Lily Braun
Memoiren einer Sozialistin – Lehrjahre
Lily Braun

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Dreizehntes Kapitel

Münster, 29. Dez. 1888

Liebe Mathilde!

Das Dreibretzeljahr, von dem ich mir so viel versprochen hatte, geht zu Ende. Es ist nicht süß, ja nicht einmal schmackhaft gewesen, und sein einziges greifbares Resultat ist, daß ich meine hochfliegenden Wünsche und Hoffnungen sauber verpackt zu anderem Urväterhausrat in die alte Truhe legte, wo ich sie vielleicht an Sonn- und Feiertagen des Lebens hie und da herausnehmen und mit wehmütiger Resignation betrachten werde, wie die Großmütter die Liebesbriefe ihrer sechzehn Jahre. Du brauchst mir zum neuen Jahr kein Glück zu wünschen; ich weiß von vorn herein, was es bringt: das landläufige Mädchenschicksal einer Vernunftheirat. Ich kenne den Glücklichen noch nicht, der sich an den Resten meines Ich entflammen wird – aber ich werde ihn finden, und trainiere mich jetzt schon zur Kühle und Ruhe, damit mir nicht am unrechten Ort das Herz durchgeht.

Heut nacht hab ich beim müden Schimmer meiner Rosa-Ampel lange wach gesessen und geträumt, – gegrübelt wohl eher, denn träumen tut man kaum mehr, wenn das erste Vierteljahrhundert des Lebens sich seinem Ende zu neigt; und tut mans trotzdem, so sind es eben – schlechte Träume. Im Kamin prasselte das Feuer, und wenn ich aufsah, blickte mir aus dem Spiegel ein Gesicht entgegen, das das einer Toten hätte sein können, wenn nicht die Augen von verhaltenen Tränen geschimmert und die Lippen wie eine klaffende Wunde blutrot geleuchtet hätten. Ein Kindergesicht wars nie, – bin ich denn überhaupt ein Kind gewesen? Ein glückliches Kind? Es muß sehr lange her sein, denn ich besinne mich nicht darauf. Ich mag auch nicht die Tafeln der Erinnerung aufdecken. Häßliche Bilder zeigen sie. Freilich meist golden umrahmt, auf Elfenbein gemalt in schillernden Farben, aber sieh dir den Höllenspuk nur genauer an: war nicht das Schicksal ein wahnwitziger Maler, daß es so kostbares Material an solchen Schund verwandte?

Was hat denn gehalten von alledem? Die Liebe etwa? Armes Menschenkind! Sie ging an dir vorüber und du sahst nur so viel von ihr, um die Sehnsucht darnach, die fiebernde, heiße, ewig zu spüren! Und der Glanz? Wie schnell sah das allzu scharfe Auge, daß er nichts war als Flittergold, – Raketen, die prasseln und strahlen; wenn sie verglimmt sind, ist es viel dunkler noch als zuvor! – –

Ich habe die Wissenschaft gepflegt, wie eine verbotene Liebschaft, – die bleibt mir. Ich habe die Kunst geliebt, schüchtern nur und von ferne, um die Hehre nicht mit meiner Pfuscherei zu besudeln, – die bleibt mir. Das mag jenen Luxustieren unter den Menschen genügen, die vom Leben nichts wollen als Genuß, – jenen, die so hohl sind, daß sie immer empfangen können. Ich aber wollte schaffen!! – Wozu lebe ich denn überhaupt? Würde mich jemand vermissen, würde eine Lücke bleiben, wenn ich nicht wäre? Meine Eltern, meine Schwester, meine Freunde würden trauern. Wie lange? Ich bin ihnen doch allen fremd geblieben! Wer wird denn nur wahrhaft vermißt? Ein guter Vater, – eine treue, sorgende Mutter! –

Pfui, du hast geweint, – schnell, lache, setze die Maske auf, – wer zeigt denn heutzutage sein Gesicht? Es wären der Falten, der Tränen zu viele!

Verzeih – ich schrieb in Gedanken ein Romankapitel. Im nächsten Brief sollst Du hören, wie herrlich ich mich amüsiere!

Prost Neujahr! – Übrigens eine prachtvolle Phrase, mit der man sich um das ›Glück‹ wünschen herumdrücken kann.

Deine Alix.

Münster, 30.1.89

Liebe Mathilde!

Ein Karneval, der mich kaum zu Atem kommen läßt, ist die Ursache meines langen Schweigens. Ich will ihn durchtollen, bis zum bitteren Bodensatz genießen, weil es unweigerlich der letzte für mich ist. So oder so: ich verlasse den Schauplatz nicht, es sei denn auf der Höhe des Triumphs. Alle bösen Geister haben wieder von mir Besitz ergriffen und peitschen mich vorwärts auf der Rennbahn der Eitelkeit, angesichts heftiger Konkurrenz. Mit dem neuen Kommandierenden – dem einst allmächtigen und gefürchteten Chef des Militärkabinetts, der die Vorsehung seiner Vettern bis ins zwanzigste Glied gewesen ist – scheinen die Löwinnen des alten berliner Hofs den Schauplatz ihrer Tätigkeit hierher verlegt zu haben. Eine komische Gesellschaft: vornehm, blasiert, elegant, hochnäsig, mit einem starken Stich ins Burschikose, nicht ohne ›Vergangenheit‹. Diese beiden letztgenannten Eigenschaften sind die Ursache ihrer nicht ganz freiwilligen Entfernung aus Berlin, wo man im Zeichen der Tugend und Gottesfurcht steht. Nun ist Münster aber auch nicht der Ort, wo Leutnants den jungen Damen kameradschaftlich auf die Schultern klopfen und mit frischem Stallgeruch und schmutzigen Stiefeln zum Damenfrühstück erscheinen können. Kurz – wir werden die fremden Vögel schon ausräuchern, und ich tue dazu, was ich an Koketterie, an Geist und Toiletten aufbringen kann. Mit dem glänzendsten Kavalier dieses Karnevals, Herrn von Hessenstein, der kürzlich hier Schwadronschef geworden ist, schloß ich ein Schutz- und Trutzbündnis zu diesem Zweck. Du brauchst keine Kassandrarufe auszustoßen – wir gefallen einander – nichts weiter!

