen hatte, besuchte ich sogleich nach meiner Ankunft und ward von beiden freundlich empfangen. Sailer hüpfte mir entgegen, umarmte mich, hing sich an meinen Arm, plauderte so teilnehmend und tat so vertraulich, daß ich, hingerissen von seiner schmeichelnden Art, den Jesuiten vergaß und ihm offenherzig alle meine Hoffnungen und Besorgnisse enthüllte. Weber empfing mich mit stiller Freundlichkeit und gewann nur desto sicherer meine Zuneigung.

Ich war noch nicht lange in Dillingen, so warnten mich mehrere Personen, denen ich sagte, wie viel Gutes ich an Herrn Statthalter bemerkt hätte, und wie sehr ich meiner Versorgung wegen auf seine Gunst baute, ich sollte auf meiner Hut sein und nicht zuviel auf ihn vertrauen; mein zu gelindes Urteil würde mich nur zu bald trügen. Ich dachte »sie mißkennen ihn,« erinnerte mich an einige schöne Äußerungen, die ich aus seinem Munde vernommen und an die Wohltätigkeit, die ich an ihm bemerkt hatte und konnte nicht umhin, mir zu sagen: »Ist er schon kein aufgeklärter, geschickter Kopf, so ist er doch, wenigstens da und dort, ein guter Mensch und ein tätiger Geschäftsmann!« Seine Denkensart und sein Betragen gegen die Alumnen, die ihm als Liebhaber sogenannter lockerer Bücher verklagt wurden, konnte mir freilich nicht gefallen, allein ich schrieb diesen Flecken seines Charakters einer bigotten Erziehung und den heuchlerischen Eingebungen einiger finstern Köpfe zu, die ihn umlagerten.

Der Regent war zugleich Lehrer der christlichen Moral an der Akademie, lehrte aber nichts weiter als eine förmliche Kasuistik und zwar im elendesten Latein und im schläfrigsten Vortrage. Er verdankte sein Amt der Eingeschränktheit seiner Talente, seiner frommen Miene und der Anhänglichkeit an den Professor der hebräischen Sprache und Hermeneutik, seinem Landsmann, der einst Herrn Statthalters volles Vertrauen besaß. Als ein Pröbchen seiner trefflichen Lehrart verdient angemerkt zu werden, daß er auf seinem Katheder in vollem Ernste behauptete, es sei Sünde, einen Taubenschlag an die offene Straße zu bauen, weil das Schnäbeln der Tauben und ihre verliebten Spiele die Vorübergehenden zur Unzucht reizen könnten und mehr dergl. Im letztverflossenen Schuljahre und jetzt, da ich anwesend war, ließ er auf einen Tag während der Mittagsmahlzeit die Schreibpulte aller Alumnen aufbrechen, um die verderblichen Bücher zu finden, die man bei ihnen vermutete. Der Regent wußte nämlich, daß Sailer, Weber und Hermann manchmal den Studenten deutsche Bücher mitteilten, und hoffte, dieselben zu finden, um einen Anlaß zu haben, über diese Professoren zu klagen, die bei den Alumnen durchaus in weit größerm Ansehen standen, als er. Wirklich fand man allerlei Bücher, die verdächtig schienen. Unter anderm geriet ihm ein Teil von Shakespeare in die Hände, der sogleich für ein Eigentum des Professors Hermann erkannt und dem Herrn Statthalter als corpus delicti ausgeliefert ward. Man nannte das Buch ein gottloses Machwerk und begleitete die Anzeige mit der Bitte, die noch übrigen schädlichen Druckschriften, die man bei den Alumnen gefunden hätte oder finden würde, ohne weiteres konfiszieren zu dürfen. Dies ward auch ohne Anstand befohlen; der Professor Hermann bekam einen Verweis, und man nahm Lavaters Predigten, Pfenningers Magazin und was immer von Protestanten herrührte, als ketzerische, allzu frei geschriebene und verführerische Bücher hinweg. Bürgers Gedichte und alles was Gedicht hieß, sogar die Werke des guten Asmus (Matthias Claudius) wurden förmlich proskribiert.

Herr Statthalter verbot mir strenge, irgend eines meiner Bücher einem Alumnen mitzuteilen; er kam selbst auf mein Zimmer, um sich darin umzusehen und das Verbot mir kundzutun. Ich machte ihm Vorstellungen wegen der Enge, Düsterkeit und des üblen Geruches des Zimmers, und er traf Anstalt, daß ich ein bessres Gemach beziehen durfte, welches wenigstens einige freie Aussicht in den großen Konvikthof gestattete, obschon es nie von der Sonne beschienen wurde. Es wunderte mich, warum man mir kein bessres Zimmer anwies, da doch mehrere leer standen oder von lockeren Studenten bewohnt wurden. Aber in der Folge, als ich mit dem Regenten vertrauter ward, gestand er mir, daß er von Herrn Statthalter geheimen Befehl erhalten hätte, mich überhaupt als einen Geistlichen zu behandeln, der nur, um Buße zu tun, ins Konvikt verwiesen wäre, und mir durchaus kein Zimmer zu geben, das einige Aussicht auf die Straße gewährte, damit ich als ein Mensch, der durch seine Gedichte bereits seine Liebhaberei für schöne Gesichtsformen verraten hätte, keinen Zerstreuungen durch die Begierlichkeit meiner Augen ausgesetzt würde. Aller feierlichen Versprechungen ungeachtet, belegte man mich also dennoch mit einer Buße, die man freilich so künstlich unter einem andern Vorwand verdeckte, daß ich's nicht sogleich merken konnte.

