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Wie doch die Zeit vergeht! Ach, es scheint mir, als ob es erst gestern gewesen wäre, daß ich auf der Brücke Saint Michel zwei schönen jungen Mädchen begegnete, deren Anblick meine Seele in Ekstase versetzte. Schönheit! Meisterwerk der Schöpfung, Abbild der Gottheit, dein Anblick erregt heilige Gefühle in der Seele des Reinen, dir gegenüber können nur verdorbene Gemüter Gemeines empfinden! ... Beide waren brünett, aber der Teint der einen war von einer interessanten Blässe, während der der anderen in rosigem Glanze erstrahlte. Die Rose ist die Königin der Blumen, aber Lilien sind der Schmuck der Schönen. Ich ziehe die Lilien den Rosen vor. Sie sind das Sinnbild einer empfindsamen Seele, weniger heißer Sinne, eines zartfühlenden Herzens. Wenn zarte Regungen ihre Seele erfüllen, kleidet sich die Lilie in schöneres Rosa, als es die Natur hervorbringt ...
Lieber Leser, diese beiden Schönheiten sind nicht mehr: die mit dem Rosenteint hat für sich die bleichen Fackeln einer unglücklichen Ehe entflammen sehen, ein trauriger Hohlkopf von Gatte hat ihre jungen Reize unter die Erde gebracht, der Kummer hatte sie bald verzehrt ... Weinet, schäkernde Liebesgötter, Eure Mutter ist tot! ... Und die andere ... Bei ihrem Gedenken wird mein Herz von Rührung ergriffen, und meine empörte Vernunft flucht unseren Sitten, die nur grausames Interesse, ungerechter Hochmut und widernatürliche, verhängnisvolle Leiden sind, und ihre Henker waren. Luise Aegle Chéret war im Alter von sechzehn eines der schönsten Mädchen der Welt: ein schönes blaues Auge, schwarze Augenbrauen, ein Lilienteint, feine, distinguierte Züge, eine Lieblichkeit des Ausdrucks, daß sie wie eine schöne Blume erschien, die niemand anzurühren wagte, ein mittelgroßer, aber wohlgestalteter Wuchs: ein köstlicher Geschmack, wie er gewöhnlich mit Schönheit einhergeht, so war ihr Äußeres. Unmöglich aber würde es sein, den engelhaften Zug zu schildern, der allen diesen Reizen erst Leben verlieh. Sie besaß viel Geist und vor allem eine empfindsame, für alles Schöne empfängliche Seele.
Dieses Mädchen, das selbst der zartesten Gefühle fähig war, flößte einem jungen Manne die heftigste Leidenschaft für sie ein. Er hieß De Juine und war reicher als sie. Er liebte sie rasend und war auch liebenswert. So konnte es nicht ausbleiben, daß sie bald seine zärtlichen Gefühle für sie erwiderte, obwohl sie bei seinem ersten Anblick Furcht vor ihm empfunden hatte. Er hatte zuerst nicht den Wunsch in ihr hervorgerufen, ihm zu gefallen und liebenswürdig zu erscheinen, wie ihn sonst die Angehörigen beider Geschlechter beim Anblick des Gegenstandes, der ihre Herzen getroffen hat, zu hegen pflegen. Es war vielmehr eine Art Traurigkeit, die die Seele Aegles gefangen hielt, als sie bemerkte, daß De Juine Annäherungsversuche machte. So wurde er, als er sie zum ersten Male ansprach, von ihr mit großer Kälte, ja noch schlimmer, mit einem Ausdruck von Ärger empfangen. Es schien, als ob sie ihm sagen wollte:
»Warum kommen Sie zu mir? Warum wollen Sie mich der Gefahr aussetzen, Sie zu verlieren?«
De Juine, der Aegle liebte, wie sie es verdiente, geliebt zu werden, stieß sich nicht daran. Er suchte die Häuser auf, in denen sie verkehrte, hielt sich aber beiseite und zügelte seinen Eifer, sich ihr zu nähern. Doch schenkte er keiner anderen die Augenblicke, die er ihr gewidmet hatte, und die sie zurückzuweisen schien. Er interessierte sich für nichts mehr, und eine tiefe Melancholie war über seine Züge ausgebreitet. Das war die Sprache, in der er ihr länger als sechs Monate seine Liebe erklärte.
Aegle steifte sich dagegen, ihm ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, sie wollte seine traurige Miene nicht sehen, sie wollte auch nicht mehr die Häuser besuchen, wo sie sicher war, De Juine zu begegnen. Und doch beschäftigten sich ihre Gedanken nur mit ihm, und sie konnte es nicht über sich bringen, ihre gemeinsamen Bekannten zu meiden. Die hartnäckige Haltung ihres Liebhabers hatte die Folge, die sie haben mußte: sie erweckte ihr Interesse durch das Mitleid, das sie für ihn empfand, das Mitleid, in Liebessachen eine gefährliche Schlange, die sich in zarte Seelen einschleicht, um sie zu zerreißen! ... De Juine bemerkte bald, daß bisweilen ihre verstohlenen Blicke ihn suchten, er sprach zu ihr, sie hörte ihn an, zwar traurig, aber nicht gelangweilt. Nachdem er diesen ersten Erfolg erzielt hatte, kam er schneller vorwärts.
Eines Tages, als er wie gewöhnlich in sich versunken abseits stand, wandte sich die Herrin des Hauses, eine junge, liebenswürdige Frau, an ihn, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, und sagte zu ihm:
»Sie haben Ihren Beruf verfehlt, mein Freund, die Karthäuser erwarten Sie, wann gehen Sie zu ihnen?«
»Wenn der Tyrann, den der Himmel mir zum Herren gemacht hat, es befehlen wird,« erwiderte er traurig.
