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Ein wildbewegter, wolkenzerrissener Himmel, schwarzblau im Westen, ein braunes, steiniges, mit Seetang bedecktes Ufer und brechende Wogen, alles von einer gewaltigen Bergkette umrahmt – das war die Scenerie, deren Mittelpunkt Hulda bildete. Sie stand auf einem Vorsprung, beschattete ihre Augen mit der Hand und sah aufs Meer hinaus. Sie war ein schönes, großes, schlankes Mädchen von vielleicht neunzehn Jahren vom reinsten skandinavischen Typus. Der Wind wehte ihr das blonde Haar ins Gesicht und preßte ihr das Gewand an die Glieder, während die Möwen kreischend über ihren Kopf hinwegflogen. Sie hatte eine gesunde, von der frischen Luft gerötete Gesichtsfarbe, und in dem wetterkundigen Blick, mit dem sie den Horizont prüfte, lag etwas sehr Sachverständiges.

»Es sieht bedenklich aus,« sagte sie zu ihrer jüngeren Schwester, die auf einem kleinen Steinhaufen zu ihren Füßen saß. »Siehst du den dunklen Strich dort am Horizont? Nein, nicht da. Nordnordwest! Das ist das Dampfschiff. Er kommt!«

Sie sprang von dem Vorsprung herab, faßte ihre Schwester, die inzwischen aufgestanden war, um die Taille und fing, eine Melodie trällernd, zu tanzen an.

»Aber, Hulda, versuche doch, dich etwas mehr ladylike zu benehmen,« bat Magda, »wie wird er dich wohl jemals leiden können, wenn du dich so beträgst!«

»Pah, daraus mache ich mir gar nichts,« rief Hulda und stellte sich trotzig hin, »wenn er mich nicht leiden mag, dann mag er dich leiden, und das kommt ja schließlich auf dasselbe heraus. Er heiratet eine Tochter aus der Familie, und mehr wird ja nicht von ihm verlangt! Ich weiß nicht recht, aber eigentlich wäre es mir lieber, wenn er dich nähme. Du bist ein so liebes, sanftes, kleines Ding, so recht zum Verziehen.« Sie schlang ihren Arm um Magdas Hals und küßte sie mit übertriebener Zärtlichkeit.

»Ach, laß mich in Frieden,« wehrte sich Magda, »du bist schrecklich, wenn du so aufgeregt bist.«

»Weil ich sage, daß ich ihn dir überlassen, daß ich ihn nicht ein einziges Mal ansehen will, solange er bei uns ist? Ich werde so abscheulich gegen ihn sein, daß er mich aus tiefstem Herzensgrund verachtet!«

»Was für Unsinn schwatzest du! Wie kannst du ihn mir überlassen, wenn er dir noch gar nicht gehört? Und wenn er dir gehörte, könntest du es noch viel weniger. Was würde Mutter dazu sagen! Du weißt, wie sehr ihr Herz an dem Gedanken hängt, daß du Herrn Falck heiratest.«

»Doch nur, weil sie meint, daß ich die Hübscheste sei und am meisten Aussicht habe. Vater will Fritz auf die Lateinschule schicken, und seine Mittel erlauben ihm das nicht eher, als bis jemand ihm die Sorge für eine seiner Töchter abgenommen hat. 's ist ein Jammer, daß Herr Falck kein Mormone ist; dann könnte er gleich das ganze halbe Dutzend nehmen.«

Die übermütige Sprecherin war die älteste Tochter des Pfarrers Karl Brinckmann, der seit einem Vierteljahrhundert Seelsorger der Bauern und Fischerleute in einem entlegenen Fjorddorfe an der westlichen Küste Norwegens war. Sie war etwas über mittelgroß und hatte eine jener Figuren, die im reiferen Alter eine hübsche, matronenhafte Fülle anzunehmen pflegen. In ihren Bewegungen lag eine Rastlosigkeit und wilde Anmut, die jeden Zwang ungeduldig abschütteln zu wollen schien; auch ihre Schönheit hatte etwas Amazonenhaftes. Ihre Bewegungen, wie sie am Ufer entlang dahinschritt und ihren hübschen Kopf bald nach rechts, bald nach links herumwandte, hatten etwas von dem mutwilligen Reiz eines noch ungezügelten Füllens. Ihre offenen blauen Augen zeigten die lebhafteste Neugierde; es lag jedoch nichts Herausforderndes in ihnen, dazu waren sie noch zu unerfahren, aber sie schauten unerschrocken drein und ließen Tiefen des Gefühls ahnen. Die Hauptschönheit ihres Gesichts war ein Mund von ganz besonderer Lieblichkeit und Reinheit. Es war unmöglich, schlecht von jemand zu denken, der so vornehm gezeichnete Lippen hatte; sie waren für die ganze Persönlichkeit eine Bürgschaft. Sie hatte eine Art und Weise, das Kinn hochzuwerfen, von der ihr Vater erklärte, daß sie durchaus nicht mädchenhaft sei; und sie hatte, derselben Autorität zufolge, noch zwanzig andre Fehler, die sie ablegen müsse, um etwaige Freier nicht von vornherein abzustoßen. Diese Mahnung hatte jedoch nicht die beabsichtigte Wirkung erzielt. Hulda hatte im Gegenteil ihre besondere Freude daran, voraussichtliche Bewerber zu beleidigen, ihnen Trotz zu bieten, indem sie sich ihre volle, stolze Unabhängigkeit wahrte; Sie fühlte sich in dem Gedanken gedemütigt, daß sie von den Eltern unter möglichst billigen Bedingungen irgend einem annehmbaren Jüngling zu einer Versorgungsehe angeboten werden könnte.

Durch die Geburt des unglückseligen Fritz, des jüngsten Kindes und einzigen Knaben des Pastors, waren in den Augen der Eltern die sechs Mädchen etwas überflüssig geworden. Fritz war jetzt dreizehn Jahre alt und hatte alle möglichen nichtsnutzigen Eigenschaften; aber trotzdem kommandierte er das ganze Haus, und was er that, war für die Eltern stets das Rechte. Er war ein rücksichtsloser kleiner Wildfang, stand vom Tisch auf, wann es ihm gerade in den Sinn kam, und entschuldigte sich nie deswegen. Er unternahm geheimnisvolle Irrfahrten in die Scheunen und Ställe, merkwürdigerweise immer dann, wenn er bei Tisch ein Gericht nicht liebte oder seine Schwestern ihn mit Neckereien plagten. Nur selten würdigte er diese einer Antwort, aber er pflegte in strengstem Vertrauen Nils, dem Stallknecht, mitzuteilen, daß Mädchen zu nichts in der Welt taugten. Er war ein ruhiger, wortkarger Junge und nahm sämtlichen Mitgliedern des Haushalts gegenüber einen so selbstherrlichen Standpunkt ein, daß schließlich doch alle, die er mit Füßen trat, ihn bewunderten. Die Schwestern fanden übrigens gerade kein Vergnügen daran, von ihm gekniffen und gepufft zu werden, bis sie versprochen, nicht zu »petzen«, daß er dreimal an einem Tage schwimmen gegangen sei oder sich mit Schuhmachers Hans zu einem schlimmen Streich zusammengethan habe, und nicht selten verglichen die Schwestern am Abend die blauen Flecke an ihren Armen, allerhand Rachepläne schmiedend, die aber niemals ausgeführt wurden.

Die einzige Schwester, die Fritz gegenüber ihren eigenen Standpunkt behauptete, war Hulda, und sie lebte auch auf mehr oder weniger offenem Kriegsfuße mit ihm. Es würde zweifellos zwischen ihnen zu Schlägereien gekommen sein, wäre nicht die resolute Mutter dagewesen. Gegen diese fühlte Hulda eine gewisse Bitterkeit; war doch auch der Gedanke, daß es notwendig sei, eine Tochter zu opfern, damit der bevorzugte Sohn eine gelehrte Erziehung erhalten könne, dem Kopf der Mutter entsprungen. Denn der Vater liebte alle seine Töchter viel zu zärtlich. Aber die Frau Pastor hatte, wenn auch mit allerhand gefühlvollen Arabesken, Hulda eines Tages offen bekannt, daß es für das Fortkommen des Jungen keinen andern Ausweg gebe und daß sie, als die Aelteste und Hübscheste, zweifellos die besten Aussichten dazu habe. Sie hatte damals angefangen, von dem neuen Hilfsprediger, Herrn Falck, zu sprechen, von seinen musikalischen Talenten, seinem Vermögen, seinen Aussichten für die Zukunft und so weiter.

Hulda hatte nach dieser Unterredung ihre Mutter in keineswegs unterwürfiger Gemütsverfassung verlassen, und obgleich sie Herrn Falck noch niemals gesehen hatte, haßte sie ihn schon im voraus und war entschlossen, alles zu thun, um ihm zu mißfallen. Vielleicht paßte er aber besser für ihre Lieblingsschwester Magda, die sich so gut für eine Pfarrersfrau eignen würde.

Diese Idee machte sie so vergnügt, daß sie mit Magda am Strande tanzte, bis der Sand ihnen nur so um die Ohren flog. Als der Dampfer endlich in Sicht kam, hatte sie sich mit dem Gedanken an Herrn Falcks Kommen ausgesöhnt.

Fritz schlenderte, beide Hände in der Tasche, am Strande entlang, als er das Dampfschiff in der Ferne erspähte, und ging, sich wohlgefällig in die Brust werfend, die Schiffsbrücke hinunter. Er pfiff leise vor sich hin, während er mit kritischer Miene das Nahen des Schiffes beobachtete. Er war ein ziemlich untersetzter, breitschultriger Junge mit einem alltäglichen, sommersprossigen Gesicht und hellblauen, ausdruckslosen Augen. In seinem Blick lag jedoch viel Beobachtungsgabe, und sein geradgeschnittener, festgeschlossener Mund zeigte Energie und eigensinnige Selbstzufriedenheit. Er befand sich in dem halbwilden Uebergangsstadium, wo einem Jungen die Mädchen besonders widerwärtig sind und wo alle feineren Gefühle erstickt zu sein scheinen. Er suchte etwas darin, in seiner Sprache und seinen Manieren möglichst ungehobelt zu sein, und sah mit mitleidiger Verachtung auf die vornehmeren Gewöhnungen seiner Familie herab, die nach seiner Ansicht sich mit einem männlichen Benehmen nicht vereinen ließen. Nach besten Kräften ahmte er den Stalljungen Nils nach, der keine Hosenträger trug, sondern jedesmal seinen Unaussprechlichen einen Ruck versetzte, wenn sie herunterzugleiten drohten. Fritz bewunderte alles, was Nils that und sagte.

Fritz sah, wie der Dampfer noch einen großen Umweg machte, ehe er auf die Schiffsbrücke zuglitt; er beobachtete mit ruhigem Interesse alles, was an Bord vorging, und kannte auch die Bedeutung jedes einzelnen Kommandos. Dann dachte er daran, daß der neue Hilfsprediger, der ja sein Lehrer werden sollte, mit diesem Schiff erwartet wurde, und da er fürchtete, seiner Würde etwas zu vergeben, wenn er zu erpicht darauf schiene, die Bekanntschaft dieses Herrn zu machen, drehte er sich langsam auf den Absätzen herum und schlenderte nach dem Stall, von wo aus er ebenfalls noch eine gute Aussicht auf den Fjord hatte.

Ueber Herrn Falck hatte er sich eine sehr ungünstige Meinung gebildet, erstens weil dieser Geistlicher war, und zweitens, weil er gehört hatte, daß er musikalisch sei. Von allen »weibischen« Künsten war nach Fritzens Meinung Musik die unbegreiflichste und stumpfsinnigste. Er hatte die endlose Beratung vor der Wahl des Herrn Falck aus der Zahl der Kandidaten, die auf die Anzeige des Vaters geantwortet hatten, mit angehört. Der Pastor liebte nämlich die Musik über alles und spielte selbst ganz ausgezeichnet die erste Violine. Seine beiden ältesten Töchter, Hulda und Magda, spielten Klavier, und erstere hatte überdies noch eine sehr schöne Stimme. Gelegentlich war Herr Kofod, der Amtsrichter, der an der andern Seite des Fjords wohnte, eingeladen worden, herüberzukommen, um die zweite Violine an den Quartettabenden des Pastors zu übernehmen; aber man hatte sich vergebens damit abgequält, den Amtsrichter zum Ueben zu bringen; er verdarb die schönsten Stellen aus Haydn und Beethoven durch sein stümperhaftes Spiel. Der Pastor aber hatte ein sehr feines Gehör, und eines Abends machte er der ganzen Musik ein Ende und überhäufte den Amtsrichter mit Vorwürfen. Grollerfüllt war der empfindliche Amtsrichter von dannen gegangen. In Wahrheit waren also Herrn Kofods schlechtes Gehör und seine große Empfindlichkeit die Ursache, daß Pastor Brinckmann schließlich den Bitten seiner Frau nachgegeben und sich entschlossen hatte, einen Hilfsprediger zu engagieren. Als seine Frau den Gedanken, er könne vielleicht einen musikalischen Hilfsprediger bekommen, in ihm angeregt hatte, lösten sich seine bisherigen finanziellen Bedenken, und er ging arglos in die Falle. Die Anzeige, die er ins Tageblatt einrücken ließ, war einzig in ihrer Art; sie lautete: »Ein gut empfohlener cand. theol., der vorzügliche Zeugnisse aufzuweisen hat, Erfahrung im Unterricht hat und die zweite Violine vorzüglich zu spielen versteht, kann als Hilfsgeistlicher Stellung erhalten.« Fünf Antworten liefen nur ein. Zwei der Bewerber waren verheiratet und standen deshalb außer Frage, und gegen zwei andre war nach den eingezogenen Erkundigungen allerlei einzuwenden. Falck war der Einzige, der übrig blieb.


Die Ankunft des Dampfers war das einzige große Ereignis, das das einförmige Leben im Pfarrhause unterbrach, und die Familie wäre auch insgesamt auf der Schiffsbrücke versammelt gewesen, wenn niemand erwartet worden wäre. Die Dienstmädchen standen mit in die Seite gestemmten Armen und aufgestreiften Aermeln in Reih und Glied vor dem Hause und schauten in wonnevoller Aufregung nach den steifen, kariert gekleideten Engländern mit ihren umgehängten Krimstechern und den andern merkwürdigen Abarten der menschlichen Species aus, die der Dampfer stets mitbrachte.

Pastor Brinckmann und seine Frau hatten heute jedoch keine Aufmerksamkeit für die Touristen übrig; sie strengten ihre Augen an und unterzogen jeden Passagier an Bord einer genauen Prüfung, sahen aber außer zwei englischen Sportsleuten, denen ein Diener Flinten und Angelruten nachtrug, niemand, der sich ausschiffen lassen wollte. Der Dampfer pfiff einmal, zweimal, dreimal, und eine sichtliche Enttäuschung malte sich in ihren Zügen.

