Lily Braun
Lebenssucher
Lily Braun

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Vom Suchen nach der neuen Religion.

Eine feuerrote Scheibe, glühte die Sonne durch silbergraue Nebelschleier. In der Ferne grollte der Donner.

»Wer einmal wieder in sich selbst Donner und Blitz erleben könnte!« murmelte Konrad vor sich hin. Er lag auf dem Rasen über den Nymphenburger Terrassen und sah den kunstvoll gebändigten Wasserspielen zu. Leonie saß neben ihm, lange grüne Grashalme durch die Zähne ziehend.

»Armes Mädel!« sagte er dann laut, nachdem er sie eine Weile betrachtet hatte, »du hast dir unsere Vergnügungsreise auch anders vorgestellt! – Willst du heim? Oder willst du irgendwo vor dem internationalen Gesindel, das in dieser Stadt zusammenströmt, deine Künste produzieren und eine bessere Gesellschaft finden, als ich es bin? – So rede doch endlich! – Weiß Gott, ich nehm's dir nicht übel, wenn es dir längst schon leid tut, bei mir die barmherzige Schwester zu spielen! Könnte ich's, ich liefe mir selbst davon.«

In ihrem Gesicht kämpfte es; sie kniff die Augen krampfhaft zu, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen.

»Du möchtest mich nur los sein, was?« entgegnete sie, ihren Kummer mit grober Rede verkleidend, »um dann ungestört, wie gestern, im Morgengrauen an den greulichen schmutzigen Fluß zu schleichen, wo sie die Selbstmörder fischen. – Puh!«

Zwei dicke Tränen, denen sie nicht mehr wehren konnte, rollten über ihre Wangen.

»Aber Leonie!« rief er und griff nach ihrer Hand, die er leise streichelte; »wer wird denn weinen! Um so einen wie mich noch dazu, der all deine Aufopferung gar nicht verdient.«

Jetzt lachte sie, ein helles, klingendes Lachen, so daß ein paar Soldaten, die vorübergingen, lustig einstimmten. »Du hast recht, vollkommen recht. Verdienen tust's nicht, daß ich in Sack und Asche neben dir herlaufe und deine Schritte bewache wie eine zimperliche Großmama das Enkelchen. Jung, gesund, reich und so'n Jammerlappen! –« Er wollte antworten, aber sie hielt ihm, noch immer lachend, den Mund zu. »Nun hör' schon zu Ende, du weißt, wenn ich mal im Schwatzen bin, dauert es seine Zeit. Also: gerad' weil du's nicht verdienst, freut's mich so, dir was sein zu können!«

»Bist eine gute Seele, Leonie,« meinte er mit einem Anflug aufrichtiger Rührung in der Stimme.

»Hat sich was: gut!« sagte sie ärgerlich. »Gute Menschen sind immer gräßlich; sie protzen mit ihrem Gutsein, indem sie durch ihre Leidensmiene zeigen, wie schwer es ihnen fällt. Nein: ich bin nicht gut, gar nicht! Mal nützlich zu sein – freiwillig – kein Possenreißer oder Vergnügungsobjekt gegen bare Bezahlung – ein Hochgenuß ist's für unsereinen! Wie ich in Stellung war, – ja, guck mich nur an: keine fünf Jahr ist's her, da wohnte ich noch in herrschaftlichen Dienstbotenlöchern und putzte die Stiefel vom Herrn und ließ mich von der Gnädigen kujonieren, – hielt ich's nur aus, wenn ein paar kleine Würmer da waren, denen ich hinter dem Rücken der grämlichen Mademoiselle etwas zustecken konnte, oder ein verliebter Backfisch, dem ich die Liebesbriefe besorgte. Dafür bezahlte mich keiner, das erinnerte mich daran, daß ich nebenbei auch noch ein Mensch geblieben war.«

In diesem Augenblick flog ein Ball, von ein paar rotbäckigen Buben geschleudert, in Leoniens Schoß; verlegen, mit verlangenden Augen blieben sie vor ihr stehen. Neckend deutete sie an, ihn konfiszieren zu wollen, als einer von ihnen sich auf sie stürzte, um ihn ihr zu entreißen. Sie sprang empor, ein regelrechtes Ringen entstand, das schließlich zu wildem Spiele wurde; sie entwickelte dabei ausgelassene, ursprüngliche Heiterkeit und konnte sich schließlich der zudringlichen kleinen Bande nicht anders erwehren, als indem sie sich atemlos dicht neben Konrad ins Gras warf, bei ihm Schutz suchend.

»Eigentlich bist du ein Stiesel, daß du nicht mitspielst,« meinte sie.

»Und du ein rechtes Kind,« sagte er.

»Weil ich nie eins habe sein können, wahrscheinlich,« entgegnete sie mit plötzlich verfinsterten Zügen. Er sah sie teilnahmsvoll an. »Ach so!« fuhr sie, die Lippen spöttisch schürzend, fort, »du denkst, weil ich so schon beim Beichten war, kann's nun weiter gehen. Aber lassen wir's lieber. Es gibt Mädchen, die in Schauergeschichten schwelgen. Ich nicht.«

Sie erhob sich, ein paarmal tief Atem holend: »Es war scheußlich – einfach scheußlich!«

»Und jetzt ist es besser?« frug er, sich gleichfalls erhebend.

»Besser?« wiederholte sie. »Dumme Frage! Man merkt's: der Herr Baron ist niemals Dienstbote gewesen. Ich wundere mich, daß es überhaupt noch welche gibt! Wegen dem bißchen sogenannter Anständigkeit, meinst du wohl?! Wobei man verhutzelt und verkommt und sich in den Bettelmantel des Tugendstolzes als des einzigen Lohns für eine zerquälte Jugend hüllen kann!«

Er hörte ihr zu, ohne daß sein Interesse ein allzu lebhaftes gewesen wäre. Seine Gedanken waren, seit seiner fluchtartigen Abreise von Berlin wie ein versprengter Bienenschwarm, der, seiner Königin beraubt, zweck- und ziellos, hin und her summt.

Es klang daher kühl und abwesend, wenn er, das Gespräch fortsetzend, sagte: »Aber vielleicht tauschest du, um die Schrecknisse der Vergangenheit los zu werden, Schrecknisse der Zukunft ein?«

Sie betrachtete ihn sekundenlang prüfend von der Seite, während ein leichter Schatten sich über ihre Züge legte. Dann zog sie seinen Arm durch den ihren und erwiderte, kräftig ausschreitend:

»Kuponschneidende Philister meinen, daß armen Proleten, die jahrzehntelang in unentwegter Tugendhaftigkeit Invalidenmarken kleben, das trockene Brot, für das sie sie bestenfalls einmal eintauschen, wie Himmelsmanna schmecken wird. Ich versichere dich aber, daß, wer schon mit dem Glauben an die ewige Seligkeit aufgeräumt hat, sich mit solch irdischer Zukunftshoffnung sicher nicht beruhigen läßt. Für uns gibt's nur eins: den Luxus der Zukunftspläne und Sorgen euch zu überlassen. Seitdem ich bei dir bin, kommt er mir nicht einmal beneidenswert vor. Du spielst nie mit, wenn's gerade lustig ist, wie vorhin –«

»Und beneide dich hinterher,« meinte er trübsinnig.

Sie gingen unter alten rauschenden Buchen, an einem Bach entlang, der ganz leise floß, als fürchte er sich, den Abendfrieden zu stören.

Mit dem sinkenden Tag mehrten sich die Wandernden; ärmliche Leute meist, die, als wäre es ein Geschenk von heute, mit fröhlichen Gesichtern von dem alten verträumten Garten Besitz ergriffen. Leonie lächelte wie sie.

»Die Zukunft der Armen ist immer nur der nächste Tag,« sagte sie unvermittelt. Ihr elastischer Gang – als führe er einer großen Freude entgegen –, ihr erhobener Kopf betonten noch die strahlende Zuversicht, mit der sie sprach. Seine Hand ruhte plötzlich fester auf ihrem Arm, während ein Gefühl der Beschämung ihn beschlich. Wie hatte sie doch vorhin gesagt: »Jung, gesund, reich und so ein Jammerlappen.« An seinem Ohr war es vorbeigeklungen. Jetzt, nachträglich, traf es ihn.

»Was ist denn dein nächster Tag?« frug er.

»Dir helfen, fröhlich zu werden,« antwortete sie, ohne eine Spur von Sentimentalität.

Ihm wurde warm ums Herz, und die Empfindung, daß wieder ein Stück seiner Seelenzwangsjacke von ihm fiel, ließ seinen Schritt sich federnd dem ihren anpassen.

Durch alte Laubengänge kamen sie jetzt über breite, in üppiger Raumverschwendung, als gelte es, cäsarischen Prunkaufzügen Platz zu schaffen, sich dehnende Terrassen. Liebespaare, in jener naiven Lebensfreude aneinandergeschmiegt, die nichts von Schamlosigkeit an sich hat, kamen vorüber. Aus üppigem Buschwerk, das die Schere des Gärtners längst nicht mehr zu starren Formen bändigte, lugten lächelnd Dianen und Amoretten auf ein Volk, das von ihnen nichts mehr wußte; und stille, von grauem Sandstein gefaßte Wasserflächen, in denen sich einst gepuderte Köpfchen eitel spiegelten, warfen neckend die bunten Kattunröckchen kleiner Vorstadtmädchen zurück.

Der Himmel war jetzt wolkenlos; von einem matten Blau, das fern am Horizont, wo der Park sich in die Felder verlor, in zartes Rosa überging. Nichts Grelles, nichts Schreiendes war in diesem Bilde, selbst unten der kleine See mit den feierlich und lautlos schwimmenden Schwänen hatte nichts Leuchtendes, nur einen Ton wie von altem Silber, und das kleine, zart geschwungene Rokokoschlößchen mit den geschlossenen Fenstern, hinter denen verborgene Geheimnisse träumen mußten, lugte wie der verirrte Geist alter Zeiten zwischen den Stämmen hervor: halb ängstlich, weil die Welt so anders war wie einst, halb glücklich, weil er heimgefunden hatte. Und hinter ihm drängte sich's in üppigem Blättergerank, und über ihm wölbten die Äste sich zärtlich schirmend zum Dach.

Und nun bog der Weg wieder ins Helle, und vom freien Platze aus überflog das Auge noch einmal die grüne Pracht vom saftigen Rasen über die Hecken bis zu den hohen Bäumen hinüber. Grün! War die Sprache so arm, daß sie für die vielfachen Farben des Frühlings nur ein einziges kleines Wort besaß? Silberne und goldene, schwarze, blaue und rote Töne strahlten von den Buchen und Eichen, den Tannen, Eschen und Ahornen, – es war wie ein Konzert in Farben, wie eine Mozartsche Melodie.

Konrad schwieg, erfüllt von jener Schönheit, die zwar alle unbewußt empfinden, die aber nur wenigen zu schauen vergönnt ist, wie etwa die Vornehmheit eines Menschen allen wohltut, die sich ihm nähern, aber nur einzelne, nur gleiche sie zu erkennen vermögen. Leonie sah ihn von der Seite an, verwundert, fast furchtsam. Sie fühlte immer, wenn er weit fort war von ihr, und lernte rasch, daß jedes Wort aus ihrem Munde ihn dann verletzte.

Er bemerkte, wie sie zögernd hinter ihm zurückblieb, wie sie bemüht war, sich völlig auszulöschen, nur um sein Fühlen und Schauen, dem sie nicht zu folgen vermochte, nicht zu stören. Arme Leonie! dachte er.

War sie nicht viel, viel ärmer als er? Waren es nicht dieselben, durch eine lange Ahnenreihe von Herren immer mehr verfeinerten Fühlfäden der Seele, die ihn zu einem überschwenglich Genießenden machten wie zu einem so tief zu Verletzenden?

Sie fuhren im Wagen zurück, denn er war ganz plötzlich sehr müde geworden. Leonie saß neben ihm; ihre Hände ruhten lässig, handschuhlos, auf ihrem Schoße. Sie waren groß und kräftig wie die antiker Göttinnen, dabei sehr weiß. Es frappierte ihn, daß sie – nackt waren. Er betrachtete die seinen: schlanke, nervöse Hände mit sehr langen spitzen Fingern, – Hände, die, wenn er blind gewesen wäre, Schönheit tastend hätten empfinden können, aber keine Hände zum Zupacken oder Waffenführen. Er seufzte verstohlen – selbst ein teilnehmender Blick seiner Nachbarin, der immer gleich von einem Helfenwollen sprach, wäre ihm verletzend gewesen. Aber nun verstand er auch, warum die Weiße ihrer starken Hand ihm fast schamlos erschien.