Es verriet sich doch nur zu bald, daß man mich geäfft hatte, als man mir sagte, ich sollte in Dillingen Subbibliothekar werden, nebenbei Geschichte studieren und dann als Lehrer anstehen. Herr Statthalter selbst gestand mir nachher in einer vertrauten Stunde, daß er diese Hoffnung teils darum in mir erregte, um mich durch Eröffnung einer guten Aussicht ins Konvikt zu locken, wohin ich nie wollte und laut des mir ausgestellten Vikariatsdekrets auch nicht zu gehen gezwungen werden durfte, teils damit ich durch das Studium der Geschichte und andre Beschäftigungen von den schönen Wissenschaften und dem verwünschten Bücherschreiben abgezogen werden möchte. Kaum konnte ich's erhalten, daß mir erlaubt wurde, den Schlüssel bei dem ordentlichen Bibliothekar zuweilen abzuholen und die Bücherstellen zu durchschauen. Es dauerte beinahe ein Jahr, bis es mir einmal gelang, in die Kammer zu dringen, wo die verbotenen Bücher aufbewahrt wurden. Sie enthielt größtenteils polemische Schriften der Reformatoren zur Zeit der Religionskolloquien.

Sobald ich sah, daß es mit der Bibliothekarstelle nur Blendwerk sei, entschloß ich mich, meine Zeit zu meinem eigenen Besten zu verwenden und faßte einmal den Gedanken, eine Legende der Heiligen zu schreiben. »An derselben,« schrieb ich nach Zürich, »soll sich hoffentlich kein Philosoph stoßen. Ich will lauter solche Taten der Heiligen wählen, welche wirklich tugendhafte Handlungen sind. Es werden sich doch aus dem großen Schwarm kanonisierter Legendenheiligen 365 gute Taten ausheben lassen, die als moralische Beispiele aufgestellt werden dürfen! Acta Sanctorum, Bollandisten usw. gibts genug in der hiesigen Bibliothek!« Aber kaum hatte ich einige Bände durchlaufen, so verging mir die Lust, aus ganzen Haufen historisch-andächtigen Unrats ein mageres Histörchen herauszuwühlen, das dann erst noch ganz umgekleidet werden mußte, um interessant zu sein. Ich ließ also mein Vorhaben unausgeführt.

Manchmal besuchte ich die Vorlesungen der Professoren, um ihren Vortrag und ihre Denkensart kennen zu lernen. Zimmer, Sailer und Weber waren offenbar die geschicktesten ihrer Kollegen. Einmal hörte ich Sailers Vorlesung über die Moralphilosophie. Er verschrie die Vernunft als einen trügenden Irrwisch und machte es so arg, daß ich's beinahe nicht mehr aushalten konnte. Am Ende teilte er einen gedruckten Bogen als Denkblatt unter seine Zuhörer aus, in welchem ebendieselben Grundsätze, nur etwas milder, gepredigt wurden.

Wenn Sailer Briefe oder Schriften erhielt, die der Meinung günstig waren, die er mir und andern von sich selbst beibringen wollte, so säumte er nicht, mir dieselben mitzuteilen. Aber so freundlich er mich immer empfing, so lächelnd er mir entgegenhüpfte, wenn ich in sein Zimmer trat, so einschmeichelnd er sich an meinen Arm hing, wenn wir miteinander im Zimmer auf und ab gingen, so warnte er doch die Alumnen im geheimen vor dem Umgange mit mir und schilderte mich ihnen als einen Menschen, der allzu freidenkerische Grundsätze hatte und ihres Zutrauens nicht wert wäre. Die bessern Köpfe unter den Alumnen kamen aber fast täglich zu mir, erzählten mir wieder, was ihnen Sailer gesagt hatte, und wunderten sich sehr, wie es doch komme, daß er nicht gut auf mich zu sprechen sei.

Die Anhänglichkeit der jungen Geistlichen an mich war auch dem Regenten und Herrn Statthalter in hohem Grade zuwider, dem erstern, weil er besorgte, ich möchte die Geringschätzung vermehren helfen, mit der ihm viele Studenten begegneten; dem andern, weil er fürchtete, ich würde den Alumnen schädliche Grundsätze beibringen. Einst hatte der Regent einigen der ältern Alumnen in beleidigenden Ausdrücken öffentlich einen derben Verweis gegeben. Sie verfaßten eine Schrift an den Regenten, in welcher sie sich mit vieler Besonnenheit und in sehr bescheidenem Tone über diese Begegnung beschwerten und sich eine minder lieblose Behandlung ausbaten. Von der ganzen Sache wußte ich nichts. Dennoch fing der Regent bei Tische auf mich zu sticheln an, lächelte mir, sobald er in den Speisesaal trat, höhnisch zu und neigte sich vor mir, wie vor einem großen Herrn. Ich wußte nicht, was ich aus diesem bittern Scherze machen sollte. Erst nach dem Essen brachten mir die Alumnen ihre Schrift und sagten, der Regent glaube, ich habe ihnen beim Verfassen derselben geholfen. Die Erbitterung zwischen dem Regenten und den Alumnen stieg auf einen so hohen Grad, daß sie bei jedem Anlasse einerseits in Verweise, anderseits in laute Widersetzlichkeit ausbrach. Ich mußte besorgen, des auf mich geworfenen Verdachtes halber in diese unangenehmen Mißhelligkeiten verwickelt und bei Herrn Statthalter verklagt zu werden, und faßte den Entschluß, den ganzen Hergang aufrichtig, unparteiisch und wahr an diesen Herrn zu berichten. Dadurch hoffte ich auch von meinen Freunden, den Alumnen, ein allzu hartes Verfahren der Obern abzuwenden, das ihnen die übertriebenen Klagen des Regenten, wenn Herr Statthalter unvorbereitet damit überrascht worden wäre, wahrscheinlich zugezogen hätten. Mein Schreiben tat auch eine so gute Wirkung, daß der ganze Handel ohne Geräusch beigelegt ward und Herr von Ungelter in einem eigenhändigen Schreiben mir sein Wohlgefallen bezeigte. Selbst meine ehemaligen Mitbrüder im Kloster hörten von meinem Benehmen; P. Beda erzählte ihnen, mein Schreiben sei so abgefaßt gewesen, daß auch im Falle, wenn es öffentlich abgelesen worden wäre, weder der Regent noch die Alumnen darüber hätten aufgebracht werden können, und der Prälat ließ sich verlauten: »Bonifacius wird in Dillingen gefürchtet wegen des Herrn von Ungelter, an den er sich hält.« Diese Nachrichten sind aus dem Briefe eines Klosterfreundes.

