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Siegmund kam nun seltner, denn er ritt mit seinem Vater oft in den Krieg, und wann des Morgens die Reisigen aus dem Schlosse auszogen, so stand ich immer und grüßte Siegmund mit einem weißen Tüchlein, und wenn er mich so grüßen sah, so ließ er sein Pferd einigemal springen. Das war seine Antwort, denn er getraute sich nicht vor seinem Vater, mich wiederzugrüßen. Dann betete ich zu Gott, daß er ihn gesund wiederkommen lasse, und hatte nicht viel Ruhe, bis ich die Reisigen wieder einziehen sah. Einstens aber in einem kalten Winter waren sie auch ausgezogen, und als sie wiederkamen, stand ich am Berge und sah nach Siegmund, der saß aber nicht auf seinem Pferd, der ward auf einem Tragbette zwischen zwei Reitern getragen; ach, da war meine Angst groß, bis er die Reiter stillhalten ließ und sich aufrichtete, daß ich sehen möge, daß er noch lebe, und war dies gewiß ein groß Zeichen seiner Liebe zu mir. Ich hatte aber keine Ruhe und bat meinen Vater, er solle mich hinüber auf das Schloß lassen, und da er nicht einwilligte, kniete ich vor ihm nieder und bat ihn mit Tränen so flehentlich, daß er selbst sehr weinte und sprach: »Ach Tochter, wie ist deine Liebe zu Siegmund so groß, und was wird viel Leid draus entstehen!« Dann gab er mir ein Bündelchen Kräuter und führte mich selbst an den Main hinab, der war zugefroren, und noch keiner darüber gegangen; das wußte ich wohl, sagte es aber meinem Vater nicht, der glaubte, es seien schon viel Leute drüber gegangen, und so eilte ich dann über das Eis ohne Furcht und Angst und betete wohl mehr für Siegmund auf dem Eis, als daß ich nicht einbrechen möge. Es war Abend, da ich auf das Schloß kam; ich fragte sorgsam nach Siegmund und sagte, mein Vater habe gesehen, daß er verwundet zurückgekommen sei, und ich müsse ihm die Kräuter bringen. Da führte man mich ins Gemach, wo seine Mutter an seinem Lager saß. Da konnte ich mich auch nicht mehr halten, lief zu ihm hin, kniete an seinem Bettlein nieder und küßte ihm die Hand. Seine Mutter wußte wohl, daß er mich lieb hatte und ich ihn, aber hatte wohl nicht geglaubt, daß es so ernstlich sei, und da sie mit mir nachher in ihre Kammer gegangen war, sprach sie lang mit mir, wie auch mein Vater gesprochen hatte. Da erzählte ich ihr treulich alles, wie unsre Liebe so unveränderlich sei und wie uns nichts scheiden werde als der Tod. Sie war aber eine sanfte Frau, und Siegmund war ihr das liebste Kind, auch gegen mich war sie sehr freundlich und wie eine Mutter gesinnt und hat nicht mehr von unsrer Liebe gesprochen, als daß sie Gott bitten wolle, daß es uns nicht übel gehe auf Erden.
In der Nacht ging das Eis im Maine auf, und ich konnte am Morgen nicht zurück, so daß ich wohl drei Tage lang auf dem Schlosse bleiben mußte. Ich war dann meistens bei Siegmund und pflegte seiner, denn sein Vater war noch nicht zurück, und die Mutter erfreute sich an unsrer Liebe. Da wuchs unsre Liebe noch viel mehr, denn wir hatten uns lange nicht gesehen und in der letzten Zeit wenig miteinander gesprochen. Da wir nun so beinander saßen, da warden wir viel inniger, und Siegmund, durch seine Wunde schwach und sanfter als sonst, erschien mir viel vertrauter, ja seine Rede war mir oft ganz jungfräulich, und hatten wir auch da keine Hehl mehr voreinander, und ich verband ihm seine Wunde in der Seite am Herzen ohne Scheu. So groß ist die Liebe und so rein, daß sie nichts Unreines tun kann, und was sie tut, ist alles schön und ewig. Da ist mir auch die kleinste Handlung teuer und ein tiefsinniges Werk geworden, wenn ich sie in der Liebe getan hatte.