Da, gerade als die Uebergangsplanke eingezogen werden sollte, bahnte sich ein großer, magerer, bebrillter Mann mit sehr eckigen Schultern seinen Weg durch die Menge und ging ans Ufer. Er hatte ein längliches, blasses Gesicht, müde blaue Augen und einen erschreckten Ausdruck, ähnlich einem Tier, das aus der schützenden Dämmerung seiner Höhle ins grelle Tageslicht hinausgescheucht worden ist. Er hatte ein entschieden schulmeisterliches Aussehen und war eine wenig Eindruck machende Persönlichkeit Er war gerade nicht häßlich, aber auch keineswegs hübsch; ein trostlos nichtssagender Ausdruck, der das Kennzeichen des Durchschnittsmenschen ist, schien ihn von Kopf bis zu Füßen wie eine eintönige graue Farbe einzuhüllen. Dem Anschein nach war er etwa dreißig bis zweiunddreißig Jahre alt. Sein Rock und seine Beinkleider waren von schwarzem Tuch und zeigten im Schnitt die geistliche Tracht, und sein breitrandiger, weicher Filzhut entsprach der übrigen Kleidung. Er sah aus, als habe er geschlafen und als sei es ihm gerade nicht angenehm, geweckt worden zu sein.

So gleichgültig als möglich schritt er auf Herrn und Frau Brinckmann zu, die eine Art von Ernüchterung empfanden und ihn nicht halb so herzlich bewillkommneten, als sie beabsichtigt hatten.

Hulda, Magda und die jüngeren Mädchen stürzten, sobald sie ihn erblickt hatten, den kleinen Abhang hinauf, ohne eine Begrüßung mit ihm abzuwarten, und trugen in ihren jungfräulichen Busen eine Illusion zu Grabe. Hulda versuchte sich einzureden, daß man sich zu seiner wenig einnehmenden Erscheinung im ganzen nur gratulieren könne, da sie nun ihren Entschluß, ihn zu hassen, um so leichter durchführen konnte. Trotzdem vermochte sie eine kleine Verstimmung nicht ganz abzuschütteln, als sie, den Hügel hinauf, dem Pfarrhause zuschritt.

Das Mittagessen war auf ein Uhr festgesetzt, und die ganze Familie versammelte sich denn auch pünktlich in dem großen, sonnigen Eckzimmer. Der Lärm der vielen Fußtritte ertönte kräftig auf dem braungestrichenen, kahlen Fußboden; aber da glücklicherweise niemand im Hause empfindliche Nerven hatte, lag keine Notwendigkeit vor, die Schritte zu dämpfen. Die getäfelten Wände waren mit einer unbestimmten Farbe gestrichen und mit verschiedenen verräucherten Bildern geschmückt, von denen eins Napoleon auf der Brücke von Arcole, und ein andres einen furchtbaren Feuerausbruch des Vesuv darstellte. Die Fenster waren niedrig und mit Nesselgardinen verhängt, und auf dem breiten Fenstergesims standen blühende Rosen und Nelken. Das Zimmer war von einem würzigen Duft erfüllt, und jedesmal, wenn das Mädchen aus der angrenzenden Küche kam und ein dampfendes Gericht auftrug, hörte man ein Brodeln und Prasseln, das sehr appetiterweckend war. Es war ein hübscher Anblick, wie die sechs Mädchen, alle blühend an Kraft und Gesundheit, hinter ihren Stühlen standen und darauf warteten, daß Vater und Mutter ihre Plätze einnehmen möchten. Aber zwischen dem Pastor und seiner Lieblingstochter Hulda war diesmal ein Platz frei geblieben, und die kleine Asta wurde zu ihrem großen Entsetzen an die andre Seite des Tisches befördert, wo Fritz, der stets bei seiner Mutter saß, ihr Nachbar war.

Die Frau Pastor war eine starke, hübsche Matrone mit derbem, verständigem Gesicht, das eine Miene strenger mütterlicher Autorität zur Schau trug. Man konnte gleich merken, daß sie der leitende Teil der Familie war. Der bestimmte Blick voll ruhiger Heiterkeit bildete einen scharfen Gegensatz zu dem gutmütigen Aussehen ihres Gatten.

Sie warteten volle fünf Minuten, bis Herr Falck zum Vorschein kam, und eine kleine Wolke lagerte sich auf die Stirn der Wirtin. Fritz hoffte, der Hilfsprediger werde für sein Zuspätkommen getadelt werden, und genoß schon im voraus die Scene, denn er wußte, daß seine Mutter zwei unfehlbare Prüfsteine bei der Beurteilung eines Charakters hatte: Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten und der Zustand, worin jemand des Morgens sein Zimmer zurückließ. Ein Gast, der, wie der musikalische Amtsrichter, sein Bett zerwühlte, seine Kleidungsstücke auf Tische und Stühle umherstreute und die klatschnassen Handtücher auf den Fußboden warf, war nach ihrer Meinung jeder Schandthat fähig.

Pastor Brinckmann stellte den neuen Hausgenossen seinen Töchtern ziemlich förmlich vor, Fritz hingegen machte er zum Gegenstand einer kleinen humoristischen Lobrede, die Herr Falck jedoch mit dem größten Ernst entgegennahm. Der Pastor sprach ein kurzes Tischgebet, worauf alle sich setzten und mit einer Empfindung von Unbehagen ihre Suppe aßen, in der es für jeden Tischgenossen zwei eingemachte Pflaumen gab. Alle Mädchen sahen verstohlen Herrn Falck an, der in dem Gefühl dieses Interesses an seiner Person einmal über das andre errötete. Er hatte bis dahin ein einsames, seinen Studien gewidmetes Junggesellenleben geführt und war nie mit jungen Damen zusammengekommen. Eigentlich hatte er sich immer etwas vor ihnen gefürchtet, nicht so sehr, weil sie ihm gefährlich werden könnten, sondern weil er bange war, sich in ihren Augen lächerlich zu machen. Er hatte von Mädchen die Vorstellung, daß sie gern kicherten und albern wären und sich über die Männer, die sich ihnen zu nähern versuchten, lustig machten. Nun war er sich sehr deutlich bewußt, wie schlecht Mutter Natur ihn für die Rolle eines Herzenbrechers ausgerüstet hatte, und es schien ihm durch die gewöhnlichste Klugheit geboten, allen Annäherungen des falschen Geschlechts eine vorsichtige Zurückhaltung entgegenzusetzen. Zuweilen, wenn ihm seine Junggesellenwirtschaft besonders trostlos vorkam, hatte er wohl die Möglichkeit einer Heirat erwogen; aber in seiner Bescheidenheit stellte er sich seine zukünftige Braut stets als ein Mädchen von spärlichen Reizen vor, für die das Heim, das er ihr zu bieten im stande war, die größere Anziehungskraft ausüben würde. Um seiner selbst willen geliebt zu werden, schien ihm ein zu hochfliegender Traum. Herr Falck hatte von Bekannten der Familie gehört, daß das älteste Fräulein Brinckmann eine Schönheit sei, und er hatte beschlossen, gegen sie ganz besonders auf seiner Hut zu sein, da er wohl wußte, wie hoch sie über seinem Bereich stand.

Magda und Stina hatten inzwischen ihre Beobachtungen gemacht, und erstere hatte der Schwester zugeflüstert, daß Herrn Falcks Ohren wie die Henkel eines Kruges abständen, worauf Stina purpurrot im Gesicht wurde und sich innerlich vor Lachen schüttelte. Sie machte verschiedene, aber erfolglose Anstrengungen, ihre Fassung wiederzuerlangen, stopfte sich schließlich ihre Serviette in den Mund, während sie that, als ob sie sich verschluckt hätte, und verließ schnell das Zimmer.

Um diesen Zwischenfall weniger auffällig zu machen, fing der Pastor an, über den Charakter der Gemeinde zu sprechen, über die Unannehmlichkeiten, die er mit dem Amtsrichter gehabt, und erzählte schließlich voll Humor, wie entrüstet seine Pfarrkinder darüber gewesen wären, daß er Violine spiele. Die Frau Pastor flocht hie und da vorsichtig ein Wort mit ein und milderte oder verbesserte die Aeußerungen ihres Mannes, die möglicherweise einen ungünstigen Eindruck machen konnten. Aber der Hilfsprediger blieb, trotz aller Versuche, ihn in die Unterhaltung hineinzuziehen, in der Reserve und antwortete nur einsilbig.

Es war sowohl für den Pastor als für die Mädchen eine Wohlthat, als das Mittagessen vorüber war. Sie hatten einen sehr unvorteilhaften Eindruck von Herrn Falck bekommen, aber die Frau Pastor prophezeite trotzdem, daß sie alle miteinander sich noch vor Ablauf eines Monats für ihn begeistern würden.


Anton Falck war der Sohn eines Zollinspektors, der die Tochter eines reichen Lumpenhändlers geheiratet hatte. Er war das einzige Kind und von klein auf verhätschelt und verzogen worden. Was ihm an Begabung abging, ersetzte er durch Fleiß, doch hatte ihn während seiner Schulzeit eine gewisse Schüchternheit, ein Mangel an jenem knabenhaften savoir-vivre, das den Verkehr leicht und natürlich gestaltet, fern von seinesgleichen gehalten und ihn einsam und unzugänglich gemacht. Es war ein kläglicher Anblick, wenn er an den Straßenecken des elenden, kleinen Ortes stand, mit sehnsüchtigen Augen den Spielen der Knaben zusah und dann wie ein erschrecktes Wild plötzlich die Flucht ergriff, sobald man ihn beachtete.

Als er dreizehn Jahre alt war, starb sein Vater, und mit achtzehn Jahren schickte man ihn auf die Universität Christiania, wo er Theologie studierte. Seine Mutter, die ihm nach der Hauptstadt folgte, führte ihm, da sie sehr wohlhabend waren, den Haushalt weit großartiger, als es in der studentischen Welt Brauch ist. Sie sorgte ängstlich für alle Bedürfnisse und nährte in ihm jene zurückhaltende Schüchternheit, die gewöhnlich die Folge von Einsamkeit und verkehrter Mutterliebe ist. In seinen freien Stunden trieb er Musik, und die Mutter begleitete ihn auf dem Klavier, und Abend für Abend spielten sie sich mühsam durch endlose Seiten hindurch, probten, wiederholten und übten mit unerschöpflicher Geduld.

Als Anton achtundzwanzig Jahre alt und Kandidat der Theologie war, starb seine Mutter, und er grämte sich fast zu Tode um ihren Verlust. Um sich vor der Verzweiflung zu retten, spielte er vom Morgen bis in den Abend. Endlich sah er ein, daß er sein Leben nicht so verträumen könne, und beschloß, eine praktische Thätigkeit zu ergreifen, und so geschah es, daß er auf die Anzeige, durch welche Pastor Brinckmann einen musikalischen Hilfsprediger suchte, seine Bewerbung einsandte.

Die erste Predigt, die er am zweiten Sonntag nach seiner Ankunft hielt, hatte bei Tisch eine Unterhaltung zur Folge, an der auch Hulda teilnahm. Der zu Grunde liegende Text war die Parabel von dem Unkraut unter dem Weizen, und der Pastor hielt sich für verpflichtet, einige beifällige Bemerkungen sowohl über den Gedankenreichtum, wie über den verständigen Standpunkt der Predigt zu machen.

»Aber,« bemerkte Hulda, und ihr Ton klang fast etwas kampfeslustig, »warum ist denn eigentlich der Teufel für das Unkraut verantwortlich?«

»Der Text sagt ausdrücklich, daß der Teufel das Unkraut säete,« antwortete Herr Falck.

»Aber so, wie Sie die Parabel heute auslegten, säen wir doch eigentlich das Unkraut selbst? Und wenn wir dann später Unkraut ernten, ist es doch nur unsre eigne Schuld. Wenn der Teufel es säet, können wir doch am Ende nichts dafür?«

»Kind, Kind,« sagte der Pastor im Tone gütiger Ermahnung, »versuche nicht, Geheimnisse zu ergründen, die zu tief für dich sind.«

Hulda fühlte, daß dies ein Tadel sein sollte, und verfiel in rebellisches Schweigen.

»Aber, Vater,« begann sie nach einer Weile und hob mit mühsam beherrschtem Trotz den Kopf, »hast du nicht so oft zu Fritz und mir gesagt: was der Mensch säet, das wird er ernten?«

»Ja, das ist auch im allgemeinen sehr wahr!« bemerkte der Pastor in einem Ton, der merken ließ, daß er dies Gespräch fallen lassen wollte. »Mutter,« fügte er hinzu und wandte sich mit vollem Munde zu seiner Frau, »dies Hasenragout ist einfach deliciös.«

Als man die Unterhaltung schon für abgethan hielt, bemerkte Stina harmlos: »Ich dachte, Unkraut bedeute so viel wie böse Menschen.«

»Das ist auch in der That so, Kleine,« sagte Herr Falck, »so wird das Gleichnis am häufigsten ausgelegt.«

»Aber,« rief Hulda mit neuem Mut aus,«»Gott hat doch gerade so gut böse Menschen als gute geschaffen – wie kann er sie dann zur Rechenschaft ziehen?«

»Mein liebes Kind,« sagte der Pastor mit feierlichem Ernst, »du mußt dich mit der Zusicherung begnügen, daß Gott alle Menschen liebt und daß er die Gerechtigkeit selbst ist. Auch ich behaupte durchaus nicht, daß ich alle seine Ratschlüsse verstehe und die Rätsel seiner Schöpfung ergründet habe, aber mein Vertrauen auf seine Liebe und Gerechtigkeit läßt mich Genüge darin finden, geduldig bis zu dem Tage zu warten, da uns alles enthüllt werden wird.«


Woche auf Woche verfloß, ohne daß von Herrn Falcks Seite irgendwie eine Annäherung stattgefunden hätte, und so meinte Hulda, daß eigentlich kein Grund zu ihrer abwehrenden Haltung vorläge. Ja, ein seltsames Ding ist das weibliche Herz; ein leises Gefühl der Empörung wollte sich fast in ihr regen, daß er ihr so gar keine Gelegenheit bot, ihre Unabhängigkeit zu wahren. Da war er nun und verneigte sich dreimal am Tage vor ihr, beim Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, mit formeller Höflichkeit und machte sich nicht mehr aus ihrer Gegenwart als aus der der vierzehnjährigen Asta. Die wenigen Bemerkungen, die er machte, waren an ihren Vater und ihre Mutter gerichtet, und als sie ihn eines Tages um das Salz bat, überreichte er es ihr so ohne alle Umstände, daß es fast beleidigend war.

Mit jedem Tage war sie mehr empört über Herrn Falcks unpassendes Benehmen. Je deutlicher es wurde, daß er sich nicht mit ihr beschäftigte, desto mehr beschäftigte sie sich mit ihm. Sie grübelte vielfach über sein Temperament, seine Lebensverhältnisse und seine vermeintlichen Erfahrungen nach. Ob er wohl irgend eine hoffnungslose Liebesgeschichte gehabt hat? Oder war er betrogen worden und deshalb verbittert? Am Ende bewahrte er in seinem Herzen das Bild einer geliebten Toten, der er ewige Treue geschworen hat? Daß eine dieser drei Vermutungen zutraf, war ihr zweifellos. Aber welche? Das war die Frage.