Herr von Ungelter zeigte wirklich einige Neigung zu mir, und auch ich hatte etlicher schöner Charakterzüge halber aufrichtige Hochschätzung für ihn. Seine Wohltätigkeit gegen Dürftige, seine unermüdete Geschäftigkeit und sein guter Wille, etwas Nützliches für das allgemeine Beste zu leisten, hatten ihm mein Herz gewonnen und alle seine übrigen Fehler bedeckt. Er hielt am Namenstage des Kurfürsten, dem Festtage des heil. Clemens, eine Anrede an die Schulkinder im großen Kloster zu Dillingen, die mir nach manchen damit vorgenommenen Änderungen wirklich nicht ganz unwert schien, in ein Journal eingerückt zu werden. Ich hatte die Hauptpunkte in der Kirche unter dem Chorrock mit Bleistift nachgeschrieben und zu Hause alles in Ordnung gebracht, so daß mir die kleine umgearbeitete Rede nicht ganz ungenießbar schien. Ehe ich sie aber an Herrn von Bibra, den Redakteur des Journals von und für Deutschland überschickte, zeigte ich sie dem Herrn Statthalter und gestand, was ich damit beginnen wollte. Obschon er Einwendungen dagegen machte, so dünkte es mich doch, es sei ihm nicht unangenehm, seine Gedanken gedruckt zu sehen. Denn er wünschte offenbar, wegen seines Predigens so berühmt als der verstorbene Fürst von Würzburg zu werden. Als ich aber den Brief an Herrn von Bibra schreiben sollte, fühlte ich einen so lebhaften Widerwillen, mich als ein elender Schmeichler auszuzeichnen, und empfand das Täuschende und Unedle, das mit einem solchen Betruge verbunden ist, so innig, daß ich's nicht über mich gewinnen konnte, an Herrn von Bibra eine Zeile zu schreiben, und von dieser Stunde an ein solches Vorhaben auszuführen niemals wieder Lust bekam.

Herr Statthalter schien jedoch schon an meinem guten Willen Wohlgefallen zu haben und lud mich einigemale zu Tische ein. Einst hatte er es so eingerichtet, daß wir beim Abendessen ganz allein waren. Er sprach mir (wie ich nachher sah, wider seine Gewohnheit) fleißig zu, tapfer zu trinken und ließ mir am Ende noch eine Flasche Burgunder vorsetzen. Zugleich lenkte er das Gespräch auf meine Flucht aus dem Kloster und auf die Veranlassung derselben, wobei er sich äußerte, er hätte vernommen, daß zum Teil eine Liebschaft daran schuld gewesen wäre. Ich gestand ihm offenherzig meine Bekanntschaft mit Minchen, doch ohne sie zu nennen, und malte ihm meinen damaligen Zustand so treu und lebhaft ab, daß immer ein leises Lächeln um seinen Mund schwebte. Allein er schien doch gar nicht zu begreifen, daß man so rein und doch so herzlich lieben könne. »Sie dürfen mir's wohl gestehen,« wiederholte er öfters, »daß es bei diesen geistigen Gefühlen nicht immer sein Verbleiben hatte.« Obschon ich eifrig das Gegenteil beteuerte, kam er doch stets wieder darauf und erzählte mir, wahrscheinlich, um mich noch treuherziger zu machen, einige Züge seines Lebens, in denen er zwar als Held der Keuschheit erschien, die mir aber beweisen sollten, daß die Weiber größtenteils nicht eben solche Heldinnen der Enthaltsamkeit seien. Allein ich leerte die Burgunderflasche, soweit ich es für meine Umstände zuträglich fand, und beharrte fest auf meiner ersten und wahren Angabe. Er schüttelte den Kopf, erhob sich von seinem Stuhle und entließ mich unter Zusicherungen seiner Gewogenheit.

Von nun an mußte ich ihm, wenn er in Dillingen war, täglich assistieren, das heißt mit einem weißen Chorhemde angetan, das Amt des Archidiakons versehen, wenn er Messe las. Nur ein Bischof, er mag ein wirkliches Bistum oder eines in partibus besitzen, läßt sich neben dem gewöhnlichen Ministranten zugleich auch von einem Priester während der Messe bedienen. So sauer es mir ward, täglich so viele fade Zeremonien mitzumachen und der langwierigen Andacht des Herrn Weihbischofs, die sich vor, in und nach der Messe meistens in Augenverdrehungen, langen und tiefen Verbeugungen und in allerlei besonderen Grimassen zeigte, geduldig abzuwarten, so mußte ich mich doch dazu bequemen und es sogar für eine Gnade schätzen, Sr. Exzellenz so fromme Dienste erweisen zu dürfen. Bald fanden sich auch Leute, die mich um diese Stelle beneideten. Denn sie dachten nicht an die Beschwerden, die damit verbunden waren, sondern nur an die bequeme Gelegenheit, die sie dadurch erhalten würden, täglich mit Herrn Statthalter, von dem alles abhing, zu sprechen und in allerlei Absichten Einfluß auf ihn zu erhalten. Allein ich hatte keine Absichten, fühlte nur das Beschwerliche dieses Dienstes und ging meiner Wege, sobald die Messe nebst dem sogenannten Rezesse (dem letzten Dankgebete) vorüber war. Wenn er, um die Firmung auszuteilen oder um eine Kirche oder eine Glocke zu weihen auf die umliegenden Dörfer fuhr, mußte ich ihn immer begleiten und seinen Zeremoniarius oder seinen Diakon vorstellen. Jederzeit predigte er bei solchen Anlässen des Tages drei- oder viermal aus dem Stegreife und vermehrte noch durch seine alltäglichen, völlig planlosen, unzusammenhängenden, sehr langen, mitunter sinnlosen Predigten den Ekel, die Langeweile und die Unzufriedenheit, die mich bei diesen Feierlichkeiten immer quälten. Der Inhalt seiner Reden war allezeit eine Abhandlung von der Liebe Gottes und des Nächsten, der zuletzt eine Auslegung der Glaubensformel, des Vater unser und des Ave Maria angehängt wurde: hier fand er ein weites Feld, um sich auf Gemeinplätzen herumzutummeln, nach Belieben die ganze Moral flüchtig und unordentlich zu durchlaufen und dem Volke im elendesten Ausdrucke tausendmal gesagte Dinge noch einmal zu sagen. Auf der Heimfahrt von einer solchen Expedition mußte ich gewöhnlich diese Predigten rezensieren. Anfangs war ich zu schüchtern, um gerade von der Brust weg zu reden und begnügte mich, da ich das Kunstwerk nicht loben konnte, wenigstens den guten Willen und den Seeleneifer des Meisters zu loben. Als mir aber eine nähere Bekanntschaft allmählich mehr Mut gab, wagte ich es, meinen Tadel manchmal ziemlich freimütig, obschon mit schonender Höflichkeit auszukramen. Allein ich legte damit wenig Ehre ein.