»Du hast schöne Hände, Leonie, aber sie sollten braun sein,« wollte er sagen, als sie plötzlich wie erschrocken aus ihrem langen Stummsein auffuhr.

»Herr Gott,« rief sie, »da fällt nur ja ein, daß ich eine alte Bekannte besuchen könnte! So ist das Wühlen in der Vergangenheit, zu dem deine Fragen und mehr noch deine Schweigsamkeit mich wider Willen veranlaßt haben, doch zu irgendwas gut gewesen!« Und sie suchte eifrig in einem Notizbuch, das sie in ihrem Täschchen bei sich trug, bis sie eine schmale Karte fand und ihm hinüberreichte.

»Frau Sabine Brandis,« las er, »wer ist das?«

»Das entzückendste Geschöpf, das du dir denken kannst,« antwortete sie enthusiastisch. »Sie gab in Berlin französische Stunden – um für das Universitätsstudium Geld zu verdienen, wie sie mir erzählte – und kam auch zu meiner Gnädigen. Das war, als meine heimliche Tanzerei im Lunaballhaus von dem jungen Herrn, einem ekelhaften Bengel, den ich auf seine Frechheiten hin mal gehörig heimgegeigt hatte, entdeckt worden war, und man mich einfach hinauswarf. Sie half mir damals. Zur Mutter traute ich mich nicht. Volle vier Wochen lang teilte sie ihre mageren Mahlzeiten mit mir und gab mir überdies alles, was ich an Bildung habe; – auch das bißchen Französisch, über das du dich immer mokierst.«

»Das ist aber doch Jahre her,« meinte Konrad, »kennst du denn ihre Adresse?«

»Damals wohnte sie –«, Leonie stockte und suchte wieder in ihrem Notizbuch. »Frühlingsstraße – ich hab's! Vielleicht weiß man dort noch was von ihr.«

Am selben Abend – sie war in ihrem Eifer nicht zurückzuhalten – begleitete er sie in den fernen Stadtteil.

»Frau Sabine Brandis,« sagte der dicke Grünkramhändler, der vor der Türe saß; »ei freilich, die wohnt hier, lange schon. Fünf Treppen hoch, links.«

Konrad ließ Leonie allein und versprach, sie in einem kleinen Biergarten an der Reichenbachbrücke zu erwarten. Schon brannten die Laternen matt im Dämmerlicht, als er sich an einen der Tische setzte, die in dem winzigen Gärtchen standen. Die übrigen Gäste – sein Tisch war der letzte freie gewesen – genossen lebhaft schwatzend den milden Abend; Handwerker, Arbeiter, kleine Beamte mochten es sein, nach den Gesprächsfragmenten zu urteilen, die er auffing. Von ihren persönlichen Freuden und Leiden sprachen sie, vom Streik der Bauarbeiter, von den internen Angelegenheiten des Stadtviertels, – der Zukunft von morgen, über die ihr Hoffen und Fürchten nicht hinausging.

Kirchturmpolitik dachte er, aber ohne jene spöttische Selbstüberhebung des gebildeten Europäers, die von der Höhe seines Standpunktes zeugen soll und dabei allzu oft nur seine Leere verrät.

Die Zeit verrann. Er sah nach der Uhr. Wo nur Leonie blieb? Sollte sie einen falschen Weg gegangen sein? Er fing an, sich zu sorgen; dabei sezierte er sein Gefühl; es hätte kein anderes sein können, wenn sie ein Kind oder ein Freund gewesen wäre. Die Laternen glänzten durch den grauen Abend, kühl und fremd. Feuchtwarme Luft stieg von der Isar empor, die ihre gelben Fluten langsam vorüberwälzte. Warum sitze ich eigentlich hier? dachte er; um auf ein Mädchen zu warten, das ich nicht liebe, um die Freunde in Berlin glauben zu machen, daß ich mich amüsiere und Renetta Veits Untreue mich gleichgültig läßt? Sie läßt mich ja auch wirklich gleichgültig, – mehr als das: leer – leer. Wie er den Bengel am Nebentisch beneidete, der leuchtenden Auges davon erzählte, daß der Kampf um Lohnerhöhung in seiner Fabrik von morgen ab seine Wocheneinnahme um eine ganze Mark erhöht habe, oder gar das zierliche Mädchen, die eben vorbeiging und ihrer Freundin die neue Bluse beschrieb, in der sie morgen – morgen! – den Geliebten entzücken würde.

»Auf Wiedersehen morgen!« hörte er eine Stimme voll weichen Wohlklangs neben sich. Und dieses »Morgen« durchleuchtete ihn plötzlich mit dem Glanz aufgehender Sonne: daß er leer war, bedeutete zugleich frei sein. Und offen für neue Fülle! Waren das nicht einmal Elsens Worte gewesen?

»Du bist nicht böse, ich seh's,« sagte Leonie, sich zu ihm beugend. »Auch nicht, daß ich von dir erzählte, nicht wahr? Sie erwartet uns beide – morgen.«

* * *

Man mußte steile fünf Treppen steigen, um zu Sabine Brandis zu kommen, und durch einen dunklen, engen Flur, an einer winzigen Puppenküche vorübergehen bis in das Zimmer, dessen ganze Außenwand ein breites Fenster war. Hielten sich drei Menschen darin auf wie zu jener Nachmittagsstunde, da Konrad und Leonie bei ihr waren, schien es voll zu sein, denn es standen viele gefüllte Bücherregale und mit Heften und Manuskripten beladene Tische umher.

»Manchmal sind wir unserer zwanzig und merken im Eifer des Gesprächs die Enge kaum,« sagte lächelnd die kleine zarte Frau, während sie ihren Gästen den Tee einschenkte und ein Plätzchen frei machte, um die Tassen hinzustellen. »Es ist schade, daß Sie nur zum Vergnügen hier sind,« fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu, »trotz allen schlechten Rufs, den man uns macht, läßt es sich für den, der arbeiten will, nirgends so gut leben wie hier. Von den Fremden und dem Jahrmarktstreiben, das veranstaltet wird, um die Hotels zu füllen, sind wir durch Wälle und Mauern geschieden. Das Leben nach außen zerfetzt uns hier nicht wie in Berlin, darum vermögen wir um so intensiver nach innen zu leben.«

Konrad fühlte die Verpflichtung, sich vor dem klugen durchdringenden Blick dieser Frau von dem Odium der bloßen Vergnügungsreise rein zu waschen.

»Sie taxieren uns doch zu gering,« sagte er, »ich kam ohne Vorsatz, also auch nicht mit dem des Vergnügens, eigentlich nur aus dem instinktiven Gefühl heraus, mit der Flucht aus der alten Umgebung mir selbst zu entfliehen; und Leonie gar begleitete mich unter Verzicht auf alles Amüsement als eine Art seelischer Krankenwärterin.«

Leonie wehrte scheinbar ärgerlich und doch vor Freude errötend das Lob Konrads ab: »Du willst immer oben hinaus, auch für andere. Als ob es nicht für ein Mädel wie mich, die nie aus Berlin heraus kam, Vergnügen genug wäre, überhaupt hier zu sein.«

»Sie hat recht, ganz recht,« meinte Sabine, ihr zunickend, »und ich würde es lieber hören. Sie, Herr von Hochseß, kämen aus ganz brutaler Vergnügungssucht hierher, die jedenfalls eine Lebensbejahung ist, als aus dieser lebenverneinenden Fluchtempfindung heraus. Die Welt ist doch so überreich an Schönheit, und – was weit herrlicher ist! – so überreich an unbeackertem, fruchtbarem Boden!«

»Zeigen Sie ihn mir!« rief er in jugendlich ungestümer Aufwallung, »und diese beiden Hände, die noch von keiner Arbeit zeugen, stell' ich in seinen Dienst.«

»Sind Sie denn blinden Auges durchs Leben gegangen?!« sagte sie erregt, »ist Ihnen seelisches und geistiges Leid, Sorge, Furcht und Verlassenheit nie begegnet?! Das der einzelnen, das der Lebensalter, der Geschlechter, der Klassen, der Rassen, der Völker, der Welt?!«

Er errötete dunkel. »Ich habe darüber nachgedacht,« entgegnete er zögernd, »mir schienen aber alle Theorien, auch die des Sozialismus, mit denen die große Not der Menschheit bekämpft werden soll, so unzulänglich, so zweifelhaft.« Seine Stirn färbte sich noch tiefer. Er fühlte, wie jämmerlich es klingen mußte, was er sagte. Es war eine Art Selbstverteidigung, wenn er noch fortfuhr: »Auch schien mir, daß man erst selber etwas sein, selbst eine geschlossene Einheit darstellen muß, ehe man sich erlauben darf, in das Leben und Leiden anderer einzugreifen.«

»Und weil Sie den Bettler nicht zum sorgenlosen Bankier machen können, versagten Sie ihm das Brot für – morgen!« meinte sie bitter, um dann rasch, mit einem fast abbittenden Lächeln hinzuzufügen: »Freilich haben Sie recht, daß man erst selbst etwas sein muß, denn nirgends ist sentimentaler Dilettantismus schädlicher als in der Lebens- und Weltreform –«

Es klingelte stürmisch. Sabine öffnete. »Kathi, du?« hörte man sie rufen. »Um Gottes willen, was ist? – komm, setz' dich!« Und sie führte eine totenblasse Frau hinein, der die Knie schwankten. »Rasch, ein Glas Tee!« Leonie sprang hilfreich herzu. Konrad wollte stillschweigend gehen. »Bleiben Sie nur!« Damit drückte ihn Sabinens kleine feste Hand auf den Stuhl zurück.

Die Eingetretene kümmerte sich um niemanden. »Ich habe Nachricht von Johannes – endlich! Endlich! Aus dem Spital ist er entlassen. Er möchte heim!« stieß sie mit der ersten Möglichkeit freien Atemholens heraus, während ihr die Tränen in Strömen über die eingefallenen Wangen liefen. Sabine streichelte und küßte die wild Erregte.

»Nun gilt es, ihn so rasch als möglich hier zu haben,« sagte sie dann nachdenklich.

»Aber wie – wie?!« schrie die Frau verzweifelt auf. »Er ist noch so schwach, daß er die Fahrt im Zwischendeck nicht aushalten würde! Ach, und ihr alle habt euch schon bisher fast das Hemd ausgezogen, um zu helfen!« Sie weinte herzbrechend.

»Wenn ich –« flüsterte Konrad leise Sabinen zu. Ihr Gesicht leuchtete. Sie wollte sprechen, doch mit bittender Gebärde legte er den Finger auf den Mund. Sie nickte.

»Sei still, Kathi, ganz still,« sagte sie dann, »wir haben keine Zeit zu weinen, wenn wir handeln müssen.«

Die Schluchzende sah mit geröteten Augen auf.

»Geh schnell und telegraphiere ihm« – sie suchte das nötige Geld in einem sehr mageren Beutelchen – »daß er warten soll, bis das Reisegeld da ist.«

Käthchen starrte die Sprechende entgeistert an: »Du – du,« kam es schließlich rauh aus ihrer Kehle, während sie Sabinens Hände an die Lippen zog.

»So mach' doch schnell!« sagte diese, sie ihr entziehend. »Haben wir uns noch je mit Danken aufgehalten? Gibt's etwas Selbstverständlicheres, etwas, das allen Dank mehr in sich schlösse, als helfen, wenn man kann?« Und sie schob sie fast gewaltsam zur Türe hinaus, sich Konrad rasch wieder zuwendend.

»Johannes Wolters ist von seinen Eltern aus dem Hause geworfen worden, weil er sich zur Sozialdemokratie bekannte,« sagte sie mit einem langen, fragenden Blick, »und mußte den Soldatenrock um seiner Überzeugung willen ausziehen.«

»Einer also,« ergänzte er ruhig, »einer der Reichen, Starken, der einer Idee lebt.« Sie reichte ihm die Hand zu festem Druck.

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie vorhin verkannte,« sagte sie mit einer so weichen Stimme, daß Konrad meinte, sie wie ein Streicheln auf der Wange zu fühlen. »Sie wissen ja schon, worauf es ankommt: Hingabe an eine Idee, oder« – und sekundenlang träumte sie mit großen Augen vor sich hin – »an einen Menschen! Auf das Uralt-Heilige, Mystische: ›Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen!‹«

Sie erledigten rasch das Geschäftliche seiner Hilfeleistung, während sie von Kathi erzählte, die ihr Elternhaus freiwillig verlassen hatte und seit zwei Jahren unter Entbehrungen grausamster Art arbeitete und darbte, keine Demütigung scheuend, unter keiner Enttäuschung zusammenbrechend, nur das eine Ziel im Auge, ihren Bruder zu unterstützen und seine Rückkehr zu ermöglichen.