Um ihn zu bestrafen, beschloß Hulda, ihre gewöhnliche Zurückhaltung fallen zu lassen. Sie wollte ihm schon zeigen, daß sich kein Mann ungestraft so gegen sie benehmen dürfe. Was mußte ihre Mutter denn davon denken, nachdem sie mit so feierlicher Gewißheit prophezeit hatte, daß Herr Falck sich natürlich in sie verlieben würde! Ebenso enttäuscht war der Pastor über Herrn Falck, und zwar weniger, weil seine Predigten der Wärme entbehrten, als wegen der mechanischen Genauigkeit in seiner Musik. Er spielte nicht wild aus dem Takt wie der Amtsrichter, ebensowenig besaß er die Kühnheit, zu improvisieren, wenn er stecken geblieben war; aber er saß da und fiedelte ruhig weiter, so kaltblütig korrekt und gewissenhaft, daß es den feinfühlenden musikalischen Pastor fast zur Verzweiflung brachte.

So war die Lage der Dinge, als Hulda eines schönen Junimorgens von ihrem Fenster aus Herrn Falck im Garten erblickte, wie er zwischen den Blumenbeeten auf und ab ging und eine Cigarre rauchte, deren blaue Ringe in der stillen Luft emporstiegen

Der müde, mißvergnügte Ausdruck seiner Züge war verschwunden, und er sah so heiter und zufrieden aus, daß die selbstbewußte Schöne sich über ihn ärgerte. Sie stand vor dem Spiegel und verbesserte noch hie und da an ihrer Toilette, während der Duft von Blumen und frischem Grün zu ihr aus dem Garten emporstieg. Sie sah jung und bildhübsch aus; ihr Gesicht glich in seiner blühenden Frische dem Frühling draußen. Ein goldner Schein lag auf ihrem reichen Haar, und ihr offener, strahlender Blick und ihre prachtvolle Gestalt erinnerten an eine Walküre. Sie hatte nichts von der berechnenden Salonkokette, die den Männern geschickte Schlingen legt, nur in dem leichtfertigen Wunsch, Eroberungen zu machen. Nein, ihre Gefühle waren stark und klar und unschwer zu enträtseln. Dieser Mann hatte sie übersehen und vernachlässigt. Dafür wollte sie ihn jetzt züchtigen, und sie ging an ihr Vorhaben mit einem Eifer, ähnlich dem des Kriegsrosses, das die Schlacht aus der Ferne wittert.

Sie eilte die Treppen hinab mit einer Unruhe, die sie vergeblich zu verbergen suchte. Bei der Gartenthür traf sie Fritz, der ihr im Vorbeigehen eine vielsagende Fratze schnitt. Sie fühlte den lebhaftesten Wunsch, ihm eins zu versetzen; denn die Anspielung, die in seiner Grimasse lag, war grausam wahr. Als sie sich viel eher, als sie erwartet hatte, dem Hilfsprediger gegenüber befand, erschrak sie etwas. Sie hatte geglaubt, daß er in einem andern Teil des Gartens sei, wo sie ihn vor zwei Minuten von ihrem Fenster aus gesehen.

»Wie haben Sie mich erschreckt, Herr Falck!« rief sie aus, vor Verlegenheit errötend.

»Das thut mir ganz außerordentlich leid,« antwortete er steif, ebenfalls errötend.

»Sind Sie ein Blumenfreund?« fragte sie aufs Geratewohl und beugte sich über eine wundervolle Rose, als ob sie sie pflücken wollte.

»Ja, danke sehr – das heißt – wenn Sie erlauben – ich mag sie gern ansehen,« stammelte er in peinlichster Verwirrung.

»Ich auch,« erklärte sie und sah ihm mit berückender Offenheit und Zutraulichkeit in die Augen, »Blumen täuschen uns auch niemals, sie sind gerade so, wie sie aussehen.«

»Ja,« pflichtete er linkisch bei, »ja, so ist es.«

Sie fühlte so deutlich ihre Ueberlegenheit, daß sie im Augenblick ihre Fassung wieder erlangte und kaum ein mitleidiges Gefühl für seine Hilflosigkeit unterdrücken konnte. Sie hatte ihm offenbar das größte Unrecht gethan, als sie seine Gleichgültigkeit einer übergroßen Erfahrung in Liebesangelegenheiten zuschrieb. Wohl die meisten Frauen haben eine zarte Empfindung für diese Art von Unschuld, die den Reiz einer beginnenden Annäherung sehr erhöht. Auf alle Fälle entsprang Huldas erste gütige Regung gegen Herrn Falck aus dem Gefühl, daß er in ihrer Gewalt sei.

»Ach,« schrie sie laut auf, »wie abscheulich stechen diese Dornen!«

Sie erwartete natürlich, daß er ihr anbieten würde, die Rose für sie zu pflücken, aber er begriff so langsam seine Pflicht, daß sie ihm noch einen Wink geben mußte und ihn schließlich rund heraus um sein Taschenmesser bat.

»Vielleicht darf ich – das heißt, wenn Sie mir erlauben wollen –« fing er an.

»Ja gewiß,« unterbrach sie ihn lachend, »Sie dürfen, und Sie sollen!«

Er zog das Taschenmesser hervor, bückte sich und schnitt mit einem Gesicht, so rot wie eine Päonie, die Rose ab. Dabei berührte er zufällig ihren Finger, und als er dann aufblickte und ihre schönen Augen aus so unmittelbarer Nähe auf sich gerichtet sah, zitterte seine Hand derart, daß die Rose zu Boden fiel.

»Danke sehr, danke sehr,« rief sie aus und hob die Rose vergnügt auf, »es war sehr freundlich von Ihnen.« Sie atmete den Duft der prächtigen Blume in langen Zügen ein und suchte unterdessen an ihrem Kleide nach einer Nadel, die sie jedoch nicht fand.

»Darf ich – darf ich vielleicht?« fragte er schüchtern, wiederum verlegen errötend, und zog eine Stecknadel aus einem großen Etui, das er in seiner linken Rocktasche trug.

»Ja, Sie dürfen,« rief sie, in ein fröhliches Gelächter ausbrechend, und sah ihn mit unwiderstehlicher Schelmerei gerade in die Augen.

Ihr Lachen glich dem eines Kindes, so herzlich, laut, offen und unüberlegt war es. Es lag eigentlich gar nichts Lächerliches in dem kleinen Vorfall, aber ihre Heiterkeit war ansteckend, und so lächelte er zuerst und ließ sich schließlich auch zu einem Lachen mit fortreißen. Dann machte ihn der Gedanke, wie komisch doch solch Lachen um nichts sei, noch mehr lachen, worauf zwischen beiden sich gleichsam ein stilles Einverständnis bildete und sie plötzlich fühlten, daß sie schon ganz gut miteinander bekannt wären. Warum hatte er dies prächtige Mädchen so beständig gemieden? Er war ein rechter Hansnarr gewesen! Noch nie in seinem Leben war er in so gehobener Stimmung gewesen wie in diesem Augenblick. Sein Blut schien leichter und schneller zu fließen, und die alte Laschheit, das Gefühl, etwas unter pari zu stehen, das ihn seit dem Tode seiner Mutter niemals mehr verlassen hatte, war wunderbarerweise ganz verschwunden.


Der Pastor bemerkte, als das Quartett am Abend wieder spielte, daß mit Herrn Falcks Geige eine seltsame Veränderung vor sich gegangen war. Statt der früheren mechanischen Korrektheit zeigte er jetzt eine erstaunliche seelenvolle Auffassung. Als Hulda, die die Begleitung auf dem Klavier übernommen, ihm den Ton anschlug, gab er das G mit einem so gefühlvoll vibrierenden Strich an, daß der Pastor es mit seinem feinen Gehör sofort bemerkte. Und wie herrlich und voll schöner Harmonie flossen die vier Partieen in dem vornehmen Andante zusammen! Was für eine jauchzende Begeisterung und Inbrunst lag in dem Allegro, was für ein entzückender, neckischer Uebermut in dem Scherzo, und wie voll und reich quollen die Töne hervor, die das erhabene, einfache Thema zum Ausdruck brachten!

Der Pastor hatte Beethoven noch nie so genossen wie am heutigen Abend. Herrn Falcks Spiel war durchaus keine hervorragende Leistung, aber er spielte nicht nur mechanisch richtig, sondern war auch in seelischer Uebereinstimmung mit der Musik, und dieser kleine Hauch von Begeisterung gab seinem Spiel Lebenswärme und Färbung. Auch Hulda, die sehr musikalisch war, fühlte sich wie durch Zauberkraft dahingetragen; ihre Finger schienen sich nach einem höheren Willen als dem ihrigen zu bewegen. Manchmal rieselte es ihr bei einer besonders schönen, eindrucksvollen Stelle mit wonnevollem Schauer durch das Mark, die Melodie ging ihr ins Blut über und ließ ihre Pulse nach dem wechselnden Takt des Themas klopfen. Aber das Herrlichste war doch, wie alle vier Partieen in so wunderbarer Einheit dahingetragen wurden, als wenn ein harmonisches Gefühl sie alle miteinander fortrisse.

Es war schon zehn Uhr – für das Pfarrhaus eine sehr späte Stunde – als der Pastor seine Violine niederlegte und sie, nachdem er noch einmal liebkosend über sie hingestrichen, in ein seidenes Tuch hüllte, ehe er sie in den mit grünem Tuch ausgeschlagenen Kasten legte. Er war in so freudiger Stimmung, daß er von dem, was um ihn vorging, nichts sah und hörte, sondern nur mit begleitenden Handbewegungen Abrisse der gespielten Melodie summte.

»Aber mein lieber Herr Falck,« rief er plötzlich aus und faßte den Hilfsprediger mit freundlichem Ungestüm am Rockkragen, »wir beide müssen einander kennen lernen – Sie und ich! Offen gesagt, habe ich Sie bis heute nur für einen musikalischen Dilettanten angesehen. Ich ahnte nicht, daß Sie so spielen können. Warum haben Sie nur Ihr Licht unter den Scheffel gestellt?«

»Das habe ich nicht vorsätzlich gethan, ich habe stets gespielt, so gut ich konnte,« erwiderte Herr Falck und zog sich sichtlich wie eine Schnecke in ihr Häuschen zurück.

»Nun, dann sind Sie einfach behext gewesen! Na, immerhin ist es nicht meine Sache, Ihre Geheimnisse zu erforschen. Gute Nacht!« Er küßte seine beiden Töchter, steckte sich seine lange Meerschaumpfeife an und ging auf sein Zimmer, um wie gewöhnlich noch eine Stunde lang vor dem Zubettgehen zu arbeiten.

Magda nahm einen dreiarmigen Leuchter vom Klavier und leuchtete dem Vater durch die dämmerige Halle, während Falck und Hulda allein im Wohnzimmer blieben.

Hulda, in deren Nerven noch die Musik nachzitterte, stand am Klavier, im Begriff es zu schließen. Die große Lampe, die allein noch das Zimmer erhellte, warf ihren Schatten groß und seltsam auf die gegenüberliegende Wand.

»Herr Falck,« sagte Hulda, indem sie sich plötzlich umwandte und ihm ein Gesicht zeigte, das ganz und gar wie in Lächeln getaucht schien, »sagen Sie doch, warum sind Sie denn eigentlich Geistlicher geworden?«

»Wie meinen Sie das?« fragte er ganz überrascht von der unerwarteten Frage.

»Nun, ich meinte natürlich, warum Sie nicht Arzt wurden, oder Offizier, oder sonst etwas andres,« schloß sie lachend.

»Also finden Sie es wunderbar, wenn man Geistlicher wird?«

»Keineswegs! Wie sollte ich das, da Papa doch auch Geistlicher ist!«

»Dann müssen Sie mir, bitte, verzeihen – aber ich verstehe Sie nicht recht.«

»Ach, bitte, Herr Falck, seien Sie doch nicht so einfältig,« bat sie mit komischer Dringlichkeit

»Wie soll ich es nur anfangen, Fräulein Hulda?« antwortete er demütig, »Sie wissen, ich bin niemals mit jungen Damen zusammengekommen; es sollte mich daher auch gar nicht wundern, wenn ich Ihnen einfältig vorkomme.«

Sie wußte nicht warum, aber ihr gefiel diese Bemerkung, und in der Weise, wie er sie aussprach, lag eine männliche Einfachheit, die sie doppelt anziehend machte. Sie bemerkte jetzt, daß Herrn Falcks Züge doch etwas Vornehmes hatten und einen Ausdruck von gelehrtem Ernst trugen, der ihr durchaus nicht mißfiel. Von dem müden Blick seiner Augen, der ihr bei der ersten Begegnung aufgefallen war, war keine Spur mehr zu sehen. Im Gegenteil, es lag eine seltsame Erregtheit in dem Blick, den er auf sie richtete.

»Wollen Sie damit – vielleicht sagen, daß Sie noch nie in Ihrem Leben verliebt waren?« fragte sie atemlos.

»Ja, das wollte ich sagen,« erwiderte er ernsthaft, »und ich will auch noch hinzufügen, Fräulein Hulda, daß ich auch noch nie in meinem Leben die entfernteste Gelegenheit hatte, mich zu verlieben.«

»Ist das merkwürdig!« kam es halblaut von ihren Lippen.

»Nein, das ist es gar nicht, Fräulein Hulda, meine Mutter hat mein ganzes Leben ausgefüllt, und seit ihrem Tode – ich weiß nicht recht – würde ich nie den Mut gefunden haben, jemand mein Vertrauen zu schenken,« schloß er vorsichtig.

Hulda konnte sich so gut das einsame Leben des trauernden Sohnes vorstellen, und ihr wurde das Herz ihm gegenüber warm.

Nachdem sie die Noten und den Violinkasten ihres Vaters verwahrt hatte, ging sie planlos durchs Zimmer und setzte sich dann wie erwartungsvoll in die Sofaecke. Er übersah die darin liegende Aufforderung, wenn er sie überhaupt begriff, und setzte seine Wanderung durchs Zimmer fort, während er ihr jedesmal beim Vorübergehen eine Rauchwolke von feinem Cigarrenduft zusandte. Niemand im Hause außer Herrn Falck rauchte importierte Regalias.

Nach einer Weile wurde ihr klar, daß er in seinem Innern mit etwas Gewichtigem kämpfte, dem er vielleicht nicht Ausdruck zu geben wagte. Er war gewiß wohl schon zwanzigmal an ihr vorübergegangen, als er ganz plötzlich vor ihr stillstand und sie mit einem flehenden Blick voll unruhiger Zweifel ansah.

»Ich wollte, ich hätte Sie niemals gesehen, Fräulein Hulda,« sagte er in dem Tone aufrichtiger Traurigkeit. Er blieb stehen, als ob er noch mehr sagen wollte, aber da er keine Worte für seine Gefühle finden konnte, schüttelte er resigniert melancholisch den Kopf und fing von neuem an auf und ab zu gehen.