»In welchem Ton Sie das sagen!« bemerkte darauf die junge Frau lachend, »Ihr Bewunderer, der Saintval, führt stets Worte wie Eisen, Ketten, Tyrannen im Munde. Eure Verehrung dieser Besessenen verdirbt Eure Sprache und macht sie geschraubt, unnatürlich, wie diese Frau selbst. Nun sagen Sie einmal, wer ist dieser Tyrann? Ich wette, daß er nur in Ihrer Einbildung vorhanden ist, und daß die Schöne, der Sie diesen häßlichen Namen beilegen, das sanfteste kleine Schäfchen unter den Angehörigen meines Geschlechts ist ... Also, wie heißt sie ...«
»Ich ihren Namen nennen! Davor soll mich der Himmel bewahren! Das hieße ja sie mit einer Art Vertraulichkeit behandeln, worüber sie sicherlich verletzt sein würde.«
»Und doch gibt's keine Tyrannen, wie Sie den Gegenstand Ihrer Liebe sich denken, Herr De Juine. Glauben Sie mir, im Erdenleben seufzt man anders als in der Tragödie.«
»Ich war früher derselben Ansicht, verehrte Frau, früher, bevor ich sie kannte, die ich bis zu meinem Tode anbeten werde, aber sie hat einen anderen Menschen aus mir gemacht.«
»Sprechen Sie doch nicht in diesem Tone weiter, das macht mich ganz traurig.«
»Sagen Sie der Grausamen, sie solle den ihrigen mir gegenüber ändern, dann werden Sie meine Melancholie schnell schwinden sehen.«
»Und ich glaube, daß Ihr Ton allein Sie zu dem macht, wie Sie sie schildern ... Aber ihren Namen?«
»Ihr Name ist die Liebenswerte. Nichts in der Schöpfung kommt ihr gleich, Lilien und zarte Rosen streiten sich um die Herrschaft über ihren Teint, ihr Auge, das trügerische, da es sanft scheint, ist blau, ihr Blick rührend, ihr Mund klein, ihre Nase leicht gebogen, ihr Haar gleicht dem Ebenholz, ihr Wuchs dem der Nymphen, ihr Gang dem der Grazien, ihr Fuß dem der Venus.«
»Aber das paßt ja auf alle jungen Mädchen, die hier sind.«
»Ich weiß es, aber eine ist hier, auf die es besser paßt. Das fühlt mein Herz, und sie ist es, die ich vergöttere.«
»Aegle,« wandte sich die Dame darauf an diese, »versuchen Sie einmal, ihm sein Geheimnis zu entreißen, denn wahrhaftig, ich bin dazu weniger fähig, als irgend jemand.«
Alle drangen darauf auf Aegle ein, De Juine unter vier Augen zu befragen, weil alle verstanden hatten, daß sie es war, die er bezeichnet hatte. Sie sträubte sich erst ein wenig dagegen, ging dann aber anscheinend unbefangen darauf ein, damit es nicht so aussehe, als ob sie der Sache irgendwelche Wichtigkeit beilege.
Als beide außer Hörweite waren, und De Juine sicher war, nur von ihr verstanden zu werden, sagte er zu ihr:
»Sie allein haben über mein Schicksal zu entscheiden, gute Stunden oder traurige Tage, Freude oder Traurigkeit, alle Regungen meiner Seele hängen nur von Ihnen ab. Ich will aber nichts Ihrer Gnade verdanken, Sie auch nicht bitten, Mitleid mit meiner Leidenschaft zu haben, nein, mein Fräulein: wie ich heute mit Ihnen stehe, fühle ich die ganze Macht Ihres Zaubers, aber ich fühle auch Ihren Haß. Ich bin darüber traurig, aber Ihr Empfinden gefällt mir, denn je strenger Sie gegen mich sein werden, desto liebevoller werde ich in meinem Schmerz sein, und desto lieber werden mir die Tränen sein, die ich um Sie vergieße. Oft gefalle ich mir darin, Sie mir als unbeugsam vorzustellen und darüber vor Schmerz und Liebe in Verzweiflung geratend, dem Tode geweiht zu sein, mein Tod rührt Sie, Ihre Tränen fallen auf meinen Grabhügel, und Sie sagen: ›Er hat mich doch aufrichtig geliebt.‹ Solche Gedanken verfolgen mich, während die anderen sich amüsieren, aber ich würde die Tränen, die Sie mich heimlich vergießen lassen, nicht um alle Ihre Freuden hergeben ...« Sie in Nachdenken versunken sehend, fuhr er fort:
»Ach, schöne Aegle, ich fürchte nur eines: Ihre Gleichgültigkeit, und daß Sie mich vergessen! Aber, was sage ich? Nein, ich fürchte nichts, denn wenn Sie mich vergessen, dann werde ich vor Schmerz sterben ... Wenn Sie mich hassen, dann will ich sterben, um den Gegenstand Ihres Hasses aus der Welt zu schaffen, weil er mir dann hassenswerter sein wird, als Ihnen ... Wenn Sie mir dann eines Tages – das Gegenteil bezeugen würden, auch dann würde ich sterben – vor Freude ... So wird also immer und selbst gegen Ihren Willen, die anbetungswürdige Aegle über mein Schicksal bestimmen. Ich schwöre es Ihnen in diesem feierlichen Augenblick, in Gedanken Ihnen zu Füßen liegend, weil ich es vor der Welt nicht wage, ich schwöre Ihnen bei Gott, daß ich von nun an nur noch für Sie atme ... Und nun zürnen Sie mir, umgürten Sie sich mit dem Stolz, der Sie nie verläßt, ich werde mich allem unterwerfen. Sie schulden mir nichts, ich Ihnen alles bis auf die schmerzliche Freude, Sie anbetend, in Staub zu zerfallen ...«