Meine Äußerungen über die Kirchenzeremonien konnten ihm ebensowenig gefallen. Nach einer Kirchenweihe in Mörschlingen z. V. fragte er mich, was ich von dieser Feierlichkeit hielte, ob die verschiedenen Gebräuche und dabei üblichen Zeremonien nicht recht zweckmäßig erfunden wären? Ich antwortete: »Sie sind fein genug ersonnen, um das Volk glauben zu machen, jede Kirche werde durch eine Art heiligen Zaubers mit höhern Kräften, als jedes andre Gebäude, ausgerüstet.« »Was meinen Sie mit Ihrem Zauber?« fragte er weiter. Ich erklärte mich, daß die Zeremonie, nach welcher der Bischof mitten in der Kirche ein Kreuz von Asche auf den Fußboden streut und auf den einen Balken des Kreuzes das griechische, auf den andern das lateinische Alphabet mit dem Bischofsstabe schreibet, um die Vereinigung der griechischen und lateinischen Kirche zu versinnlichen, recht dazu gemacht sei, den Aberglauben an Zauberei, Zauberkreise und Zauberschrift bei dem Landvolke zu unterhalten. Denn der Umstand, daß man während dergleichen Zeremonien die Kirchentüre verschlossen hielte, niemand hereinließe und es kaum gestatten wollte, daß einige Vorwitzige auf Leitern durch die Kirchenfenster dem Blendwerk zusehen dürften, müßte das unerfahrene Volk notwendig auf den Gedanken bringen, die Geistlichen in der verschlossenen Kirche gäben sich jetzt mit der Ausübung ihrer geheimen Künste ab; der Anblick einer Handlung aber, die genau das Zeichnen eines Zauberers mit seinem Stabe im Sande nachahmte, könnte nicht wohl etwas andres, als neuen Aberglauben hervorbringen oder den alten bestätigen. Ein bedenkliches Kopfschütteln oder ein förmlicher Verweis meines Herrn und Meisters war die Frucht meiner Freimütigkeit. P. Beda äußerte sich einst in Donauwörth an öffentlicher Tafel: »Meine Lage könne unmöglich die beste sein, denn ich müsse meinen Grundsätzen vollkommen entgegenhandeln.« Wirklich war meine Lage unangenehm genug, und ich empfand stets einen quälenden Widerwillen, wenn ich alle die täuschenden Gaukeleien des Zeremonienwesens mitmachen mußte. Man denke sich auch meine Gefühle, wenn ich in der einen Hand den Bischofsstab, in der andern die Bischofsmütze halten und hinter dem Herrn Weihbischof, solange er predigte oder den Gottesdienst verrichtete, ruhig stehen und zusehen mußte. Manchmal ward mir so übel, daß ich halbohnmächtig wegschleichen mußte. Selbst in meiner Vaterstadt Höchstädt mußte ich auf die erwähnte Art hinter Herrn Statthalter auf der Kanzel und am Altare stehen und wagte es kaum, die Augen aufzuschlagen; es war Scham vor mir selbst, denn in den Augen der Leute machte es mir Ehre.

Übrigens beschäftigte mich Herr Statthalter mit mancherlei Aufgaben. Bald mußte ich ihm eine Predigt aufsetzen, bald eine lateinische Rede machen, um sie bei Prälatenwahlen abzulesen, bald einige seiner eigenen Predigten und andre Aufsätze umarbeiten. Dafür tröstete er mich damit, daß er mich versorgen wolle, und verschaffte mir, auf Rechnung der bischöflichen Siegelamtskasse, nach jedesmaligen vorläufigen Bitten, etwa alle drei Monate zwei neue Louisd'or Taschengeld zur Bestreitung meiner kleinen Bedürfnisse.

Im Juni 1787 schien meine Bestimmung sich näher zu entwickeln. Ich schrieb an meine Freunde in Zürich: »Man überhäuft mich einige Zeit her mit soviel Arbeiten, daß ich kaum weiß, wie ich mit meinen Geschäften schicklich umkommen soll. Noch sehe ich selbst nicht ein, zu was das alles taugen mag; dennoch bequeme ich mich zu allem. Von morgens halb acht Uhr bis zum Tische, dann von halb zwei Uhr bis abends fünf Uhr bin ich täglich in der Registratur der Regierung beschäftigt. So befahl es Herr Statthalter von Ungelter, der mich vor einiger Zeit zu sich kommen ließ und mir sagte, er wolle mich beim bischöflichen Vikariate in Augsburg anstellen, ich werde die Aufsätze verfertigen müssen, die man von mir verlangen werde; übrigens solle ich in der Registratur helfen, um mich in Archivarbeiten zu üben und zu Kanzleigeschäften vorzubereiten. Je fleißiger ich wäre, desto früher und besser sollte ich versorgt werden. Sailer sagte mir zuerst, man habe im Sinne, mich zu Augsburg als Geistlichen Ratsakzessisten anzustellen. Ich traute aber der Nachricht gar nicht, bis mir Herr Statthalter selbst das obige sagte, mit dem Beisatze, er wolle mir eine ordentliche Besoldung auswirken, bis ich irgendein Benefizium, das in der Nähe liege, erhalten könnte.«