Es gibt eine Anziehungskraft zwischen Mann und Weib, die mit Geist und Herz gar nichts zu tun hat; ich möchte sie körperlichen Magnetismus nennen. Man ist nicht gemein, wenn man sie empfindet, weil der Instinkt der Natur nicht gemein sein kann. Zum Unglück wird sie nur, weil das sentimentale Liebesgewinsel unserer Goldschnitt-Lyriker und unsere verlogene Erziehung uns dazu gebracht haben, sie vor uns selbst mit falschen Empfindungen zu umkleiden. Meine fiebernden Sinne werden oft von Menschen angezogen, von denen Geist und Herz sich abgestoßen fühlen. Und umgekehrt sind diese gefangen, wo jene beinahe Ekel empfinden. Würde ich mich des Instinktes schämen und ihn infolgedessen mit dem Feigenblatt verlogener Schwärmerei bedecken, – in welch unselige Ehen hätte ich mich schon fesseln lassen! Vielleicht ist die wahre, dauernde Liebe erst möglich unter den Gatten, die sich ganz kennen, sich ganz besitzen, und die noch dazu ein gewisser äußerer Zwang zusammenhält. Alles übrige ist Flirt – Sport, oder sonst ein Fremdwort . . . Wenn ich nur nicht die fatale Eigenschaft hätte, gegen alle Art bürgerlich ehrbarer, staatlich sanktionierter, zu lebenslänglichem Gebrauch auf Flaschen gezogener Gefühle einen unüberwindlichen Abscheu zu haben . . .«

Gegen Ende des Karnevals gab Herr von Hagen, unser Oberpräsident, – ein gescheiter, feiner, alter Herr, der einzige fast, mit dem ich eine ernstere Unterhaltung führen mochte, – ein Diner, zu dem er mich, entgegen der sonstigen Gewohnheit, mit einlud. Junge Mädchen waren ja nur zum Tanzen da; man schloß sie daher überall von den Gelegenheiten aus, wo Ansprüche an den Geist, statt an die Füße gemacht werden konnten.

»Sie sollen heute diesen Böotier bekehren,« sagte mir unser Gastgeber lächelnd, indem er mir Herrn von Syburg, den neuen Hammer Landrat vorstellte, »er hat Ansichten über die Frauen, – na, Sie werden ja sehen!«

Ein großer schmächtiger Mann machte mir eine steife Verbeugung, und ein paar helle, weit vorstehende Augen musterten mich ernsthaft. Der erste Eindruck, den ich empfing, war fast ein feindseliger. Als wir dann aber ins Gespräch kamen, gefiel er mir. Seine Ruhe, seine Kenntnisse, seine vielseitigen Interessen erhoben ihn über den Durchschnitt. Er war konservativ bis in die Fingerspitzen, und unsere Ansichten platzten ständig aufeinander. Aber hinter den seinen stand eine so gefestigte Überzeugung, so daß mir meine eigene Unklarheit peinlich zum Bewußtsein kam. Im Grunde war ich nur sicher in der Negation; diese Schwäche meines Standpunkts schien Herr von Syburg rasch zu entdecken, sie verlieh ihm ein Übergewicht, das mir in unserem ferneren Verkehr stets peinlich fühlbar blieb.

Er besuchte uns am nächsten Tage und fehlte dann in keiner Gesellschaft. Er machte mir auf seine Art den Hof, tanzte fast jeden Kotillon mit mir und war stets mein Tischherr.

»Nun hast du glücklich wieder eine neue ›Briefmarke‹,« meinte mein Vater; aber während er sonst an dieselbe Bemerkung ärgerliche Vorwürfe knüpfte, lächelte er diesmal dazu. Er neckte mich, weil ich fahnenflüchtig zum Zivil überginge, und erzählte wohl auch gelegentlich von dem großen Besitz der Syburgs in Schleswig, oder von dem Ministerportefeuille, das der Landrat schon heimlich in der Tasche trüge. Seine Stimmung machte mich weich, – der Gedanke, daß es vielleicht in meiner Hand liegen sollte, ihn glücklich zu machen, lähmte meine Widerstandskraft. Dabei wurde ich Syburg gegenüber immer scheuer und büßte immer mehr von meiner Lustigkeit ein, weil ich mich ständig von ihm beobachtet wußte.

»Sie kommen mir vor wie ein Abiturient im Examen,« sagte Hessenstein eines Tages zu mir, der der einzige war, dem die Entwicklung der Dinge mißfiel, und der kein Hehl daraus machte. Im stillen gab ich ihm recht. Er unterwirft mich wirklich einer förmlichen Prüfung, dachte ich bitter. Häufig nahm er einen dozierenden Ton an, der mich wild machen konnte. Und doch wuchs seine Macht über mich. Es imponierte mir, daß er nie den girrenden Seladon spielte, sich niemals meinen Wünschen fügte, ja, sich manchen leisen Tadel gestattete, dessen Berechtigung ich anerkennen mußte. Schon vor Jahr und Tag hatte ich meiner Kusine geschrieben: »Ich bedarf der Bewunderung, sagst du, – gewiß! Und doch sehne ich mich nach einem Menschen, den nicht ich unterwerfe, sondern der mich unterwirft, der mir nicht demütig die Hände küßt, sondern mich sanft und mitleidig an sein Herz zieht und spricht: Nun ruh dich aus, du armes, müdes Kind!«

Nur die Halbgeschlechtlichen, die der Natur Entfremdeten konstruieren künstlich eine Weibesliebe, die den Gleichen begehrt. Den Höherstehenden will sie; denn blindes Vertrauen und kindliche Schutzbedürftigkeit ist ihres Wesens Inhalt. Mir half die Phantasie, meiner Sehnsucht Erfüllung vorzutäuschen, und wenn ich auch oft entsetzt gewahr wurde, daß der Instinkt der Natur mich nicht zu Syburg zwang, sondern es zwischen uns lag wie eiskaltes Gletscherwasser, so schlugen meine Wünsche immer wieder die Brücken hinüber. Nur des Nachts rächte sich die unterjochte Natur an mir. Stundenlang lag ich wach und kämpfte mit den warnenden Stimmen meines Innern; erst wenn der Tag dämmerte, fiel ich in unruhigen Schlaf. Von der Servatiikirche hörte ich die Stunden schlagen; die gleichmäßigen Schritte zählte ich, mit denen der Posten vor dem Hause unaufhörlich auf und nieder ging, und verkroch mich zitternd unter die Decke, wenn die Mäuse, die unvertilgbar schienen, piepsend über die Diele raschelten. Von Kindheit an brach mir der Angstschweiß aus, sobald eins der zierlichen grauen Geschöpfchen in meine Nähe geriet.

Ich wurde immer schmaler und blasser, und müde – immer müder. Die weiche Frühlingsluft, die merkwürdig früh in diesem Jahr Blätter und Blüten hervorlockte, erschlaffte mich vollends.

Syburg schien meine krankhafte Mattigkeit für weibliche Sanftmut zu halten; das verstärkte in seinen Augen meine Anziehungskraft. Ich ließ es geschehen, daß er mich fast schon wie sein Eigentum behandelte. Hessenstein versuchte vergeblich, meine Widerstandskraft wach zu rufen. »Sie rennen sehenden Auges in Ihr Unglück,« sagte er einmal, »niemals passen Feuer und Wasser zusammen.« »Aber das Wasser löscht das Feuer aus,« antwortete ich mit trübem Lächeln, »und gerade das ists, was ich brauche.«

Es war schon Ende März, als Prinz Sayn, der Kommandeur der Kürassiere und unermüdliche liebenswürdige Arrangeur aller Feste, zum Polterabend einer bevorstehenden Hochzeit eine Quadrille zu tanzen in Vorschlag brachte. Die Paare wurden bestimmt; Syburg war selbstverständlich mein Partner. Bei einer der vorbereitenden Zusammenkünfte wurde die Kostümfrage besprochen, und wir hatten uns beinahe schon geeinigt, der Aufführung den Charakter eines Schäferspiels zu geben, als meine Mutter das Hofkostüm der Rokokozeit für angemessener hielt. Der Prinz und seine Frau, die mittanzen wollten und an den jugendlichen Gewändern schon Anstoß genommen hatten, stimmten ihr zu; da niemand einen Einwand erhob, schien die Angelegenheit erledigt. Beim Nachhausewege erfuhr ich erst den Grund, der meine Mutter zu ihrer Anregung bestimmt hatte. »Dein schweriner Pompadourkostüm hast du nur das eine Mal angehabt,« sagte sie, sichtlich befriedigt, »wir sparen nun, Gott Lob, jede Neuanschaffung.«

»Mein Pompadourkostüm!« Ich erschrak und rief heftig: »Lieber verbrenn' ichs!«

»Du bist wohl nicht ganz bei Trost!« antwortete Mama ärgerlich. Meine Blässe erst machte sie aufmerksam. »Ach – darum!« sagte sie gedehnt, »solch eine Sentimentalität hätte ich dir nicht zugetraut.« Ich schwieg.