»Sie sind gerade nicht allzu galant,« rief sie in übermütigem Spott aus.

»Nein, ich wünschte, ich wäre es. Ich wollte, daß ich die Kunst verstünde, den Leuten angenehme Dinge zu sagen. Aber es liegt auf meinen Gedanken und meiner Ausdrucksweise wie ein Bleigewicht, das ich nicht abschütteln kann. Es gab eine Zeit, wo ich stolz darauf war und mit Mitleid auf den leichtherzigen Uebermut der Jugend herabblickte. Aber Sie haben mich gelehrt, meinen Ernst als bloße Schwerfälligkeit anzusehen, als Mangel an geistiger Beweglichkeit und an jenem schnellen Takt, der den Verkehr leicht und angenehm macht.«

»Aber Herr Falck, ich habe ganz gewiß nicht die leiseste Absicht gehabt, mich als Ihren Lehrer aufzuspielen.«

»Nein, das weiß ich wohl. Sie konnten nichts dafür. Sie haben mir auch diese Lektion in der Demut nicht durch Worte gegeben. Ihre bloße Gegenwart genügte, die Luft, die Sie umgab, die von einer gewissen Verachtung gegen mich und meine Ansichten erfüllt war.«

»Verachtung? Ist das nicht ein sehr schroffer Ausdruck?«

»Nein, nicht zu schroff! Gestehen Sie es, Fräulein Hulda, Sie haben mich verachtet – und vielleicht thun Sie es noch?« Herr Falck ahnte nicht, daß er gerade in dieser Offenherzigkeit die Schwerfälligkeit zeigte, den Mangel an savoir-vivre, den er soeben beklagt hatte.

Obgleich Hulda das, was ihm fehlte, bis zur Vollendung besaß, wurde ihr doch höchst unbehaglich zu Mute. »Mein lieber Herr Falck,« sagte sie ausweichend, »warum erörtern wir eigentlich solche unerquickliche Themata?«

»Sie wollen mir also nicht antworten?«

»Es ist nicht hübsch von Ihnen, daß Sie mich so in die Enge treiben.«

Er war sichtlich nicht auf das Zugeständnis vorbereitet, das in ihrer ausweichenden Antwort lag, und nachdem er sie einen Augenblick vorwurfsvoll angeblickt, nahm er seine eintönige Wanderung wieder auf.

Trotz eines quälenden Bewußtseins, das sie nicht unterdrücken konnte, empfand Hulda doch etwas wie leisen Triumph darüber, daß sie ihn jetzt so völlig zu ihren Füßen sah.

Auf dem Lande, wo das Leben sich so gleichmäßig abspielt und Nachbarn spärlich sind, pflegt der tägliche Umgang die Leute näher aneinander zu schließen, und das bloße Zusammenleben und die verführerische Macht der Gewohnheit nähren ein freundliches Interesse und eine Vertrautheit, die oft genug als angenehmer Ersatz für die Liebe hingenommen wird.

Frau Brinckmann, die eine große Herzenskennerin war, hatte sich bisher jeglicher Einmischung in die Beziehungen zwischen Herrn Falck und ihrer Tochter enthalten; sie hatte mit Genugthuung bemerkt, daß die Periode der Gleichgültigkeit vorübergegangen und daß beide von Zeit zu Zeit sehr erregt waren. Sie sagte sich – denn Hulda vertraute ihr nichts an – daß sie wohl miteinander zankten, und sie sah das als ein günstiges Zeichen an. Manchmal vermieden die beiden bei Tisch, sich anzusehen, und Herrn Falcks ängstliches und verstörtes Aussehen fand in Huldas Schweigsamkeit und majestätischer Haltung die nötige Erklärung. Nur über den langsamen Fortgang war die Mutter etwas enttäuscht. Zehn Monate waren jetzt seit der Ankunft des Hilfspredigers verflossen, und noch war keine Verlobung in Aussicht. Frau Brinckmann beschloß darum, das Gewissen ihrer Tochter etwas anzustacheln. Diese ruhige, verständige Matrone war eine strenge Frau, und ihre Tochter fürchtete nichts so sehr als ein Tete-a-tete mit ihr. Obgleich sie selbst ein so kraftvoll angelegter Charakter und durchaus kein zu unterschätzender Gegner war, kam sie sich doch in diesen Unterredungen mit der Mutter unbedeutend und fast hilflos vor. Schon die Luft in dem »blauen Zimmer« – so hieß ein selten benutztes Logierzimmer mit einer großgeblümten Tapete, wohin sie bei solchen Gelegenheiten befohlen wurde – hatte für sie etwas feierlich Beklemmendes. Die Thatsache, daß der Bischof aus Christiania, wenn er auf seiner jährlichen Inspektionsreise kam, hier zu logieren pflegte, verlieh diesem Gemach etwas Würdevolles in den Augen der Kinder. Hulda konnte sich noch deutlich erinnern, wie in ihrer Kindheit alle messingenen Löwenköpfe am Schreibpult und am Waschtisch ihr Gesichter schnitten während der halben Stunde, da sie in einer Ecke kauernd darauf wartete, daß sie für ihre kindischen Vergehen von der Mutter zur Rede gestellt werden sollte. Die Löwenköpfe flößten ihr jetzt allerdings keine Furcht mehr ein, aber das Zimmer war es, das sie in Gegenwart der scheltenden Mutter zum Kinde machte und ihr Selbstgefühl vernichtete. Sie wußte, daß bei ihrer Mutter keine Ausflüchte helfen würden. Frau Brinckmann war nicht wie ihr Mann mit Schmeichelreden »herumzukriegen«. Sie hatte eine höchst ungemütliche Art und Weise, den zu erörternden Gegenstand aller gefühlvollen Umhüllung zu entkleiden und ihn in erbarmungsloser Nacktheit hinzustellen.

Hulda hatte nun schon zum drittenmal im blauen Zimmer die Meinung ihrer Mutter über ihr Verhalten zu Herrn Falck vernommen, und sie fühlte, wie ihr Widerstand nachließ. Sie sah die Zeit kommen, wo sie aus bloßer Erschöpfung sich den Bestimmungen, die ihre Mutter getroffen, fügen würde, aber sie hoffte von Falcks ritterlichem Sinn, daß er sich einem Mädchen nicht aufdrängen würde, das offen gestand, ihn nicht lieben zu können noch zu wollen. Wiederholt spielte sie daher in seiner Gegenwart auf die Lage der Dinge an, in der Hoffnung, daß er erraten würde, was sie ungesagt sein ließ. Aber er erwiderte ihren ängstlich forschenden Blick nur mit verwundertem Stirnrunzeln. Und wiederum vergingen einige Tage, bis ihm stückweise und durch langsame und widerstrebende Eingeständnisse der ganze mütterliche Plan entdeckt wurde.

Herr Falck war aufrichtig erschrocken, als er erfuhr, daß er zum Werkzeug der grausamen elterlichen Gewalt ausersehen sei. Er war mittlerweile gründlich in Hulda verliebt und hegte vielleicht eine leise Hoffnung, daß er sie um seiner selbst willen gewinnen könne. Daß sie sich nun an ihn gleichsam als Verbündeten wandte, war ihm eine große Enttäuschung. Aber er nahm ihr Vertrauen gutwillig auf und tröstete und beruhigte sie nach besten Kräften. Mit eiserner Beharrlichkeit unterdrückte er alle Regungen eines Liebenden und bemühte sich so heldenmütig, nur als Freund zu handeln, daß sie Tag für Tag mehr dahin kam, ihr Urteil über ihn zu ändern.

Zwei Tage vor Heiligabend geschah etwas, das keine von den beteiligten Personen vorausgesehen hatte. Das große alljährliche Fest auf dem Lande, die Schlachterei, war im Gange und das ganze Pfarrhaus vom Keller bis zum Giebelstübchen von würzigen Gerüchen erfüllt. Ein Knecht mit einem weißen Tuch um den Kopf stand auf dem Flur und schwang eine große Mörserkeule, mit der er eine teigige Fleischmischung in einem großen marmornen Mörser bearbeitete. Jedesmal, wenn sich die Küchenthür öffnete, drang der frische Duft von verführerischen Gerichten hervor, und man konnte sehen, wie Frau Brinckmann und Magda, mit weißen Schürzen angethan, allerhand appetitliche Dinge zubereiteten. Die drei ältesten Töchter hatten die Pflichten im Haushalt unter sich geteilt; jede hatte abwechselnd die Küchenwoche unter der Oberaufsicht ihrer Mutter, und diesmal war die Reihe an Magda.

Hulda saß am Klavier und sang Herrn Falck vor, der nach seiner Gewohnheit im Zimmer auf und ab ging. Es war das reizende Lied: »Ach, Mond, hast du gesehen, wie mich mein Schatz geküßt?« Sie sang es mit so neckischer Ausgelassenheit, daß das Herz des Hilfspredigers unruhig zu klopfen anfing. Dann plötzlich in eine andre Stimmung umschlagend, glitt sie hinüber in eine volltönende Melodie, voll schmerzlicher Ergebung und tiefer Traurigkeit, aus der hie und da ein wilder, leidenschaftlicher Schrei nach Glück, Lebensluft und Freude hervorbrach. Und dann wieder machte sie leise, fast unhörbar, den Uebergang zu dem Liede: »Der Eichwald brauset,« das mit seiner tiefen Empfindung und sehnsüchtigen Klage so zu Herzen geht.

Gerade als Hulda den vorletzten Vers beendet hatte, erschien Magda, vom Küchenfeuer gerötet, in der Thür. »Mutter sagt, du möchtest doch sofort aufhören zu singen,« rief sie, jedes Wort mit der Kelle in der Hand betonend, »die Mädchen verlieren beim Zuhören ganz den Kopf, sie zuckern das Fleisch und salzen den Kuchen.«

»Schön, ich will aufhören,« sagte Hulda und stand ruhig vom Klavier auf.

Sie bemerkte, als sie den Kopf wandte, daß Herrn Falcks Augen mit eigentümlich lebhaftem Interesse auf ihrer Schwester ruhten, wie sie dastand und mit dem Scepter hausfraulicher Macht hantierte.

»Sie erinnert mich an Penelope,« sagte er mit leisem Lächeln, als die Thür sich wieder hinter der anmutigen Erscheinung geschlossen hatte.

»Warum an Penelope?« fragte Hulda etwas hochfahrend.

»Sie wissen ja, es ist eine Stelle in der Odyssee,« erwiderte Falck sanft, »wo die ungestümen und unverschämten Freier das Hab und Gut des Odysseus verprassen, während Penelope unter ihnen wandelt, in anmutiger, hausfraulicher Würde, sich ihrer Schönheit so ganz und gar nicht bewußt.«

»Du lieber Himmel, wie können Ihnen durch Magda solche Gedanken kommen! Ich weiß nichts davon, daß ihr je ungestüme Freier lästig gefallen wären.« Sie fühlte, noch ehe sie diese Bemerkung ganz ausgesprochen, daß sie etwas wenig Hochherziges gesagt hatte, und daß der Beweggrund, der sie dazu angetrieben, ein unedler war.

Sie schämte sich so sehr über sich selbst, daß sie hätte weinen mögen. War sie nicht einmal großherzig genug, einem Liebenden zu entsagen, den sie gar nicht für sich beanspruchte? War sie am Ende gar auf ihre Schwester eifersüchtig?

Hulda lag fast die halbe Nacht wach und dachte über dies Rätsel nach. Sie kam schließlich dahin, zu glauben, daß die Freundschaft, die zwischen ihr und Herrn Falck entstanden war, sich unmerklich in Liebe verwandelt hätte.

Noch ehe das neue Jahr eine Woche alt geworden war, hatte sie den Entschluß gefaßt, ihren Widerstand aufzugeben, und am Tage darauf fand ihre Verlobung mit Herrn Falck statt.


Seit der Verlobung war eine Woche verflossen, und die Brautvisiten bei den Nachbarsleuten sollten gemacht werden, als der Pastor einen Brief von einem hohen Beamten aus Christiania erhielt. Darin stand, daß infolge Parlamentsbeschlusses eine Kommission ernannt sei, die die Kosten eines projektierten Eisenbahnbaues durch diese Gegend abschätzen und die voraussichtliche Route bemessen und abstecken sollte. Der Schreiber des Briefes, ein Freund des Pastors, fügte hinzu, daß er seinem Neffen, dessen Vormund er unglücklicherweise sei, eine Anstellung bei der Kommission verschafft habe, und er bat Pastor Brinckmann, in Erinnerung an die Zeiten »alter Burschenherrlichkeit«, sich des etwas leichtlebigen jungen Mannes anzunehmen und ihn, wenn möglich, in seinem Hause einzuquartieren.«

Eine so wichtige Angelegenheit konnte nicht ohne Familienratschluß entschieden werden, und Pastor Brinckmann und seine Frau zogen sich anderthalb Stunden in das »blaue Zimmer« zurück, wo sie über den Vorschlag in seiner ganzen Tragweite beratschlagten. Frau Brinckmann meinte, daß der Einfluß des hochgestellten Beamten ihrem Fritz noch einmal zu statten kommen könnte; ferner ließe sich das Geld, das der junge Mann für seinen Unterhalt bezahlte, als Schulgeld für Fritz zurücklegen. Zwar gefiel dem Pastor so wenig als seiner Frau die Art, wie der hochgestellte Onkel von seinem Neffen sprach, aber Hulda war verlobt, Magda ein gutes und folgsames Mädchen, und Frau Brinckmann erklärte, sie werde ihre Augen schon offen halten.

Die Antwort lautete deshalb günstig, und binnen vierzehn Tagen erschien Olaf Brun auf der Bildfläche.

Begreiflicherweise erregte die Ankunft eines Menschen, dem ein solcher Ruf voranging, viel Aufregung. Alle Mädchen, Hulda ausgenommen, brannten vor Neugier. Sie stellten sich gewissermaßen vor, daß der neue Ankömmling das fascinierende Aussehen eines Bösewichts habe, den Bildern gleich, die sich ihre ländliche Phantasie nach den wenigen Büchern, die sie hatten lesen dürfen, geschaffen hatte. Magda und Stina, die die Ankunft des Dampfers von ihrem Fenster im zweiten Stock aus beobachteten, vergingen fast vor Erregung, als sie ihn. erblickten.

Und doch entsprach er eigentlich durchaus nicht den gehegten Erwartungen. Was sie sahen, war eine leicht gebaute, wohl proportionierte Gestalt, die in einen gewaltig großen Havelock eingehüllt war; ein hübsches Gesicht, angenehme, aber keine festen Züge und ein großer Reichtum von blondem Haar, das unter dem breiten Hutrand hervorquoll. Sie hatten nur einen flüchtigen Blick auf ihn werfen können, wie er schnell vorüberschritt, während ihm der Kofferträger das Gepäck nachtrug. Sein Atem, der in der Kälte sichtbar war, schwebte noch einen Augenblick in der Luft, ehe er sich zerteilte, während der des Kofferträgers in zwei dicken Rauchsäulen emporstieg und an ein schnaubendes Pferd erinnerte.

