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31. Kapitel

Nach einem ersten, verzweifelten Versuch hatte Anthony Bard es aufgegeben, Cilly einzuholen. Sie kannte offenbar jeden Stein und jede Krümmung des Weges, und ritt durch das Dunkel mit einer Sicherheit, wie andere nicht am hellen Tage. Er dagegen hatte alle Mühe, sie nicht aus dem Gesicht zu verlieren und auf den schmalen Bergpfaden nicht abzustürzen.

Erst, als er nach einem sehr beschwerlichen Abstieg die Ebene erreichte, konnte er sein Tempo etwas beschleunigen, so daß er nicht allzu spät nach ihr vor dem alten Haus ankam. Sie hatten noch keine fünf Stunden für die Strecke gebraucht, die ihn durch den langen Umweg in entgegengesetzter Richtung fast volle drei Tage gekostet hatte.

Er schwang sich aus dem Sattel und ging mit ausgestreckter Hand auf Cilly zu.

»Da haben Sie mir wirklich einen Weg, der ordentlich abschneidet, gezeigt!« sagte er. »Vielen, herzlichen Dank dafür! ... Leben Sie wohl und lassen Sie sich's recht gut gehen!«

Sie beachtete die dargebotene Hand nicht.

»Wollen Sie mich denn wirklich jetzt lossein?« fragte sie.

»Natürlich – Sie können doch hier nicht bleiben!«

Statt jeder Entgegnung ließ sie sich von ihrem Pferd herabgleiten, warf ihm die Zügel über den Hals und löste die Sattelriemen.

»Offenbar muß man Sie bitten, dazubleiben!« meinte er grimmig. »Wenn man erreichen will, daß Sie fortgehen.«

Glücklicherweise war es zu dunkel, als daß er hätte sehen können, wie tief sie errötete. Sie antwortete nicht, sondern lachte nur auf. Der Ton ihrer Stimme wirkte ganz eigentümlich auf ihn. Während des langen Rittes hatte er völlig vergessen, daß sie eine Frau war – nur den glänzenden Reiter, der besser und sicherer auf dem gefährlichen Bergpfad ritt als er selbst, hatte er in ihr bewundert. Dieser Eindruck war wie weggewischt durch ihr leises, melodisches Lachen, das ihm seltsam ans Herz griff.

»Sie kennen eben die Frauen nicht!« sagte sie und trat in das Haus ein.

Er hörte den morschen Fußboden unter ihren leichten Schritten ächzen. Der Sattel, den sie mit sich genommen hatte, flog knarrend in eine Ecke. Ein Zündholz flammte auf – er sah ihren Schatten über die Wand des Hausflurs tanzen – das Licht erlosch. Erstaunt und betroffen von der Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der sie handelte, blieb er, die Zügel in der Hand, nachdenklich stehen.

Schließlich beschloß er, wieder aufzusitzen, und so leise als möglich, in die Nacht davonzureiten. Die Sorge um ihren Ruf, der zweifellos dadurch gefährdet wurde, wenn sie hier allein zusammen blieben, war ein Grund für diesen Entschluß – ausschlaggebend, wenn auch vielleicht egoistischer, war, daß er sich durch ihre Gegenwart verwirrt fühlte. Er durfte jetzt nur einen Gedanken haben: Drew zu finden und mit ihm abzurechnen! Wennschon ihr Lachen vorhin so stark auf ihn gewirkt hatte, so war unbedingt zu befürchten, daß ein längeres Verweilen in ihrer Nähe ihn seiner Mission abspenstig machen würde ...

Er hatte bereits den Fuß im Steigbügel, da fiel ihm ein: wenn er sich auch noch so leise davonstahl, sie würde es doch merken und ihm folgen. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er, daß er nicht mehr allein sei. Bisher hatte er keinerlei tiefere Bindungen gekannt. Die Männer, denen er begegnet war, waren im günstigsten Falle gute Bekannte, aber keine Freunde gewesen, die Frauen mehr oder weniger hübsche Dekorationsstücke, mit denen man sich umgab, denen man aber keinerlei Einfluß auf sich gestattete. Sogar sein Vater hatte ihm nicht so nahegestanden wie unbegreiflicherweise dieses Mädchen, das er erst so kurze Zeit kannte! ...

Jetzt hörte er ein leises Knistern in dem Haus. Ein rötlicher, zarter Schimmer fiel durch die Tür hinaus. Wie seltsame, ferne Musik drang es an sein Ohr ... Er lauschte: es war wirklich Musik! Das Mädchen summte eine unendlich traurige Melodie vor sich hin, die ihm erschütternd ans Herz griff ...