Bei der ersten Tanzprobe jedoch brachte ich im stillen mit Hessensteins Hilfe die Jugend auf meine Seite. Die Herren erklärten, daß die Hofkostüme ihnen zu kostspielig seien, die jungen Mädchen, daß sie die langen Schleppen nicht leiden könnten. Es war eine förmliche Revolte. Syburg allein war auf Seite der älteren Mitwirkenden und der Mütter. »Ich kenne die Gründe Ihrer Frau Mutter,« sagte er mir leise, »und ich begreife nicht, wie eine so kluge junge Dame wie Sie an diesem kindischen Tumult teilnehmen kann.« Ich ärgerte mich über die Bevormundung und mehr noch über das gute Einvernehmen zwischen Syburg und meiner Mutter, aber die Heftigkeit meines Widerstands war gebrochen; wir wurden überstimmt.

Und der Abend kam, wo das alte Kleid vor mir lag. Ein leiser Duft von Jasmin stieg aus den Falten, und seine Bänder und Schleifen, seine grünen Blätter und roten Rosen sahen mich an, wie lauter lebendig gewordene Erinnerungen. In leisen Melodien raschelte die Seide: »O la marquise Pompadour – Elle connaît l'amour –«. Durch das Mieder, das sich eng um meinen Körper schmiegte, spürte ich den Arm, der mich einst so zärtlich an sich gezogen hatte.

»Hellmut!« stöhnte ich leise und brach in Tränen aus. Der Felsen, den ich vor die Grabkammer meines Innern gewälzt hatte, war zersprengt; und wo ich nur Totes wähnte, stürzte wild wie ein Gießbach das Leben hervor.

»Du weinst?!« Mein Vater stand vor mir. »Es ist nichts – Papachen – nichts!« versuchte ich ihn zu beruhigen und trocknete hastig Augen und Wangen. Er lächelte liebevoll: »Sei nur ganz ruhig, mein Alixchen – alles – alles wird gut werden!« Und als ich, meiner selbst nicht mächtig, noch einmal krampfhaft aufschluchzte, zog er mir die Hände vom Gesicht und sagte leise: »Syburg war längst bei mir und hat – als ein ehrenwerter Mann durch und durch – zuerst deine Eltern gefragt, ob er um dich werben dürfe . . .« Ich fuhr auf und starrte ihm entsetzt ins Gesicht. »Das darf dich nicht kränken, mein Kind, – du solltest selbstverständlich nichts davon wissen – die Freiheit der Entschließung sollte dir allein vorbehalten bleiben – –« Er schloß mich gerührt in die Arme, – er war überzeugt, mich ganz getröstet zu haben – der gute Vater!

Er führte mich zum Wagen hinunter – meine Schleppe raschelte über die breiten Stufen – draußen, rechts und links, standen die Menschen, um mich anzustaunen; – hatte ich diesen Augenblick nicht schon einmal erlebt? Damals – im weißen Kleide wars gewesen, als ich zur Kirche fuhr, um ein Gelübde abzulegen, von dem mein Herz nichts wußte!

Auf der Treppe des Hotels ergriff mich ein Schwindel. Hessenstein sprang zu und stützte mich. In demselben Augenblick war Syburg neben mir. »Ihre Dame erwartet Sie,« sagte er scharf und kühl zu meinem Begleiter, und gehorsam legte ich meine Hand in seinen dargebotenen Arm.

Und dann tanzten wir. War ich ein Automat, daß meine Füße sich im Takt bewegten, während meine Seele weit, weit fort war – oder war ich die kleine Seejungfrau, die ihre Menschwerdung bei jedem Schritt, den sie tat, mit schneidenden Schmerzen bezahlen mußte?! – Wie fest schlossen sich heute die Finger meines Tänzers um meine Hand – wie Teufelskrallen, die mich nicht mehr los lassen wollten –; und so sengend heiß wehte sein Atem mir in den Nacken! Ängstlich vermied ich es, ihn anzusehen, ich sah ihn niemals gern, wenn er tanzte, wie auf Draht gezogen bewegte er sich, – ach, und heute – heute tanzte spukhaft eine andere Gestalt neben mir –

Die Musik intonierte die letzte Tour. Ich mußte ihn ansehen, über die Schulter hinweg, fächerschlagend, mit einem koketten Lächeln. Und da traf mich sein Auge, und blieb auf dem tiefen Ausschnitt meines Kleides haften – mit schwüler, begehrlicher Lüsternheit –

Noch eine Verbeugung, und wiegenden Schrittes, sich an den Fingerspitzen haltend, verließen die Paare den Saal. Meine Kraft war zu Ende. Ich bat Syburg, meine Mutter zu rufen, da ich mich leidend fühlte und nach Haus fahren müßte. Ohne Rücksicht auf all die erstaunten Blicke, die mich trafen, nahm ich den Mantel um und stand schon auf der Treppe, als meine Eltern mich einholten. Angekleidet, wie ich war, warf ich mich zu Hause aufs Bett. Mama fühlte mir den Puls und schickte nach dem Arzt. »Die übliche Frühlingskrankheit junger Damen,« sagte er, »schicken Sie ihr Fräulein Tochter aufs Land.« Mit einem Gefühl der Befreiung ergriff ich den guten Rat und stellte mich kränker, als ich war, nur um ihm folgen zu dürfen.

Es war Ende April damals. Die kleine Fürstin Limburg fiel mir ein, die mich wiederholt nach Hohenlimburg eingeladen hatte. Sie war ein reizendes Frauchen, das jedoch seiner nicht ganz ebenbürtigen Herkunft wegen von der Gesellschaft Münsters schlecht behandelt worden war. Zuerst aus bloßem Widerspruchsgeist, dann aus Sympathie hatte ich mich ihrer eifrig angenommen und mir ihre Freundschaft erworben. »Kommen Sie sofort, freue mich riesig« war ihre telegraphische Antwort auf meine Anfrage, ob mein Besuch ihr recht wäre.