»Ihres Bruders?!« unterbrach sie Konrad erstaunt. Sabine nickte lächelnd:

»Nicht ihres Geliebten! Johannes ist für sie die Personifizierung allen Heldentums.«

Als Konrad und Leonie von ihr gingen, sagte er zu ihr: »Freust du dich nicht, deine Ansicht über die Liebe, ›die dumme Liebe‹, einmal in dieser Weise bestätigt zu finden?«

Sie lächelte ironisch ein wenig: »Vielleicht, daß diese Kathi sie wirklich mit mir teilt –«

Dann unterbrach sie sich selbst, und Konrad frug nicht weiter. Als er ihr jedoch, im Hotel angekommen, »Gute Nacht« sagte, zögerte sie einen Augenblick an ihrer Schlafzimmertüre und sagte sehr langsam und mit gesenktem Blick: »Ich weiß auch gar nicht, ob das mit – mit der ›dummen Liebe‹ so ganz richtig gewesen ist.«

* * *

Sie besuchten Sabine Brandis immer häufiger. Konrad fühlte den belebenden Einfluß dieser stets prickelnden geistigen Champagneratmosphäre. Menschen der verschiedensten Art und Herkunft drängten sich in ihrem Vogelbauerzimmer: Männer, mit bewußter Betonung des Naturburschentums, und junge Elegants; Frauen, sentimental-phantastisch in fließende Gewänder gehüllt, und solche, die mit koketter Grazie die Mode von übermorgen trugen; junge Leute, allem Bestehenden gegenüber von einem wahren Vernichtungsfieber ergriffen; Grauhaarige daneben, deren suchende Seelen, endlich ermüdet im Schoße des Katholizismus Ruhe gefunden hatten, oder sich in den Mysterien orientalischer Kulte verloren; andere dazwischen, denen Hysterie und Neurasthenie aus den flackernden Blicken, aus den wechselnden Stimmungen sah.

Künstler und Studenten der verschiedensten Nationalitäten maßen ihre Temperamente und Ansichten aneinander. Alle Richtungen waren vertreten, nur die gewöhnlichen, nur die herrschenden nicht. Der Sozialismus wurde hier schon als eine bourgeoise Weltanschauung angesehen, die bestenfalls eine Etappe zum Anarchismus sein könne. Alle künstlerischen Ausdrucksformen, auch der nächsten Vergangenheit erschienen hier veraltet, und selbst in den wahnsinnigsten Versuchen, neue zu gestalten, wurde mit jener Sehnsucht, die sich bei dem einen als gesunde Hoffnung, bei dem anderen als der Durst des Fieberkranken äußerte, nach den ersten Zeichen der Zukunftsentwickelungen gesucht. Mit dem leidenschaftlichsten Hasse aber wurde alles verfolgt, was sich künstlerisch als Naturalismus, philosophisch als Materialismus kennzeichnen ließ. Man anerkannte eher die wildesten Farbenphantasien eines berühmten alten Meisters, man duldete eher die Verteidigung des unsinnigsten spiritistischen Gaukelspiels als etwa die der Ideen Haeckels.

»Daß ihr Deutschen, ihr Dichter und Denker, euch die wachsende Ausbreitung des Monismus gefallen laßt,« rief ein leidenschaftlicher Südfranzose, »ist ein Zeichen eures kulturellen Niedergangs.«

»Er beweist nichts als den Bankrott des Philisters,« schrie eine Stimme in den allgemeinen Tumult hinein, »der heute schon eine Karikatur der Vergangenheit ist, und den morgen die Guillotine unserer metaphysischen Weltanschauung beseitigen wird.«

»Das Zeitalter des Intellektualismus und der Technik ist zugleich das des Amerikanismus und der Anglomanie,« polterte ein älterer Mann mit langem Bart und kurzen Hosen. »So lange wir die Bande, die München verseucht und unsere Oberammergauer Bauern zu ihren Affen macht, nicht mit Feuer und Schwefel ausräuchern, werden wir auf die Epoche des Instinkts und der Phantasie, die naturgemäß auch das Ende des Kapitalismus bedeuten muß, vergebens warten.«

Und ein Italiener rief ekstatisch: »Wir Romanen werden es sein, die wieder, während Deutsche und Amerikaner eine Fabrik um die andere bauen und durch die schwarzen Rauchschwaden ihrer Schornsteine den Himmel verdunkeln, lichte Tempel errichten, in denen Fromme vor lodernden Opferfeuern beten.«

»Zu welchen Göttern?« frug Konrad sehr ernst. Alles schwieg. Zu feierlich hatte seine Frage geklungen, als daß man mit irgendeiner inhaltslosen Phrase zu antworten vermocht hätte. Schließlich klang ein Name leise, wie mit tastendem Versuch gewagt, in die Stille und wurde da und dort lauter und freudiger wiederholt.

»Wie weit er wohl sein mag?« sagte der eine.

»Er zeigt sich nie mehr,« meinte ein anderer. Man drängte sich schließlich dichter, mit fragenden Mienen um Sabine, die mit ihrem weichsten Lächeln um sich sah.

»Jörun Egil,« sagte sie, und der Name formte sich auf ihren Lippen wie zu einer unsichtbar geheimnisvollen Kostbarkeit, »ist versenkt in sein Werk. Ich sehe ihn selten und finde ihn immer nur leuchtender vor innerer Klarheit.«

»Er spricht nicht davon?« ließ sich eine zweifelnde Stimme vernehmen; ein Dutzend Augen durchbohrten fast den Sprecher, als habe er sich an einem Heiligtum vergangen.

»Er spricht mit niemand davon,« entgegnete Sabine, »seit jenem Novembertag vor einem Jahr, wo er mitten unter uns zusammenbrach.« Ein einziger tiefer Seufzer schien gleichmäßig jede Brust zitternd zu heben.

»›Habt Geduld mit mir – Geduld –‹ Ich höre sein Schreien noch heute,« murmelte jemand dicht neben Konrad.

»Und nun ist's unsere Geduld, die ihn aufrecht hält,« rief eine junge, helle, freudige Stimme ganz laut.

»Wer möchte zweifeln?« ergänzte eine andere in tiefem, schwerem Mollton. Die früher durcheinander schreienden Stimmen schienen in ihm zu erlöschen.

»Wer ist's?« frug Konrad leise, während er sich scheu in den Flur zurückzog.

Kathi, die neben ihm stand, sah ihn verwundert an und sagte dann mit kaum hörbarerer Stimme: »Jörun Egil, – der die neue Religion verkünden und die Erlösung bringen wird –«

Es war ganz still im Zimmer. Nur die Kastanienzweige pochten in rhythmischem Takt an das Fenster.

Der blecherne Klang der Klingel, neue, lärmende Gäste durchbrachen erst den Bann; man wurde wieder laut wie vorher, nur auf dem Antlitz Sabinens blieb der stille Glanz, den der Name entzündet hatte.

Man sprach und stritt so heftig, daß der unbeteiligte Zuhörer den Übergang zu Tätlichkeiten jeden Augenblick hätte erwarten müssen. Und doch waren es nichts als geistige Dinge, um die der Kampf sich drehte. Alle Fragen platzten hier aufeinander wie Feuerwerkskörper, die sich gegenseitig entzündeten. Man führte keine geistreichelnden Gespräche über die Dinge, sondern stand mit persönlicher Anteilnahme mitten in ihnen. Nicht durch schwächere Gründe, sondern durch mattere Verteidigung schien eine Idee der anderen zu unterliegen. Die Ideale des Weltbürgertums, des ewigen Friedens, gestern noch revolutionär für die Masse, verblaßten gegenüber dem Feuer rein nationaler Ideale, dem Kraftbewußtsein, das sich in der Furchtlosigkeit vor dem kommenden Kriege, dem nicht zu vermeidenden, aussprach; die Ideale der Gleichstellung der Geschlechter, obwohl noch längst nicht verwirklicht, wurden wie nicht mehr zu erörternde Realitäten angesehen, aber von einer geradezu brutal leidenschaftlichen Betonung ihrer Verschiedenartigkeit übertrumpft. Frauen mit dem Doktordiplom ereiferten sich weit weniger darüber, ob sie plädieren und predigen, dozieren oder wählen würden, als darüber, ob ihre Weibheit verkümmern oder zur höchsten Entwicklung zu gelangen vermöchte. Ehe oder freie Liebe war unter diesen Menschen nicht mehr die Fragestellung, sondern die Entwicklung der Rasse unter den Bedingungen neuer Erkenntnisse und Willensrichtungen. Aber wie ein brausender Wasserfall, dessen Wellen sich gegenseitig zu überstürzen, zu verschlingen scheinen, schließlich im Tal zu Ruhe und Gleichmaß kommt, so liefen alle Gespräche immer wieder in dem einen geheimnisvoll dunklen Born mystischen Hoffens zusammen.

Fast ganz schweigsam, meinte Konrad mit allen Poren zu hören. Zuweilen war ihm wie einem, der im Hochgebirge, von Wolkenmauern dicht umgeben, gestiegen und immer gestiegen ist und plötzlich durch sie hindurch in die leuchtende Ferne sieht.

Aber die Nebel zogen sich wieder zusammen. Er fühlte eine verborgene innere Einheit in all dem Vielfachen der Ideen, – doch sie war namenlos. Er empfand eine verschleierte Zielgleichheit für all diese Hingabe, – aber niemand kannte sie. Wie all seine Sehnsucht nach dem Leben erwachte, nach dem Leben, das sich nicht mehr in bloßem Erleben – und wenn es das geistigste gewesen wäre! – erschöpfen ließ, sondern, wie die Natur selber, ein immer neues Schaffen von Leben sein mußte!

Sollte auch er nur ein »Armer« sein, der sich mit der Hoffnung auf morgen, mit der Zukunft des nächsten Tages begnügen mußte?

An Händen und Füßen würde er gefesselt bleiben, unfähig zu irgendeinem Werk, wenn er nicht die innere Einheit zu finden vermöchte, durch die selbst die kleinste Tat, der leiseste Gedanke zu notwendigen Gliedern in der Kette des Ganzen werden mußten.

»Jörun Egil –.« Er lächelte skeptisch und doch mit einem ganz, ganz leisen, seinem Bewußtsein noch fernen Schimmer von Hoffnung. Es konnte doch in einer Zeit, die, erschüttert von unaufhörlichem, geheimem Beben, auch durch die stärkste Feste drohende Risse zog, Einer kommen, der aus Trümmern und Spalten mit einem göttlichen »Es werde!« das neue Leben erweckte.

In Träumerei versunken, vergaß er minutenlang die kleine Welt um sich her.

Sabine Brandis drückte eben die kleine, weiße Strohkappe auf ihre braunen, eigensinnig geringelten Locken.

»Laßt euch nicht stören, liebe Freunde,« sagte sie, »in zwei Stunden bin ich zurück.« Dann rief sie Kathi und zeigte ihr ein paar Büchsen über dem Herd: »Hier gibt's noch Tee und Zucker und Kakes. Sorge einstweilen für die Gäste. Wenn du früher gehst,« fügte sie leiser hinzu, »nimm meine schwarze Jacke aus dem Schrank. Mit dem Fähnchen kannst du bei dem Wetter nicht über die Straße.«

Lachend verstellten ihr ein paar Mädchen die Flurtüre. »Wohin willst du so spät?« rief sie.

»Ihr wißt doch: die Stunde bei der Lenz,« entgegnete sie, sich Platz schaffend.

»So spät: eine Stunde?« staunte Konrad, aus der Versunkenheit jäh erwachend.

»Sie ist Modell und hat nur abends Zeit!« rief Sabine und lief schon die Treppe hinunter.

»Modell – ich verstand wohl falsch,« sagte er mit einem fragenden Blick.

»Doch – doch!« entgegnete lebhaft einer der Gäste. »Resi Lenz ist der neuste Typ ihrer Gattung: sie hat den Bildungshunger, seitdem sie physisch satt ist. Sie muß doch mitreden können, wenn ihre verschiedenen Liebhaber mit ihr dinieren, und bereitet sich jetzt, vor der Festspielzeit, selbstverständlich auf irgendeinen Nabob vor, mit dem sie mindestens französisch schwatzen will.«

»Und zu solchem ›Bildungsunterricht‹ muß Frau Brandis sich hergeben?« meinte er entrüstet.