Die Nähe meiner Vaterstadt Höchstädt, die nur eine starke Stunde von Dillingen entfernt liegt, gewährte mir auch manches süße Vergnügen. Oft ging ich dahin spazieren, um meinen lieben Vater und meine übrigen Verwandten und Freunde zu besuchen; oft kamen sie auch zu mir ins Konvikt. Den l2. November 1786 ging ich zum erstenmal nach Höchstädt, um nach einer so langen Trennung meinen Vater wieder zu sehen. Mit laut klopfendem Herzen nahte ich mich den Toren und dann dem Gäßchen, wo unsre kleine Wohnung stand. Es war an einem Sonntag, morgens um sieben Uhr, als ich vor's Fenster des baufälligen Häuschens kam und anpochte. Er lief herbei. »Grüß Euch Gott, lieber Vater, macht mir auf!« »Was ist denn jetzt?« sprach er erstaunt und stand erschrocken vorm offenen Fenster. »Ich bin Euer Sohn Xaver, kennt Ihr mich nicht?« – »Ach! ich sehe nicht recht! – Weiß nicht, seid Ihr mein Xaver oder mein Franz Joseph?« – »So macht mir nur auf, lieber Vater!« Da trat er schnell an die Tür und öffnete sie, und ich flog ihm in die Arme und küßte ihn. Beide weinten wir laut und drückten einander an die Brust, als wenn wir uns zerdrücken wollten. Dann ging es ans Erzählen. So oft es mir schlimm erging oder so oft mir eine auffallende Wohltat von jemand erzeigt wurde, liefen ihm wieder Tränen über die Wangen, und er dankte Gott laut für Rettung oder Gnade. Wir konnten an kein Ende kommen mit Fragen und Antworten. Er erzählte mir von dem Elend, das er bisher ausgestanden hätte, zeigte mir, wie er halb blind sei und sich dennoch kochen, waschen, flicken usw. müsse. Ich sah seine Speisen: er hatte sich eben auf drei Tage gekocht. Es war eine Wassersuppe vom ekelhaftesten Aussehen und ein Hafen voll roter Rüben. Wer hätte es ohne Tränen angeblickt? Dennoch war die Farbe der Gesundheit auf seinem Angesicht. Am meisten klagte er über die völlige Einsamkeit, in der er seine Zeit hinträumen müßte. Die Stube kam mir sehr enge vor, so weit sie mir auch vor Jahren geschienen hatte. Alle Winkel standen voll Töpfen, Schüsseln und allerlei Hausrat. Niemand durfte ihm etwas verrücken, wenn es der alte, halbblinde Mann nicht lange umsonst suchen sollte. Ich nahm ihn mit zum Essen ins Wirtshaus, tröstete ihn, so gut ich konnte, und versprach ihm, seine Not nach Vermögen zu lindern. »O! wegen meines Vaters allein,« schrieb ich nach Zürich, »sollte ich ja eine Pfarre haben!« Fast alle vierzehn Tage besuchte ich ihn. Wenn wir am Kirchhofe vorübergingen, wo meine Mutter begraben liegt, besuchten wir immer ihren Grabhügel und brachen in ihr Lob aus.