 

Der Frühling des Jahres 89 schien allen Dichterphantasien gerecht werden zu wollen. In reinem Blau spannte sich der Himmel Tag um Tag über die Erde, und es sproßte und blühte überall; keinen kahlen Winkel duldete der Lenz in seiner verschwenderischen Laune. Am ersten Mai fuhr ich über die Haar hinunter ins Lennetal; leuchtend wie flüssiges Silber, schlängelte sich der Fluß zwischen den Bergen, die ihn links und rechts, von grüngoldigem Glanz übergossen, in weichen Linien begrenzten. So weit das Auge blickte: Wald und Berg, und hoch oben die Burg mit Türmen und Zinnen, wie ein starker, trutzig gewappneter Schützer dieses stillen Friedens. Aber je näher ich kam, desto mehr verschob sich das Bild: breit und massig dehnte sich die Stadt unten am Ufer aus, als hätte sie sich mit Ellbogen und Fäusten Platz geschaffen; und verletzt von der Roheit des Eindringlings, der mit seinen schwarzen Fabrikschloten zu ihr hinauf drohte, zog sich die Burg hinter ihren dunklen Bäumen zurück.

Anna Limburg empfing mich am Bahnhof. Und ihr helles Lachen und Schwatzen begleitete unsere ganze Fahrt hinauf, so daß ich Muße hatte, die Augen wandern zu lassen. Die Stadt verschwand wieder in der Tiefe; je höher wir kamen, desto mehr wuchsen die Berge empor: dort der Kegel des Raffenbergs, der Weißenstein mit seinen zackigen Spitzen, das Felsentor der Hünenpforte, und fern am Horizont die blauen Höhen der Ruhr. O, wer doch immer hoch oben bleiben könnte, wohin kein Lärm und kein Ruß zu dringen vermag!

Durch den langen gewölbten Torweg ratterte der Wagen in den Burghof, den hohe Mauern, Türme und Wehrgänge umschlossen. »Ists nicht schön hier?« lächelte Anna. »Aber mit meinem Fritz würd' ich auch in einer Rumpelkammer glücklich sein,« fügte sie rasch hinzu und flog ihrem Mann um den Hals, der eben auf uns zu trat.

Stille Tage folgten. Von der Galerie der Schloßmauer träumte ich stundenlang ins Land hinaus; auf der Terrasse unter den hohen, knospenden Linden saß ich, wo vier alte Geschütze an die Zeit erinnerten, da die Grafen von Limburg noch selbständig Kriege führen und Münzen prägen konnten; und zu Fuß, zu Wagen und zu Pferde besuchten wir die Gegend ringsum. Noch gab es hier weltabgeschiedene Täler, mit lindenumgrünten Bauernhöfen, und steile Höhen, mit Burgen gekrönt, von den Sprossen alter Geschlechter bewohnt; fast überall aber dröhnten die Eisenhämmer, kreischten die Sägen und klapperten die Mühlen; und wer die Geister der Vergangenheit suchen wollte, der mochte sie wohl nur noch tief in den Felsenhöhlen der Berge finden. Viele Stätten erinnerten durch Namen und Sage an die Götter der Alten, an Wodan und Donar, an die Kämpfe der Römer gegen das mächtige Volk der Sachsen, an Wittekinds vergebliches Ringen mit dem gewaltigen Karl und seine Unterwerfung unter Kreuz und Krone, – aber schon lauerte das gefräßige Ungeheuer, die neue Zeit, um sie alle zu verschlingen. Sieghaft stieg der Fabrikschornstein empor, wo der Burgturm langsam zusammenstürzte. Ich floh seinen Anblick und wäre so gern auf den ausgebreiteten schillernden Flügeln der Phantasie vor mir selbst entflohen ins sonnendurchglühte Märchenreich, aber die Wirklichkeit fing mich immer wieder mit ihren grauen, dichten Spinnenfäden.

Mein Vater schrieb mir fast täglich, und selten nur blieb Syburgs Name unerwähnt in seinen Briefen. »Ich sah ihn auf dem letzten Rennen in Hamm,« hieß es zuletzt, »er frug voll aufrichtiger Teilnahme nach Deinem Befinden und freute sich Deines Wohlergehens. Er hofft Dich in Brake bei Bodenbergs zu sehen; Limburgs werden des alten Herrn siebenzigjährigen Geburtstag doch sicher mitfeiern helfen.«

Daß er sich so gewaltsam in mein Leben hineindrängte und die Erwägungen der Vernunft, die Gefühle der Kindespflicht, die Sehnsucht nach Inhalt und Zweck des Daseins seine Wünsche unterstützten! Jene geheimnisvolle Gewalt des Instinkts, die mich in Münster von seiner Seite gerissen hatte, schien mich auch jetzt unter ihren Willen zwingen zu wollen. »Geh ihm aus dem Wege –« flüsterte sie mir zu. Aber von jeher hielt ich sie für meinen bösen Engel, mit dem ich glaubte ringen zu müssen. Zu tief hatte sich mir der Mutter einziges Erziehungsprinzip eingeprägt, das Selbstbeherrschung mit Selbstentäußerung gleich setzte.

So saß ich denn am nächsten Morgen zur Abfahrt gerüstet am Frühstückstisch – »ohne Mailaune,« wie Anna neckend bemerkte, – als der Diener die Post brachte: »Revolution im Kohlenrevier« stand in fetten Lettern an der Spitze des Kreisblatts, und mein Vater schrieb: »In Gelsenkirchen haben sich ein paar dumme Bengels mausig zumacht, und die Kohlenfritzen flehen nun mit schlotternden Knien um militärischen Schutz. Obwohl etwas Angst und eine kleine Tracht Prügel den Protzen, die die armen Leute zum Besten ihres Geldsacks in die Gruben schicken, ganz gesund wäre, mußte ich heute schon eine Kompagnie Dreizehner nach Gelsenkirchen schicken, denen die Kürassiere morgen folgen werden. Ich finde solche Aktionen eines Soldaten unwürdig . . .«

»Zu dumm!« rief Anna ärgerlich. »Nun ists mit der ganzen Stimmung vorbei. Statt lustig zu sein, werden uns die Herren mit Politik anöden!«

»Am besten wärs, wir blieben zu Hause,« meinte ihr Mann. Davon aber wollte sie nichts wissen. Sie weinte fast vor Erregung.

»Angsthase, der du bist! Wenns in Münster brennt, wirst du in Limburg noch nach der Feuerspritze laufen!« Der Fürst lachte und streichelte der kleinen Frau begütigend die Wangen.

»Sei ruhig, Kindchen – natürlich fahren wir! Brake ist, Gottlob, weit vom Schuß, und im dortmunder Kreis scheint alles ruhig zu sein.«

Aber je mehr wir uns auf der Fahrt aus den grünen Bergtälern entfernten, und je zahlreicher die zum Himmel starrenden Essen wurden, desto stärker sprach ihr Anblick für ungewöhnliche Vorgänge: das Leben, das ihnen sonst in grauen Wölkchen, in schwarzen Schwaden, in tollem Funkensprühen vielgestaltig entquoll, war erloschen. Ungehindert strahlte die Maiensonne vom wolkenlosen Himmel; wie ein Feiertag wars.