Mit geröteter Stirn und blitzenden Augen wandte Kathi den Kopf nach ihm: »Sie muß – gewiß! Wie wir alle müssen. Aber nicht wegen des bißchen Lebens! Keiner von uns möchte wie die Bourgeois reich werden wollen, um reich zu sein. Nur dann ist die Arbeit wundervoll, alle Arbeit, selbst die schmutzigste, wenn sie einer Sache dienstbar gemacht werden kann.«

»Die Eitelkeit einer Kokotte ist doch wohl kaum eine ›Sache‹ in Ihrem Sinn,« antwortete Konrad gereizt.

»Wohl aber Jörun Egils Existenz!« sagte einer. Und wieder folgte dem Namen Kirchenstille.

Ehe Sabine zurückkam, wußte er um ihre Hingabe: sie erwarb den Lebensunterhalt jenes Mannes, auf den sie alle ihre Hoffnung setzten. Vielleicht war sie auch seine Geliebte. Niemand wußte es. Und jetzt, wo der Sommer vor der Türe stand, arbeitete sie mit doppelter Anspannung ihrer Kräfte. Jörun Egil war leidend. Wer ihn zuletzt gesehen hatte, sprach vom Fieberglanz seiner Augen, vom Zittern seiner Hände, von der durchsichtigen Weiße seiner Haut. Einen langen Aufenthalt in freier Luft, unter weitem Himmel, mit dem Blick auf irgendeinen blauen Wasserspiegel wollte Sabine ihm schaffen.

Warum sie nicht immer mit ihm lebte, frug Konrad.

»Er braucht Einsamkeit für sein Werk,« lautete die Antwort; »tagelang verschließt er sich vor jedem Menschen. Und er schien völlig wunschlos bis jetzt, wo ihn die Sehnsucht nach Bergen und Seen plötzlich erfaßte.«

Mit ehrfürchtigem Neigen küßte Konrad Sabinen an diesem Abend abschiednehmend die Hand. Sie erriet den Beweggrund seines Gefühls.

»Nicht doch,« wehrte sie ab. »Sind wir nicht übereingekommen: Hingabe ist das größte Glück, ist der eigentliche Inhalt des Lebens; Hingabe an eine Idee oder an einen Menschen. Bei mir ist es beides. Also ein doppeltes Glück.«

Als er die halbdunkle hohe Treppe hinunterschritt, sah er Kathi zwischen zwei Männern vor sich hergehen. Sie schüttelte gerade die Hand des einen von ihrem Arm.

»Laß das,« zischte sie, »die Dummheiten haben ein Ende –«

»Nachdem du mir die letzten Groschen aus der Tasche locktest, um den Bruder zu füttern,« entgegnete eine grollende Stimme.

»Eine Ehre für dein schmutziges Geld,« sagte das Mädchen, den Kopf in den Nacken werfend.

»Doch jetzt ist er krank –« flüsterte ihr anderer Begleiter mit einem zärtlichen Blick und klimperte dabei in der Tasche mit den Münzen.

»Ich brauch' euch nicht mehr – keinen von euch!« rief sie wild.

Und mit großen Sätzen sprang sie die letzten Stufen hinab.

Leonie sah zu Konrad auf mit einem ganz verwirrten Blick: »Sie opferte sich – ganz und gar – für ihren Bruder!« sagte sie.

Konrad schwieg. Das Herz zog sich ihm zusammen.

* * *

Trotz aller Bitten, ihn besuchen zu dürfen, die Sabine zu unterstützen versprach, blieb Egil für Konrad unsichtbar.

»Er ist leidender denn je,« sagte sie eines Tages bekümmert.

Sie selbst wurde immer schattenhafter. Leonie hatte sie's gestanden, als sie ihr einmal begegnet war, wie sie sich mühsam in der Junihitze durch die Straßen schleppte – selbst den Groschen für die Straßenbahn sparend –, daß ihre Kräfte bei einer oft zwölf- und mehrstündigen Arbeit zu erlahmen drohten. Da entschloß sich Konrad, ihr den Plan vorzulegen, den er seit jenem Abend mit sich herumtrug.

»Ich möchte fort,« begann er, »die Luft der Stadt lastet mir auf dem Kopf. Auch Leonie, die alle Farbe verlor, bedarf der Erholung. Nun hat mir ein Agent ein Haus zur Miete angeboten – am Walchensee, nicht weit von Urfeld.«

»Oh!« machte sie überrascht, »dort soll es herrlich sein!«

»Würden Sie und Ihr kranker Freund uns begleiten wollen? Das Haus ist geräumig. Wir würden einander nicht stören.« Ihr Schweigen steigerte seine Verlegenheit. Hatte er doch ihren Stolz verletzt?

Endlich hob sie die Lider von den feucht gewordenen Augen. »Ich danke Ihnen – danke Ihnen von ganzem Herzen!«

Er lachte hell auf: »Wissen Sie nicht, wie dumm das Danken ist? Besonders hier, wo ich nichts gebe, nichts als dieses gemeine abgegriffene Tauschmittel für die großen Werte, die ich empfangen will, – am Ende sogar für das Leben selbst: die Idee für meine Hingabe?«

»Sie geben Kraft, Gesundheit, Zukunft vielleicht für eine neue Welt!« entgegnete sie erschüttert.

Leonie, die er erst jetzt mit der bevorstehenden Übersiedelung bekannt machte, musterte ihn lange mit einem finster forschenden Blick, ehe sie eine einsilbige Antwort fand. Er hatte sich in letzter Zeit so wenig mit ihr beschäftigt, daß er erst jetzt ihren merkwürdig veränderten Ausdruck bemerkte. Es fiel ihm schwer aufs Herz, daß er ihren Wünschen so gar nicht Rechnung getragen hatte.

»Verzeih, Leonie,« sagte er schuldbewußt, »daß ich dich und deine Bedürfnisse so wenig bedachte! Du langweilst dich, armes Kind! Aber sei ruhig: du sollst entschädigt werden. Unser Häuschen bietet die Möglichkeit zahlloser Ausflüge. Wir werden wandern und reiten und fahren, du wirst sehen, wie schön die Welt ist. Und wir wollen froh miteinander sein.«

»Wir – wir?!« unterbrach sie ihn, durch Tränen lachend, und legte beide Arme zärtlich um seinen Hals, »die Zukunft von morgen – da hab' ich sie wieder!«

Von da an konnte sie, den ganzen Tag trällernd und lachend, die Zeit der Abreise kaum mehr erwarten.

Konrad ärgerte sich über die oberflächliche Vergnügungssucht, die bei ihr wieder zum Vorschein kam, und über sich selbst, daß er sich ärgerte. »Ich hatte wirklich vergessen, ganz vergessen, aus welchem Milieu sie ist,« dachte er, – »ein Dienstmädchen! Nur ein Dienstmädchen!«

* * *

Am Ostufer des Walchensees, da wo die Fahrstraße sich bei dem Dörflein Sachenbach ins Land hinein der Jachenau zuwendet, strecken zwei Halbinseln sich in das grüne Wasser, sie umfassen es wie die offenen Haken einer Zange, und schwarz und still, als traure es über seine Gefangenschaft, liegt es zwischen ihnen, selbst wenn draußen die Sonne über dem weiten Seespiegel glitzert, oder der Sturm seine Wogen peitscht. Gelbe Mummeln blühen in diesem Winkel, und im Schilf schluchzen leise die kleinen gekräuselten Wellchen. Ein winziges, einsames Haus steht auf der südlichen der beiden Halbinseln; irgendeiner, der die Menschen floh, baute es vor Jahrzehnten unter die dunklen Tannen, die ihre Äste hoch emporrecken und tief zur Erde senken, so daß kein Sonnenstrahl hindurchdringt. Es ist fast immer verschlossen; die kühle Luft, die aus seinen Räumen dringt, wenn Fenster und Türen sich öffnen, verscheuchte noch jeden. An der südlichen Front hüten zwei zerbrochene Sandsteinengel die ausgetretene Steintreppe, die zur breiten Terrasse emporführt; Kletterrosen haben ihnen Kränze aufs Haar gedrückt und verdecken barmherzig die abgeschlagenen Hände, die gestutzten Flügel. Hier stehen seit Tagen schon Fenster und Türen weit offen, und durstig trinken die vom langen Schlaf erwachenden Räume Luft und Licht, denn weit, weit dehnt sich die schimmernde Fläche des Wassers und die blaue Kuppel des Himmels vor ihnen, bis fern am Horizont grüne Matten, dunkelumwaldete Höhen und die weißen Riesenhäupter der Berge sie begrenzen.

An der Nordfront des Hauses aber wird es nicht wärmer; da starren sonnenlose Zimmer auf die schwarze Bucht, und das Efeugerank, das sie umschattet, kriecht mit dicken Ästen wie lebendiges Gewürm weiter über den Boden bis hinüber zu der seltsam geduckten Kapelle, an deren zerbröckelndem Fundament das Wasser anschlägt, grausam, regelmäßig, tiefe Furchen hineinfressend. Der Efeu umklammert den kleinen Turm mit starken Stämmen; er hält ihn aufrecht und gibt ihm mit seinem stets sich erneuernden Frühlingsgrün fast ein junges Gesicht. Von der morschen Kanzel darin predigt niemand mehr; niemand betet mehr vor dem kahlen Altar; die Kapelle ist baufällig. Nur der Efeu bewahrt sie vor dem Zusammensturz.

Unter den Heckenrosen, die von den Engeln empor sich rankten und über der Terrasse zu rotleuchtendem Dache sich wölbten, erwarteten Konrad und Leonie ihre Gäste. Droben, im hellsten Zimmer des Hauses, aus dessen Fenstern der Blick über den See hinweg bis zu den weißen Firnen schweifen konnte und die Lichter vom jenseitigen Ufer die Scheiben blitzend trafen, sollte der Leidende wohnen; daneben, mit der Aussicht in den Tannenwald und über die dahinter ansteigenden Wiesen, Sabine.

Die Räder des Landauers, der sie bringen sollte, knarrten über den Kiesweg. Seltsam, daß er geschlossen war, trotz des leuchtenden Tages! Er hielt. Sabine sprang leichtfüßig zu Boden, hastig mit dem Tüchlein über die heiße Stirn fahrend.

»Es war ein wenig warm im Wagen,« sagte sie mit einem begrüßenden Händeschütteln; dann wandte sie sich um, Jörun Egil beim Aussteigen helfend. Seine Hand, die sich ihr zuerst, eine Stütze suchend, entgegenstreckte, war sehr mager: jede einzelne Ader trat in scharfen blauen Strängen auf ihr hervor. Als er unten stand – eine schmalschultrige, gebeugte Gestalt –, hob er diese Hand hastig über die Augen.

»Es blendet so,« ließ sich eine glockentiefe Stimme vernehmen, deren Klang niemand von der eingefallenen Brust erwartet hätte.

Erst unter dem Rosendach enthüllte er sein Gesicht. Fast würde Leonie aufgeschrien haben, wenn Konrad nicht rechtzeitig ihren Arm umklammert hätte. Es war von grünlicher Blässe; die fast weißen Lippen darin zitterten, um die dunklen Augen, von schweren Lidern fast ganz beschattet, zogen sich tiefe schwarze Ringe. Ein paar dünne blonde Haarsträhnen klebten an der feuchten Stirn.

Konrad fühlte, daß dieser leichenfahle Mann in das helle, freudige Zimmer nicht passen würde. So ließ er ihn selbst das ihm behaglichste wählen. Erst ganz zuletzt fand er es: einen Raum im Parterre, den Konrad unbewohnt hatte lassen wollen, denn die Wände erschienen ihm feucht, um das einzige schmale Fenster zog sich dichter dunkler Efeu, und der Blick, nach beiden Seiten durch dunkle Tannen beengt, sah nichts vor sich als die Bucht.

Egil, durch dessen Körper ein Zittern ging – er mochte sich beim Treppensteigen vielleicht überanstrengt haben, dachte Konrad –, sank in den Sessel am Fenster.

»Wie schön das ist, – wie froh ich bin!« sagte er, zu Konrad aufschauend. Welche Augen! Sie straften die Wärme der Worte Lügen. Wer vermochte zu enträtseln, ob sie von kalter Müdigkeit oder von grausamer Härte waren. Er schien den Eindruck, den sie erweckten, zu kennen, denn er senkte rasch die Lider über sie. »Gib mir meine Schatulle, Sabine,« flüsterte er dann, »und laßt mich allein.«

Sie gehorchten stumm.

»Die Reise hat ihn sehr mitgenommen,« sagte Sabine erschüttert; »auch die plötzliche Helle nach der Dunkelheit seines teppichverhangenen Zimmers.« Nicht einmal Konrad vermochte ein höfliches Wort der Erwiderung hervorzubringen.