Heinrich Geßner las den Brief, in welchem ich diese erste Zusammenkunft mit meinem Vater beschrieb, einigen Freunden vor und beschloß, sein Rekreationsgeld demselben zu überschicken; einige Freunde legten noch ihre Beitrage dazu, und so erhielt ich höchst unverhofft ein hübsches Sümmchen, meinen armen Vater zu trösten. Ich ging sogleich den folgenden Tag nach Höchstädt und besuchte meinen Vater. Eben war er mit Aufräumen in der Küche beschäftigt, denn der Kaminfeger hatte ihm seine Ordnung verdorben, und nun fand er große Mühe, seine Sachen, fast ohne zu sehen, an die gehörige Stelle zu bringen. Immer war seine Hauptklage gewesen, Gott werde ihn wohl in seinem Alter verlassen. Diese stimmte er nun von neuem an, indem er sagte: er sehe nun wohl, daß ihn Gott wegen der Verdrießlichkeiten strafen wolle, die er manchmal meiner seligen Mutter gemacht habe; er möchte laut wie ein Kind weinen, wenn er so ganz allein im öden Hause herumtappen müsse, es gebe keine fröhliche Stunde mehr für ihn usw. Da sprach ich ihm Mut ein und versicherte ihn, Gott sorge gewiß auch für ihn unendlich väterlich und werde ihm von einer Seite Hilfe zusenden, von welcher er es gar nicht hoffen könnte: ob er wohl glaube, daß in der fernen Schweiz Leute wären, die seiner gedächten und sein Elend zu heben trachteten? »Ach, wie wäre das möglich!« sprach er kaltsinnig. »Und dennoch,« fuhr ich fort, »finden sich unter diesen Euch ganz unbekannten redlichen Schweizern Leute, welche Euch, ohne daß sie Euch kennen, Gutes tun. Ich schrieb einem jungen Herrn, der mein Freund ist, wie Ihr mich bei meiner Ankunft empfangen habt, wie sehr mich Euer elendes, trauriges Leben gerührt hat, und wie kümmerlich Ihr Euch forthelfen müsset; und sehet, der junge Herr nahm sich dies zu Herzen und sparte sein Rekreationsgeld zusammen, um es Euch zu senden. Es ist viel Geld, lieber Vater!« Da zog ich Heinrichs Päckchen aus der Tasche und zählte ihm das Geld vor. Er staunte und sagte lächelnd, ich wollte gewiß einen Spaß machen ... Ich beteuerte, daß alles, was ich gesagt hätte, Wahrheit wäre, daß der junge Herr, der es ihm schicke, Heinrich Geßner heiße und ihm mit diesem Gelde bessre Tage verschaffen wolle. Noch glaubte er's nicht ganz und besann sich eine ziemliche Weile. Endlich sprach er: »Wenn's auch wahr ist, was Sie sagen, so kann ich das Geld ja doch nicht annehmen.« – »Warum nicht?« – »Mein Gott, ich kann ihm ja mit gar nichts danken und darf nicht einmal für die Lutherischen beten!« Lange hatte ich zu beweisen und zu widerlegen, bis er begriff, daß man auch für Nichtkatholische beten dürfe. Der Grund, Gott könne Leute, die soviel Gutes tun, unmöglich hassen, indem er keine gute Tat unbelohnt lasse, wirkte am meisten auf ihn. Ich schob das Geld, das noch auf dem Tische lag, näher zu ihm und hieß es ihn aufbewahren. Da traten ihm endlich die Zähren in die Augen und er sagte: »Nun, mein Gott, so will ich denn recht beten, daß du diese guten Leute, welche so ein großes Werk der Barmherzigkeit an mir tun, recht belohnest und glücklich machest. Hab's doch immer gehört, daß die kalvinischen und lutherischen Leute mehr Werke der Barmherzigkeit verrichten, als die katholischen selber!« Dann fragte er mich, ob's genug sei, wenn er alle Tage einen Rosenkranz für seine Wohltäter bete? Ich antwortete, daß ihm der Herr gar nichts vorschriebe, er möchte tun, was er wollte. Denn ich bemerkte, daß er ängstlich zu werden anfing und glaubte, er würde eine Sünde begehen, wenn er einen Tag das Versprochene zu beten vergäße. Zuletzt mußte ich ihm Geßners Namen noch oft wiederholen. Damit er ihn aber nicht vergessen könnte, schrieb ich ihn mit großen Buchstaben an die Stubentür. Wer dann zu ihm hineintrat, mußte ihm den Namen lesen und das Geschichtchen der empfangenen Wohltaten hören. Beim Abschiede sagte er mir: »Danken Sie dem Herrn doch recht für seine Güte; ich wollt' es selbst wohl tun, wenn ich zum Schreiben noch sähe, wie vormals!« Ich ersuchte Herrn Hübner, in seiner Zeitung etwas von meines Freundes schöner Handlung zu sagen, und er tat es gern. Aber mein Heinrich schrieb mir sogleich einen derben Verweis, protestierte feierlich dagegen, daß er alles Geld allein hergeschossen habe und wollte durchaus, ich sollte das Geschichtchen überall, wo ich es bekannt gemacht hätte, nach seiner Angabe berichtigen, denn ein Lob, das er kaum halb verdiene, an sich kommen zu lassen, dünke ihm, würde seinen Charakter nicht im schönsten Lichte zeigen. Ich wußte aber, er hatte an der Wohltat wenigstens den größten Anteil, und widerrief nicht.

Wenn ich meine Verwandten besuchte, ward ich manchmal bis zu Tränen gerührt, denn viele von ihnen, die während meiner Knabenjahre in einer Art Wohlstand gelebt hatten, waren nun beinahe ganz verarmt, weil das gewöhnliche Fabrikat, sogenanntes Eschwinggarn zu Packsäcken und Talglichtern, keine Abnehmer mehr fand, ein Unglück, das jeden, der sich mit Fabrikation beschäftigt, treffen kann. Besonders rührte mich der Empfang im Hause meines Vetters Waginger, der einst nicht ohne Mittel und mein Wohltäter war, nun aber mit vielen Kindern beladen und durch Unglücksfälle herabgebracht, seine Familie und sich nur kümmerlich als Chirurg ernährte. Kaum trat ich in die Stube, so liefen seine Kinder, die mich fast alle noch kannten, mit einem großen Freudengeschrei auf mich zu und hingen sich an meine Arme und Kleider, und ihre hochbejahrte Großmutter, die Schwester meiner seligen Ahnfrau, die sonst nie ohne Krücken das Bänkchen hinterm Ofen verließ, lief auch, von der Freude verjüngt, ohne Krücken auf mich zu und drückte mir mit Tränen im Auge die Hände. Wenn ich auch ärmer gewesen wäre, als ich war, hätte ich jetzt doch nicht ans Sparen gedacht.