Im grauen Herrenhaus zu Brake, das, von einem Wassergraben umgeben, mit seinen dicken Mauern und kleinen Fenstern düster ins weite ebene Land hinaussah, wurden wir freudig empfangen. Viele hatten im letzten Augenblick abtelegraphiert, vor allem fehlte es an jungen Herren für die tanzlustigen Mädchen, sie waren entweder mit ihrer Truppe im Streikgebiet um Gelsenkirchen oder mußten in ihren Garnisonen aller Befehle gewärtig sein. Nur Syburg trat mir entgegen – mit einem so freudigen Aufleuchten in den sonst so unbeweglichen Zügen, daß es mir unwillkürlich warm ums Herz ward – und Hessenstein, der mit seiner Schwadron in Dortmund in Quartier lag und herübergeritten war. »Am liebsten hätte ich alle meine Kerls mitgenommen,« sagte er. »Man schämt sich förmlich seines Säbelrasselns inmitten völliger Kirchenruhe.«

»Wenn Sie nur nicht doch noch recht blutige Arbeit bekommen!« meinte Syburg. »Eine Rotte Betrunkener, – und das Unglück ist geschehen.«

Anna sollte Recht behalten: trotz der blumengeschmückten Tafel, der feurigen Weine und der launigen Toaste auf den Hausherrn und das Geburtstagskind wollte die echte Feststimmung nicht aufkommen. Alles war voll von den Ereignissen, und jeder wußte andere Details zu erzählen. Der Ortspfarrer war eben von Castrop zurückgekehrt. Er hatte die Streikenden der Zechen Erin und Schwerin gesehen und gesprochen. »Ihr Verhalten ist ein so würdiges,« sagte er, »daß die Aufregung der Zechenbeamten dem gegenüber einen peinlichen Eindruck macht.«

»Dasselbe habe ich eben vom Oberpräsidenten gehört, den ich in Witten traf,« meinte Graf Recke. »Er kam aus Gelsenkirchen wo er mit den Arbeitern der Hibernia verhandelt hat. Ihre Forderungen halten sich zunächst in durchaus diskutabeln Grenzen, und wenn die Presse wegen der Achtstundenschicht Zetermordio schreit, so weiß sie eben nicht, was uns alten Westfalen von Jugend an bekannt ist: daß nach unseren Bergordnungen vom 17. Jahrhundert an die Schicht schlechthin achtstündig war und erst das gesegnete 19. Jahrhundert, wie mit so vielen guten alten Bestimmungen, auch damit aufräumte. Die Knappschaften verlangen nichts anderes als das Recht ihrer Väter.«

Baron Bodenberg bestätigte Reckes Behauptung.

»Und mit ihren übrigen Wünschen steht es im Grunde nicht anders,« fügte er hinzu, »in meiner Jugend hatten die Grubenbesitzer den Knappen gegenüber keine freie Hand. Über Annahme und Entlassung der Arbeiter, Feststellung der Löhne, Regelung des Betriebs usw. usw. stand die Entscheidung damals ausschließlich der königlichen Bergbehörde zu. Jetzt, im Zeitalter der famosen freien Konkurrenz kann jeder Jude, der sich eine Grube kauft, aber nie in seinem Leben selbst die Nase hineinsteckt, machen, was er will. Opponieren ihm mal die alten Leute, so holt er sich polnisches Gesindel und ruiniert uns durch das hergelaufene Volk den guten Stamm und seine gute Gesinnung. Ich sprach erst gestern einen Hauer von der Zeche Schleswig, der hier vom Gutshofe stammt, ein Spielkamerad meiner Söhne war und ein Knappe vom guten alten Schlage ist. ›Wir wollen gar nicht randalieren‹ meinte der, ›und hauen unseren grünen Jungens selbst eine runter, wenn sie spektakeln. Auch um den Lohn ists uns nicht so sehr zu tun, nur kürzere Schicht müssen wir haben und anständige Behandlung.‹ Und solche Leute werden wie Aufrührer mit Pulver und Blei bedroht!«

»Ich glaube, die Herren sehen die Dinge zu sehr durch die Brille der Tradition,« mischte sich Fürst Limburg ins Gespräch. »Alte Bestimmungen und altes Recht entsprechen doch kaum mehr der ganz veränderten Betriebsweise. Und das wissen die einsichtsvolleren unter den Knappen sicher ganz genau. Mir scheint daher, daß die eigentliche Triebkraft der ganzen Bewegung nicht in der Sehnsucht nach der ›guten alten Zeit‹ zu suchen ist.«

»Und worin sonst, wenn ich fragen darf?« warf der alte Bodenberg, der so sehr das Orakel der Gegend war, daß er Widerspruch selten erfuhr, gereizt ein.

»In demselben Gegensatz, der auch die Sozialdemokratie groß zieht: dem zwischen den ungeheueren Reichtümern auf der Seite der Unternehmer und der Besitzlosigkeit, um nicht zu sagen der Armut, auf der Seite der Arbeiter –«

»Armut! Darin sieht man wieder Ihre jugendliche Neigung zu starken Worten!« polterte Bodenberg; »als ob unsere Bergleute von Armut auch nur 'ne Ahnung hätten! Haben alle ihr Häuschen, ihren Gemüsegarten und mästen sich ein Schwein –«

»Und doch, Herr Baron, haben wir unten im Dorf manche Ehefrau, die schon mitverdienen muß, und die Kinder schicken sie gewiß auch nicht aus Vergnügen so früh als möglich – mit gefälschten Geburtsscheinen, wenns nicht anders geht – in die Grube,« ließ sich der Pfarrer vernehmen.

»Von der verdammten Genußsucht kommt das, und von nichts anderem!« unterbrach ihn der alte Baron, »zu meiner Zeit gingen die Knappenfrauen noch in Kopftüchern und Schürzen in die Kirche – heute muß jede einen Federhut tragen und die Röcke auf dem Tanzboden schwenken –«

»Wenn die Leute sehen, daß die Herren Direktoren mit vierzig- und fünfzigtausend Mark Gehalt auf Gummirädern fahren und Sektgelage geben und die Aktionäre schmunzelnd enorme Dividenden schlucken, so ists doch kein Wunder, daß sies ihnen auf der einen Seite nachmachen möchten und auf der anderen vor Neid immer rabiater werden. Die ganze Bewegung ist dadurch entstanden – ich komme damit auf meinen Ausgangspunkt zurück –, daß die glänzende Konjunktur der letzten Jahre ausschließlich den Besitzern und Aktionären, nicht aber den Bergleuten zugute kam. Hier hakt notwendigerweise die sozialdemokratische Agitation ein.«

»Sie sehen, was das betrifft, sicher zu schwarz, lieber Limburg,« sagte Graf Recke, »jedenfalls, soweit unser hörder Kreis in Frage kommt. Unsere frommen, königstreuen Bergleute – und Sozialdemokraten! Selbst ihre Versammlungen schließen sie mit einem Hoch auf den Kaiser!«

Hessenstein räusperte sich vernehmlich: »Und doch haben mir heute morgen ein paar Kameraden von den Dreizehnern erzählt, daß die Direktoren der Zeche Schleswig gleichfalls um militärischen Schutz gebeten haben. Man fürchte Ausschreitungen gegen Streikbrecher, hieß es.«

Bodenberg lachte, daß ihm die Tränen in den weißen Bart liefen: »Das ist wirklich kostbar! – Die Furcht ist schon die ansteckendste Krankheit! – Viel eher möcht' ich glauben, daß unsere Dorfschönen sich auf diese ungewöhnliche Weise für den morgigen Feiertag die Tänzer bestellten, die ihnen wahrscheinlich ebenso fehlen wie uns!«

Schweigsam hatte Syburg bis dahin zugehört. Sein kühler, hochmütig-wissender Ausdruck – der typische des altpreußischen Beamten – reizte mich.