»Ich war so wenig auf eine solche übertriebene Sprache gefaßt, Herr De Juine,« erwiderte Aegle errötend darauf, »daß ich Sie nicht zu unterbrechen vermochte. Ich weiß nicht, wer Sie dazu veranlaßt haben kann, sie mir gegenüber zu gebrauchen. Sollte ich Ihnen mehr, als eine andere, dazu geschaffen erscheinen, an dergleichen Tändeleien Geschmack zu finden ...?«
Erbleichend unterbrach sie der junge Mann:
»Mein Fräulein, dieser Anfang ist zu grausam, als daß ich das Ende hören wollte. Sie sind ebenso gefühllos wie schön, das sehe ich jetzt zu meinem Leidwesen zu spät, denn hätte ich es früher gewußt, dann würde ich Sie vielleicht gemieden haben. Doch nun ist es zu spät. Ich habe das Gespräch, das Madame Rey angefangen hatte, fortgesetzt und die Gelegenheit benutzt, Ihnen meine wahren Gefühle zu erklären, weil Sie sonst stets meine Gegenwart flohen, und ich über Ihre abweisende Strenge verzweifelt war.«
»Sie nehmen einen hochtragischen Ton an,« entgegnete Aegle lächelnd, »wenn man Sie hört, sollte man meinen, ich hätte unrecht daran getan, in den einfachen Regeln der Zurückhaltung zu bleiben, die meinem Geschlecht auferlegt sind.«
»Ah! Wenn ich wüßte, daß dieses der einzige Grund für Ihre Strenge wäre!«
»Ja, Herr De Juine, es ist der einzige, und ich glaube, gerade gegen Sie mehr als gegen andere ist es angebracht, so zu handeln.«
»Und welchem Umstande verdanke ich diese grausame Auszeichnung?«
»Weil mir gerade Ihre Achtung sehr kostbar ist.«
»Ah! Schöne Aegle ...,« und er wirft sich ihr zu Füßen. »Verzeihen Sie mir diesen indiskreten Ausdruck meines Glückes.«
»Gern verzeihe ich Ihnen,« erwiderte Aegle, mit Röte übergossen, »es würde mir schlecht anstehen, Ihnen darüber zu zürnen, habe ich ihn doch selbst durch meine Unvorsichtigkeit verschuldet.«
»O Gott! Wie soll ich diese Sprache deuten?«
»Beendigen wir diese Unterhaltung, Herr De Juine, die mich zu sehr der Kritik der Anwesenden aussetzt.«
»Nein, meine göttliche Aegle, nein! Wenn Sie sie jetzt abbrechen, lassen Sie mich in Verzweiflung zurück. Gewähren Sie mir das Glück, Ihnen Gefühle ausdrücken zu dürfen, die Ihrer würdig sind. Ich bete Sie an. Sie kennen meine Familie, die sie liebt. Wenn Sie mir zugeneigt sind, so würde ich wagen können, an ein Glück zu glauben, daß nur Sie mir gewähren können ... Dieses Glück, reizende Aegle, wäre, mit Ihnen durchs Leben gehen zu können, eins mit Ihnen zu sein. Sie würden mein ganzes Ich adeln, wenn Sie seine Herrin wären, wenn ich ein Anrecht auf Ihre kostbaren, liebevollen Aufmerksamkeiten für mich hätte! Aus diesem Munde die zärtlichsten Worte zu hören, besonders das Wort ›mein Gatte‹, würde mich in Ekstase versetzen! Schöne Aegle! Das Leben hat seine schlimmen Stunden, aber bei einem Blick in Ihre bezaubernden Augen, beim Vernehmen Ihrer Stimme, die zum Herzen geht, im Hochgefühl Ihrer Liebe würden auch diese mir zur Freude gereichen, und das ist noch nicht alles, Aegle! Jeder ehrenvolle Mann hat den glühenden Wunsch, sich neu erstehen zu sehen! Welch ein Glück wäre es für mich, ein anderes Ich selbst aus so viel Schönheit und Tugend hervorgehen zu sehen! Wie würde ich solche Früchte Ihrer entzückenden Schönheit lieben, die meinen Namen trügen und meine Familie bildeten ...«
Aegle hörte ihm mit geröteten Wangen zu, aber seine Worte mißfielen ihr nicht, und sie wurde weichmütig. Auf welches junge Mädchen, das man um seine Hand bittet, würden sie nicht Eindruck machen, besonders, wenn sie geschickt angebracht werden?
»Sie wissen gut zu sprechen, Herr De Juine,« erwiderte sie, »aber was sollen wir jetzt der ganzen Gesellschaft sagen?«
»Daß Sie mich bekehrt haben.«
»Kommen Sie,« schloß Aegle lächelnd, »wir werden uns aus der Sache ziehen, wie wir können ...«
»Gut. Und ich schwöre Ihnen nochmals, daß ich nur noch für Sie leben will ...«
Aegle sah, daß er die Unterhaltung im Tone des Liebhabers fortsetzen wollte, brach daher ab und näherte sich der Herrin des Hauses, die sie damit betraut hatte, in das Geheimnis De Juines einzudringen.