Nach drei Tagen ging ich wieder zu meinem Vater; der war traurig in seiner Einsamkeit geworden, während ich mich gefreut hatte, und ich erzählte ihm, was geschehen war, und wie meine Liebe noch viel größer wäre, und was Siegmunds Mutter mit mir gesprochen hätte. Darüber ward er gar nachdenklich und sagte: wie er ein alter Mann sei und schon mit einem Fuß im Grabe stehe, so sei sein Sinn wohl nicht mehr für die weltlichen Dinge, und wolle er auch meine Liebe nicht stören; aber es sei ihm doch traurig, wenn er daran denke. –
Da Siegmund wieder gesund war, besuchte er meinen Vater und mich wieder dann und wann, und außerdem sahen wir uns an Sonn- und Festtagen vor und nach der Kirche im Kloster. Der Winter war sehr rauh, und mein Vater oft krank, denn er war schon ein sehr alter Mann und hatte schneeweiße Haare; da ward mir denn auch keine Freude als ihn zu trösten und mit ihm zu beten. Als der Frühling kam, die Zweige ausschlugen und die Vögel wieder zu singen begannen, setzte er sich oft an die Türe und sah ins Tal hinab und sprach mir von meiner Mutter. Einmal, an dem heiligen Ostertagnachmittag, saß er in seinen Feierkleidern an der Türe und ich neben ihm; es war gegen Abend, alles still und ruhig und gar mildes Frühlingswetter; wir sahen den Main hinauf, da kam eine Wallfahrt in einem Schifflein den Main heruntergefahren; sie hatten ein Kreuz aus einer grünen Male bei sich und sangen laut und andächtig, daß es zwischen den Bergen leise in der Ferne mitsang:
Ich will des Mais mich freuen In dieser heilgen Zeit Und gehe zu der Maien, Und seh des Heilands Leid. Leid gab mir die Freudigkeit. O Mai, in grünem Scheine Du stehst in ewger Blüte, Du drangst in heilgem Taue Des heilgen Todes Weihe |
Der Vater und ich sangen das Lied still mit. Er ward sehr gerührt und sprach mit mir: »Wohl wende ich mich auch hin zu der Maie des heiligen Kreuzes, wo mir das ewige Leben blüht, denn meine Zeit ist vorüber, und dieser ewig wiederkehrende Frühling ist meine Jugend nicht, auch werde ich die Früchte nicht reifen sehn; ich fühle, liebes Kind, daß dies der letzte Frühling ist, dessen ich mich erfreue. Vom Leben zu scheiden, schmerzt mich nicht, weil sich das Leben nie von mir scheiden kann, denn ich habe nach meinen Kräften Gott gedient und die Menschen geliebt. Das Schifflein mit der singenden Wallfahrt und der Maie, wie es so den Main hinunterfährt, und dort die Sonne, die untergeht, sie haben mich wohl an das Leben der Menschen erinnert. Da sind sie heute früh aus den verschiedenen Dörfern fröhlich zusammengekommen und in der Kühle und dem Dufte des jungen Laubs durch den Wald und über die Berge singend hingezogen und haben nur gedacht, wie sie ankommen würden und ihre Andacht verrichten; und da sie gebetet haben, sind sie zu den Krämern gegangen, die dort stehen, und haben Kerzen gekauft, jeder nach seinem Vermögen, und haben sie dort aufgesteckt; dann haben sie am heißen Mittag im Grase ihre Speise genossen, und nun sind sie den Berg wieder hinabgekommen, und schnelle trug sie das Schifflein den Strom hinab, während die Sonne auch hinunterzog. Einer steigt früher, der andre später ans Land, und alle, die beisammen so fromm der Maie singend folgten, sind in der Nacht nicht mehr beisammen, und wenn der Vater seinen Kindern ein Heiligtum mitbringen kann und so Frömmigkeit erweckt, dann kehrt er freudig von der Wallfahrt zurück; die Gabe mag gering sein im allgemeinen Wert der Dinge, so ist sie doch groß für die Betrachtung, und ein Samenkorn, das der Wind verweht, kann die Mutter eines ganzen Waldes sein.« So sprach er noch lange in rührender Vertraulichkeit mit mir, und da ich ihn nach der Hütte zurückbegleitete, zitterte er sehr, so daß ich wohl fühlte, er werde nicht mehr lange mit mir sein.