Er zog den Fuß aus dem Steigbügel, nahm dem Pferd den Sattel ab und trat ins Haus. Cilly kniete vor dem Kamin und warf kleine Holzstücke in das aufflammende Feuer. Das Gesicht hatte sie abgewandt, weil der Rauch ihr in die Augen biß. Sie lächelte ihm kurz zu und kümmerte sich dann weiter um das Feuer.

Er setzte sich schweigend auf eine der Schlafbänke und betrachtete sie, nachdem sie auf der anderen Platz genommen hatte, verstohlen von der Seite. Dabei wurde er sich plötzlich merkwürdig klar über sich. Er schämte sich einfach, daß er ihr gegenüber so schwach und nachgiebig gewesen war. Er fühlte den Wunsch, ihr den Herrn zu zeigen. Wie er das tun würde, davon hatte er noch keine Ahnung – sie sollte nur merken, daß sie ihn vielleicht einmal brauchen würde im Leben, daß sie ihm höchst gleichgültig sei. Jetzt war es, wie er nur zu genau merkte, leider gerade umgekehrt ...

Bei diesem Punkt seiner Betrachtung angelangt, zuckte er ärgerlich die Achseln. War er denn wirklich ein so lächerlicher Durchschnittsmensch, daß er einen Wohltäter nur darum haßte, weil er ihm Gutes erwiesen hatte?! ...

Er versuchte Cilly ins Gesicht zu sehen, was nicht leicht war, da sie den Kopf ein wenig zurückgeneigt hielt. Ein Lächeln, das ihre Lippen umspielte, zeigte ihm, daß sie sich in der Wärme, die das Feuer ausstrahlte, offenbar sehr behaglich fühlte. Auch gab es ihr einen nachdenklichen Ausdruck. Worüber sie wohl nachdenken mochte? ...

Er versuchte, ihre Erscheinung einmal ganz kühl und kritisch zu analysieren – ein Spiel, in dem er sich oft bei den jungen Mädchen, die ihm im Osten über den Weg gelaufen waren, geübt hatte. Offenbar war ihre Frauenschönheit doch die einzige Waffe, die sie gegen ihn hatte. Wenn er sich erst einmal klargemacht hätte, daß diese Waffe durchaus nicht aus edelstem Stahl sei, würde sie sicher jede Macht über ihn verlieren ...

Die Einzelheiten ihres Gesichts boten den kritischen Erwägungen, zu denen er sich zwang, reichlich Nahrung, aber der Gesamteindruck war, er konnte sich dagegen wehren soviel er wollte, einfach bezaubernd. Sie war gewiß nicht hübsch im landläufigen Sinne – aber sie war, es half alles nichts: eine Schönheit! ...

Wenn sie doch nur mal den Kopf so drehen wollte, daß er ihre Augen zu sehen bekäme! ...

Schließlich wurde sein Verlangen danach so groß, daß er ihr unvermittelt zurief:

»Sehen Sie mich mal an!«

Gehorsam, ohne die geringste Verwunderung über sein seltsames Verlangen zu verraten, wandte sie ihm das Gesicht zu, sah ihn einen Moment voll an und drehte sich dann wieder dem Feuer zu.

Sie hatte das Kinn sinnend in die Hand gestützt. Worüber, zum Teufel, mochte sie nur immer nachgrübeln? ...

»Der Grauschimmel ist nicht Ihr Eigentum!« sagte sie plötzlich.

Allmächtiger – bei den Gäulen waren also ihre Gedanken! ...

»Schlimm ... Wenn das nur nicht als Pferdediebstahl ausgelegt wird.«

»Hab' ich nicht das Recht, mir ein Pferd zu nehmen, wenn man mir meins erschossen hat?!«

Sie wandte ihm betroffen das Gesicht zu, sagte aber nichts. Offenbar glaubte sie sich außerstande, ihm klarzumachen, was Pferdediebstahl für ein entsetzliches Verbrechen in den Augen eines Westmannes ist. Schließlich sagte sie nur:

»Es wird doch besser sein, wenn wir bald weiterreiten!«

»Ich habe nicht die Absicht.«

»Wieso? Sind Sie zu müde?«

»Nein – aber ich will mich nicht noch weiter von Drew entfernen.«

Sie lächelte nicht mehr – sie lachte ihm direkt ins Gesicht. Offenbar nahm sie ihn nicht einmal mehr ernst! ...

»Wenn ich Sie wäre, würde der der letzte sein, dem ich begegnen möchte.«

»Das kann ich mir denken!«

Als ob sie den Handschuh, den er ihr damit hingeworfen hatte, aufnähme, sah sie ihn kampflustig an.

»Sie werden sich spätestens in einer Stunde wieder aufmachen! Haben Sie mich verstanden?« sagte sie energisch.