»Nun,« fragte diese, »ist er undurchdringlich?«
»Ich kann Ihnen nur sagen, verehrte Frau, daß Sie mich da mit einer besonders heiklen Aufgabe betraut haben!«
»Aber ich bin sicher, daß Sie jetzt das Geheimnis kennen?«
»Nein,« beeilte sich De Juine für sie zu antworten, »das Fräulein hat gegen ihren Auftrag gehandelt und beständig verweigert, mich anzuhören, obwohl ich sie kniefällig darum bat.«
»So weiß sie also nichts?«
»Leider nein.«
»Kommen Sie, Aegle, dann will ich es Ihnen sagen, denn wir haben alles mit angehört.« Und sie sagte ihr ziemlich laut ins Ohr:
»Sie sind die Grausame, und das ist nicht schön von Ihnen, denn er ist wirklich lieb.«
»Ihr habt euch alle gegen mich verschworen,« antwortete Aegle darauf, »aber ich setze meine Hoffnung auf Herrn De Juine, er weiß besser, als irgendeiner, was an der Sache ist, und kann Sie enttäuschen.«
»Ah! Also doch schon ein Einverständnis,« rief Madame Rey lachend aus, »da steht es ja besser, als ich dachte.«
»Sie wollen mich ärgern, indem Sie alles, was ich sage, verdrehen. Da sage ich lieber gar nichts mehr.«
»Das ist auch besser, Aegle, denn Sie lieben die Wahrheit und leiden darunter, sie zu entstellen.«
Der Grund von Madame Reys Betragen war, daß sie, wie übrigens alle anderen, Aegle und De Juine für ein einander würdiges Paar hielten, obwohl er reicher als sie und für eine hohe Stellung ausersehen war.
Man muß gestehen, daß Madame Rey Aegle dadurch zu großem Danke verpflichtete, denn sie zog zweifellos den jungen De Juine allen anderen Männern vor, aber das liebenswürdige junge Mädchen fühlte, obwohl sie ein einziges Kind und daher selbst eine gute Partie war, doch die Entfernung, die zwischen ihr und ihrem Freier lag. Wohl hielt sie ihn, dagegen konnte sie sich nicht sträuben, für liebenswert, doch kämpfte sie dagegen an, ihr Herz dieser süßen Leidenschaft auszuliefern, und glaubte, daß ihr das auch gelingen werde. Man konnte selbst annehmen, daß ein junges Fräulein, das so gut erzogen war, ihren Kräften damit nicht allzu viel zumutete, aber das Geschick wollte nicht, daß der Ärmsten ein Schutzwall gegen die unglückliche Leidenschaft blieb.
Am Tage nach der Unterredung traf Aegle bei einem Diner in einem anderen Hause mit De Juines Mutter zusammen. Letztere war schon anwesend, als das junge Mädchen eintraf. Die Ankunft Aegles rief eine gewisse Bewegung unter den Anwesenden hervor. Sie vermutete sogleich, daß man der Mutter De Juines ihren Namen genannt habe, und errötete in einem natürlichen Gefühl von Scham. Dieses bescheidene Erröten ließ sie so reizend erscheinen, daß die Dame sich erhob, ihr entgegeneilte, sie umarmte und zu ihr sagte:
»Wie freue ich mich, liebes Fräulein, mit Ihnen zusammenzutreffen, nichts Glücklicheres konnte mir passieren. Ich lasse Sie nicht wieder los, Sie müssen neben mir sitzen und mit mir plaudern.«
Aegle fühlte sich von dem herzlichen Empfang sehr geschmeichelt und erwiderte darauf mit dankbarem Entgegenkommen. Während des ganzen Diners, das bis acht Uhr abends dauerte, unterhielt sich die Mutter De Juines mit Aegle, der sie Beweise ihres lebhaftesten Interesses gab. Sie ging sogar so weit, ihres Sohnes Erwähnung zu tun und ihr zu versichern, daß sie ihn glücklich schätzen würde, wenn ein so reizendes Mädchen, wie sie, ihn auszeichnen würde. Es wäre unmöglich, die Verwirrung zu beschreiben, in die diese Worte Aegle versetzten. Die Mutter ihres Freiers bemerkte es, neigte sich zu ihr, küßte sie und sagte zu ihr:
»Wenn mein Sohn Ihnen nicht gleichgültig ist, so können Sie keine bessere Vertraute finden, als mich.«
»Ihr Herr Sohn ist sicherlich ein junger Mann von großem Werte, aber ich versichere Ihnen, daß ich niemals an das gedacht habe, auf was Sie, verehrte Frau, anspielen. Ich halte im Gegenteil meine Gefühle mit derselben Bescheidenheit zurück, wie meine Worte und mein Handeln.«
»Ich weiß es, ich weiß es, mein liebes Kind. Wenn aber schließlich mein Sohn Ihnen Herz und Hand anbieten würde? ...«
»Wenn ... es durch ... Ihren Mund geschehe, Madame ...«
»Nun also ja, es geschieht durch meinen Mund.«
»Ah! gnädige Frau, ich fühle, daß ich Ihnen dann eine andere Antwort schuldig wäre, als ich sie ihm geben würde.«
»Nun, geben Sie mir diese Antwort, liebes Mädchen!«
»Die Ehre, eine der Ihrigen zu werden ...«
»Und die Freude, meinem Sohn anzugehören?«
»Ich würde nicht gegen diese Empfindung ankämpfen, wenn ...«
»Ich verstehe Sie, meine teure Aegle. Diese Verbindung paßt mir, ich gestehe es Ihnen offen. Es scheint übrigens, als ob alle Welt ihr auch ohne Ihr Geständnis zustimmt. Jedes meint, das schöne Paar müsse verbunden werden, und ich trete gern der Stimme des Publikums bei. Noch diesen Abend werde ich meinem Manne die Sache vorschlagen. Zeichnen Sie meinen Sohn ein wenig aus, liebe Aegle, denn er vergöttert Sie, er hat es mir gesagt. Ich liebe meinen Sohn zärtlich, Sie machen mir eine große Freude, wenn Sie lieb zu ihm sind. Er wird auch kommen. Zum Diner konnte er noch nicht erscheinen, weil er mit seinem Vater arbeiten mußte.«
Diese Unterredung räumte die letzte Schranke hinweg, hinter der Aegle ihre Liebe noch verbarg. Wie viel Niederträchtigkeit war doch nötig, um eines jungen Mädchens Herz, das von der Liebe schon erfaßt war, zu verleiten!