Die Familie hielt es für unschicklich, den Fremden an der Landungsbrücke willkommen zu heißen, und nur Nils, der Stalljunge, war dort, um ihn zu empfangen. Fritz, der halb versteckt hinter der unbelaubten Hecke oben auf dem Hügel stand, erklärte nach kurzer Besichtigung, daß »nicht viel dran« sei, und schritt voll erhobener Gefühle nach dem Stall hin, wo er sich auf eine Wagendeichsel setzte und auf Nils wartete. Um die Zeit hinzubringen, nahm er die beste Peitsche von der Wand und ließ sie mit innerer Befriedigung knallen, bis sein Freund kam. Nils sagte nichts, sondern spuckte nur bedeutungsvoll aus einer Mundecke aus.

Die beiden waren ein eigentümlich lakonisches Paar und verschwendeten in der Unterhaltung keine Worte. Wenn sie irgend etwas auf dem Herzen hatten, so war das ein doppelter Grund, nicht darüber zu reden, oder doch nur auf die allervorsichtigste Weise. Dem Knaben war so sehr um die Zustimmung des Stalljungen zu thun, daß er gewöhnlich mit der eigenen Ansicht zurückhielt, bis er wußte, was Nils dachte. Und Nils, der sich seiner machthabenden Stellung voll bewußt war, nutzte sie nach Kräften aus und gefiel sich mit einem gewissen Entzücken in den widersprechendsten Aeußerungen.

»Wetten, daß sie doch noch'n Pastor aus dir machen?« sagte er und fing an, das Zaumzeug der Pferde zu putzen. Er wußte recht gut, daß er den Knaben durch nichts mehr ärgern konnte.

»Nein, das werden sie nicht!« erklärte Fritz und ließ die Peitsche knallen.

»So wird nicht geknallt, du Dummkopf,« bemerkte Nils, nahm die Peitsche und knallte, daß es wie ein Pistolenschuß klang.

Fritz ließ einen Augenblick den Kopf im Gefühl tiefster Demütigung hängen; dann nahm er seine Uebungen, wenn auch etwas entmutigt, wieder auf.

»Kannst's nicht,« sagte der Stalljunge und spuckte verächtlich aus, »dein Arm ist wie'n Mädchenarm, so weich wie'n Lappen.«

»Na, Nils, das ist nicht wahr. Fühl mal bloß an!« rief der Knabe höchst verletzt. Er machte seinen Arm steif, knirschte mit den Zähnen, um die Muskeln straffer zu spannen

»Du hätt'st 'n Mädchen werden sollen,« fuhr Nils mit boshafter Freude fort, »oder so was, wie der langhaarige Zierbengel, der heute mit'm Dampfer gekommen ist.«

»Na, fühle mal bloß!« beharrte Fritz, der jetzt seinen Aermel aufgestreift hatte und eine höchst präsentable Muskulatur zeigte, »hart wie ein Strick!«

»Warte, bis du wirklich was zu zeigen hast, oder guck dir mal den an!« Und Nils entblößte einen langen, behaarten Arm mit einer staunenerregenden Muskulatur.

Fritz zog sehr niedergeschlagen den Aermel herunter und hängte resigniert die Peitsche an die Wand.

»Für'n Pastor ist's ja kein so übler Arm,« bemerkte Nils, der jetzt mittlerweile zu der Einsicht kam, daß er ihn genug gequält habe.

»Ich sagte dir aber schon, ich will kein Pastor werden!«

»Ja, aber darüber hast du nichts zu sagen. Sie werden aus dir einen Pastor machen, ob du willst oder nicht.«

»Herr Falck sagt, daß ich im Lateinischen so schlecht sei, wie noch nie ein Junge!« prahlte Fritz, »und er sagt, daß ich es niemals bis zur Prima bringen werde.«

»Na, dann werden sie wohl aus dir solchen Affen machen, wie der, der heute von Christiania gekommen ist.«

»Ich will aber auch nicht so sein, wie der. Ich will stark und kräftig werden, wie du, Nils!« Dabei zog Fritz ein Päckchen Tabak aus der Tasche, das er Nils halb mißtrauisch entgegenhielt.

Dieser that ein Weilchen, als ob er es nicht sähe. Dann nahm er es mürrisch, beroch es mit kritisch in die Höhe gezogener Stirn und steckte es in seine Tasche. Fritz wünschte wohl, Nils Ansicht über den neuen Ankömmling noch deutlicher zu hören, um zu wissen, was für eine Stellung er ihm gegenüber einzunehmen habe, und er wußte, daß seines Mentors Seele nicht ganz unzugänglich für Bestechungen war.

»Glaubst du wohl, ich könnte ihn unterkriegen?« fragte er nach einer Pause und beobachtete Nils' Gesicht voll Spannung.

»Ich würde mich lieber nicht mit ihm einlassen,« sagte Nils, durch das Geschenk versöhnlicher gestimmt, »du würdest ihn am Ende unterkriegen, aber Fräulein Hulda wird zu ihm halten, und dann ziehst du doch nur den Kürzern.«

»Ach was!« rief Fritz mit stolzer Verachtung aus, »du denkst wohl, daß ich vor einem Mädchen Angst habe!


Die Frau Pastor hatte eine Handvoll Rosenblätter auf den Kaminsims gestreut, und das Wohnzimmer war von einem schwachen Wohlgeruch erfüllt. Vor einem der Fenster stand ein Blumentisch mit blühenden Pflanzen, und der helle Wintersonnenschein, der ungehindert hereinströmte, warf die Schatten von Tischen und Stühlen auf den hellen Holzfußboden Es lag etwas anheimelnd Gemütliches und Friedliches über dem großen Zimmer, das Olaf Brun höchst angenehm berührte, als der Pastor ihm die Thür öffnete und ihn über die Schwelle geleitete.

Hulda, die am Klavier saß und ihre Finger wie mechanisch über die Tasten gleiten ließ, stand auf, als er eintrat, und ihre Züge erhellten sich, während sie seinen Gruß erwiderte.

Es lag etwas Einnehmendes und Jugendfrisches in seinem Gesicht, seinem Lächeln, seinem ganzen Wesen. Er war ein sehr anziehender Mann, vielleicht hatte er ein klein wenig von einem Don Juan, dem von den gemachten Eroberungen noch etwas anhaftete. Für einen Mann in seinen Jahren hatte er viel von der Welt gesehen, und da er aus vornehmer Familie war und gute Verbindungen hatte, war er verwöhnt worden. Er hörte sich gern selbst sprechen und wurde unter dem Zauber seiner eigenen Beredsamkeit außerordentlich angeregt. Er war mittelgroß von Figur, trug sich aber, als ob er sich für bedeutend größer hielte. Nichts an ihm erinnerte an einen Eisenbahningenieur; sein Anzug sowohl als eine gewisse einschmeichelnde Grazie in seinem ganzen Benehmen ließen vielmehr auf einen Künstler schließen. Fröhliche Lebenslust strahlte aus seinen blauen Augen, und sein Lächeln hatte etwas so Herzgewinnendes, daß seine wohlgebildeten Züge fast schön dadurch wurden. Er trug eine schwarze Sammetjacke und graue Beinkleider, die weiter waren, als die Mode es vorschrieb. Eine große, grellfarbige Krawatte, in einen kühnen Knoten geschlungen mit flatternden Enden vollendete das Bild des Ankömmlings.

Wenn der Pastor nicht blind gewesen wäre, würde er bemerkt haben, mit welch überraschender Schnelligkeit der junge Mann, sobald die Vorstellung vorüber war; sich Hulda zuwandte und sich kaum von ihrer Seite losreißen konnte, als Frau Brinckmann eintrat. Im Handumdrehen brachte er es dahin, einen äußerst ungünstigen Eindruck auf die weltkluge Frau zu machen. Er wurde von ihr gewogen und zu leicht befunden. Seine etwas überschwengliche Art und höfliche Gewandtheit beeinflußten sie zu seinen Ungunsten.

»Ich schätze mich außerordentlich glücklich,« sagte er und verbeugte sich ehrerbietig, »die kommenden Monate an einem so reizenden Orte und unter so liebenswürdigen Menschen zubringen zu dürfen.«

»Sollten Sie nicht in Ihrem Urteil etwas voreilig sein?« fragte die Frau Pastor mit ihrem erkältenden Lächeln, »wenn Sie uns schon nach einer Bekanntschaft von zehn Minuten für liebenswürdig erklären?«

»Durchaus nicht. Ich habe eine ungeheuer schnelle Auffassung, und meine ersten Eindrücke sind fast immer maßgebend.« Er lachte über das ganze Gesicht, als er das sagte; nicht weil es irgendwie komisch gewesen wäre, sondern nur weil er mit sich und der ganzen Welt so zufrieden war.

Aber Frau Brinckmann legte ihm das Lächeln als tadelnswerte Leichtfertigkeit aus, und in etwas verweisendem Tone antwortete sie: »Da müssen Sie ja ein ganz außergewöhnlicher junger Mann sein.«

»Außergewöhnlich? Ja, offen gesagt, wenn ich mich nicht für außergewöhnlich hielte, würde ich das Leben nicht des Lebens wert halten. Nichts ist bedrückender, vernichtender für das Selbstgefühl, als der schreckliche Gedanke, daß man nur eine menschliche Nummer ist – einer aus der großen, gleichförmigen Herde.«

»Aber vielleicht ist für manchen jungen Mann gerade dasjenige nötig, was das Selbstgefühl dämpft!«

Der tadelnde Ton war diesmal nicht mißzuverstehen, und Olaf, dem ein Verständnis aufzugehen begann, daß seine Wirtin ihm einen Verweis zukommen ließ, lachte verlegen und kam zu der Schlußfolgerung, daß Frau Brinckmann durch den Brief seines Onkels ein Vorurteil gegen ihn gefaßt haben müsse. Er war eine offene, sonnig veranlagte Natur, mit dem Egoismus dieser Art Menschen, und obgleich sein Onkel sich ihm gelegentlich aus verwandtschaftlichen Gründen »mißliebig« gemacht hatte, war es ihm doch nie in den Sinn gekommen, daß noch sonst jemand unfreundliche Regungen gegen ihn empfinden könne.

Es war für ihn ein großer Trost, daß Fräulein Hulda, die mit erschrockener Verwunderung den strengen Worten ihrer Mutter gelauscht, offenbar seine Gefühle teilte. Denn sie näherte sich ihrer Mutter mit erregtem Gesicht und fragte, offenbar in dem Bestreben, der Unterhaltung eine andre Wendung zu geben, ob Herr Brun musikalisch sei, worauf Herr Brun mit einem dankbaren Seufzer der Erleichterung erwiderte, daß er singen und auch aus dem Stegreif dazu eine Begleitung auf dem Klavier spielen könne.

»Hoffentlich paßt Ihre Stimme gut zu der Huldas,« rief der harmlose Pastor aus und fuhr, trotz eines warnenden Blickes seiner Frau, fort: »Hulda hat einen herrlichen Sopran; obgleich ich ja selbst ihr Vater bin, muß ich das zugeben.«

In den Augen seiner bessern Hälfte war deutlich die Mißbilligung dieser Schmeichelei zu lesen; um jedoch offenen Widerspruch zu vermeiden, erhob sie sich mit der Energie ihrer unterdrückten Gefühle und ging in die Küche hinaus. Sie bereute, ihre Einwilligung zur Aufnahme des jungen Mannes in ihre Familie gegeben zu haben.

Olaf erschien die Luft, die er atmete, leichter und freier, sobald sie fort war. »Wollen wir nicht gleich einmal versuchen, wie unsre Stimmen zusammenklingen?« fragte er und öffnete bereits das Klavier. »Es bedarf übrigens keiner Bestätigung für mich, daß Ihre Stimme sehr schön ist,« fügte er mit bezaubernder Freimütigkeit hinzu.

Der Pastor wurde etwas unruhig bei dieser kühnen Redeweise, und er empfand eine große Erleichterung, als Herr Falck eintrat.

»Herr Pastor Falck, der Verlobte meiner Tochter,« sagte er vorstellend – »Herr Eisenbahningenieur Brun.«

Beide Herren verbeugten sich zeremoniell. Für Olaf war die Nachricht von Huldas Verlobung mit diesem biederen, streng korrekten Manne wie eine kalte Wasserdouche, und für Falck hatte der lockenhäuptige Jüngling mit seiner Gewandtheit und seinen bestechenden Manieren etwas Bedrohliches, gerade jetzt, wo er glaubte in den Hafen des Glücks hineinzusteuern.

Hulda hatte sich inzwischen ans Klavier gesetzt und schlug ein paar kraftvolle Akkorde an. Ihr war beim Anblick des jungen Mannes, bei dem sympathischen Tonfall seiner Stimme, bei der Verehrung, die in seinen Worten lag, als ob sie aus einer schweren Betäubung, einer Art Winterschlaf erwache. In ihr begann sich leise etwas zu regen, was sie bis dahin glücklich unterdrückt hatte: ein Auflehnen gegen die beständige asketische Zucht, die Empörung der ungekünstelten Natur gegen die Zwangsjacke der Zivilisation. Sie ließ ihre prächtige Stimme ertönen, nicht wie sonst mit resignierter Melancholie, sondern mit so hinreißender Gewalt, daß der Hilfsprediger mit gerunzelter Stirn zu dem Pastor hinüberblickte, der, von einem unbehaglichen Gefühl getrieben, aufstand, sich seine Pfeife ansteckte und im Zimmer auf und nieder ging.

Der junge Ingenieur eilte an Huldas Seite und fiel mit einem weichen, gut geschulten Baryton ein. Er traf die zweite Stimme mit wunderbarer Genauigkeit und Leichtigkeit, die große musikalische Begabung verriet. Jeder Gefühlsschattierung, jedem Crescendo und Diminuendo schmiegte er sich mit einer Biegsamkeit an, daß ein Schauer des Entzückens durch Huldas Nerven rieselte. Nun stiegen ihre vereinten Stimmen empor, sich gleichsam an dem herrlichen Zusammenhang weidend, dann trennten sie sich, verfolgten einander in scherzendem Uebermut, wiegten sich, hüpften und entflohen, bis sie sich zuletzt in den vollen, gewaltigen Schlußakkorden wie in jubelnder Harmonie vereinten.

Mit heißen Wangen erhob sich Hulda vom Klavier. Der Pastor, in der Freude darüber, einen wahrhaft musikalischen Menschen entdeckt zu haben, drückte herzlich Olafs Hand, und sogar der Hilfsprediger konnte nicht umhin, seiner Befriedigung Ausdruck zu verleihen.


Pflichten in der Gemeinde nahmen Herrn Falck den Tag über in Anspruch, und am Abend, wenn er von der Arbeit heimkehrte, pflegte er seine Braut in angeregter Unterhaltung mit dem jungen Ingenieur vorzufinden.