Entzückt und beglückt hörte er Angst und Besorgnis um ihn aus ihren Worten.

»Wenn ich das tue, wird's nur sein, um Drew entgegenzureiten.«

Sie öffnete schon die Lippen, um ihn anzuflehen, das nicht zu tun – doch sie besann sich rasch eines Besseren.

»Sie werden sich in den Bergen verirren und der Bande, die man sicher schon gegen Sie aufgeboten hat, über kurz oder lang bestimmt in die Hände fallen!« sagte sie sachlich.

»Das ist leicht möglich.«

Sie zwang sich zur Ruhe.

»Wenn Sie nicht auf mich hören wollen, werden Sie fühlen müssen, denn dann geh' ich und überlaß Sie Ihrem Schicksal!«

Er schwieg, froh über den Ernst, in dem sie gesprochen hatte, und glücklich darüber, daß er sie so weit gebracht hatte. Sie deutete sein Schweigen falsch, denn nach einer Weile sagte sie:

»Sie dürfen meine Worte nicht mißverstehen – ich will Sie nur von einem so unüberlegten Schritt abhalten!«

»Aber verstehen Sie denn nicht, daß ich mir gar nichts andres wünsche, als allein zu bleiben?!«

Mit offenem Mund, die Hände fest im Schoß verkrampft, starrte sie ihn an. Aus dem selbstbewußten Kameraden, der ihn seinen überlegenen Willen fühlen ließ, war wieder das Weib geworden. Um den Schmerz zu mildern, den er ihr angetan hatte, fügte er hastig erklärend und entschuldigend hinzu:

»Der Ruf eines jungen Mädchens ist gar zu schnell vernichtet.«

Ihr wurde warm ums Herz. Darum also war er so ablehnend! ...

»Mein Ruf braucht Sie nicht zu kümmern, Bard!« sagte sie. »Über mich sind schon Bände zusammengeschwatzt worden – aber Sie können mir glauben, kein Mensch hat bisher gewagt, mir das Getratsch ins Gesicht zu wiederholen! ... Wenn weiter nichts zwischen uns steht – die Furcht, mich zu kompromittieren, brauchen Sie wahrhaftig nicht zu haben!«

Er fühlte, daß sie recht hatte. Da mußte er eben einen anderen Vorwand finden, denn er wollte sich von ihrem Einfluß lösen. Im Grunde war es der alte, uralte Kampf der Geschlechter, der sich da, wie seit Tausenden von Jahren, zwischen Mann und Weib abspielte – ein Kampf, den Cilly längst zu ihren Gunsten entschieden hatte.

»Wir müssen die Dinge ruhig und objektiv betrachten!« erklärte sie ihm in ihrer überlegenen Art. »Und vor allem vom Standpunkt der Leute hier. Ihren Schuß auf Ben werden sie vielleicht als Notwehr anerkennen – Pferdediebstahl aber bleibt in ihren Augen ein todeswürdiges Verbrechen – selbst wenn Sie den Gaul seinem Besitzer zurückgeben würden. Da gibt es nur eins: losreiten – nach dem Osten – so schnell als möglich und soweit als möglich!«

»Das kann ich nicht – aus zwei Gründen! Erstens Drews wegen. Ich muß mit ihm abrechnen!«

Jetzt wurde sie ernstlich böse.

»Wie stellen Sie sich denn das vor, Sie Kindskopf?! ... Das ist eine Sache, der erfahrenere Leute als Sie nicht gewachsen sind! Von Drews Taten erzählen hier die Mütter ihren Kindern, um ihnen angst zu machen, wenn sie abends nicht schlafen gehen wollen!«

»Das mag alles stimmen – aber trotzdem muß ich mit ihm abrechnen!«

»Das ist glatter Wahnsinn! ... Und Ihr zweiter Grund? Ist der ebenso zwingend?«

»Der zweite Grund sind Sie, Cilly! ... Sie können nicht mit mir gehen, und ich kann Sie nicht verlassen.«

Ein zartes, weibliches Lächeln spielte um ihre Lippen, in ihren Augen leuchtete ein zärtlicher Schimmer auf.

»Anthony!« flüsterte sie unhörbar.

Sie war blaß geworden – doch sie kämpfte alle weichen Regungen tapfer nieder. Nein – sie durfte ihn nicht halten.

Ihr lautes Auflachen zerriß die gefährliche Stimmung.