In Dillingen lebten zwei Schwestern, die Töchter des Zieglers von Höchstädt, der meines Vaters Bruder war. Beide Mädchen standen als Mägde in Diensten; die jüngere, ein hübsches Kind, fand immer ihr Unterkommen in bessern Häusern, indes die ältere, welche weniger artig aussah, sich mit schwerern Arbeiten im Ziegelstadel plagen mußte. Beide Basen hatten jedoch ihre Liebhaber. Die ältere traf ich manchmal auf meinen Spaziergängen mit ihrem Jüngling, einem ehrsamen Schuhknecht, im eifrigen Gespräche an. Sie erschrak, so oft ich sie sah, denn sie mochte glauben, ich könnte, nach der Weise aller Geistlichen, Lust haben, den Sittenrichter zu spielen. Einst fand ich sie allein bei der Arbeit und fragte sie scherzend, warum sie mich immer fliehe, wenn sie an der Seite ihres Lieblings gehe und mich von fern erblicke? Zugleich äußerte ich, daß ich gegen eine Bekanntschaft in Ehren nichts einzuwenden habe. Da ging ihr das Herz auf. »Ach, Herr Vetter!« sagte sie, »ich hätte schon lange gerne mit Ihnen geredet; vielleicht wüßten Sie Rat zu schaffen. Mein Schuster möchte gern ein Häuschen kaufen und mich heiraten. Seine Mutter wäre ganz zufrieden damit. Aber ich habe, wie Sie wissen, gar kein Heiratgut, und im österreichischen, wo wir uns ansiedeln sollen, muß man 300 fl. Eigentum aufweisen können, wenn man die Erlaubnis zu heiraten erhalten will. Nun gehen uns noch 50 fl. ab, die wir nicht aufzutreiben wissen.« Zugleich beschrieb sie mir die Glückseligkeit, die ihrer warten würde, so lebhaft, daß ich wirklich den Gedanken faßte, ihr zu helfen. »Ich will mich besinnen«, sagte ich und ging nach Haus. Noch besaß ich von dem in Zürich erworbenen Gelde etwa 80 fl., die ich als ein unantastbares Depositum betrachtete, welches auf jeden Fall bereit sein müßte, um mich aus der Sklaverei, wenn sie unleidlich werden sollte, zu retten. Ich überlegte hin und her, ob ich die 50 fl. dem Mädchen auch geben sollte. »Gib sie ihr,« sagte die Gutherzigkeit, »so hast du auch einmal in deinem Leben einen Menschen glücklich gemacht!« »Aber,« wandte der Eigennutz ein, »was willst du machen, wenn dir ein Unglück zustößt? Wo wirst du Hilfe finden?« »Sorge du nicht,« sagte der religiöse Sinn, »Gott wird dich in einem solchen Falle nicht verlassen.« »Aber,« erwiderte der Argwohn, der sich ins Gewand der Klugheit versteckte, »wie wär' es, wenn dich das Mädchen betrügen würde, um mit dem Gelde durchzugehen und sich mit ihrem Galan einige gute Tage zu machen?« »Diesem Bedenken läßt sich abhelfen,« sprach die Klugheit, »du darfst ihnen nur ein Zeugnis ihres Beamten abfordern, daß sie heiraten dürfen, wenn sie die noch abgängigen 50 fl. Eigentum vorzeigen werden.« »Steckt nicht eine gute Dosis Eitelkeit dahinter,« warf mir die falsche Demut vor, »daß du eine solche für dich beträchtliche Summe verschenken willst, um dir selbst schmeicheln zu können: ich habe eine schöne Tat getan?« »Mag sein,« erwiderte der Geradsinn, »aber ich denke, man muß sich durch dergleichen Einbildungen, als hätte man nicht ganz reine Absichten beim Handeln, nie abhalten lassen, seinem Nebenmenschen Gutes zu tun, sonst möchte nie etwas Gutes geschehen.« Dabei blieb's, der Schuhknecht sollte mir ein Zeugnis des Beamten bringen. Aber er bat mich, ihm ein paar geschriebene Zeilen an denselben mitzugeben. Ich schrieb also dem Beamten, daß ich meiner Base Lenore 50 fl. Heiratsgeschenk geben wollte, wenn es wahr wäre, daß die beiden Brautleute den Heiratskonsens erhalten würden. Als Antwort brachte mir der Bräutigam sogleich den Konsens, und ich übergab ihm die 50 fl. Doch wollte ich mich sicher stellen, daß mir die versprochene Summe nicht zum zweitenmal abgefordert werden könnte, und ließ mir deshalb von ihm einen Empfangsschein ausstellen. Mit einer gewissen Selbstzufriedenheit über eine gute Handlung legte ich den Schein in meinen Koffer, und in der Folge geriet ich einigemal in Versuchung, einem oder dem andern meiner Freunde zu sagen: ich habe 50 fl. verschenkt, gleichsam als hätte ich etwas Großes geleistet.