»Aber wirklich, Herr Brun,« hörte er sie einmal sagen, als sie vom Klavier aufstanden, nachdem sie zusammen ein Duett gespielt hatten, »ich begreife nicht, wie Sie Ingenieur werden konnten. Ich könnte Sie mir viel eher als Künstler denken.«

»Sie haben mein innerstes Geheimnis erraten, Fräulein Hulda,« rief Brun mit feuriger Begeisterung aus, »ich bin ein Künstler, durch eine grausame Notwendigkeit gezwungen, die Maske eines Ingenieurs zu tragen.«

»Aber warum thun Sie es, wenn Sie es nicht mögen?«

»Weil mir ein ungütiges Schicksal einen Vormund gegeben hat, der gegen jede vernünftige Vorstellung taub und gegen Bitten unzugänglich ist. Aber in wenigen Monaten werde ich einundzwanzig Jahre alt, und dann kann ich allen Eisenbahnbauten Lebewohl sagen und mich der Kunst widmen.«

»Sie wollen also Musiker von Beruf werden?«

»Musiker? Warum nicht gar! Ich will Maler werden. In der Musik bin ich nur Dilettant. Offen gestanden, in der Malerei bisher ebenfalls nur. Aber im März hat die Tyrannei meines Onkels ein Ende!«

»Aber wird es dann nicht zu spät sein?«

»Vielleicht. Doch wo das ganze Lebensglück auf dem Spiele steht, kann keine Rede von ›zu spät‹ sein. Ich hasse die Mathematik; Maschinen sind mir ein Greuel. Und sein ganzes Leben lang sich mit Dingen abzugeben, die einem verhaßt sind, ist ein Verbrechen gegen sich selbst! Ich fühle den Funken des Genies in mir, einen gewaltigen, schöpferischen Impuls!«

Solche Reden hatte die Tochter des Pastors bisher noch niemals vernommen, und es fehlte ihr an Erfahrung, um sie nach ihrem wahren Wert zu schätzen. Es lag in dem unerschrockenen Mut des Jünglings etwas, das in ihrem Innern eine verwandte Saite erklingen ließ, und seine Begeisterung für alles Schöne wirkte ansteckend. Seine Beredsamkeit war von so überzeugender Wärme, und seine gänzliche Hintansetzung aller jener Nützlichkeitsideen, die ihr von Kindheit an gepredigt worden waren, erschien ihr imponierend kühn und neu. Sie bemerkte kaum, daß er immer nur von sich selbst sprach. Seine Pläne, seine Träume, seine Erfahrungen, sein edler Widerstand gegen Lehrer, Zwang und Vormund, seine Absicht, die Welt mit seinem Ruhm zu erobern und alle diejenigen zu zerschmettern, welche sein Genie angezweifelt hatten, das waren die Themata, die er in unendlichen Variationen behandelte.

Es war nicht zu verwundern, daß Herrn Falcks nüchterne Reden über die besorgniserregende Auswanderung und die große Armut unter den Landleuten nach solchen hochfliegenden Ergüssen ihr schal vorkamen. Der Hilfsprediger hatte eine so geringe Meinung über den jungen Ingenieur, was Charakter und moralischen Wert betraf, daß er ihn für ungefährlich hielt. Er zweifelte nicht, daß Hulda, wenn nur erst der Reiz der Neuheit vorüber war, seine Flachheit entdecken würde. Auch kannte er sie gut genug, um zu wissen, daß der kleinste Versuch, Herrn Brun zu nahe zu treten, ihre Teilnahme wachrufen würde, und deshalb erhob er niemals Einwendungen gegen ihr beständiges gemeinsames Singen und Spielen, von dem abgerissene Klänge jedesmal, wenn sich eine Thür öffnete, zu ihm in sein Studierzimmer drangen.


Es war Mitte Februar. Die Welt glich einer ungeheuren, weißen Einöde. Der Wald war halb unter einer Schneedecke begraben, und die Tannen standen mit gesenkten Aesten, die sich unter der Schneelast beugten. Hie und da, wenn der Schnee herabfiel, schüttelte sich ein Zweig wie in einem Gefühl von Erleichterung, und die feinen Frostkrystalle stiebten glitzernd im Sonnenschein herunter.

Das Pfarrhaus, das kniehoch im Schnee lag, sah wie eine Festung im belagerten Zustande aus, von weißen Wällen und Verschanzungen umgeben. Eine übellaunige Krähe saß in dem Ahornbaum dicht an der Hausthür, blies ihr Gefieder gegen die Kälte auf und schaute höchst verdrießlich drein.

Am Fenster in dem großen, gemütlichen Wohnzimmer stand Herr Falck und sah ebenso finster aus als die Krähe draußen. Die Luft um ihn herum schien wie mit einem elektrischen Fluidum geladen zu sein, gleichsam vor unterdrückter Wut zu zittern

»Ich lie–ie–be dich,« klang es vom Klavier her in einem leidenschaftlichen Sopran, und ein höchst gefühlvoller Baryton wollte darüber vor Entzücken vergehen. Sie wiederholten allein und zusammen: »Ich liebe dich – ich lie–ie–be dich – ich lie–ie–ie–be dich.« Dann gestanden sie sich gegenseitig alle die verschiedenen Umstände, unter denen sie sich lieben gelernt, liebten und einander ewig lieben würden – Sommer, Winter, Sonnenschein, Mondlicht, Regen und so weiter.

Herr Falck sah ein, daß es Zeit würde, eine kleine Auseinandersetzung mit seiner Braut vorzunehmen, um zu erfahren, wie sie eigentlich miteinander stünden. Er wandte sich um und sah, wie der Kopf des jungen Ingenieurs in der Begeisterung des Singens gefühlvolle Bewegungen machte, während Hulda von künstlerischer Begeisterung ganz hingerissen zu sein schien.

»Hättest du Luft, heute nachmittag mit mir Schlitten zu fahren?« fragte Falck, als das Lied beendet war. »Das Wetter ist herrlich.«

Sie sah Brun an, als ob ihre Antwort von ihm abhinge.

»Wenn Sie die Güte haben möchten, Fräulein Hulda heute zu entschuldigen,« fing der Ingenieur mit verlegener Hast an, denn ihm war daran gelegen, sich der Situation gewachsen zu zeigen, »nämlich – ich wollte sagen – Fräulein Hulda und ich –«

»Haben uns verabredet?« ergänzte Falck. »Es thut mir außerordentlich leid, Ihnen hinderlich sein zu müssen; aber es ist mein ganz besonderer Wunsch, daß Fräulein Hulda heute nachmittag mit mir fährt.«

»Nun gut,« sagte Hulda, »ich werde mich bereit halten. Wann willst du fahren?«

»Um vier Uhr.«


Zur bestimmten Stunde fuhr Nils mit dem besten Pferde des Pfarrers vor, einem fetten, plumpen Familiengaul von ungewissem Alter. Nils zeigte, soweit er's wagte, seine Verachtung für Herrn Falcks schwache Muskeln in der Art und Weise, wie er ihm die Zügel einhändigte. Fritz balancierte mit beiden Händen in der Tasche auf den Holzpfählen und beobachtete das Pferd mit Kennermiene. Ab und zu sah er seinen künftigen Schwager sehr von oben herab an, wie er, in seinen dicken Pelz eingehüllt, dastand und einen großen rotwollenen Shawl um den Hals gewickelt trug. Plötzlich erschien Hulda, trotz des schweren Pelzmantels – einem gemeinschaftlichen Eigentum der drei Schwestern, das sie abwechselnd trugen – so leichtfüßig und mit solcher Elastizität einherschreitend, daß es die Bewunderung des kritischen Stalljungen erregte.

»Donnerwetter!« sagte er leise zu Fritz, der gerade von den Pfählen heruntergesprungen war, »diese Hulda! Würde zu dem forschen Ingenieur weit besser passen als zu dem Knochengerüst da!« Und er legte den Kopf auf die Seite und spuckte mit einem Ausdruck größten Abscheus aus.

Herr Falck war inzwischen, ungeschickt genug, bemüht, seiner Braut zu helfen und ihre Füße in den Pelzfußsack zu stecken. Sie nahm seine Aufmerksamkeiten zerstreut hin. Am Fenster des Wohnzimmers standen der Pastor und seine Frau und betrachteten die Vorbereitungen zu der Fahrt mit Interesse und nickten und warfen den beiden Handküsse zu. Und am Fenster des oberen Stockwerkes waren Magda, Stina und die kleineren Schwestern, sowie drei Dienstmädchen von dem wichtigen Ereignis in Anspruch genommen und tauschten lebhaft ihre Bemerkungen darüber aus.

Als endlich die Pelzdecke zu beiden Seiten des Schlittens befestigt war, schnalzte der Hilfsprediger vorsichtig dem Pferde zu, das mit einem Ruck anzog und beinahe das Gefährt in dem großen Schneehügel am Thor umgeworfen hätte. Eins der Mädchen kam aus dem Hause gelaufen, rief »Fräulein Hulda!« und schwenkte eine Pelzkappe über dem Kopf.

Herr Falck ließ das Pferd halten.

»Ihre Mutter, Fräulein Hulda, will, daß Sie die Pelzkappe aufsetzen,« rief das Mädchen atemlos. »Sie is bange, daß Ihre Ohren frieren«

»Ach, Unsinn, sage ihr, daß ich sie nicht nötig habe.«

»Sie sagte es aber sehr nachdrücklich.«

»Nun, dann gib sie her.« Sie nahm die Kappe dem Mädchen ab und machte, sich ihrem Verlobten zuwendend, eine Bewegung, als ob sie ihm die Zügel abnehmen wolle. »Peitsche doch, bitte, das Pferd ein klein wenig,« bat sie, »sonst werden sie uns noch die ganze Wintergarderobe der Familie nachschicken.«

Es war erst wenig nach vier Uhr nachmittags, die Sonne aber war schon unter- und der Mond noch nicht aufgegangen Die Sterne strahlten vom tiefen nächtlichen Blau mit blendender Helle herab. Die Venus erglänzte hell und klar. Mars funkelte in unruhigem, zitterndem Licht, und Jupiter schwamm in ruhiger Majestät unterhalb der Milchstraße. Der Schnee glitzerte und leuchtete in Myriaden von Eisdiamanten, und in allen Vertiefungen und Abhängen lagerten klare bläuliche Schatten. Unter den Hufen des Pferdes knirschte der Schnee, er flog wie Flintenkugeln an ihren Ohren vorbei, von den Pferdehufen in die Luft geworfen; er stob in leisen, plötzlichen Schauern von den Fichtenzweigen, sobald ein Windstoß durch den stillen Wald fuhr.

In der weiten, feierlichen, mondlosen Einöde tönte das Geläute der Schlittenglocken trivial, fast verletzend, ähnlich einer abgedroschenen Tanzweise, die auf einer Orgel gespielt wird. Hulda empfand den Mißton, bis er endlich durch die beständige Wiederholung in der Stille verloren ging und sie ihn nicht mehr hörte. Sie vergaß auch beinahe ihren Gefährten, und ihre Gedanken wurden mit wunderbarer Leichtigkeit und Schwungkraft durch den unendlichen Raum dahingetragen. Sie war gefühlvoll, leicht zugänglich für große Eindrücke, wie jede echt künstlerisch veranlagte Natur. Das ihr so neue, wonnige Gefühl, in dem Verkehr mit Brun Verständnis und Teilnahme gefunden zu haben, hatte ihre Empfänglichkeit für Natureindrücke noch verstärkt.

»Ist das nicht herrlich?« rief sie aus, als sie in das Dunkel des Fichtenwaldes mit seinen endlosen Reihen vom Frost versilberter Stämme einbogen, auf denen das Sternlicht glitzerte.

»Tschk – tschk – tschk!« machte Falck, mit der Zunge schnalzend, und ließ die Peitsche knallen.

Hulda empfand diese Abkühlung und schwieg verletzt still. Bis zu diesem Augenblick hatte sie gar nicht mehr an Falck gedacht, sondern nur das enthusiastische Bedürfnis gefühlt, ihr Entzücken in eine verständnisinnige Seele zu ergießen. Nun wollte sie ihm ganz gewiß nicht wieder lästig fallen! Aber nach Verlauf einer Viertelstunde, während der nur die Schlittenglocken einförmig klangen, hörte plötzlich der Wald auf, und der zugefrorene Fluß breitete sich vor ihnen wie ein gewaltiges blaues, mit zahllosen blitzenden Edelsteinen besetztes Schild aus. Der unerwartete Anblick, seine überwältigende Schönheit nahm ihr fast den Atem.

»O Gott,« rief sie verzückt aus, »wie wunderbar schön, wie herrlich!«

»Tschk – tschk – tschk!« schnalzte Falck wieder und ließ die Peitsche knallen.

Er fühlte sich stets etwas befangen, wenn jemand in Begeisterung geriet, und jede überschwengliche Ausdrucksweise war ihm peinlich. Er hatte jedoch den Vorsatz gehabt, es so wenig als möglich merken zu lassen, und sein Peitschenknallen war darum nur eine instinktive Bewegung, sein Unbehagen auszudrücken Er hätte so gern ernsthaft mit Hulda geredet, und war eigens auf die Schlittenfahrt verfallen, um Gelegenheit dazu finden zu können Aber wie konnte er verständig mit ihr sprechen, solange sie sich in dieser überspannten, lyrischen Stimmung befand!

Jetzt glitten sie hinaus auf das Eis, auf dem die Hufschläge des Pferdes mit hartem, metallischem Klang erdröhnten. Obgleich sich nicht das leiseste Lüftchen regte, sauste ihnen von der schnellen Fahrt in der scharfen, klaren Kälte der Wind in den Ohren.

Die rasche und gleichmäßige Bewegung über die weite, sternbeschienene Fläche weckte in Hulda ein wunderbar belebendes Gefühl, und sie vergaß ihren Unwillen und brach von neuem aus: »Wie beklagenswert muß das Los der Menschen sein, die in Ländern leben, wo es keinen Winter gibt!«

»Ja,« sagte Falck, »sehr beklagenswert.« Das war ein prosaischer Anklang, den er zu gern festgehalten hätte, um vielleicht einen Anknüpfungspunkt an das Thema zu finden, das ihm so sehr am Herzen lag. Aber unglücklicherweise wollte ihm nicht gleich ein Uebergang einfallen, und inzwischen war Huldas rege Phantasie schon wieder meilenweit fort.