Siegmund kam den folgenden Tag herauf, und mein Vater bat ihn, ihm den Pater Anton vom Schlosse zu schicken und auch seine Mutter zu ihm zu bitten, denn Siegmunds Vater hatte den jüngern Sohn Albrecht zu einem Vetter in Schwaben begleitet. Da Siegmund zurückeilte, stand ich am Fenster und weinte sehr. Mein Vater, der in seinem Lehnstuhle saß, hatte seinen Lieblingsfalken auf der Hand und sagte freundlich zu ihm: »Willst du wieder in Freiheit, Kilian, wenn ich tot bin?« Da er mich weinen hörte, sagte er: »Was weinst du, mein Kind?« Da sagte ich ihm: »Da ich Siegmund hinabgehen sah, mußte ich weinen, daß er bald mein einziger Trost sein wird außer Gott.« Da sprach er zu mir: »Und einst wird Gott dein einziger Trost sein, wie er jetzt meiner ist, da ich dich verlassen muß; aber ich will Gott im Himmel für dich bitten, daß es dir auf Erden wohl geht, bis du zu mir kommst, meine Tochter.« Dann kniete er dort an dem Altar nieder und betete und war so schwach, daß er sein Haupt auf den Altar legte, ich kniete neben ihm, und der Falke saß traurig auf der Stange. Dann sagte er: »Sieh, ob der Pater Anton bald kömmt; ich fühle, meine Stunde naht sich.« Da sah ich den Pater in seinem geistlichen Gewand und mit der Monstranz in das Schifflein steigen, Siegmund trug das Kreuz, und seine Mutter hatte eine Kerze in der Hand; auch waren noch die alten Knappen des Ritters mit Fackeln bei ihnen. Da sprach ich: »O lieber Vater, sie bringen unsern Herrgott.« Da küßte mich der Vater und sah mich mit großer Liebe an. Der Zug kam langsam den Berg herauf, und da sie vor der Hütte standen, ging ich heraus zu Siegmund und seiner Mutter, die war sehr traurig und küßte mich; der Pater Anton ging zum Vater hinein und hörte ihn Beicht und gab ihm das Abendmahl, und wir standen draus und beteten. Dann kam der Pater Anton und rief mich und Siegmund und seine Mutter herein. Wir knieten um seinen Stuhl, und er sprach zu Siegmunds Mutter: »O gnädige Frau, wir werden bald zusammensein, nehmt Euch meines Kindes an; Siegmund liebt meine Tochter, sie verdient es. O mein gutes Kind, ich befehle dich Gott; o komme bald zu mir, wenn dir es auf Erden nicht gut ist.« Da weinten wir alle sehr, und Siegmund nahm meine Hand und sagte. »Mutter, segnet uns! Vater, segnet uns!« Da gab er uns den Segen und Siegmunds Mutter auch. Dann wollte er in den Sonnenschein getragen sein. Siegmund und ich trugen ihn auf seinem Sessel hinaus in das Freie. Da standen die alten Diener des Ritters mit den Fackeln im Kreise um ihn und reichten ihm die Hände. Siegmund brachte ihm seinen Falken, der saß hinter ihm auf der Lehne seines Sessels. So saß der gute Vater noch einige Minuten und sprach: »O Gott, ich danke dir für das schöne Leben, ich danke dir für mein schönes liebes Kind, ich danke dir für den schönen Tod.« Da starb er, Siegmund und ich hatten seine Hände, es war freundlicher Sonnenschein, die Vögel sangen in dem Walde, und der Falke stieg wie ein Pfeil in die Höhe.
Siegmund und seine Mutter nahmen mich nun mit nach dem Schlosse und trösteten mich mit vielen freundlichen Worten, besonders Siegmund; der war seit meines Vaters Tod viel ernster und fester geworden, er sah nun seine Liebe zu mir als meine einzige Hülfe an und als alles, was ich in der Welt zu hoffen hatte. So wollte er dann auch mein Schicksal so freundlich machen, als in seinen Kräften stand, und strebte immer mehr, wie er mir gütig und treu erscheinen sollte. Mein Vater ward den folgenden Tag neben meine Mutter ins Kloster begraben. Siegmund und seine Mutter gingen mit zur Leiche, mich aber ließen sie nicht mitgehen, damit ich nicht so traurig sein möchte. Ich blieb also auf dem Schlosse zurück, und wie sie aus dem Tor hinauszogen, stieg ich auf den höchsten Turm des Schlosses. Sieh, es ist dort jener weiße Turm, worauf das Bäumchen steht. Ich sahe mich rings in der Gegend um und empfand vieles, das ich vorher nie empfunden hatte. Wie Siegmund mit seiner Mutter in das Schifflein stiegen, da erinnerte ich mich, wie ich Siegmund zum erstenmal gesehen; das war, als meine Mutter starb, da saß ich vor meines Vaters Hütte und spielte ganz fröhlich und verstand das Leid der andern Menschen nicht; da sah ich ihn auch in demselben Schifflein überfahren: »Ach, wie viel Jahre sind schon hin, jetzt bin ich auch schon unter den erwachsenen Leuten, die den Schmerz wohl verstehen, wenn ein lieber Freund von ihnen scheidet. Wie oft ist der Frühling vergangen, seit ich lebe, und ich kann mich kaum eines einzelnen Frühlings erinnern; ich weiß nur, daß es der Frühling war, wenn die Bäume blühten und die Welt freudig ward. O weh, jetzt spiele ich nicht mehr vor meines Vater Hütte, hier stehe ich und bin allein und kann weinen, ach, wie bitter weinen. O, wo wird mein guter Vater hingetragen, wo geht alle das Leben hin, wohin alle die Lust?