Kaum eine Stunde später klang die Stimme des unheimlichen Gastes voll und klar bis zu der Rosenterrasse hinaus, wo zum Essen gedeckt war, und er trat in die Türöffnung, ein vollkommen Gewandelter, mit erfrischter Haut, geröteten Lippen, feurigen, offenen Augen. Er war in diesem Augenblick nichts als ein junger glücklicher Mensch, vor dessen strahlendem Lächeln selbst Leonies ängstliche Scheu verflog.

Als sie sich vom Tisch erhoben, stand der Mond hoch am Himmel.

»Wir wollen zum See hinab,« sagte Sabine mit verhaltenem Jubel in der Stimme, »so beglänzt soll es dir entgegenleuchten, das Wasser, deine Wiege!«

Egil aber zuckte zusammen und wurde aschfahl im Gesicht. Was er sagte, klang wie ein Stöhnen: »Nein, nein, noch nicht – heute noch nicht!« Und er schritt hastig zur anderen Seite des Hauses. Dann lächelte er wieder, ein seliges verzücktes Lächeln. Seine Augen hingen unverwandt an dem Efeuturm der Kapelle, der sich schwarz gegen die Silberhelle der Nacht abhob.

»So wächst meine Kirche,« flüsterte er vor sich hin, »aus dem nährenden Boden der Mutter Erde und umschlingt die Tempel alter Götter und zerdrückt sie mit starken lebendigen Armen! Ich sage euch, der Tag ist nicht fern, wo die Mauern unter ihr, an denen sie aufwärts wuchs, zerbröckeln werden, und sie allein ihren sonnendurchleuchteten Turm, in dem die Sänger des Himmels nisten, triumphierend zu den Sternen erhebt!«

War er ein Wahnsinniger? Ein Seher? Mit ausgebreiteten Armen – regungslos – stand er auf dem weißschimmernden Rasenplateau, auf dem sein Schatten wie ein schweres schwarzes Kreuz sich streckte.

Leonie schauerte zusammen und schmiegte sich an Konrads Schulter. Sabine starrte, die Hände ineinander verschlungen, zu Egil empor, und als sie ihn zittern, die ekstatisch aufgerichtete Gestalt kraftlos zusammensinken sah, schlang sie den Arm um ihn und führte den Willenlosen behutsam in das Haus zurück.

Am nächsten Morgen, als sie die Freunde begrüßte, lag in ihren Augen der Ausdruck unendlichen Flehens. Da küßte Leonie sie zärtlich auf die zuckenden Lippen, und Konrads Blick senkte sich in den ihren. »Ängstige dich nicht, du arme Seele!« sagte er, während der Mund schwieg, »wir werden nicht fragen, nicht forschen, dir unsere ahnungsvolle Furcht nicht verraten –« und sie drückte dankbar die Hände der beiden.

Von demselben Gefühl getrieben, eine Last abschütteln zu müssen, wanderten Konrad und Leonie am Ufer entlang nach Urfeld, dem freundlichen Weiler an der äußersten Nordspitze des Walchensees, den die große von fauchenden Automobilen belebte Kesselbergstraße so schmerzhaft aus seiner einstigen Verträumtheit – zu der Zeit, da nur wenige Wagen mühselig über den alten steilen Weg zu klettern wagten – aufgeschreckt hatte. Von den Hängen blinzelten kleine Häuschen immer noch erstaunt auf das Leben unten, als würden sie sich nie daran gewöhnen können, während die beiden Wirtshäuser wie rechte Wegelagerer alles packten, was vorüberkam. Sie waren sogar schon zu Hotels geworden und würden sich gewiß, wie Konrad lachend sagte, »binnen kurzem vom Mittagessen zum Lunch, vom Nachmittagskaffee zum Afternoon-Tea entwickelt haben.« Jetzt waren sie noch von jenen Sommergästen gefüllt, die sich an Orten wie Urfeld, wo es noch keine Kurmusik und keine Tanzkränzchen gibt – der Gebildete nannte sie Réunions –, aus Bürgerfamilien, die ihren Ferienaufenthalt auf Grund der niedrigen Preise wählen, und aus Natur- und Ruhebedürftigen zusammensetzen, bei denen die Abgeschiedenheit den Ausschlag gibt.

Konrad und Leonie ließen sich im Wirtsgarten nieder. Es war ein heißer Sommertag. Der See atmete nur leise, vom funkelnden Regen des Sonnenlichts übersprüht; viele Segelboote durchzogen ihn, wie stolze Schwäne die weißen Flügel blähend; sehr fern, duftigen Traumbildern gleichend, verschwammen die Berge mit den Wölkchen am Horizont. Eine Schar fröhlicher Kinder plätscherte mit bloßen Beinen im Wasser; weit hinaus tauchten die Köpfe Schwimmender auf. Aus den kleinen Kabinen stiegen Frauen – angezogener als im Ballsaal – in die klare grüne Flut. Männer sonnten sich auf den Holzstufen. Aufgeschwemmte Rentiers, an deren Körper das schwammige Fleisch bei jeder Bewegung schwankte, enthüllten sich ebenso rücksichtslos wie spindeldürre Jünglinge mit hervorstechenden Schulterblättern und eingefallenem Brustkasten.

Leonie schürzte verächtlich die vollen Lippen. »Schamlos sind doch nur die Männer,« sagte sie, »es ist, als wüßten sie, daß ihre Mannheit trotz aller Häßlichkeit stets gleich hoch im Preise bleibt.«

»Grotesker als sie find' ich die Frauen,« meinte Konrad, »die sich Kleider anziehen, um ins Wasser zu gehen. Wenigstens sollte das nur den Garstigen erlaubt sein.«

»Und denen, die sich selbst nicht mehr gehören,« fuhr Leonie fort, nachdenklich zur Erde blickend, wo sie mit dem Schirm Kreise in den Sand zog.

In diesem Augenblick tönte von der Straße her in das Knattern und Fauchen eines langsam und ruckweise fahrenden Autos das Geräusch erregter Menschenstimmen. In englisch-deutschem Kauderwelsch zankte eine hohe Männerstimme und suchte sich vergebens verständlich zu machen. Konrad erhob sich hilfsbereit. Vor dem Gasthaus hielt ein eleganter Wagen, der eine kleine amerikanische Flagge trug; ein Herr in verstaubtem Automantel, das kantige Gesicht vom Ärger gerötet, stand dabei. Konrad übersetzte dem bayrischen, vor sich hinfluchenden Chauffeur die Wünsche und Vorwürfe des Scheltenden und diesem die Auskunft des Fahrers, wobei es sich herausstellte, daß der Schaden einen Aufenthalt von einigen Tagen notwendig machte.

»Wie unangenehm,« seufzte der Fremde, »in zwei Tagen wollte ich schon in Sulden sein. Was macht man nur in diesem Nest?«

»Es könnte Ihnen vielleicht eine sensationelle Bekanntschaft vermitteln, die der Natur,« meinte Konrad ironisch.

Der andere lachte; dann gingen sie zusammen in den Garten, wo ihnen Leonie entgegentrat. Konrad stellte vor: »Mr. Macheart – Fräulein Leonie Doris.« Die kühlen grauen Augen des Amerikaners hafteten überrascht auf der schönen blonden Frau und wie in flüchtiger Frage auf ihrem Begleiter. Dann küßte er Leonie die Hand, länger, als er es einer »Dame« gegenüber gewagt hätte. »Eine sensationelle Bekanntschaft, Herr Baron, – Sie hatten recht,« sagte er mit leichtem Lächeln. Leonie erblaßte und sah erstaunt zu Konrad hinüber. »Die der Natur stellte ich Ihnen in Aussicht – keine andere,« entgegnete er scharf. Sie verabschiedeten sich rasch.

Vor der kleinen Verkaufsbude draußen blieb Konrad stehen. Ein paar einfache Badetrikots lagen zwischen dem bunten Kram billiger »Andenken«. Er wandte sich an seine stumme Begleiterin: »Was meinst du, wenn wir uns vor der Heimkehr noch durch ein Bad erfrischten?«

Sie runzelte die Stirn. »Haben Sie kein Kostüm?« frug sie die Verkäuferin.

Konrad schien überrascht. »Warum das?« meinte er lächelnd, »ich denke, du bist fehlerlos!«

»Möchtest du, daß sie mich alle begaffen?« entgegnete sie mit einem forschenden Blick, den er nicht verstand, denn er sagte harmlos: »Wie könnt' ich ihnen solch einen Anblick mißgönnen?!« Sie war erblaßt und hatte sich so heftig auf die Lippen gebissen, daß ein Blutstropfen aus der Wunde rann. Schließlich nahm sie, den Kopf in raschem Entschluß aufwerfend, wie er, ein kurzes schwarzes Trikot.

»Ich werde – nackt sein!« sagte sie gedehnt auf dem Wege zu den Kabinen und richtete wieder den Blick auf ihn.

»Um so schöner,« lachte er.

Als sie sich entkleidete, stürzten ihr die Tränen über die Wangen, aber Konrads bewunderndes: »Wie schön du bist« im Augenblick, da sie hinaustrat, verwischte auch ihre letzten Spuren, obwohl ihr geschärftes Ohr nicht überhörte, daß er eine Statue mit demselben Tonfall hätte beurteilen können. Ihre Erscheinung erregte fast einen Aufruhr. Die Frauen empfanden sie wie eine persönliche Beleidigung und tuschelten erregt miteinander; die Männer kamen von weit her allmählich zurückgeschwommen, einer nach dem anderen, wie von magnetischer Gewalt gezogen. Nach wenigen Minuten verschwand Leonie frostgeschüttelt wieder in der Kabine. Im Garten begegnete ihnen der Amerikaner. Er versenkte hastig ein Opernglas in der Tasche und grüßte tief.

»Du bist nicht eifersüchtig?!« frug Leonie, als sie sich dem Hause näherten – sie waren bis dahin einsilbig nebeneinander hergegangen.

»Aber ganz und gar nicht,« gab er zurück, »dann würde ich ja meiner lieben Lehrmeisterin Schande machen!« Mit brüderlich zärtlicher Gebärde legte er den Arm um ihre Schultern, küßte ihre weiche Wange und fügte hinzu: »für die dumme Liebe bist du mir zu gut.«

Sie machten von da an weite Ausflüge in die Berge hinauf, und überall wußte der Amerikaner ihnen zu begegnen. »Ich habe die Bekanntschaft der Natur gemacht, sie läßt mich nicht mehr los,« sagte er, als Leonie sich beziehungsvoll nach dem Stande der Autoreparatur erkundigte. Sie segelten oft halbe Tage lang, wobei es Leonies größtes Vergnügen war, durch geschicktes Manövrieren Macheart zu entschlüpfen, dessen Boot ihr Kielwasser suchte.

Sabine schien sich des Alleinseins besonders zu freuen. Sie saß unter dem Rosendach, unermüdlich an einer Übersetzung arbeitend, für die ihr ein erhebliches Honorar in Aussicht gestellt worden war. Egil blieb den ganzen Tag in seinem Zimmer. Er saß am Fenster in einem tiefen Lehnstuhl, auf dem Tisch vor sich die geheimnisvolle Kassette. Meist schien er zu schlafen. In der Zwischenzeit aber bedeckte er in fliegender Eile kleine weiße Zettel mit einer kritzligen Schrift. Nur im Zwielicht des späten Nachmittags kam er hinaus. Es wiederholten sich dann die Anfälle eines bis zur Ausgelassenheit sich steigernden Frohsinns, einer bis zur Ekstase wachsenden Begeisterung.

Eines Nachts kamen Konrad und Leonie sehr spät nach Hause. Der Amerikaner, der zum Mittelpunkt der kleinen Sommerfrische geworden war – der weibliche Teil der Gäste überbot einander plötzlich an hinterwäldlerischer Toilettenpracht, und der männliche saß nächtlicherweile mit heißen Gesichtern mit ihm am Spieltisch und ließ die Goldstücke rollen –, hatte ein Fest gegeben. Und mit kühlem Gleichmut, als wäre sie nie etwas anderes gewöhnt gewesen, hatte Leonie die Rolle seiner Königin gespielt – einer unnahbaren Königin, die selbst den Tanz verschmähte, um nicht vom Arm eines Mannes berührt werden zu müssen.

Als sie, zurückgekehrt, unter dem Rosendach standen, wandte sie ihr Gesicht, tief erglühend, Konrad zu: »Sag' du mir auch, daß ich schön war,« flüsterte sie heiß. Das Blut stieg ihm in die Schläfen.