»Es gibt nichts Erhabeneres für mich,« sagte sie ohne erkennbaren Zusammenhang mit ihrer voraufgegangenen Bemerkung, »als die Klänge, durch die Beethoven in der Mondscheinsonate den milden Glanz des Mondes, das sanfte und liebliche Herabströmen des gedämpften, nächtlichen Lichts ausdrückt. Die Nachahmungen von Gewitterstürmen, vom Lärm der Kavallerieregimenter und von Klosterglocken sind nur grobe Kunststücke; aber das Genie, das Töne erfinden kann, die sich tief und verständnisinnig der Eigenschaft des Lichts, den Stimmungen der Seele anpassen, das ist groß und wahrhaft bewundernswert!«

Falck öffnete die Augen weit vor Verwunderung über diese schwärmerische Rede, in der er das Echo von Herrn Bruns Tiraden zu erkennen glaubte. Das war die Manier, wie dieser sich am Klavier zu ergehen pflegte, wenn er eine ausdrucksvolle Komposition beendet hatte. Für Falck war das alles der reinste Unsinn, und es war ihm ganz unbegreiflich, wie Hulda so etwas interessant finden konnte. Er meinte, daß sie ohne eigene Schuld von dem arglistigen Fremdling sich habe bestricken und täuschen lassen, aber nie zuvor war sie ihm so bezaubernd und anmutig erschienen. Wie sie so an seiner Seite saß in der schwachen nächtlichen Beleuchtung, ihr liebliches Antlitz zu den Sternen emporgehoben, da fühlte Falck ein so warmes Gefühl zum Herzen strömen, daß es sich ihm wie ein glühender Strom durch alle Adern ergoß. Er erkannte sich selbst kaum als den gesetzten, ernsten Geistlichen wieder, der er noch vor einer Stunde gewesen, dem für jede leidenschaftliche Gefühlsregung das Verständnis abging. Aber doch war die Stimme der Vernunft in ihm nicht ganz zum Schweigen gebracht, und als Hulda wiederum in Entzücken ausbrach, ernüchterte ihn das verhaßte Echo seines Rivalen sofort.

»Kann man es sich wohl denken,« rief sie mit Wärme aus, »daß alle diese glänzenden Welten, die über uns im Raume schweben, von fühlenden Wesen bewohnt werden, die lieben und hassen, lachen und weinen, sich freuen und leiden gleich uns?«

»Ich halte das für außerordentlich unwahrscheinlich,« sagte Falck so teilnehmend, wie er es über sich gewinnen konnte.

»Unwahrscheinlich? Nun, ich dachte, daß die Wissenschaft – das heißt – ich glaubte, daß die Astronomen dieser Ansicht wäre.n«

»Darin irrst du, meine Liebe. Die Astronomen haben nur festgestellt, daß ein oder zwei, möglicherweise drei Planeten von unserm Planetensystem bewohnt sein können. Ob sie es sind, das ist noch zweifelhaft. Was Saturn, Jupiter und Uranus anlangt, so ist es ganz gewiß, daß sie sich noch nicht in einem Stadium befinden, in dem Menschen oder Tiere sie bewohnen können.«

Es gereichte Herrn Falck zu einer gewissen Befriedigung, die Gründlichkeit seiner eigenen Kenntnisse im Vergleich zu den nebelhaften Theorieen des Herrn Brun zu zeigen, der in der That die Gabe hatte, über Dinge, von denen er wenig oder gar nichts wußte, mit schönen Worten zu reden. Falck ahnte nicht, daß Hulda die nüchternen Thatsachen, die er anführte, geradezu abgeschmackt und abscheulich fand. Es war ihr, als wenn vor den Himmel dadurch ein Vorhang gezogen und allen ihren phantastischen Vorstellungen ein Ende gemacht würde.

Der Hilfsprediger hatte das unbestimmte Gefühl, daß seine wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht gut aufgenommen worden sei, aber die Ursache blieb ihm verborgen. Wohl fünfzehn oder zwanzig Minuten lang flogen sie schweigend dahin über das schimmernde Eis, bald nach rechts, bald nach links eine Schwingung machend, wenn das Pferd nur ein wenig von der geraden Linie abwich. Als sie den Fluß verlassen hatten und wieder in den Wald einbogen, erblickte Hulda ein paar Eichhörnchen, die über den Weg sprangen.

»Sind sie nicht süß!« rief sie in kindlichem Entzücken aus. »Ich las einmal in einer Naturgeschichte, daß sie Nüsse für den Wintervorrat sammeln, wie kleine, kluge Hausfrauen, und daß die Männchen und Weibchen einander zärtlich lieben wie Mann und Frau.«

Falck wußte, was für ein gewissenloser Strauchdieb das Eichhörnchen ist und mit welcher abscheulichen Kaltblütigkeit es Vogelnester ausnimmt; aber er wollte nicht noch einmal den Unwillen seiner Braut dadurch heraufbeschwören, daß er ihr unliebsame Wahrheiten sagte. So schnalzte er nur »tschk–tschk–tschk« und ließ die Peitsche knallen.

Aber diesmal sprang Hulda fast von ihrem Platz empor, als ob sie selbst von der Peitsche getroffen worden sei. »Warum hörst du denn nicht endlich mit dem albernen Tschk, tschk, tschk auf?« fragte sie sichtlich gereizt, »siehst du denn nicht, daß das Pferd gar nicht schneller laufen kann?«

Falck erwiderte nichts, fühlte sich aber empfindlich verletzt. Er saß da und grübelte nach, und auch Hulda versank einen Augenblick in Grübelei über ihr gegenseitiges Verhältnis.

Während sie beide so, in bittere Gedanken vertieft, dasaßen, trafen sie einen langen Zug Pferde, die von Bauern vom Jahrmarkt der nächsten Stadt nach Hause getrieben wurden. Einige Bauern waren zu betrunken, um sich aufrecht zu halten, und ihre nüchternen Kameraden, die den in solchem Zustande todbringenden Schlaf verhindern wollten, ermunterten sie zu schnellem Gehen. Hulda kannte jede Familie in der Gemeinde und hatte Interesse an den Angelegenheiten jedes einzelnen ihrer Mitmenschen. Schnell traten ihre eigenen Kümmernisse in den Hintergrund, sie bat Falck, stillzuhalten, und lehnte sich aus dem Schlitten, um die taumelnden Gestalten besser zu erkennen.

»Wie ist's möglich, Lars Nordby!« rief sie aus, als sie einen der eifrigsten Kirchgänger erkannte, »schämst du dir denn nicht die Augen aus dem Kopf, daß du in solchem Zustande zu Frau und Kindern nach Hause kommst?«

»M–m–mich sch–sch–ä–men?« wiederholte der Angeheiterte mit lallender Zunge.

»Jawohl, dich schämen! Hoffentlich hast du noch so viel Schicklichkeitsgefühl!«

»H–h–abe ich nich,« erklärte der Tagelöhner, während er auf dem Wege hin- und herschwankte und fast in eine Schneeschanze fiel.

»Und du, Peter Vandsbeck,« tönte es, als eine zweite wohlbekannte Gestalt in Sicht kam, »du, ein armer Mann, der jeden Pfennig, den er verdient, für den Unterhalt seiner Familie nötig hat – es ist eine Schande, daß du dein sauer verdientes Geld vertrinkst und dich dann wegen Armenunterstützung an die Gemeinde wendest!«

Peter war von der Last seiner Schuld zu Boden gedrückt, so daß er nichts zu entgegnen wagte. Zwei andre erhielten ähnliche Zurechtweisungen und die beiden, die ihnen vorwärts halfen, wurden von ihr eindringlich ermahnt, die Trunkenen in Bewegung zu halten und ihnen unter keinen Umständen zu erlauben unterwegs einzuschlafen.

Falck, der kein einziges Wort dazu gesagt, saß da, in Verwunderung über ihren Mut, ihren praktischen Verstand und ihr imponierendes Wesen. Was würde sie für eine vorzügliche Pastorsfrau werden! Obgleich er ja Geistlicher war, wäre es ihm nie eingefallen, die Leute wegen ihrer Fehltritte auf öffentlicher Landstraße zur Rede zu stellen, und Huldas überlegener Ton, der so den Nagel auf den Kopf traf, fand sich nicht in seinem ganzen Stimmregister.

Sie beschlossen bald nach der Begegnung mit den Tagelöhnern umzukehren und als sie wiederum an dem langen Zug mit Reif bedeckter Pferde vorüberkamen, zog fast jeder Mann seine Mütze, und freundliche Grüße wurden mit allen Nüchternen aus der Gesellschaft ausgetauscht.

Falck hörte dabei die bewundernden Bemerkungen, die gemacht wurden, und obgleich einige darunter ihm gerade nicht zur Ehre gereichten, freute er sich selbstlos darüber.

Eine lange Zeit fuhren sie stillschweigend dahin, während die Bäume und Gartengitter in entgegengesetzter Richtung einen Wettlauf mit ihnen zu machen schienen. Gerade als sie auf das Eis hinausflogen, stieg der Mond groß und hell über den Bergketten im Osten empor, und die schwarze Linie des Fichtenwaldes zeichnete sich scharf wie eine Silhouette gegen den strahlenden Horizont ab. Hulda atmete tief auf vor Bewegung und Ueberraschung und stieß ein begeistertes Ah aus.

Plötzlich flammte am Himmel das Nordlicht mit breiten, fächerähnlichen rötlichen und weißen Strahlen auf, und es schien, als ob alle Sterne heller leuchteten und der ganze Himmel ein Lichtmeer würde.

»Ah, wie herrlich ist es zu leben!« sagte sie leise, wie zu sich selbst, »Wie fühlt man sich über alles Kleinliche erhaben, wenn man solchen Anblick hat! Es ist, als ob das Menschenherz zu eng sei, um all das Schöne zu fassen!«

Unglücklicherweise glaubte Falck, daß diese ganz unpersönlich gemeinten Ergüsse an ihn gerichtet seien und in dem unbehaglichen Gefühl, der Situation nicht gewachsen zu sein, vergaß er ganz Huldas Empfindlichkeit gegen das Schnalzen und ihm entfuhr, während er dem Pferde die Peitsche gab, das unglückselige »Tschk, tschk, tschk!«

Hulda war durch den unmelodischen Laut in ihrer exaltierten Stimmung so jäh und tief verletzt, daß sie, außer sich vor nervöser Gereiztheit, den Fußsack von sich stieß und aus dem Schlitten sprang. Sie stand da, bleich und schnell atmend, mit blitzenden Augen und bebenden Nasenflügeln und ihr dunkler Schatten streckte sich ungeheuerlich verzerrt über den Schnee aus.

Falck, ganz starr vor Ueberraschung, brachte das Pferd zum Stehen und sah sie ängstlich an, als ob er darauf wartete, daß sie wieder zur Besinnung käme. »Bitte, verzeih mir, Hulda,« fing er nach einer Weile an, »ich vergaß ganz, daß es dir so unangenehm ist.«

Noch war sie nicht im stande, ein Wort hervorzubringen; aber ihre Augen blickten allmählich weniger zornig, und er meinte, ein halb verächtliches Mitleid darin zu lesen. Er hob wiederholt die Pelzdecke und bückte sich, um den Fußsack für sie offen zu halten; aber sie übersah alle diese Aufforderungen und blieb steif und still stehen, ihn mit kalten, unbeweglichen Blicken messend.

»Aber Hulda,« fuhr er mit einem schwachen Versuch, seine Autorität geltend zu machen fort, »du wirst dich noch auf den Tod erkälten, wenn du nicht sofort wieder in den Schlitten einsteigst.«

Sie lächelte kalt und fing an, langsam auf dem Wege weiterzugehen.

»Aber Hulda,« rief er ganz in Verzweiflung, »hast du denn eigentlich ganz den Verstand verloren?«

»Nein,« erwiderte sie ganz kaltblütig, »ich habe ihn eben wiedergefunden!«

»Was meinst du damit?«

Er wagte nicht, das Pferd durch einen Zuruf zu ermuntern, sondern berührte es nur leicht mit der Peitsche, um es in Gang zu bringen. Mit ihr Schritt haltend, wartete er angstvoll auf ein nachgebendes Zeichen und wiederholte schließlich seine Frage.

»Ich meine damit,« antwortete sie, »daß ich dich gewogen und zu leicht befunden habe.«

»Mich gewogen? Wann thatst du das?«

»Mein lieber Herr Falck, aus diesem albernen Tschk, tschk entnahm ich Ihr seelisches Gewicht.«

»Ich verstehe dich wirklich nicht«

»Das weiß ich. Sie haben mich niemals verstanden und Sie werden mich auch nie verstehen!«

»Aber ist denn das notwendig?« fragte er sehr demütig, denn es war ihm seit geraumer Zeit klar geworden wie sehr sie ihm in manchen Dingen überlegen war. »Genügt es nicht, wenn ich dich liebe?«

»Das habe ich auch einmal geglaubt, aber ich bin jetzt andrer Ansicht. Ohne seelische Sympathie und gegenseitiges Verständnis ist Liebe ein Unding.«

Er fuhr während dieses Zwiegesprächs im Schritt an ihrer Seite, während er sich fortwährend ängstigte, daß sie ihr Leben durch ihre Unvernunft gefährden könne. Es war wenigstens zwanzig Grad unter Null; jedes einzelne Haar an ihren Schläfen war dick mit Reif bedeckt, und ihr Mantel war vorn weiß von ihrem gefrorenen Atem. Ueberdies gab es, wie er wußte, Wölfe in den Wäldern, die in großen Rudeln bis an die Landstraße streiften und zuweilen Pferde und Reisende angriffen. Darum hörte er ihr nur mit geteilten Empfindungen zu, und die Angst um ihr leibliches Wohl verhinderte ihn, ihren Worten die volle Bedeutung beizumessen.

»Könnten wir unsre Unterhaltung nicht besser fortsetzen, wenn du wieder deinen Platz an meiner Seite einnähmst?«

»Ich werde niemals meinen Platz an Ihrer Seite einnehmen!«

Er grübelte über diese Erklärung in angstvoller Bestürzung nach, konnte aber ihren Sinn nicht ergründen. In ihren Worten lag ein so leidenschaftlicher Ernst, ein so fester Entschluß, daß es ihn erschreckte und beunruhigte.

Aber noch war er weit entfernt zu ahnen, daß sich hinter ihnen mehr als ein kleiner Zwist, eine momentane Widersetzlichkeit verbarg.

»Bitte, Hulda, sage mir doch, worin ich es versehen habe,« sagte er zerknirscht. »Ich will versuchen, es wieder gutzumachen, wenn ich kann«

»Du lieber Gott!« rief sie ganz verzweifelt vor Ungeduld, »zeigt Ihre Frage nicht gerade, wie zwecklos es sein würde, Sie aufzuklären? Sie haben gar nichts gethan, was mich verletzt hat –was Sie sind, hat mich verletzt!«

»Aber Hulda, du wußtest doch, was ich war, ehe wir uns verlobten. Es ist doch unmöglich, daß ich jetzt meinen Beruf aufgebe.«

»Beruf! Wenn es das wäre! Aber wir leben jeder in einer andern Welt, Herr Falck. Wir reden zu einander wie über einen Abgrund hinüber. Es ist gut, daß wir das entdeckt haben, bevor es zu spät ist!«

Jetzt dämmerte eine Ahnung in ihm auf, daß sie ihre Verlobung aufzulösen beabsichtige. Und dieser Eindruck kam ihm weniger durch ihre Aeußerungen über ihre Verschiedenartigkeit als durch ihr formelles »Herr Falck«, das er von ihren Lippen nicht mehr zu hören gewohnt war.

Sie hatte ihren Gang beschleunigt und eilte jetzt schnell den schneebedeckten Weg dahin, als ob sie bemüht wäre, von ihm fortzukommen. Falck, der sah, wie hoffnungslos es war, sie zu überreden, begnügte sich damit, denselben Weg innezuhalten. Sie sah ihn ab und zu über die Schulter herüber an. Sein Gesicht sah seltsam verfallen aus. Er schien plötzlich alt geworden zu sein und trotz seiner Pelzkleidung zu frieren.