Die jüngere und hübschere Schwester der Braut, die bei einem Hofrat diente, kam öfters in das Haus eines gewissen angesehenen Beamten, um dort eine Gespielin zu besuchen. Der Herr fragte sie nach ihrem geistlichen Vetter und sagte ihr, sie sollte mich auf einen Besuch zu ihm einladen. Ich kam und fand ihn nebst einem hübschen Fräulein, seiner Tochter, im Zimmer. Genau erinnerte er sich noch der Rollen, die ich als ein kleiner Student auf dem Jesuitentheater gespielt hatte, und unsre Unterhaltung ward lebhaft genug. Das Fräulein zeigte während des Gespräches viel Artigkeit und ungekünstelten Witz. Man hieß mich öfters wieder kommen. Ich kam wenigstens alle vierzehn Tage einmal. Das Fräulein ward mir immer interessanter, unsre Augen antworteten einander bald. Fast täglich erschien sie nun in meiner Messe und kniete in einem Stuhle nicht fern vom Altar, wo ich las. Wenn ich mich der Zeremonie halber umwandte, trafen ihre Blicke gewiß nicht das Gebetbuch; sanft erhoben lächelten sie mir. Als sie mich einst beim Abschiede zur Treppe hin begleitete, legte sie geschwind ein schönes Pfaffenkäppchen in meinen Hut und lief davon. Im Frühling fügte es sich, daß ihr Vater, als ich zum Besuche kam, ausgehen mußte; es war ein schöner Abend und das Fräulein schlug vor, ich sollte sie in den Garten vor die Stadt hinaus begleiten. Gern tat ich es und war nicht wenig vergnügt, an der Seite eines so hübschen Fräuleins zu wandeln. Ich machte ihr meine Freude durch Worte kund, so gut ich's vermochte. Sie drückte meine Hand und sah mich freundlich an. Ihre Mutter saß in der Gartenlaube. Wir gingen zwischen den Beeten hin, lustwandelnd und in süßes Geschwätze verloren und sagten in allerlei Wendungen, daß wir einander lieb hätten. Wenn ich nun nach einem Besuche Miene machte, Abschied zu nehmen, wußte sich das Fräulein immer etwas in ihrem Zimmerchen zu schaffen zu machen, das näher an der Treppe war, als der Besuchsaal, und immer hatte sie mir dort etwas zu zeigen, oder sie fing an, mich zu necken, so daß ich zu ihr ins Zimmerchen treten mußte. Als ich zum erstenmal hineintrat, wagte ich's kaum, meinen Arm um sie zu schlingen. Aber ich hatte es kaum gewagt, so lächelte sie mich zärtlich an, verstand meinen bittenden Blick und kam mit ihren Lippen den meinigen entgegen. Es war lange verhaltene Neigung, was uns so schnell und so feurig zusammenriß. Innig herzten und küßten wir uns einige Augenblicke, aber ich ward immer schnell wieder entlassen, damit Papa keinen Argwohn fassen möchte. Dennoch konnte es nicht fehlen, er mußte nur zu bald merken, daß wir einander aufsuchten. Einst kam er uns nachgeschlichen, riß plötzlich die Tür auf und fand uns, eines das andre mit den Armen umschlingend, mitten im Zimmer stehen. »Ich habe mir's doch eingebildet,« sagte er lächelnd, »daß ihr einander gern küssen mögt, eure Blicke verrieten euch längst! Macht es nur nicht zu bunt!« Ach, wie erschrocken standen wir da! Es währte lange, bis wir uns getrauten, einander wieder auf dem kleinen Zimmerchen zu sehen. Die Mutter des Fräuleins schien nichts von unsrer Liebe zu bemerken, machte mir aber oft das Vergnügen, von ihrer Tochter allerlei schöne Charakterzüge zu erzählen. Vor allem lobte sie ihre liebreiche Sorgfalt, mit der sie einst die beiden Eltern während einer Krankheit gepflegt hatte. Es war rührend zu hören, wie sich das liebe Kind viele Nächte lang den Schlaf versagt hatte, um die Kranken von Zeit zu Zeit in eine bequemere Lage zu bringen. Genau wußte ich nun, wann mein Fräulein in den Garten gehen würde. Sie ging zwar nicht allein. Aber es war doch ein Vergnügen für uns, einander sichtbare Zeichen unsrer Zuneigung geben zu können. Entweder stand sie auf dem Altan am Gartenhause und winkte mir, der ich auf der Wiese ging, mit dem weißen Schnupftuche zu, und ich schwang zum Zeichen, daß ich sie sähe, den Hut, oder ich schlich in der Abenddämmerung an die Gartenhecke und wartete, bis sie am Busche, in dem ich mich versteckt hielt, vorüberwandeln würde: dann küßten wir uns geschwind über die Hecke hin, oder ich schwang mich wohl gar in den Garten, um sie an meine Brust zu drücken. Alle unsere Herzensangelegenheiten teilten wir dann einander mit, aber manchmal unterbrach unser bestes Gespräch das Knirschen eines Fußtrittes im Sande, und ich mußte schnell über die Hecke springen. Ich hatte einst wirklich in einem Busch am Zaune eine heimliche Laube gebaut und hoffte, mein Fräulein hier unbemerkt erwarten und bequem durch den Zaun schlüpfen zu können, aber kaum erblickte das gute Kind die künstliche Öffnung zwischen den Sträuchern, die ich bei ihrer Ankunft auseinander bog, so stutzte sie, ward scheu und lief, statt mich zu küssen, davon. Ich eilte ihr hinter den hohen Bohnenstücken nach und fragte ängstlich: »Ach Geliebte! warum fliehen Sie mich?« Sie antwortete etwas schüchtern: »Ich fürchtete, du möchtest mich in den Busch ziehen.« War diese liebenswürdige Schüchternheit nicht der süßesten Küsse wert? – In meiner Lage mußte mir eine Bekanntschaft, wie diese, sehr tröstlich und ermunternd sein, und ich glaubte nicht, daß ich ohne sie ausgeharrt hätte. In einem gleichen Grade von Herzlichkeit dauerte sie fort, bis meine Abreise nach Augsburg uns trennte. Es war ein schmerzlicher Abschied, der uns beiden nicht wenige Tränen kostete. Aber sie verbot mir, allerlei wichtiger Bedenken halber, an sie zu schreiben. Deshalb schrieb ich an ihren Vater, und sie verstand mich doch.

Herr Statthalter hatte mir befohlen, ihm eine Bittschrift an den Kurfürsten zu übergeben und versprach, dieselbe mit seinem Gutachten vorteilhaft zu begleiten und mir den Akzeß beim Geistlichen Rate in Augsburg auszuwirken. Auch Herr de Haiden versprach, das Gutachten des Herrn Statthalters mit dem seinigen zu begleiten. Nach ein paar Monaten sagte mir Herr von Ungelter: »Es wundert mich, daß Ihre Bestallung von Koblenz noch nicht da ist, vielleicht wird nichts daraus. Allein ich nehme Sie auf alle Fälle nach Augsburg mit, stelle Sie bei der Registratur auf meine Kosten an, und – nicht wahr? – viel Mehreres, als Speise, Trank und Kleidung werden Sie wohl nicht brauchen?« Ich zuckte die Achseln, machte eine Verbeugung und ging mißmutig davon. »Bald muß es sich zeigen,« schrieb ich an Heinrich Gehner, »ob ich betrogen bin oder nicht. Denn ich habe Winke und starke Vermutung, daß nach Koblenz keine Vorstellung und kein Gutachten kam, weil man sich scheuet, einen entwichenen Mönch beim geistlichen Dikasterio anzustellen.« Winke von einem solchen Betruge hatte mir mein liebes Fräulein gegeben. Und meine Vermutung bewahrheitete sich, Herr Statthalter hatte die Bittschrift gar nicht abgeschickt und nahm mich den 15. Dezember 1787 nach Augsburg mit, nachdem es ihm gelungen war, mich zu bereden, es sollte mir nichts abgehen, und ich dürfte mich um meine Versorgung gar nicht kümmern und würde gewiß sehr bald zu meiner völligen Zufriedenheit eine Stelle erhalten. Um seinen Vorstellungen mehr Eingang zu verschaffen, hatte er mir schon seit ein paar Monaten das wenige Taschengeld verweigert, das er mir sonst reichen ließ.


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