Ach – die Sommernacht und das blühende Weib! –

Da hörte er hinter sich im dunklen Garten ein irres Kichern. Mit einem entsetzten Aufschrei flog Leonie die Treppe hinauf, während er ebenso rasch die Steinstufen abwärts sprang und um die Fliederbüsche bog. Dicht an der Bucht, die wie polierter schwarzer Marmor regungslos da lag, nur hier und da gelb gefleckt von den Wasserrosen, saß Egil, die spitzen Knie so hoch gezogen, daß sein Kopf zwischen ihnen hindurch sah. Er stierte auf eine Mummel, die sich, ihren Kelch weit geöffnet, dem großen Käfer darzubieten schien, der an ihren Staubfäden nagte. Bei Konrads Nähertreten wandte er ruhig den Kopf, als wäre dessen Spaziergang zu dieser Stunde etwas Selbstverständliches.

»Kommen Sie nur, Baron, kommen Sie,« sagte er, »aber leise – vorsichtig, damit Sie dies kostbare Beobachtungsobjekt nicht stören.« Und er zog ihn am Rock zu sich hinunter. »Was sehen Sie hier?« fuhr er dann fort, die Augen auf ihn richtend, dieselben kalten, grausamen Augen, die Konrad bei ihrer ersten Begegnung zurückschrecken ließen.

»Einen Käfer – was sonst?« entgegnete er.

»Was sonst?!« wiederholte der andere höhnend, um dann Konrad noch näher rückend, im Tone eines letzte Geheimnisse verkündenden Priesters leise weiter zu sprechen: »Sie sind ein Mann. Ich werde es Ihnen sagen – Ihnen allein. Aus schwarzem Schlamm, der aus Milliarden verrotteter Lebewesen besteht, – also aus Leichen, aus nichts als aus Leichen! – saugt diese strahlende Wunderblume ihre Schönheit und ihre Kraft. Und der Käfer, der häßliche schwarze Käfer in ihrem göttlichen Schoß frißt ihr das Herz aus. Dort aber – schauen Sie nur: das große, dicke, grüne Tier mit den Glotzaugen, wie es lauert, bis der Schwarze dick und voll ist – dann springt er auf ihn – klatsch! – und schluckt ihn hinunter. Auf unserem Dach jedoch sperren fünf junge Störche die Schnäbel auf. Noch bevor der Morgen graut, werden sie den Grünen, den ihnen der Vater holt, schonungslos auseinandergerissen und stückweise verspeist haben.« Egil schnellte auf, mit der Knochenhand hinüber zu den Bergen weisend: »Drüben kreist längst schon der Adler – die kleinen Störche hier, die Gutgenährten, werden seine Beute sein! Ihn aber trifft eine Kugel mitten ins Herz, und seinen Kadaver verschlingen die Fische,« – seine Stimme wurde heiser, schneller und schneller und immer eintöniger stieß er die Worte hervor – »und die Fische fressen wir und nähren mit Totem, mit Gemordetem den tiefsten Gedanken in unserem Hirn!« Er schwieg erschöpft, um dann aufs neue die Stimme zu erheben, bis sie zu ihrem vollsten Glockenton anschwoll: »Aus unserem Kot wachsen die Blumen, reifen die Früchte. Von Leichen lebt alles Leben! Weisheit und Kraft und Schönheit sind stinkender Kadaver giftgezeugte Frucht!«

Und er lachte – lachte gellend – daß er sich die Seiten halten mußte.

Konrad fühlte, wie etwas Kaltes, Weiches an seinem Körper emporkroch, als hätte eine Schar unsichtbarer Kröten, mit eklem, klebrigem Schlamm an den Beinen, von ihm Besitz ergriffen. Mühsam nur zwang er sich zur Ruhe. »Das sind bekannte naturwissenschaftliche Tatsachen, Herr Egil,« sagte er.

»Richtig, – vortrefflich!« antwortete dieser, »naturwissenschaftliche Tatsachen! – Und zur Beruhigung furchtsamer Gemüter sprechen die Herren Gelehrten vom Kreislauf des Lebens, obwohl es der des Todes ist. Jetzt aber merken Sie gut auf, denn das, was nun kommt, hat Ihnen überhaupt noch keiner gesagt, auch nicht mit anderen Worten. Daß Kot und Kadaver Bedingungen allen Lebens sind, erkennen Sie an. Naturgesetze aber machen nirgends halt, ihnen ist alles untertan, was lebt und stirbt. Und so sind auch Völker nur für andere Völker, Klassen nur für andere Klassen der Dung. Wir aber mit den Ergebnissen unseres auch nur durch Tote gefütterten Hirns gedenken dieses Gesetz aufzuheben! – Es gibt Leute, die nicht mehr von Getötetem leben wollen. Sie essen Pflanzen statt Kälber und Schweine. Als ob sie nicht auch, die gezeugt werden und wachsen, blühen und sterben, Lebendige wären! Konsequenterweise also müßte verhungern, wer von nichts leben will, das lebte. Was meinen Sie« – und er lachte schneidend auf – »was würde aus dieser ganzen, von den Qualen Gemordeter und Verfolgter, vom Tode der Schwachen sich nährenden Welt, wenn die Blasen unseres Gehirns, so wir Gedanken nennen, die Naturgesetze besiegten?! – Es gibt Leute, die an Gott glauben als den Gesetzgeber. Wer also Menschenliebe predigt, ruft zum Kriege auf wider Gott – wider Gott!«

Das Lachen, in das er ausbrach, verklang in blödem Kichern. Mit großen Schritten wandte er sich, ohne Konrad noch zu beachten, dem Hause zu und schwang sich, am Efeu emporkletternd, in sein Zimmer. Konrad blieb noch lange wie angewurzelt stehen.

»Er ist wahnsinnig –,« sagte er vor sich hin, sich selbst zu trösten versuchend. Trotzdem bohrte sich der Gedanke immer schmerzhafter in sein Gehirn: Erlösung der Menschheit aus Knechtschaft und Jammer ist gleichbedeutend mit ihrem Todesurteil.

Ihm grauste von nun an vor jeder Begegnung mit dem Gast. Als daher Macheart seine Aufforderung, ihn mit Leonie nach Oberammergau zu begleiten, wiederholte, sagte er ohne Besinnen zu. Es war eine feige Flucht, er fühlte es, und nicht nur eine Flucht vor Egil, sondern vor sich selbst. Daß Leonie nur mit einem demütigen »ganz wie du willst« auf seine Mitteilung von der Autofahrt reagierte, bemerkte er nicht. Wie fern war sie ihm, wie weltenfern!

Sie fuhren mit Eilzugsgeschwindigkeit bergauf, bergab. Wenn Konrad an irgendeinem schönen Punkte langsamer zu fahren oder gar auszusteigen begehrte, so lächelte Macheart spöttisch über die »deutsche Sentimentalität«, oder ereiferte sich über den deutschen Mangel an Geschäftssinn, weil hier noch kein großes Hotel die gute Gelegenheit zum Geldverdienen ausnutzte. Als es sich herausstellte, daß die Bergstraße über Ettal für den Autoverkehr gesperrt war, entrüstete er sich über dies »drastische Zeichen von Unkultur«, und ihm fehlte jede Spur von Verständnis für Konrads gegenteilige Auffassung, der den Schutz der Wege vor dem Gestank und Spektakel der Kraftwagen, wie den Schutz schöner Gegenden vor Fabrikschornsteinen gerade als Kultur betrachtete. Sie gerieten unter Wahrung der höflichsten Formen in eine lebhafte Auseinandersetzung, die Konrad schließlich kurz abbrach, als der Amerikaner begeistert als »Kulturtaten« seiner Heimat die Erfindung des Parlographen, des Grammophons, die Vervollkommnung des Telephons und anderes mehr aufzählte, und Konrad sah, daß es zwischen ihnen keine Brücke gab.

Er beschloß, während Macheart in weitem Bogen um die Berge fahren mußte, die alte Römerstraße zu Fuß zu gehen, Leonies Begleitung mit fast feindlicher Schroffheit ablehnend. Er wollte die heimlichen Wege suchen, wo Feld und Wasser und Wald alte Geschichten erzählen, wo die Armen und Andächtigen wandern, denen der Weg nach Oberammergau eine Wallfahrt ist.

Links durch die Schlucht führt die Straße zum Berg hinauf. Wie manchen Felsblock mögen die blonden Bajuvaren von oben hinab in die Tiefe gerollt haben, um die andringenden Feinde darunter zu begraben; wieviel Römerblut hat der brausende Bach getrunken, ehe es sich droben siegreich und friedlich mit dem Blut der Germanen mischte, dachte Konrad. Und dieselbe Straße ritt vor Jahrhunderten Ludwig der Bayer, jenes seltsam leuchtende Wunderbild im Mantel, das ihm einst auf der Romfahrt, wie er in heißem Gebet die Wendung seines Geschickes von der Gottesmutter erflehte, ein eisgrauer Mönch als von Gott gesandt zum Troste anbot. Unter den großen Tannen auf dem Berge stürzte sein Pferd dreimal, und er gründete dort das Kloster Ettal. Von nun an ward die Straße belebt: weltliche und geistliche Herren, fürstliche Jäger und kecke Edelfrauen kamen daher, hoch zu Roß; fromme Pilger mit Kutte und Stab, krank an Seele oder Leib, zogen Gebete murmelnd zur wundertätigen weißen Frau.

Der Abend dämmerte schon, als Konrad den prunkhaften Barockbau betrat, die letzte Wandlung des ehrwürdigen Münsters, auf dessen Hochaltar die kleine zarte Gestalt aus weißem Stein noch immer steht, die vor sechs Jahrhunderten der kaiserliche Pilger in die Wildnis trug. Aus indischem Porphyr, sagt man, sei sie gebildet; dunkle, eingesetzte Augen beleben das leise schimmernde Antlitz.

»Eine andere heilige Mutter ist's, die das Bild ursprünglich darstellte,« las ein alter Mann mit eintöniger Stimme aus einem braunen Buche dem Kinde vor, das er an der Hand führte. »Isis, die urälteste Verkörperung der allen Zeiten und Völkern heiligen Mutter Natur –«

Auf ihren Knien steht ein Kind, von Kraft und Leben strotzend – sollte sich auf dem Wege von Ägypten über Rom ein Bacchus zu ihr verirrt haben? Auf dem runden Gesichtchen spielte das Licht der Altarkerzen; war es nicht, als wolle der Kleine jedem stillen Betrachter sprühende Lebenslust in das Herz lachen – das Beste, was der Gott einem Irdischen geben kann?

Aber Konrads Herz blieb verschlossen. Er wandte sich ab. Es war jene schwermütige Stunde zwischen Tag und Nacht. An seinem Wege reckten sich gespenstisch die Kreuze mit dem blutigen Bilde des Erlösers.

* * *

Behäbig, mit gemalten Häusern und geschnitzten Galerien, breitet sich das Dorf an der Ammer aus, vom spitzen Kofel überragt. In den Straßen brennen Bogenlampen wie in der Großstadt; aus den zahllosen Wirtshäusern dringt vielfacher Stimmenlärm. Es wird überall englisch gesprochen; selbst die Kellnerinnen bemühen sich mit eitlem Lächeln, die fremde Sprache zu radebrechen.

Konrad fand Macheart und Leonie im Speisesaal des Wittelsbacher Hofs ruhig miteinander plaudernd, und freundlicher als sonst trennte sich das Mädchen von dem Amerikaner.

»Du hast mich ihm überlassen,« sagte sie mit leisem Vorwurf in der Stimme, als er gegangen war.

»Verstehst du denn nicht, mein Kind, daß ich auch einmal gern allein bin?« entgegnete er gequält, um, die jähe Angst, die sich in ihren Augen spiegelte, bemerkend, in aufrichtiger Besorgnis fortzufahren: »er ist dir doch nicht zu nahe getreten?«

Sie schüttelte den Kopf und sagte kühl: »Selbst eine anständige Frau könnte sich seine Huldigung ruhig gefallen lassen.«

* * *

Eine bunte Menge strömte zum Spielhaus durch die Dorfstraßen, an den Läden vorüber mit den Holzschnitzereien, die nur in der Technik die Werke alter Zeit übertrafen, sonst aber in kalter Konvention stecken geblieben waren. Keine Rührung strömte mehr aus den Wunden Christi, dem Lächeln Mariä; zu keinem Händefalten zwang mehr der Anblick der Märtyrer, keine Seele erhob sich mit den geflügelten Himmelsbewohnern.

Auf den Schaufenstern klebten Zettel: »English spoken«, auf den Türen frisch geputzter Bauernhäuser: »Tearoom«.