De Juine kam gegen sieben Uhr, um seine Mutter abzuholen. Er fand Aegle beinahe in ihren Armen, Der junge Mann war auf dem Gipfel seines Glücks, dieser Augenblick – er hat es seitdem selbst hundert Male gesagt – war der glücklichste seines Lebens. Aber wie teuer hat er ihn bezahlen müssen!
Ich muß dem Leser schon hier den schwarzen Verrat enthüllen, der Aegle drohte. Die Mutter des jungen De Juine war ein wahres Ungeheuer von Ehrgeiz und Habsucht. Ihr Absicht war, dem Sohne, der schon wohlhabend war, weitere Reichtümer zuzuführen und ihn mit Ehren überhäuft zu sehen. Daher erschien ihr seine Liebe zur schönen Aegle nur als ein Hindernis für ihr Vorhaben. Sie hatte es ihrem Sohne offen gestanden, sich aber an seiner Liebe gestoßen. Sie wußte, daß Widerstand Leidenschaft nur wachsen läßt, die desto schrecklicher wird, je mehr man sie stört. Sie beschloß daher, Aegle ihrem Sohne zu opfern. Diesem barbarischen Entschluß gemäß suchte sie die Gelegenheit, mit der Ärmsten zusammenzutreffen und so zu ihr zu sprechen, wie wir es gesehen haben. Sie wollte die Gefühle des Liebenden durch ein ruhiges, glückliches Verhältnis mit seiner Geliebten allmählich abstumpfen. Vielleicht hoffte sie noch auf etwas anderes, auf Folgen eines häufigen ungestörten Beisammenseins der Liebenden ...
Um die Ausführung ihres Vorhabens zu beschleunigen, nahm sie Aegle beim Eintreten ihres Sohnes in die Arme, küßte sie zweimal auf den Mund und sagte zu beiden:
»Plaudert einen Augenblick miteinander, meine lieben Kinder. Ich habe mich bis jetzt nur mit Aegle beschäftigt und möchte doch, bevor wir gehen, auch die anderen Gäste kennen lernen.«
Damit ließ sie die jungen Leute allein.
»Meine teure Aegle,« sagte darauf der junge Mann zu ihr, »mit welch glücklicher Aussicht schmeichelt meine Mutter meiner schüchternen Hoffnung? Hat sie von mir zu Ihnen gesprochen? Ich beschwöre Sie, erklären Sie mir ihre Haltung.«
»Sie wird Ihnen alles selbst sagen, aber glauben Sie mir, ich liebe Ihre verehrungswürdige Mutter.«
»Sie lieben Sie?«
»Ja, ich versichere es Ihnen.«
»Ah! Sie sprach Ihnen von mir?«
»Ja.«
»Und wie drückte sie sich aus?«
»Das ist es gerade, was sie Ihnen selber sagen soll.«
»Welch liebliches Feuer entstrahlt Ihren Augen, Aegle? Nie, nein, niemals waren Sie so schön, wie in diesem Augenblicke. Sie stellen alles in den Schatten.«
»Ihre Bewunderung gefällt mir, Herr De Juine, glauben Sie mir, daß ich mich davon geschmeichelt fühle. Ich wünschte nur, sie auch zu verdienen.«
»Welche Sprache ... Schöne Aegle, oh! könnte ich Ihnen doch für eine gute Nachricht dankbar sein!«
»Ich würde mich gegen Ihre Mutter undankbar zeigen, wenn ich spräche, und ich möchte nicht, daß ich mir jemals diesen Vorwurf zu machen hätte.«
»Dieses Wort sagt mir genug. Oh, welches Glück! Aegle, die Röte auf Ihrem lieblichen Gesicht bestätigt meine Vermutung ... Wie glücklich ist mein Los!«
»Glauben Sie denn der einzige Glückliche zu sein, De Juine? Es gibt noch mehr Herzen, die empfänglich sind für ein Glück, das sie verursachen, und ... die selbst kein anderes kennen.«
»Göttliche Aegle! Das ist die Sprache eines anbetungswürdigen, zartfühlenden Weibes, des Ideals einer Frau im strahlendsten Sinne des Wortes! Der Instinkt hat Sie gelehrt, was tiefes Nachdenken die Philosophen nur hat ahnen lassen, das schönste Geheimnis der Natur! Welch ein Glück für den Gatten, von einer Frau geliebt zu werden, die ihrerseits nur glücklich ist durch die Seligkeit, die sie verschafft! Ihr Inneres, Aegle, ist so schön, wie Ihr bezauberndes Äußere ... Können Sie jetzt darüber urteilen, wie eine Liebe sein muß, die auf Grund so vieler herrlicher Eigenschaften entbrannt ist ...«
Als er sah, daß sie nur die Augen niederschlug, ohne zu antworten, fuhr er fort:
»Doch ich will Sie nicht mehr drängen, Aegle, selbst nicht das jedem Liebenden so süße Geständnis zu hören verlangen. Meine Achtung vor Ihrer Tugend ... vor der Tugend des Mädchens, das zur teuren Genossin meines Lebens bestimmt ist, ist ein köstlicheres Gefühl, als das, welches ich durch Ihr süßes Liebesgeständnis empfinden würde! Bleiben Sie stets Sie selbst. Ich will nicht, daß meine Liebe der Erhabenheit Ihrer Gefühle den geringsten Abbruch tut. Oh, mit welchem Hochgefühl werde ich eines Tages zu mir sagen können: ich habe mir eine Gefährtin ohne Makel gewählt, ihre jungfräuliche Schamhaftigkeit ist noch die gleiche, wie am Tage, wo ich zum ersten Male zu ihr sprach, kein Wort, über das das bescheidenste Mädchen erröten könnte, ist noch diesem schönen Munde entschlüpft. Daher wird auch das Wort, das ich von ihm erwarte, um so herzlicher an mein Ohr klingen, das Wort, das im Grunde meines Herzens ertönt, und das ich schon zu hören glaube: Mein teurer Gatte! Das ist das einzige Wort, das meine Liebe verlangen wird zu hören, wenn die Zeit gekommen sein wird ...«
Aegle war köstlich erregt von diesen ehrlichen, dem Herzen entstammenden Worten und konnte kaum ihre reizende Verlegenheit verbergen. Zum Glück wurde sie durch Madame De Juine daraus erlöst, die ihr Adieu zu sagen kam. Die Verräterin küßte sie zum Abschied.