»Ihre landrätliche Würde verbietet Ihnen wohl, sich auszusprechen?« wandte ich mich spottend an ihn, und als er, unangenehm überrascht, aufsah, fügte ich rasch hinzu: »Oder sollten Sie ketzerische Gedanken zu verbergen haben?«

»Ketzerische Gedanken?!« – er warf mir einen tadelnden Blick zu – »vielleicht! Aber andere, als Sie anzunehmen scheinen! So milde, wie die Herren hier, vermag ich die Dinge nicht zu beurteilen. Nach meiner Ansicht hat eine gewissenlose sozialdemokratische Agitation die gut bezahlten Bergarbeiter zum Kontraktbruch verführt, und es ist unsere Pflicht, sie, wenn es sein muß, mit Gewalt auf den Weg des Rechts zurückzuführen. Wortbruch und Pflichtvergessenheit sind überall der Anfang vom Ende.«

»Ganz Ihrer Meinung, Herr von Syburg!« antwortete ich, während mir das Blut heiß in die Schläfen stieg. »Es kommt nur darauf an, auf welcher Seite Wortbruch und Pflichtvergessenheit zu finden ist! Wenn die Grubenbesitzer, die in der glücklichen Lage sind, eine Havanna rauchend vor dem Tischlein-deck-dich zu sitzen, den Arbeitern nicht so viel geben, daß sie anständig leben können, so ist das Pflichtvergessenheit; und wenn sie, die zu allen Vergnügungen der Welt Zeit haben, ihnen das althergebrachte Recht auf eine geregelte Arbeitszeit vorenthalten, so ist das Wortbruch!«

Syburg preßte die Lippen zusammen, – er zwang sich offenbar zu einer ruhigen Antwort.

»Sie sprechen aus der Gefühlsperspektive der Frau. Das ist verzeihlich. Sie kennen, Gott sei Dank, diese aufrührerische, mit sozialdemokratischen Phrasen vollgefütterte Bande nicht, die jetzt auf den Gruben und in den Fabriken das große Wort führt und an allem rüttelt, was uns heilig ist.«

Wie eine Vision sah ich plötzlich all die Gestalten des Elends wieder, die mir im Leben begegnet waren: aus den Vorstädten Posens und Augsburgs, aus den Dörfern des Samlands.

»Sie mögen recht haben,« sagte ich nachdenklich, »die kenn' ich nicht – aber andere kenn' ich. Und das Eine weiß ich gewiß –« meine Stimme zitterte vor Erregung – »wäre ich eine von denen, meine Geduld wäre erschöpft, und ich würde mich um Treue und Pflicht nicht kümmern.«

Syburgs blasses Gesicht hatte sich mit tiefer Röte überzogen; doch die Herrin des Hauses hob die Tafel auf, und er unterdrückte noch rasch eine scharfe Antwort, die ihm offenbar auf den Lippen schwebte. Während des ganzen warmen Frühlingsabends, der uns alle in den Park hinauslockte, mied er mich. Nur beim Abschied hielt er meine Hand fest in der seinen und flüsterte: »Ich möchte, daß wir uns versöhnen – ganz und auf immer –, darf ich darauf hoffen, wenn ich nach Hohenlimburg komme?« Ich nickte nur.

Wir blieben über Nacht in Brake, um den bequemen Frühzug benutzen zu können. Aber als wir am nächsten Morgen herunterkamen, trat uns der alte Bodenberg mit ernstem Gesicht entgegen. »In Witten und Annen hat das Militär scharf geschossen,« sagte er, »in Dortmund soll die Haltung der Arbeiter eine drohende sein – nach Hörde sind, wie mein Verwalter eben berichtet, die Kürassiere unterwegs. Wenn auch die Stimmung der Leute in unserer nächsten Nachbarschaft vollkommen friedlich ist, so möchte ich Sie doch bitten, diesen Tag noch abzuwarten – oder wenigstens Ihre Damen hier zu lassen –« So sehr wir uns sträubten – Anna, weil die Gesellschaft des alten Ehepaars sie langweilte, ich, weil mir nichts erwünschter gewesen wäre, als den Aufstand der Arbeiter in der Nähe zu sehen, – wir mußten uns fügen.

Ich lief in den Park, – vielleicht, daß sich von hier aus irgend etwas erspähen ließ. Das Abenteuerfieber der Jugend packte mich, dasselbe Fieber, durch das Schulbuben auf Auswandererschiffe getrieben und schwärmerische Byron-Seelen in phantastische Freiheitskämpfe gerissen werden, das Fieber, das überall ausbricht, wo ein Gluthauch plötzlich die Normaltemperatur des Alltags vertreibt. Hohe Mauern wehrten mir den Ausblick. Sollten sie mich immer wieder von der lebendigen Welt da draußen trennen?

Ich trat auf den Gutshof. Feiertägige Stille herrschte auch hier. Aber drüben, wo zwei mächtige Linden am Ausgang zur Straße Wache standen, sah ich einen Haufen lebhaft gestikulierender Menschen. Ein grauer Kopf mit der Bergmannsmütze auf den kurzgeschorenen Haaren ragte aus ihrer Mitte hervor. »Ich, ich bin dabei gewesen!« hörte ich ihn schreien, als ich näher hinzutrat, – »ein Wunder, daß ich mit heilen Gliedern davon kam! Sie haben geschossen, wie verrückt.«

»So erzählt doch. Mann, erzählt!« – »Wo – wo ists denn gewesen?« bestürmten ihn die Umstehenden. »In Bochum – gestern abend. Ein blutjunger Leutnant kommandierte Feuer – grad, als die Menschen aus dem Bahnhof strömten. Wie die Hunde die Hammelherde, so umschlossen die Soldaten die Leute – lauter harmloses Volk – kaum einer von uns darunter, – und dann lag der Platz voller Toten –«

Irgend woher klang eine Kirchenglocke. Der Bergmann schwieg, riß die Mütze vom Kopf und schlug mit der harten rissigen Hand das Kreuz über Stirn und Brust. Erst jetzt sah ich ihn genauer. Der Kohlenstaub schien sich in die Falten unter den Augen eingebrannt zu haben, so daß sie aussahen wie die großen runden Augenhöhlen der Totenschädel. Farblos fahl waren die Züge; eine breite, gelbe Narbe, die das Gesicht in zwei Hälften teilte, entstellte sie zur Fratze. Er wandte sich zum Gehen, und die Menge drängte ihm nach. Die gerade schwarze Straße, mit den kahlen Pappeln zu jeder Seite und dem schweren Grau trübdunstigen Frühlingshimmels ringsum, verschlang sie rasch. Drohend wie ein Galgen ragten in der Ferne die Glockenstühle in die Luft, und die Sonnenstrahlen scheuten sich vor der Berührung dieser Öde . . .