« So war ich gar traurig und hatte ganz die Hoffnung verloren; ich sah, wie Siegmund mit seiner Mutter den Berg hinanstiegen und wie die geistlichen Herrn von dem Kloster aus dem Wald in ihren weißen Kleidern heraustreten und wie sie meinen guten Vater in dem Sarge aus der Hütte heraustrugen. Ach, da streckte ich wohl die Arme gegen Himmel und weinte sehr, da hörte ich sie auch ihre heiligen Lieder noch lange im Wald singen. Es war Abend und still, die Sonne ging unter, im Tal war es schon dunkel, nur über unsrer Hütte und dem Walde lag noch der helle Schein. Da dachte ich wohl, wie mein Vater mit mir gesprochen hatte, da die Wallfahrt den Main hinabfuhr, und wie er des Menschen Leben mit der Wallfahrt verglichen hatte, und wie er zu mir gesagt hatte: »Der geht gern von der Wallfahrt nach Hause, der seinen Kindern eine fromme Gabe mitbringen konnte«; und als ich gedachte, wie er so ruhig und freundlich gestorben war, da warf ich auch einen Blick zurück auf die Heiligtümer, die er mir zurückgelassen hatte; ich wiederholte in mir sein Andenken und die sanfte fromme Unterweisung, die er immer gegeben hatte, sah lang in mein Herz zurück und fühlte mich ruhig und mild. Dann wandte ich meine Blicke ringsum über Berg und Tal, wie der Wald grünte und still stand, wie sich die Wiesen sanft hinabsenkten und mit den gefurchten Äckern abwechselten. Zum Himmel stiegen meine Blicke ruhig aufwärts und gleiteten an dem Fluge ziehender Vögel wieder nieder zum Main, in dem die Wolken nochmal zu ziehen schienen; dann blickte ich zwischen den Türmen hinab in den einsamen Burghof, wo ein alter Knappe den Hollunderbusch an dem Fenster seiner Kammer beschnitt und ein lustig Lied sang; auf dem Dache trieben die Tauben girrend in den letzten Strahlen einander herum, und war es schon dunkel, und die ewige Lampe der Burgkapelle sah heller durch das hohe Fenster, und alles das sah ich mit gleicher Ruhe und stiller Liebe an. Es war mir nicht, als sei mein Vater gestorben; ich konnte an ihn denken, als sei er immer zugegen, nur sehe ich ihn nicht, aber ich höre ihn singen und arbeiten. Zu dieser Stunde kam ein großer inniger Glaube an die Güte Gottes und die Ewigkeit des Lebens in mich; alles, was mir der gute Vater in kurzen Sprüchen und Winken gesagt hatte, sah ich ausgeführt in seinem Leben, und sein Leben fand ich wieder über der ganzen ruhigen Gegend schweben, aus der mir mein eignes Herz wie eine freundliche Blume entgegensah. O, da fühlte ich deutlich, was mir mein guter Vater von der Wallfahrt mitgebracht hatte; er hatte mir das Leben gegeben, die freundliche gesunde Gestalt meines Leibes, das ruhige schlagende Herz in der Brust und die stille betrachtende Seele hat er mir gegeben, denn er hat mir die Schönheit und den innern Frieden der Natur durch sein stilles frommes Dasein in Geschäft und Andacht näher ans Herz gelegt, daß ich ruhig in sie verwachsen konnte, daß keine Sehnsucht mich wild hinausriß, daß gleich vor meinem Auge Gott mit der Liebe stand und mir mit milder Strenge ins Herz sah, das rein und züchtig wie die Kammer einer frommen Jungfrau aufgeschmückt war. O guter Vater, dachte ich da, du warst ein Bote Gottes, der ihn in einer unschuldigen Seele verherrlichen sollte; Gott sprach zu dir: Gehe hin und baue mir eine Kirche auf der Erde, daß ich deutlicher und verständlicher meinen Kindern, den Menschen, werden möge, dann will ich sehen, ob du meiner Liebe näher zurückkehrst. Und da hat der gute Vater mich zurückgelassen als das Zeichen des vollendeten Werks und ist wieder zurück zu Gott gegangen; sein Leben aber auf Erden hat nicht aufgehört, es ist in meiner Seele, und ich will es ruhig fortbauen, ich will fromm und tugendhaft sein, daß er nimmer sterbe; und wenn Gott auch mich einst zu sich nimmt, o, dann bleibe auch mir ewig ein Leben zurück, ein Ebenbild Gottes und ein Spiegel des freudigen segensvollen Strahls, der aus dem Glanze des Himmels zur Erde niederfällt und sich im Glauben entzündet.