Alle Welt glaubte, daß die Heirat beschlossen sei. Die Damen umringten Aegle und beglückwünschten sie mit versteckten Worten. Als ihre Mutter kam, sie abzuholen, teilte man ihr mit, welches Glück Aegle bevorstünde. Sie war freudig erregt darüber und führte ihre glückliche Tochter heim.
Am nächsten Tage machte Madame De Juine Herrn und Frau Chéret einen Besuch und bat sie, ohne nach ihrer Tochter zu fragen, die Besuche ihres Sohnes gestatten zu wollen. Man antwortete ihr mit der Rücksicht, die ihr gebührte, und De Juine wurde im Hause empfangen. Ein intimes Verhältnis entspann sich nun zwischen den jungen Leuten, obwohl Aegle stets in den Schranken der größten Zurückhaltung blieb. Doch verrieten sie bisweilen die Regungen ihres Herzens, und solche Augenblicke waren köstlich für den Liebenden.
Eines Tages sprachen die jungen Leute von den Ursachen der unglücklichen Ehen.
»Ich glaube,« äußerte De Juine, »daß in den meisten Fällen der Mangel an Interessengemeinschaft der beiden Ehegatten daran schuld ist. Mann und Frau hegen nicht die gleiche Liebe füreinander, haben nicht den gleichen Willen, die gleichen Neigungen, die gleichen Freuden. Man achtet vor der Heirat zu wenig auf die Gemeinschaft der Bestrebungen und Neigungen, man überzeugt sich nicht genug davon, ob man auch miteinander sympathisiert. Man denkt nur an die Sympathie der Vermögen. Diese ist zwar auch sehr nützlich, aber die am wenigsten wichtige.«
»Sie haben recht, Herr De Juine,« bemerkte Aegle, »und ich muß Ihnen gestehen, daß ich seit einiger Zeit diese Fragen studiert habe. Ich bin zu dem Schluß gelangt, daß ich an mir keine Neigungen bemerkt habe, die den Ihrigen entgegengesetzt wären.«
Ein reizendes Wort, das ein Liebender noch besser verstehen wird, als ein anderer.
Zwei Jahre verflossen, ohne daß Madame De Juine bei den Eltern Aegles irgendwelche Schritte tat, aber sie war stets sehr zuvorkommend zu ihnen überall, wo sie ihnen begegnete, und ganz besonders zärtlich zu dem jungen Mädchen.
Endlich glaubte sie, daß es so weit sei, um den großen Schlag auszuführen. Seit einigen Tagen legte ihr Sohn eine größere Heiterkeit an den Tag, als gewöhnlich. Sie Schloß daraus auf zwei Möglichkeiten: entweder hatte seine Liebe nachgelassen, oder er war glücklich. Beides kam auf dasselbe hinaus. Sie fragte ihn geschickt aus, aber der Liebende sagte ihr nur die Wahrheit, die er entdeckt hatte, ohne daß Aegle sie ihm offenbart hatte, daß er nämlich der am zärtlichsten geliebte aller Männer sei. Sie glaubte trotzdem, daß er ihr etwas verheimliche, und dieser Gedanke wurde zum Ausgangspunkt ihres Handelns.
Sie hatte sich als letzte Waffe stets den Widerspruch ihres Gatten vorbehalten. In geschickter Weise wußte sie ihn nicht gegen Aegle aufzubringen, aber ihn auf eine andere Schwiegertochter aufmerksam zu machen, die fast ebenso liebenswert war wie diese, aber an Vermögen und Vornehmheit ebenso hoch über ihrem Sohn stand, wie De Juine über Aegle. Bisher war von ihr niemals die Rede gewesen, und ihr Sohn hatte nicht auf sie geachtet. Nun machte sie ihren Mann auf sie aufmerksam und ließ ihn durchblicken, daß sie imstande wäre, sie und ihren Sohn zusammenzubringen. Es gehörte wirklich ein außergewöhnlich interessanter Gegenstand dazu, Herrn De Juines Vater gegen Aegle zu stimmen, die er sicherlich als Schwiegertochter zärtlich geliebt haben würde.
Als die Mutter alle ihre Geschütze in Stellung hatte und glaubte, ihr Sohn befände sich in der richtigen Stimmung für ihre Pläne, ließ sie ihm durch seinen Vater verbieten, an eine Heirat mit Aegle zu denken und ihm den freundschaftlichen Rat erteilen, das junge Mädchen nicht mehr wiederzusehen.