Langsam, schweren Herzens, wandte ich mich wieder dem Schlosse zu. Die Hausbewohner waren zur Sonntagsandacht in der Halle versammelt. Auf hohem Stuhl saß der Hausherr und las aus der alten Bibel: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid . . .«

Und die Vertreter christlicher Ordnung schossen auf die Mühseligen und Beladenen! dachte ich bitter.

»Es läßt mir keine Ruhe,« sagte der alte Bodenberg, nachdem der letzte Ton auf dem Harmonium verklungen war und die Dienerschaft sich entfernt hatte. »Kommen Sie, Limburg, wir gehen ein Stück Weges zur Zeche hinunter –«

Entsetzt schrie Anna auf: »Das darfst du mir nicht antun, Fritz!« Aber begütigend legte die alte Baronin ihre feine Greisenhand auf den Arm der Erregten: »Fürchten Sie nichts, kleine Frau, – die Leute hier krümmen unseren Männern kein Härchen.« Wir blieben trotzdem in kaum zu bemeisternder Unruhe zurück. Wir horchten auf jeden Ton, während einer den anderen durch eine möglichst harmlos-heitere Unterhaltung über die Erregung hinwegzutäuschen suchte, und sprangen gleichzeitig erleichtert auf, als nach einer Stunde Bodenbergs kräftige Stimme vom Hof herauf durch das Fenster klang.

»Hab' ichs euch nicht gesagt?« lachte er uns entgegen. »Sie freuen sich drunten ihres Feiertags, wie nur je. Die Kinder spielen auf den Straßen, die Frauen stehen im Sonntagsputz vor den Türen und schwatzen mit den Nachbarn.«

»Und doch heißt es, daß Soldaten kommen,« unterbrach ihn Limburg mit einem Ausdruck schwerer Besorgnis in den Zügen.

»Mögen sie doch! Gegen die Kinder, die jetzt schon in der Vorfreude hurraschreiend ihre Fähnchen schwingen, werden sie kaum zu Felde ziehen. Sahen Sie nicht den krummbeinigen Schlingel, dem seine Gefährtin, ein süßes Mädelchen mit Haaren wie rote Flammen, den Platz an der Spitze der kleinen Gesellschaft streitig machte? Gefährliche Aufrührer sind das, nicht wahr?!«

»Gewiß sah ich sie – aber ich sah auch die Gesichter der Männer hinter den Fenstern der Kneipe . . .«

Ein Geräusch – wie ein fernes Prasseln von Hagelkörnern auf Glasscheiben – unterbrach das Gespräch. Bodenberg wurde aschfahl – »Gewehrsalven« – murmelte Limburg. Wir standen, wie an den Boden gebannt, – in atemloser Erwartung. Unten auf dem Hof liefen die Leute zusammen. »Sie schießen,« schrie einer. Wir stürzten hinunter bis ans Tor, keiner sprach mehr ein Wort, aber von einer Angst erfüllt starrten wir alle die lange, öde, schwarze Straße hinab. Die Zeit schien still zu stehen, Ewigkeiten dünkten uns die Minuten. Endlich erhob sich in der Ferne eine Wolke Staubs vom Boden: Menschen, die liefen, als wäre der Teufel ihnen auf den Fersen. Näher und näher kamen sie: Weiber mit wehenden Haaren und verzerrten Zügen – schreiende Kinder mit rot verquollenen Augen – ihre Sonntagskleider bedeckt mit dem schwarzen Ruß der Straße. »Sie morden uns –« stöhnte eine weißhaarige Alte, warf die hageren Arme verzweifelt um den Kopf und brach vor uns zusammen . . .

Tröstend und helfend gingen Brakes Bewohner von einem zu anderen, und endlich gelang es, aus dem wirren Durcheinander des allgemeinen Erzählens ein Bild dessen zu gewinnen, was geschehen war.

Der Ton der Pfeifen und Trommeln hatte alles auf die Dorfstraße gelockt. Den Großen voran waren die Kinder jubelnd den einziehenden Soldaten entgegengelaufen, als ein barsches »Platz da« ihres Führers, eines jungen Leutnants, die Freude in Furcht verwandelt hatte. Die Kinder hatten sich hinter den Großen verkrochen, die Männer eine drohende Haltung angenommen.

»Nur das rothaarige Lieserl stellte sich keck mitten auf die Straße,« sagte die Alte, die noch auf dem Boden hockte.

»Und den Franz sah ich, wie er einen Stecken aus unserem Zaun riß und damit wild herumfuchtelte,« berichtete zungenfertig eine andere. »›Platz da‹ – rief der Leutnant dann noch einmal, und die Soldaten trieben uns alle gegen die Häuser. Da drängte sich die Mutter vom Franz mit dem Kleinsten an der Brust durch die Reihen – der Junge ist ihr Ältester, ihren Mann brachten sie ihr voriges Jahr tot aus der Grube –; sie hatte ihn grade erwischt, als der Herr Offizier noch mal losschrie –«

»›Immer die Augen auf den Feind halten,‹ sagte er. Ich hab' es ganz genau gehört,« ergänzte ein blasses Ding mit fanatisch funkelnden Augen die Worte der Erzählerin.

»Den Feind, – damit meinte er uns!« riefen sie alle durcheinander und selbst auf den Wangen der Müdesten und Stillsten erschienen rote Flecken.

»Da wars aus mit der Ruhe bei den Knappen – sie drohten mit den Fäusten, sie schimpften, auch ein paar Steine flogen . . .« Die Erzählerin schluchzte auf.

»Dann schossen sie auf uns –« sagte mit tonloser Stimme die Alte. Und nun schwiegen sie alle – nur verhaltenes Weinen unterbrach die Stille.

Ich griff mir an den Kopf, – es war doch wohl nur ein böser Traum, der mich narrte?! Es brauste mir in den Ohren, das Entsetzen schnürte mir die Kehle zusammen.

»Dem Franz seine Mutter war die erste, die fiel –« wie aus weiter Ferne schlugen die Worte wieder an mein Ohr. »Ich sah sie dicht vor mir – die Haare ganz voll Blut, – das Jüngste an die Brust gepreßt – und den Stock noch in der Hand, den sie dem Franz entrissen hatte . . .«

War ich es, die qualvoll aufstöhnte – oder war es ein Ton, der sich uns allen entriß?!

». . . Ja, und die rote Liese lag auch mitten auf der Straße – sie guckte grade in den Himmel mit den toten Augen . . .«

»Das süße Mädelchen mit den Flammenhaaren . . .« flüsterte der alte Bodenberg mit erstickter Stimme.