»Lieber Freund!« sagte sie mit eisigem Spott. »Sie scheinen Talent zum Simson zu haben – glücklicherweise habe ich keins zur Delilah! ... Wenn ich es bin, die Sie hier zurückhält, dann rat' ich Ihnen, kurzen Prozeß zu machen und mich schleunigst zu vergessen. Ich bin nicht für Sie gemacht – ich muß frei sein und bleiben!«

Sie lachte wieder hart, als klänge Metall gegen Metall. Gewandt, mit hastigen Fingern, drehte sie sich eine Zigarette und zündete sie an. Eine mächtige Rauchwolke ausstoßend, sagte sie:

»Ich bin überhaupt keine Frau – das einzig Weibliche an mir ist meine Kleidung ... Aber ein guter Kamerad kann ich Ihnen sein, Anthony, und als solcher rate ich Ihnen: satteln Sie sofort und ...«

»Ich würde ja doch nur Drew aufsuchen!«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. All ihre Zärtlichkeit für ihn, ihr ganzes Weibtum, das sie soeben noch geleugnet hatte, lag in dieser einen Bewegung.

»Anthony – wenn Sie wirklich etwas für mich empfinden, geben Sie diese Idee auf«, sagte sie leise.

Sie sah ihn erwartungsvoll, bittend an. Doch er schüttelte traurig den Kopf.

»Ich kann nicht!«

»Schön – reden wir nicht weiter davon! Dann bleiben wir also vorläufig zusammen.«

»Wieso?«

»Weil ich ein unvernünftiges Kind nicht allein beim offenen Feuer lassen kann.«

Ihre Stimme hatte allen metallischen Klang verloren, nur unendliche Wehmut schwang in ihr.

»Ich denke, wir können ohne jede Gefahr die Nacht hier verbringen. Morgen, wenn's hell ist, müssen Sie dann sehen, wie Sie allein zurechtkommen ... Drehen Sie sich jetzt um – ich will mich schlafen legen.«

Gehorsam erhob er sich, trat an die Tür und starrte ins Dunkel hinaus. Hinter sich hörte er das Knistern von Kleidern. Er hatte einen Sieg über sie davongetragen, aber mit einemmal wurde es ihm seltsam klar, daß es ein Pyrrhussieg gewesen ...

»So – jetzt können Sie sich wieder umdrehen!« rief sie ihm zu. Sie lag auf der Schlafbank ausgestreckt, mit dem Gesicht zur Wand. Am Fußende hingen säuberlich ihre Oberkleider. Die dicke Wolldecke ließ die zarten Linien ihres Körpers nur ahnen.

Er warf sich auf die andere Bank und starrte zu der niedrigen Decke empor. Das Feuer sank zusammen, immer dichter und dichter wurde die Finsternis. Vergebens versuchte er einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Nähe irritierte ihn. Er brauchte sie nur anzurufen, dann würde sie antworten, und wenn sie antwortete ...

Er drehte sich zur Wand und schloß die Augen. Nur ihr leichtes, regelmäßiges Atmen vernahm er. Offenbar schlief sie schon ...

Plötzlich hörte er ein leises Rascheln, ein Knacken der morschen Dielen. Er hielt den Atem an. Er fühlte, daß sie sich über ihn beugte, immer tiefer und tiefer. Er spürte den warmen Hauch ihres Mundes. Eine Welle unendlicher Zärtlichkeit kam über ihn, am liebsten hätte er sie an sich gerissen ... Doch er bezwang sich. Jetzt richtete sie sich vorsichtig wieder auf. Vielleicht träumte er das Ganze nur ...

Er wagte nicht, sich zu bewegen. Nein – es mußte wahr sein. Er fühlte, wenn er sich jetzt umdrehte, würde er ihr in die Augen sehen. Fest schloß er die Lider und rührte sich nicht ...

Dann aber überwältigte ihn das Verlangen, sie doch zu sehen. Langsam, ganz langsam wandte er sich um, langsam, Zentimeter um Zentimeter, richtete er sich auf. Da lag sie drüben auf ihrer Bank, einen Arm unter den Kopf geschoben, und schlief. In ihrem braunen Haar, das gelöst über die Schultern floß, spielten die letzten Reflexe des zusammengesunkenen Feuers ...

Vorsichtig erhob er sich. Er fühlte, daß er fort müsse, jetzt gleich – um ihret- und seinetwillen. Er glättete die Decken auf der Schlafbank, um ja keine Spuren seiner Gegenwart zu hinterlassen, denn es war nur zu wahrscheinlich, daß, ehe der Morgen graute, Fremde hierherkommen würden. Er mußte heute nacht noch irgendwo, weit weg von Cilly Fortune, gesehen werden, damit niemand sie verleumden könne ...

Er nahm seinen Sattel auf. Bevor er das Zimmer verließ, beugte er sich über sie, ganz vorsichtig, ganz leise, um noch einmal ihr Gesicht zu sehen.

Dann trat er hinaus in die schweigende, sternenklare Nacht ...


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