Das war ein Blitz aus heiterem Himmel für den jungen Mann. Er suchte Trost in den Armen seiner Mutter, die sein Geschick scheinbar beklagte – vielleicht tat sie es wirklich, denn sie liebte ihn – und ihm verhängnisvolle Ratschläge erteilte. Das Herz des jungen Mannes sträubte sich mit Abscheu dagegen, aber er versuchte seine Mutter für eine heimliche Heirat zu gewinnen. Doch wagte er nicht, Aegle einen solchen Vorschlag zu machen. Er achtete sie zu hoch und hätte keine Worte dafür gefunden, ihr zu erklären, daß ihre Verbindung mit ihm geheimgehalten werden müßte.
Die Mutter setzte indessen den Vater von den geheimen Absichten des Sohnes in Kenntnis und riet ihm, nunmehr einen aufsehenerregenden Schritt zu tun, der die Geliebten zwinge, jeden offenen Verkehr abzubrechen, »Wenn Aegle dann«, fügte sie hinzu, »in heimliche Zusammenkünfte einwilligen würde, würde sie sich verächtlich machen und brauchte nicht mehr geschont zu werden.« Diesen Rat befolgte der Vater.
Davon unterrichtet, daß die Liebenden einer Gesellschaft in einem befreundeten Hause beiwohnten, begab er sich am Abend ebenfalls dorthin. Er fand seinen Sohn an der Seite Aegles, Das liebliche Mädchen, das keine Ahnung hatte von dem, was vorging, hörte ihrem Geliebten ganz gespannt zu. Es lag noch etwas anderes in ihren Zügen, eine gewisse zärtliche Neugier. Sie hatte wohl bemerkt, daß ihr Geliebter seit einigen Tagen sehr traurig war, und suchte ihn nun zu bewegen, ihr den Grund seines Kummers anzuvertrauen. De Juine, bis ins Innerste erregt, konnte eine Träne nicht zurückhalten und wollte gerade sprechen, als sein Vater, der sich ihnen unbemerkt genähert hatte, ihm das Wort abschnitt und zu ihm sagte:
»Ich muß mit dir sprechen, erwarte mich zwei Schritte weit von hier ...« De Juine gehorchte.
Dann wandte er sich an Aegle und sagte zu ihr:
»Mein Fräulein! Wichtige Gründe haben mich veranlaßt, meinem Sohn zu verbieten, in Zukunft die Ehre weiter zu genießen, die Sie ihm bisweilen erweisen, sich mit Ihnen unterhalten zu dürfen. Ich sehe, daß er Ihnen das Verbot verschwiegen hat, denn sonst würden Sie, eine Dame aus guter Familie, seine Annäherungen nicht mehr geduldet haben. Ich nehme mir daher die Freiheit, Ihnen meinen Willen persönlich mitzuteilen. Sie werden herausfühlen, mein Fräulein, von welcher Wichtigkeit für Sie die Willfährigkeit sein wird, die Sie mir bei dieser Gelegenheit bezeugen werden.«
Er sprach ziemlich laut, um von allen gehört zu werden. Aegle hörte ihm bleich und niedergebrochen zu, ohne ihn zu unterbrechen. Sie hielt auch noch an sich, als er fort war, aber welch' furchtbare Seelenqual für sie? Endlich zog sie sich mehr tot als lebendig zurück. Zu Hause angelangt, erfaßte sie ein Schwächeanfall. Das Schöne Mädchen verheimlichte ihrer Mutter, die über den Zustand ihrer geliebten Tochter in Verzweiflung war, nicht den Grund ihrer Unpäßlichkeit. Schon am gleichen Abend setzte ein heftiges Fieber ein. Man wandte alle Hilfsquellen der ärztlichen Wissenschaft an, aber was können diese gegen unglückliche Liebe! Die Vernunft der Ärmsten wurde getrübt, und sie delirierte. In lichten Augenblicken stieß sie schwere Seufzer aus. Aegle war härter von dem schweren Schlage getroffen worden, als eine andere davon getroffen worden wäre, ihre Schamhaftigkeit, die Sicherheit, in die sie durch die Worte ihres Geliebten und seiner Mutter gewiegt worden war, daß ihr Eintritt in die Familie ihres Zukünftigen erwünscht sei, die grausame öffentliche Absage, alles dieses vereint hatte dieses ehrliche und empfindsame Gemüt tödlich verletzt.
Der junge De Juine war inzwischen in Unkenntnis über den Zustand seiner Geliebten. Er suchte seinen Vater durch die flehendlichsten Bitten umzustimmen. Dieser erstaunte über die Gewalt der Liebe seines Sohnes und fing an, sich erweichen zu lassen. Selbst Madame De Juine, die Zeuge der Zornausbrüche, des Schmerzes und der manchmal wilden Verzweiflung ihres Sohnes war, schien zur Umkehr bereit. Aber es wurde zu lange überlegt, und unterdessen schritt die arme Aegle ihrem Grabe entgegen.
Man gestattete endlich dem Geliebten, sie zu sehen. Am Abend seines Besuches, im selben Augenblicke, fand die Kranke ihre Vernunft wieder. Ihre Mutter war bei ihr. Das liebliche Mädchen sah sie mit sanftem Lächeln an und sagte:
»Meine liebe Mama, ich fühle mich besser ... mein Herz ist nicht mehr durch die unglückliche Liebe eingenommen ... es ist frei... Teurer De Juine! Werde glücklich, selbst mit einer anderen ...! Ich würde doch nicht mehr den Namen deiner Frau annehmen wollen, auch nicht mehr können, scheint mir ...«
Eine Flut von Tränen verhinderte sie, die Gegenstände zu unterscheiden. Sie streckte der Mutter ihre Hand hin, die diese küßte. Aegle war über diesen Beweis zärtlicher Liebe gerührt, nahm die Hand der Mutter und behielt sie fest an ihre Lippen gedrückt.