 

Wir fuhren noch an demselben Tage auf einem großen Umweg zurück. Dicht hinter Unna wies der Fürst aus dem Fenster. »Wir passieren hier den historischen Boden der Zukunft,« sagte er, »dort drüben auf der Heide stand noch zu meines Vaters Lebzeiten jener uralte sagenumwobene Birkenbaum, und jenseits, von den Schlückinger Höhen, sahen die Bauern, wie die blutige Schlacht um ihn tobte.«

»Vielleicht ist sie heute schon keine Sage mehr,« antwortete ich.

Mit steigender Erregung verfolgte ich in den nächsten Tagen die Ereignisse. Noch mehr als durch die Zeitungen erfuhren wir durch Briefe und durch die Erzählungen der Augenzeugen.

Kaum eine Stimme war, die für die Zechendirektoren Partei ergriffen hätte, und die Empörung war allgemein, je häufiger sie den Bergleuten, die im Vertrauen auf ihre Versprechungen die Arbeit wieder aufgenommen hatten, ihr Wort brachen.

»Habt ihr endlich Hunger genug?!« Damit empfingen die Zechenbeamten von Gelsenkirchen die wieder einfahrenden Knappen, und in Hörde trieben sie kranke Weiber und Kinder aus den Zechenhäusern, wenn die Männer im Ausstand beharrten.

»Ich glaube, daß wir vor einer großen Umwälzung stehen,« schrieb ich an meine Kusine, »die Macht des Kapitals muß gebrochen werden. Vor hundert Jahren hat die Revolution den Absolutismus und den Feudalismus gestürzt, – sie waren dessen wert! –, eine künftige Revolution wird den Kapitalismus vernichten, und wir werden das wunderbare Schauspiel erleben, daß der Adel und die Arbeiter zusammen gehen.«

Die Deputation der Bergleute zum Kaiser schien mir der Auftakt des großen Schauspiels, das ich erwartete. Und die ersten Nachrichten von ihrem Empfang, von der Anerkennung ihrer Wünsche durch den Monarchen bestätigten meine Hoffnungen. Dann aber sickerten allerlei andere Gerüchte durch: die drei Deputierten waren keineswegs befriedigt zurückgekommen; kaum zehn Minuten hatte er Zeit gehabt, sie anzuhören, mit einer Drohung gegen alle, die sich den Anordnungen der Behörden widersetzen würden, hatte er seine Antwort geschlossen. Und was folgte, schien die Wahrheit der Gerüchte zu bestätigen: das ganze Streikkomitee wurde verhaftet, der Oberpräsident, der stets zu vermitteln gesucht hatte, mußte einem Nachfolger weichen, dem der Ruf eines Scharfmachers voran ging. »Studt ist ein glatter Höfling,« schrieb mir mein Vater, »der mir neulich mit dem verbindlichsten Lächeln erklärte, daß meine offenbare Verkennung so trefflicher Leute, wie der Grubenmagnaten, höheren Orts unliebsam empfunden würde. Mich solls nicht wundern, wenn wir in Preußen noch mal so weit kommen, vor jedem Geldsack auf dem Bauche zu rutschen.«

Unter den Enttäuschungen litt ich, als beträfen sie mich selbst. Mit der Märtyrergloriole hatte ich das Haupt der erschossenen Bergmannsfrau und das rote Köpfchen des Proletarierkindes umwoben und den gräßlichen Eindruck in der eigenen Erinnerung verklärt; nun waren sie umsonst gestorben, und nichts als der schwarze Straßenruß umgab sie.

Ich war in wehmütig weicher Stimmung, als Syburg kam. Am Morgen desselben Tages hatte mir Anna mit einem selig-verschämten Lächeln von ihrer Mutterhoffnung erzählt, hatte mich in das weiße Zimmer geführt, das den jungen Erdenbürger erwartete, und all die weichen, duftigen Dinge aus Spitzen und Battist waren mir durch die Finger geglitten. Meine Hände waren heiß geworden dabei, und die Tränen waren mir in die Augen gestiegen. Und die kleine Anna hatte sich emporgereckt, um mich mit einem altklug wissenden Ausdruck auf den Mund zu küssen.

Nun ließ sie all die Kupplerkünste spielen, in denen junge, glückliche Frauen Meisterinnen sind. Sie pries neckend meine Schönheit und meine Tugenden, erzählte allerlei Abenteuerliches von meinen vielen Verehrern und ließ uns schließlich, Müdigkeit vorschützend, im Park allein. Syburg schien nur darauf gewartet zu haben.

»Ich möchte Klarheit haben zwischen uns, volle Klarheit, Fräulein Alix,« begann er, zum erstenmal vertraulich meinen Namen nennend. Ich fuhr unwillkürlich erschrocken zusammen. Aber die Frage, die er stellte, war nicht die erwartete – gefürchtete. »Man hat mir erzählt, Sie hätten sich neulich nach dem Aufstand auf der Zeche Schleswig mit größter Schärfe für die Streikenden ausgesprochen.«

Ich bezwang meinen Zorn über diese Art, mich auf Herz und Nieren zu prüfen.

»Und wenn ich es getan hätte,« sagte ich rasch und abwehrend, »ist es nicht eine der ersten Forderungen Ihres Christentums, den Unschuldigen beizustehen? – Gebietet es nicht Ihre Religion, sich opfermütig zwischen die Kinder und ihre Mörder zu werfen?«

»Mein Christentum?! Meine Religion?!« Er sah mich groß an. »Sie haben sich falsch ausgedrückt, wie ich hoffe! Unser Glaube ist der gleiche – nicht wahr, Fräulein Alix?«

»Sie spielen ein männliches Gretchen, Herr von Syburg!« fuhr ich auf, »mit welchem Recht behandeln Sie mich wie ihr Beichtkind?!«

»Mit dem Recht des Mannes, der das Jawort ihrer Eltern erhielt!« Er griff nach meiner Hand, die ich ihm heftig entriß.

»So erfahren Sie denn, daß ich dies Recht nicht anerkenne! Niemand hat über mich zu verfügen – niemand – als ich, ich ganz allein. Und ich – ich werfe Ihnen ihr Jawort vor die Füße!«

Ich wandte ihm den Rücken, schritt ruhig durch die Lindenallee, über den Burghof, die Treppen hinauf in mein Zimmer – warf die Tür ins Schloß, riegelte zu – reckte die Arme weit aus: nun war ich frei!

Anna ließ ich vergebens klopfen – fragen – bitten. Ich wäre außerstande gewesen, irgend jemandem Rede und Antwort zu stehen. Ich mußte allein sein.

Noch stand ich mit einem Gefühl des Schreckens vor dem Abgrund, der zwischen mir und meiner Welt auseinanderklaffte. Unter den Speerwürfen blendenden Sonnenlichts war der Nebel zerrissen, den ich, mich selbst belügend, so lange für eine Brücke gehalten hatte. Ich stand auf fremdem Boden, – zurecht finden mußt ich mich, meine Gedanken sammeln, über meine Zukunft entscheiden.

Am nächsten Morgen, in aller Frühe schrieb ich an meine Eltern und trug den Brief selbst zur Stadt hinunter. Schneidend pfiff der Wind über die Höhen, als ich abwärts schritt. In grauen Wolken verschwanden die Türme der Burg, und aus der Tiefe grüßten mich sieghaft die schwarzen Schlote.

 


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