Der Zuschauerraum, eine mächtige Eisenhalle, stimmungslos wie ein Bahnhof, füllte sich rasch: Da waren die stereotypen Engländer mit lüstern-frömmelnden Mienen, die ebenso sattsam bekannten Berliner Parvenüs: Frauen, die auf dem Dorf mit seidenen Kleidern rauschen, Männer, mit breiten Ringen auf kurzen, dicken Fingern, beide mit süffisantem Gesicht, ohne eine Spur innerer Anteilnahme; da war die ganze internationale Bummlergesellschaft, die ihre Bildung nach der Zahl der Kirchen, Museen und Theater taxiert, die sie in der kürzesten Zeit abzumachen vermochte. Da waren schließlich die Landbewohner der Umgegend, kräftige Männer, früh gealterte Frauen, die sich mit wenigen Ausnahmen zur Feier des Tages in städtische Kleidung zwängten. Aber während die anderen rücksichtslos schwatzten und lachten, saßen diese von Anfang an still mit gefalteten Händen da, eine heilige Handlung erwartend.

Mit dem tiefen Orgelton seiner Stimme sprach der Chorführer, mit hellem Klang, rein und fromm, fiel der Gesang der Kinder ein; Gestalten voll naiver Ausdrucksfähigkeit, in wundervolle, farbenglühende Gewänder gehüllt, stellten in Bildern Christi Leben und Leiden dar.

Leonie weinte leise, als die Passion zu Ende war.

»Das vermag nur ein Volk, das noch mitempfindet und glaubt, was es darstellt,« sagte Konrad tief ergriffen.

Der Amerikaner lächelte überlegen: »Wie lange wird es dauern, und sie sind Schauspieler geworden und die Bühne Oberammergaus aus einem frommen Werk ein kapitalistisches Unternehmen?!«

Draußen ließen sich die Engel und frommen Frauen von alten und jungen Snobs umschmeicheln, und schwärmerische Stadtbackfische, hysterische alte Jungfern und abenteuerlustige Frauen belagerten die gelockten Propheten und Apostel.

Eine alte Bauersfrau in faltigem Seidenrock, die traditionelle Pelzmütze auf dem Kopf, zwischen den runzligen, braunen Händen den Rosenkranz drehend, ging mit abwesendem Blick durch die Menge. »Engel waren's, Ahndl, wirkli Engel?!« sagte der barfüßige Bub, der an ihrer Schürze hing, die glänzenden braunen Augen auf sie gerichtet.

* * *

Machearts Auto sauste durch die Nacht, ein Urweltungeheuer. Die schneidende Luft nahm den Insassen fast den Atem. Keiner sprach.

Als sie vor dem Hause hinter dem Efeuturm hielten und Leonie über die Rosenterrasse verschwunden war, bat der Amerikaner den schweigsamen Gefährten um eine kurze Unterredung.

»Meine Verehrung für Madame Leonie«, begann er ruhig, »wird Ihnen, Herr Baron, nicht unbekannt geblieben sein. Ich hätte keine Veranlassung, darüber zu sprechen, wenn nicht meine Gefühle ernstere geworden wären und ich vor der Frage stünde, mich in vollkommener Respektierung älterer Rechte zurückzuziehen, oder –«

Konrad fuhr auf. »Madame Leonie ist Herrin ihrer selbst,« entgegnete er schroff. Mister Macheart machte eine korrekte Verbeugung und ging.

Am Abend danach fand Leonie mit der Karte des Amerikaners ein versiegeltes Paket auf ihrem Zimmer, dem sie eine Perlenkette entnahm.

»Was meinst du dazu?« sagte sie langsam, das Schmuckstück in leise zitternden Fingern Konrad hinhaltend.

»Er ist sehr reich,« antwortete er ausweichend mit gepreßter Stimme.

»Geschenke wie dieses sind Anzahlungen auf –« murmelte sie, müde in den Sessel sinkend, während sie die Kette durch die Finger zog. »Was rätst – du mir?!«

Minutenlanges Schweigen. Unten knarrte ein Fenster, im Efeu raschelte es. Leonie starrte Konrad an, entgeistert, und schleuderte die Perlen, aufspringend, zu Boden.

Das Geräusch weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Er hob den gesenkten Kopf. Die Falte auf seiner Stirn stand schwarz zwischen seinen Brauen, zwei scharfe Striche zogen sich an Mund und Nase hinab.

»Du bist – Herrin deiner selbst.« – In diesem Augenblick kam er sich so verächtlich vor, daß er dankbar gewesen wäre, wenn das Mädchen, aus deren weit aufgerissenen Augen wilde Verzweiflung sprach, einen Revolver gezogen und ihn niedergeschossen hätte.

Aber sie schrie nur auf. Laut und gellend. Und flog die Treppe hinab – an die Bucht.

Eine lange, schwarze Gestalt richtete sich jäh empor vor ihr, sie mit beiden Armen wie mit Eisenklammern umfassend.

»Nur wer für andere stirbt, hat ein Recht zu sterben,« sagte eine glockentiefe Stimme.

Die Arme lösten sich – Schritte verklangen – ihr Kopf lag schwindelnd an Konrads Schulter.

»Leonie – mein lieber Kamerad –« stöhnte er.

Sie sah auf, wehmütig lächelnd: »Verzeih, daß ich – ich! – dir Böses antun wollte!«

Heiter, als wäre die Nacht nichts als ein Traum gewesen, erschien sie am nächsten Tage unter den Hausbewohnern.

Nur Sabine fiel irgend etwas Fremdes an ihr auf: »Hast du nicht ein wenig zu viel Rot aufgelegt?« meinte sie nach einem freundlich prüfenden Blick. Als sie Konrads übernächtige Züge gesehen hatte, forschte sie nicht weiter.

Am Abend gab Macheart wieder ein Fest, sein Abschiedsfest, wie er sagte. Der Wagen, der Konrad und Leonie hinüberfahren sollte, stand vor der Türe.

»Willst du mir noch einen großen Gefallen tun, Sabine,« sagte Leonie leise, sich vor die Freundin niederkauernd.

»Noch?!« meinte sie erstaunt.

»Sage Egil, daß ich ihm immer danken werde!«

Und Leonie, deren Stimme unmerklich gezittert hatte, erhob sich rasch. Ihr Mantel verschob sich dabei ein wenig und enthüllte eine Schnur mattschimmernder Perlen, die Sabine noch nie an ihrem Halse gesehen hatte.

* * *

Aus allen Orten der Gegend waren Landleute und Sommergäste an jenem Abend nach Urfeld geströmt. Man erzählte sich Wunderdinge von all den Herrlichkeiten, die der goldne Stab des amerikanischen Hexenmeisters in das kleine, weltverlorene Nest gezaubert hatte. Und der Gasthof war überfüllt von seinen Freunden, die aus München und Oberammergau, aus Garmisch und Innsbruck seiner Einladung gefolgt waren. Der Wirt strahlte. Die weiblichen Hotelgäste saßen schon seit Stunden aufgeregt vor dem Spiegel und putzten sich.

Vor dem Landungssteg schaukelte die Segeljacht Machearts, von Blumengirlanden umkränzt, bunt gewimpelt, mit Hunderten vielfarbiger Lämpchen bis in die Masten hinauf geschmückt; zahllose große und kleine Boote schaukelten um sie, und ein Weg, von lodernden Pechfackeln erleuchtet, führte vom Eingang des Gartens bis zu ihr. Eine Via triumphalis war es, durch die Leonie, von Macheart geleitet, schritt; auf ihren gelbseidnen Mantel, den sie um den Körper zog, als wüßte sie von jeder Falte, was sie betonen, was verhüllen sollte, warfen die Flammen abwechselnd züngelnde rote Lichter und schwarze Schatten. Bewundernd und staunend, hämisch und neidisch starrten ihr von rechts und links Hunderte von Augen entgegen. Macheart lächelte wie ein Sieger über seine Beute.

»Ob ich sie ihm doch wieder entreißen sollte, mit dem einzigen Recht, das ich besitze, dem der Freundschaft?« dachte Konrad gequält.

Als sie das Schiff betraten, krachten Raketen und prasselten Leuchtkugeln gen Himmel; der milde Glanz der Sterne erlosch vor all den glänzenden künstlichen Feuern; die Berge verhüllten ihr Antlitz; vor dem Knallen der Champagnerpfropfen verstummte das leise Geflüster der Wellen. Die Natur schämte sich.

Aus seidenen Kissen und seltenen Blumen hatte Macheart für Leonie einen erhöhten Sitz errichten lassen, auf dem sie mit erfrorenem Lächeln thronte, still und bleich, eine Siegesbeute. Ein wundervoller Teppich – hunderte lebendiger Alpenrosen in ein Netz geflochten – hing vom Schiff hinab in das Wasser wie eine Krönungsschleppe.

Mit leisem Grüßen dorthin, wo Konrad saß, hob sie den gefüllten Becher. Aber er trank keinen Tropfen, denn der Wein widerstand ihm. Was er tun wollte, mußte nüchtern getan werden, ganz nüchtern.

Als die anderen alle in seligster Selbstvergessenheit nicht mehr wußten, was um sie her geschah, und der stets gleich beherrschte Amerikaner das Umlegen der Segel beaufsichtigte, um den Landungssteg wieder zu erreichen, Leonie aber müde mit geschlossenen Lidern in ihren Kissen lehnte, trat Konrad dicht an sie heran und sagte:

»Gib ihm die Kette zurück, an der er dich fortführen wollte, Leonie, mein lieber Kamerad«

Ein traurig-zärtliches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie antwortete:

»Ich kann dein Kamerad nicht sein, Konrad, mein Geliebter. Die ›dumme Liebe‹ – du weißt! rächt sich ob meines Hohns. Wohl bin ich nur ein armes Mädel – ein Dienstmädchen war ich in deinem Dienst –, kann den Körper geben für Perlen – gleichgültig, wie man einem Bettler eine Münze zuwirft. Aber meine Liebe für – Freundschaft, für Barmherzigkeit am Ende gar – das – das kann ich nicht –«

Das Schiff stieß an den Steg, der Anker rasselte. Leonie stand, den Kopf in den Nacken geworfen, neben dem Amerikaner, mit der Miene der Herrin vom Platze der Hausfrau Besitz ergreifend, und reichte jedem der Gäste die Fingerspitzen zum Abschied. Keiner wagte ein Wort, das die Grenze der Ehrerbietung überschritten hätte.

Konrad allein verneigte sich tief und stumm, ohne ihre Hand zu berühren.

* * *

Glutheiße Nächte kamen. Bleiern, wolkenlos spannte sich der Himmel über dem stillen See. Die Büsche an der Chaussee waren grau vor Staub, der Efeuturm und die Bucht dahinter waren noch schwärzer als sonst.

Konrad hatte Sabine rückhaltlos, keine Selbstanklage scheuend, erzählt, was sich begeben hatte. Sie hatte nur genickt: »Egil wußte es.« Und als der stille Gast abends erschien, hatte er ihm warm die Hand geschüttelt und gesagt: »Schicksal ist keine Schuld. Lüge aus Mitleid aber eine unverzeihliche Grausamkeit.« Dann sprachen sie nicht mehr davon. Konrad mied den Weg nach Urfeld.

Er dachte an seine Abreise. Nach Hochseß wollte er. Ohne daß sie je ein Verlangen nach seiner Gegenwart geäußert hätte, fühlte er aus den Briefen der Großmutter, ihren andeutenden Bemerkungen über die Alterserscheinungen, die sich mehr und mehr bemerkbar machten, daß sie wünschte, ihn um sich zu haben. Wenn er trotzdem noch zögerte, so geschah's, weil der merkwürdig veränderte Zustand Egils eine fast ganz begrabene Hoffnung wiedererweckte. Seine Angstzustände, die bisweilen an den Beginn des Verfolgungswahnsinns erinnert hatten, seine verworrenen und von tiefer Verbitterung zeugenden Selbstgespräche, die Konrad hie und da vom Fenster aus belauschte, waren gewichen und hatten einer stillen, selbstsicheren Ruhe Platz gemacht; oft schien er sogar von starker Siegeszuversicht erfüllt. Nur daß er sich noch immer am Tage nicht zeigte, und aus lebhaftestem Gespräch plötzlich erschlafft in sich zusammenfiel, bewies, daß er nicht völlig genesen war.

In einer jener Nächte, die keinerlei Kühlung brachte, ging Konrad zum Strande hinunter, um zu baden. Als er mit ein paar kräftigen Stößen hinausgeschwommen war, bemerkte er einen nicht weit vor sich, der dieselbe Erfrischung suchte. Er schwamm mit erstaunlicher Sicherheit und Gewandtheit, so daß Konrad es aufgab, ihm zu folgen. Plötzlich tauchte der Fremde unerwartet dicht neben ihm auf.