Während dieser rührenden Szene trat ein Diener ins Zimmer und gab Frau Chéret durch Zeichen zu verstehen, daß man sie zu sprechen wünsche. Diese verstand zuerst nicht, so daß Aegle die Zeichen bemerkte. Ihre Schwäche war so groß, daß sie kaum noch einen Atem besaß.
»Was gibt es?« hauchte sie fast unhörbar.
»Ein Herr wünscht Madame zu sprechen.«
»Sieh nach, Mama.«
Frau Chéret entschloß sich nur schwer, ihre Tochter zu verlassen, deren Ende sie herannahen fühlte. Endlich ging sie. Es war De Juine. Er stürzte sich zu Füßen der trostlosen Mutter: »Verzeihung, Vergebung! Nicht für mich, für meine Eltern Vergebung! Sie geben endlich nach ... Ich wollte zuerst Sie sprechen, bevor ich eintrat ... Ich fürchte ...«
»Zu spät, ich habe keine Tochter mehr, zu spät ...«
»Zu spät!« schrie der Verzweifelte heraus.
Aegle erkannte diese geliebte Stimme. Sie machte eine Anstrengung, den Kopf zu erheben, aber ihre Erschöpfung war zu groß. Es war ihre letzte Bewegung: sie war tot.
Inzwischen waren ihr Geliebter und ihre Mutter darüber einig geworden, wie sie Aegle von dem Besuch und dem Glück, das ihrer harrte, in Kenntnis setzen wollten. Die Mutter tritt endlich ein, sie nähert sich ... Da sieht sie ihre einzige Hoffnung, das einzige, was sie auf der Welt liebt, ihre Tochter, eine Tochter, wie Aegle, bewegungslos daliegen, sie ist nicht mehr ...! Sie fällt in Ohnmacht, die Lippen auf dem Munde ihres Kindes, das sie wieder ins Leben zurückrufen will ...!
De Juine wartet unterdessen ... Ungeduldig streckt er schüchtern den Kopf vor und bemerkt ... Aegle in der Blässe des Todes, die Mutter ohnmächtig auf den Boden hingesunken. Er stürzt herbei, bleich, entstellt, kraftlos, als er sie leblos daliegen sieht, die er mehr liebt, als sein Leben, und mit dem Verzweiflungsschrei: »Gott! Sie ist nicht mehr!« drückt er seine Lippen auf den Mund Aegles und bleibt wie leblos in dieser Stellung.
Sein Schrei hat das ganze Haus in Bewegung versetzt.
Welch ein Anblick für den unglücklichen Vater ... Herr Chéret sucht seine Frau wieder ins Leben zurückzurufen, und es gelingt ihm. Andere bemühen sich um De Juine, der endlich wieder zu sich kommt. Man will ihn dem Anblick der Toten entziehen, aber er entreißt sich den Armen derer, die ihn halten wollen, und den Schleier wegreißend, den man auf das Gesicht Aegles gelegt hatte, stürzt er sich über die sterblichen Überreste der Geliebten und ruft aus:
»Nichts kann uns trennen, meine Aegle, der Tod wird uns vereinigen ... Oh! du grausamer Tod, der du mir die Hälfte meines Lebens weggenommen hast, nimm auch die andere, mit der ich doch nicht weiß, was ich anfangen soll .. !« Er umarmte den Leichnam Aegles, unmöglich, ihn davon zu trennen ...
Der Anblick war herzzerreißend.
Seine Eltern wurden herbeigerufen.
»Mein Leben«, ruft er ihnen entgegen, »hing von dem ihrigen ab. Das wußtet ihr nicht, sonst hättet ihr ihrer geschont ... Teure Aegle, unschätzbares Gut, das ich verliere! Wenn alle, die meinen Schmerz sehen, dich gekannt hätten, wie ich, so würden sie ihn teilen! Schatz an Tugend, Liebe und Geist, den ich einst mein zu nennen hoffte, du hättest mein Glück ausgemacht, und jetzt stürzest du mich in Verzweiflung ... Oh! mein Gott, und ich bin dein Henker! Wäre ich nicht gewesen und meine verhängnisvolle Liebe zu dir, so würde deine trostlose Mutter dich noch heute besitzen ...«
Als er geendet hatte, verließ er Aegle und schien etwas zu suchen, womit er seinem Leben ein Ende machen konnte. Da umarmte sein Vater den Unglücklichen, führte ihn hinaus und nahm ihn mit sich nach Hause.
Am nächsten Tage fand die Beerdigung der schönen Aegle statt. Die ganze Welt trauerte um sie, und alle vergossen heiße Tränen. Als der Trauerzug an der Ecke der Rue de la Draperie anlangte, warf sich ein halbnackter junger Mann mit zerzausten Haaren ihm entgegen, eilte auf den Sarg zu, riß den Trauerschleier herunter und entblößte Aegles Antlitz. Sechs Männer konnten ihn nicht zurückhalten, er hatte sie alle zu Boden geschlagen.
»Sie ist es,« schrie der rasende, unglückliche De Juine, »sie ist die Hälfte meines Ichs ... ! Barbaren, ihr entreißt sie mir ...! Aber ich werde mit ihr ins Grab steigen! Darauf küßte er Aegle, bedeckte ihr Gesicht wieder mit dem Schleier und fiel ohnmächtig um. Er mußte fortgetragen werden ...
Bald darauf starb auch er. Seine ehrgeizige, bösartige Mutter siecht seitdem verzweifelt dahin, bestraft, mit Recht bestraft für ihren Hochmut und ihre verbrecherischen Pläne. Unselige Egoistin, du wolltest ein reizendes junges Mädchen deinem Sohne opfern und hast deinen Sohn selbst der Sichel des Todes überliefert!