»Egil!« rief Konrad überrascht.

»Eine alte Wasserratte! Auf einem Kutter bin ich zur Welt gekommen,« antwortete der lachend. »Allnächtlich werfe ich mich wieder in die Arme meiner ersten Liebe und lasse mir von alten Seegreisen Geschichten erzählen.«

»Weiß Sabine?« frug Konrad, als sie miteinander den Hügel aufwärts gingen; er dachte unwillkürlich, daß sie sich sorgen müsse.

»Gewiß!« sagte Egil; und nach einer Weile, wobei seine Stimme wieder den Tonfall feierlicher Rede annahm: »Das Wasser, das mich geboren hat, wird mich erlösen.«

Eines Abends – schon fingen die ersten gelben Blätter an, von den Bäumen zu fliegen – trat der Gast früher als sonst auf die Terrasse, um die nun keine Rosen mehr blühten. Ein feines Rot färbte seine eingefallenen Wangen und gab seinem schmalen Antlitz etwas Knabenhaftes. Freudig erregt kam Sabine ihm entgegen, und zärtlich und vorsichtig, als wäre die zierliche Gestalt sehr zerbrechlich, legte er den Arm um sie: »Ja, du Beste, Treuste,« sagte er in einfacher Herzlichkeit, »nun wirst du mich bald – bald nicht mehr zu pflegen brauchen.«

Sie hob die Arme, um mit beiden Händen seinen Kopf umfassen zu können, dabei leise fragend: »Aber immer lieben?!«

»Immer!« hörte ihn Konrad inbrünstig beteuern, während er leise davonschlich, die beiden ihrem Glück überlassend.

Später, als die Nacht sich tief herabgesenkt hatte, und alle drei durch den Garten gingen, blieb Egil am Tor der alten Kapelle stehen. »Meine Kirche,« sagte er andächtig und drückte die eiserne Klinke nieder. Sie gab nach. Sie drehte sich, als wäre sie immer benutzt gewesen, lautlos in den Scharnieren. Er trat ein.

Sabine legte in plötzlicher Angst die Hand auf seinen Arm: »Wenn sie über dir zusammenstürzt!«

Mit einem großen fremden Blick sah er sie an. »Baufälliges muß stürzen, damit Lebendiges wachse,« sagte er und ging mit festen Schritten, die in dem leeren Raum dumpf widerhallten, dem Altar zu. Es raschelte und knarrte in dem dunklen Gotteshaus. Vor den Fensterhöhlen hing der Sternenhimmel wie ein Vorhang.

Da erhob sich seine Glockenstimme, vor der jeder andere Laut verstummte:

»Wahrlich, ich sage euch, die Zeit ist nicht mehr ferne, da ihr weinen müßt, wenn die Grillen friedlich in euren Feldern zirpen, von keines Feindes eisengeschientem Fuße zertreten.

Ihr wollt den Frieden und sucht die Sattheit? Wehe, wenn ihr sie finden werdet!

Von der Seligkeit des Leids predige ich euch! Vom Schmerz, der großen, ewig fruchtbaren Mutter –

Behaltet eure klingenden Rechenpfennige des Glücks, ihr Armen!

Den verborgenen Schatz des Leids will ich heben.

Weihe deinen Sohn dem Kampf, du Gebärende!

Und deinen Geliebten der blutigen Wahlstatt, tanzendes Mädchen!«

Die Glockenstimme schwieg. Eine andere, stöhnende, klanglose schien es zu sein, die fortfuhr:

»Ihr wartet, daß ich euch das Ziel gebe für eure Güte und den Geist für euer Streben – ihr wartet umsonst –

Und daß ich euch den Gott offenbare, den unbekannten Gott, dem eure Altäre schon rauchen« –

Sabinens Hand krampfte sich in Konrads Arm. Die Stimme, die aus dem Dunkel kam, war kreischend geworden. Etwas fiel polternd zu Boden, – Konrad stürzte nach vorn, stolpernd und schwankend, Sabine hinter ihm –

»Ich kann es nicht – ich kann es nicht!« schrie es gellend.

Egil lag lang ausgestreckt auf dem Boden. Sie brachten ihn ins Haus. Tagelang verschloß er sich wieder in sein Zimmer. Bis er eines Nachts wieder heimlich aus dem Fenster kletterte. Konrad hörte das Geräusch und schlich ihm nach. Egil aber wandte sich um und ging ihm entgegen.

»Gut, daß Sie kommen, es ist Zeit;« – sein Gesicht, das fahl und eingefallen war wie ein Totenkopf, verzerrte sich vor Entsetzen. Mit den Händen, an denen die Adern wie Stricke schwollen, wies er um sich: »Sehen Sie – sehen Sie, wie sie mich verfolgen und verhöhnen,« flüsterte er heiser, »Buddha und Christus und Mohammed. Weil ich nichts – nichts weiß – was sie nicht schon gewußt haben – Und dort – dort –« er schlug stöhnend die Hände vor das Gesicht – »dort lauert das ausgemergelte Heer der Hungernden, dem ich – ich das Brot versprach!«

Ein Weinen, wie das eines wimmernden Kindes, erschütterte seinen Körper.

»Jörun Egil,« sagte Konrad mitleidig und suchte ihn fortzuführen.

Das Weinen verstummte. Die verzerrten Züge glätteten sich. Er folgte ruhig.

Konrad aber fand von da an keinen Schlaf mehr.

Sabine, die sich allmählich von dem Schrecken der nächtlichen Predigt zu erholen begann, wagte er von seinem Erlebnis nichts mitzuteilen, um so weniger, als Egils Verhalten ihr gegenüber sie zu neuen frohen Hoffnungen berechtigte. So verurteilte er sich denn selbst zu der Rolle des geheimen Aufsehers. Er ließ Egil nicht aus den Augen; er folgte ihm des Nachts, ohne sich von seiner scheinbaren Ruhe und Beherrschung täuschen oder von seinem Zorn einschüchtern zu lassen. Sabine vor dem schrecklichsten Erleben zu schützen, sah er als die Aufgabe an, die er hier noch zu erfüllen hatte.

Es war ein milder Septembertag mit mattem Sonnenschein. Silberne Nebel wogten vom See herüber und legten sich bald fest wie ein Mantel um Häuser und Bäume, bald flatterten sie wie graue Fahnen von Dächern und Wipfeln. Den Kirchturm umschlangen sie besonders zärtlich: oft schien's, als leuchteten weiße Arme unter ihrem zarten Gewebe hervor, als zeigten sich winkende Hände.

»Die Schleier der Seejungfern,« sagte Egil, der schon am Nachmittag das Zimmer verlassen hatte; »immer, wenn ich müde war, umhüllten sie mich; in keinem Daunenbett schläft es sich besser.« Und er sah mit großen, offenen Augen in die Ferne. Freudestrahlend betrachtete ihn Sabine.

»Das Licht tut dir nicht mehr weh, Jörun?« frug sie zärtlich.

»Selbst blendende Helle kann ich vertragen,« entgegnete er, sie auf die Stirne küssend. »Ich hätte Lust, mit Ihnen spazieren zu gehen,« wandte er sich an Konrad, »wir kennen uns noch zu wenig.«

Und sie gingen im Walde einsame Wege, auf deren weichem Boden der Ton des Schrittes erstarb.

»Sie verfolgen mich, Baron,« begann Egil, als sie außer Hörweite waren. »Warum?«

»Um Sie zu schützen!«

»Vor wem?!«

»Vor sich selbst!«

Egil zuckte lächelnd die Achseln. »Und wenn sie überzeugt werden könnten, statt eines guten Werkes, ein böses zu tun?« Seine großen glänzenden Augen bohrten sich förmlich in seines Begleiters Antlitz.

»So würde ich es unterlassen,« entgegnete Konrad fest.

»Kennen Sie die Legende von den beiden Propheten?«

Konrad schüttelte den Kopf. Und der andere erzählte im Weitergehen, wobei seine Schritte den Rhythmus der Rede skandierten.

»Es lebten einmal zwei Weise im Morgenlande. Sie kannten alle heiligen Bücher und wußten um alle Geheimnisse. Viel Volks folgte ihnen, Offenbarung und Wunder erwartend. Und der eine trat auf den Felsen und predigte laut. Da er aber geendet hatte, lachten, die ihm zuhörten, und schrien: Er versprach uns Enthüllung der Tiefen des Seins und redet wie andere Priester. Sie zogen darauf jenem nach, der noch immer schwieg. Denn sie lechzten sehr nach Erkenntnis. Er aber entwich, hauste in Höhlen und kasteite sich. Und viele, die ihm nachgegangen waren, wurden irre an ihm und suchten wieder den anderen, der inzwischen die Künste der Magier und Taschenspieler gelernt hatte und der wachsenden Menge seiner Jünger Kiesel gab für Edelsteine.

Nach den Tiefen des Seins grub indessen der Einsiedler mit blutigen Händen. Und er fand nichts, als was er schon kannte: Erde und Würmer. Der Hoffenden vor seiner Höhle wurden immer weniger. Sie jammerten ihn, denn ihr Leid war groß. Sollte er sie in Glaskugeln blicken lassen und ihre Sehnsucht betrügen mit eitel Blendwerk? – Danach, als die Nacht kam, wurde es sehr still in der Höhle und die Wartenden hatten große Furcht. Und eine aus ihrer Schar sah, daß der Krug, den sie an den Eingang zu stellen pflegte, – denn sie liebte den Heiligen sehr und schleppte ihm Wasser und Brot zu durch die brennende Wüste, – voll blieb und der Korb unberührt. Und sie trat mit ihrer Lampe tiefer in das Dunkel und fand, daß er, dessen sie harrten, gestorben war –«

Sie schwiegen beide, der Erzähler und der Zuhörende. Bis Egil plötzlich händeringend aufsprang und schrie: »Und wenn ich alle – alle betrügen könnte, – sie nicht – sie nicht!«

»Sie sind noch jung,« sagte Konrad gepreßt, »Sie haben noch Zeit, noch Kraft –«

»Nein, nein!« rief der andere, »ich gehöre zu denen, die alt geboren wurden! Und dann –« seine Stimme sank zum Flüstern hinab, und in seine Züge trat jener Ausdruck, halb Wildheit, halb Blödsinn, wie in der Nacht, da er von seinen Verfolgern sprach. Er drängte sich dicht an Konrads Ohr: »In die Wände des Zimmers haben sie Löcher gebohrt und glotzen hindurch mit runden Glasaugen. Auf der Straße folgen sie mir und brüllen: Betrüger! Und aus dem See steigen die Geister empor mit den Polypenarmen –«

»Jörun Egil!« mahnte Konrad. Der Phantasierende zuckte zusammen und kam langsam wieder zu sich.

»Sie sind gut – ein Mensch – und stark,« murmelte er. Dann legte er ihm schwer beide Hände auf die Schultern und sagte laut: »Graben Sie nie – nie – als bis zu den Wurzeln der Eintagspflanzen!«

Sie gingen den Weg zurück am Ufer in dichtem Nebel. Da, wo er zur Kapelle umbog, blieb Egil noch einmal stehen, zog ein Etui aus der Tasche, dem er eine kleine Spritze entnahm, und ein Fläschchen mit einer kristallhellen Flüssigkeit. »Kokain,« – sagte er mit bitterem Lächeln; »davon lebe ich. Wie hätte ich sonst die letzten Jahre ertragen können. Der erste Tropfen davon ist Rausch – der letzte, Wahnsinn. Wissen Sie nun, daß Sie mich nicht mehr verfolgen dürfen?«

Statt aller Antwort umklammerte Konrads Rechte die seine. Und so, Hand in Hand, gingen sie bis nach Hause.

Am Morgen darauf war Egil verschwunden.

Eine alte Frau hatte ihn in der Nacht zum See hinuntergehen sehen, und ein Fischer, der im Morgengrauen hinausgesegelt war, hatte einen einsamen Schwimmer verfolgt, bis er versank. Der See gab seine Leiche nicht zurück.

Als Konrad, der die verzweifelnde Sabine nicht einen Augenblick verlassen hatte, in München von ihr Abschied nahm, einen letzten, langen, sorgenden Blick auf sie werfend, sagte sie, zum erstenmal den schmerzverzogenen Mund zu einem Lächeln zwingend: »Fürchten Sie nichts für mich, lieber Freund. Ich glaube an das Geheimnis, das er mit sich genommen hat. Ich werde weiter den Menschen dienen.«

* * *

Unterwegs erreichte Konrad Hochseß die Nachricht der schweren Erkrankung der Gräfin Savelli.

 


 << zurück weiter >>