Eine halbe Stunde hielten sie so nebeneinander Schritt, und keines sprach ein Wort. Falck fühlte sich an allen Gliedern steif, und ein Frostschauer schüttelte ihn. Er spürte auf der Brust einen Druck, als ob alles in ihm wund und zerschlagen sei, und doch pochte das Herz in ihm fort mit der mechanischen Rastlosigkeit einer Maschine.

»Hulda, liebste Hulda, bitte, komm und steige wieder ein!« flehte er zuletzt »Was werden sie wohl zu Hause sagen, wenn wir so dort ankommen?«

»Es ist mir ganz einerlei, was sie sagen,« antwortete sie kalt.

»Aber wir kommen auf diese Weise nicht vor Mitternacht nach Hause.«

»Fahren Sie, bitte, nur zu; ich halte Sie nicht zurück.«

»Was habe ich denn nur gethan, daß du mich so behandelst?«

»Sie haben nichts gethan.«

Der Name Bruns schwebte ihm auf den Lippen, denn er wußte wohl, was sie auch dagegen sagen mochte, daß dieser die Ursache von allem Unglück war. Er fühlte ein plötzliches, wildes Verlangen, ihn zu verfluchen, ihn unter die Füße zu treten. Nie im Leben zuvor hatte sich seine ruhige Seele in so furchtbarem Aufruhr befunden. Was für ein Recht hatte dieser leichtsinnige Mensch, sich zwischen sie und ihn zu drängen? Was für ein Recht hatte er, ihm sein Glück zu nehmen?

Aus diesen Betrachtungen wurde er dadurch gestört, daß er sah, wie Hulda vor einem scheunenähnlichen Bau stehen blieb, der wenige Schritte vom Wege lag. Dann überschritt sie schnell die Einfriedung, deren oberste Spitze aus dem Schnee hervorragte.

»Um Gottes willen, was willst du thun?« schrie er voll Schrecken

Sie antwortete nicht, sondern streckte ihre schlanke Hand zwischen die Spalte der beiden Thüren, zog den inneren Riegel zurück und trat in den Schuppen ein. Falck war inzwischen Hals über Kopf aus dem Schlitten gesprungen und band das Pferd an einen Thorpfosten fest.

»Um Himmels willen sage mir, was du thun willst!« wiederholte er, zitternd vor Erregung, aber sie war schon außer Sicht. Beschwerlich und mit erstarrten Beinen klomm er die Schneebank hinan, über die sie so leichten Fußes hinweggehüpft war, aber die Decke brach unter seinem Gewicht, und er sank bis an die Mitte ein.

So fand sie ihn, als sie gleich darauf mit einem Paar norwegischer Schneeschuhe über der Schulter wieder ins Mondlicht hinaustrat.

»Ich will einen kleinen Abstecher über die Felder machen« sagte sie in einem Ton, als ob das etwas ganz Selbstverständliches sei, indem sie die Schneeschuhe auf die Schneedecke fallen ließ. »Bitte, beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht, sondern fahren Sie ruhig nach Hause. Voraussichtlich werde ich noch vor Ihnen eintreffen.«

»Aber willst du mir nicht erst sagen, Liebste, warum –«

»Sie würden mich doch nicht verstehen. Adieu!«

Sie hatte die Schneeschuhe angezogen, und ehe er noch Zeit fand zu antworten, flog sie über den Schnee dahin, während die Enden ihres roten Shawls hinter ihr her flatterten.

So bestürzt war er, daß er kaum die Kraft fand, aus dem Loch, in dem er steckte, herauszukommen. Er war wie gelähmt. Seine Glieder schienen ihm den Dienst versagen zu wollen. Eine tödliche Mattigkeit überfiel ihn, und er wäre am liebsten geblieben, wo er war, um auf den Tod zu warten. Aber plötzlich wieherte das Pferd wild und erschreckt auf und schlug verzweifelt hinten aus, um sich loszureißen. Der Gedanke an die Wölfe entfachte plötzlich Falcks Energie, und ohne zu wissen, was er that, arbeitete er sich aus dem Loch heraus, rollte sich über die Einfriedigung hinweg, band das Pferd los und ließ ihm die Zügel schießen

Das Tier bedurfte keiner Aufmunterung, sondern fing wie unsinnig an zu laufen, so daß der Hilfsprediger sich mit den Armen gegen die pfeifenden Schneebälle zu wehren hatte, die von den Hufen des Pferdes in die Luft geworfen wurden. Jetzt ließ es einen Augenblick in seiner Eile nach und schnupperte ängstlich in der Luft, dann wieder galoppierte es in rasender Eile mit wildem Aufwiehern vorwärts.

Falck wagte kaum zu denken. Die Wölfe waren in der Nähe, und Hulda irrte schutzlos und allein auf Schneeschuhen über die pfadlosen Felder. Um diese beiden Thatsachen drehte sich sein ganzes Denken aber er mühte sich vergeblich ab, sie auseinander zu halten.

Hulda flog inzwischen über den schimmernden Schnee dahin in einem Gefühl von erneuter Lebensfreudigkeit, das ihr das Blut schneller durch die Adern jagte. Ihr war zu Mut wie einem Vogel, der dem Käfig entschlüpft ist und sich nun jubilierend in den weiten Himmelsraum emporschwingt. Sie glitt, eilte, sauste fast im ersten Rausch der wiedergewonnenen Freiheit über die weiten weißen Felder dahin. Sie war vielleicht herzlos, und es kam ihr plötzlich in den Sinn, daß sie Falck doch wohl allzu rücksichtslos behandelt habe. Aber so viel stand fest, wenn sie in dieser Sache zartfühlend hätte sein wollen, so wäre sie bis an ihr Lebensende in Gefangenschaft geblieben. Sie hatte nicht die leiseste Absicht gehabt, gerade auf dieser Fahrt einen Bruch mit Falck herbeizuführen; obgleich ihre Verlobung ihr schon lange schrecklich gewesen war. Sein aufreizendes Schnalzen und seine nüchterne, prosaische Seele, die sich ihr bei dieser Gelegenheit klar wie noch nie gezeigt hatte, waren zweifellos der äußere Anlaß ihrer Veruneinigung geworden, obgleich die wahre Ursache viel tiefer lag. Und als sie einmal aus dem Schlitten gesprungen war, fand sie, daß sie in der Erregung des Augenblicks eine Erklärung gegeben hatte, zu der sie zu Hause unter dem Drucke ihrer mannigfachen Pflichten und nach gewissenhafter Ueberlegung nie den Mut gefunden haben würde. So gewann ihre Handlungsweise gleichsam eine Vorbedeutung, und nur weil sie sich nicht so ganz fest eine Wiederholung derselben zutraute, blieb sie taub gegen Falcks Bitten und entfloh schließlich, um von ihm loszukommen, auf Schneeschuhen quer über die Felder. Eine Erinnerung aus der Kinderzeit war ihr dabei zu statten gekommen. Sie entsann sich, daß der Schneepflug der Gemeinde in dieser Scheune aufbewahrt wurde und daß sich die Schneeschuhe der Pflugführer ebenfalls darin befinden mußten.

Natürlich gab sie sich keiner Täuschung hin über den Empfang, der ihrer zu Hause wartete. Sie wußte, daß ein Sturm im Anzuge war und daß das Unwetter über ihrem Haupt losbrechen würde.

Die Hügel hinauf und hinunter unter dem strahlenden Himmel eilte das junge Mädchen vorwärts, bald wie ein Pfeil die schimmernden Abhänge hinunterschießend, bald sich an ihrem Eisstock weiterbewegend, bald über einen steilen Vorsprung hinwegsetzend. Aber sie war von frühester Kindheit an das Schneeschuhlaufen gewöhnt, und die schnelle, gleitende Bewegung war so herrlich, daß es sie für alle Anstrengungen belohnte. Jeder Zoll des Bodens war ihr bekannt, und obgleich sie hatte sagen hören daß Wölfe in der Gegend hausten, kam ihr der Gedanke daran gar nicht in den Sinn.

Wie erstaunte sie deshalb, als sie von der Spitze des Hügels, von wo aus man das Pfarrhaus erblicken konnte, eine Menge Leute im Schnee umherirren sah und hörte, wie sie ihren Namen riefen. Sie hatte fest geglaubt, vor Falck nach Hause zu kommen und zuerst ihrer Mutter erklären zu können, was geschehen war. Und nun waren sie alle da – ihr Vater, Herr Falck, der Stallknecht Nils, Fritz, Magda und noch mehrere von der Dienerschaft. Falck mußte ganz gewiß den Verstand verloren haben, daß er wegen einer Kleinigkeit solchen Aufruhr hervorrief. Jedoch besann sie sich und antwortete trotz ihrer Empörung auf die Rufe und sah dann, wie plötzlich ein Dutzend Menschen mit Schneeschuhen auf sie zustürzten während andre durch die Schneedecke hindurchbrachen und hilflose Bewegungen machten.

Der erste, der zu ihr gelangte, war ihr Bruder Fritz, der sie mit spöttischer Teilnahme ansah und meinte: »Na warte nur, wird 'ne nette Bescherung geben! Bin bloß froh, daß ich nicht in deiner Haut stecke!«

»Was ist denn los, Fritz?« fragte sie ängstlich. »Sind die Leute toll geworden? Wissen sie denn nicht, daß ich alt genug bin, selbst für mich zu sorgen?«

»Herr Falck hatte sich's in den Kopf gesetzt, daß du von Wölfen gefressen wärst, und machte nun alle Leute vor Angst verrückt.«

»Wölfe?« rief Hulda ganz erstaunt aus. »Ich habe keine gesehen.« Sie warf den Kopf hochfahrend in den Nacken, und die Spitze ihres Stocks in die Schneedecke bohrend, ließ sie Fritz hinter sich zurück.

Der Empfang, der ihr zu teil wurde, war in der That nicht sehr herzlich; aber die Eltern und Schwestern atmeten auf, als sie sie gesund wieder erblickten, und verschonten sie mit Vorwürfen. Hulda wußte jedoch, daß das Strafgericht nur aufgeschoben war, und stählte sich schon für den Urteilsspruch.


Olaf Brun hatte sich aus irgend einem Grunde während der Verwirrung, die auf Huldas Rückkehr folgte, unsichtbar gemacht, und diese, wenn auch etwas enttäuscht, entschuldigte ihn damit, daß ein Fremder sich bei Familiendifferenzen wohl immer überflüssig vorkomme.

Sie lag noch stundenlang wach, malte sich die unvermeidliche Unterredung im blauen Zimmer aus und erfand treffende Antworten, mit denen sie ihre Mutter zu überzeugen und umzustimmen hoffte. Sie war so glühend davon überzeugt, im Recht zu sein, daß es ihr unmöglich schien, man könne anders darüber denken. Dann aber wieder stellte sie sich den ruhigen Blick der strengen Augen ihrer Mutter und die weise Unfehlbarkeit vor, mit der sie unbarmherzig alle ihre heiligsten Beweggründe wie Spinnwebe fortfegen würde, und sie wurde allmählich immer mehr wach, je länger sie sich in alle Einzelheiten vertiefte. Schließlich machte sie das ruhige Atmen Magdas, die neben ihr schlief, so nervös, daß sie aus dem Bett sprang, die Lichter auf dem Tisch ansteckte und sich mechanisch anzukleiden begann.

Das Feuer im Ofen war schon lange ausgegangen und es war so kalt im Zimmer, daß ihr Atem sichtbar war. Und doch brannte ihr Kopf so, daß sie, als sie die Hand an die Schläfen legte, vermeinte, die fiebernde Glut ihrer Gedanken zu fühlen. Nach einigen Minuten sank sie vollkommen mutlos in einen Stuhl zurück, dann überfiel sie ein förmliches Frösteln. Sie stand hastig auf, ergriff ein Licht und ging, um sich Bewegung zu machen, auf den Flur hinaus. Der Zugwind warf die Thür hinter ihr zu.

Einen Augenblick blieb sie, angstvoll lauschend, stehen. Aber niemand schien sich zu rühren außer dem Nordwind, der an den Außenfenstern rüttelte und die Zweige der großen Eiche gegen die Mauern des Hauses peitschte. Ein paar Mäuse nagten hinter dem Getäfer, und sie konnte hören, wie sie forthuschten, als ihr leichter Fußtritt den Boden berührte. Ein unklares Gefühl nervöser Unruhe trieb sie an, weiter zu gehen. Plötzlich zog der Duft einer feinen Cigarre durch den kalten Flur, und Hulda sah, als sie sich umwandte, einen schwachen Lichtstrahl aus dem Schlüsselloch von Bruns Thür hervorschimmern. Sie wußte kaum, warum ihr das Herz zu pochen begann, aber sie dachte, ihn halte dieselbe Furcht wach, die ihren Schlummer verscheuchte. Während sie so stand und das flackernde Licht in der Hand hielt, fiel ihr Blick auf ihr Gesicht, das sich in der Fensterscheibe wiederspiegelte, und es lag darin etwas so Gespenstisches, das Licht warf einen so eigentümlich fahlen Schein darauf, daß sie sich wie eine Leiche vorkam. Und von Furcht getrieben floh sie über den Flur, bis ihr Licht auswehte und sie sich nun im Dunkeln befand. Sie kam erst wieder zu sich, als sie in dem großen Wohnzimmer anlangte, wo es noch etwas warm war und das im Kamin glimmende Feuer einen schwachen Lichtschein verbreitete.

Hulda warf sich hoch aufatmend in die Sofaecke und preßte die Hand aufs Herz, als ob sie sein heftiges, ungestümes Pochen beschwichtigen könne. Sie wußte sicher, daß noch jemand außer ihr im Zimmer war, aber es war jetzt kein übernatürliches Wesen mehr, das sie in Furcht versetzte. War es Herr Falck, den sie geweckt hatte, oder Herr Brun? Sie hörte Fußtritte und sah dann ein paar Augen auf sich gerichtet. Jemand setzte sich an ihre Seite, und ein Arm legte sich leicht um sie. Sie sah auf und erblickte undeutlich in der Dämmerung Bruns Züge. Er beugte sich über sie, und sie vermeinte in seinen Augen eine seltsame Erregung zu lesen. Seine Stimme flüsterte ihr mit dem zärtlichsten Ton Liebesbeteuerungen ins Ohr. Sie wollte seinen Arm von sich stoßen, aber ein ungekanntes Gefühl stieg in ihr auf, das alle andern Empfindungen bezwang, und es wurde ihr klar, daß dies der Mann sei, den sie liebte, der einzige, den sie je würde lieben können, und daß dies der große Augenblick ihres Lebens sei, der über ihr Schicksal für immer entscheiden müßte.

»Wie sehr mußt du gelitten haben, so allein und mißverstanden,« flüsterte er, »du, die du so hoch über ihnen allen stehst!«

»Du solltest mir nicht so schmeicheln,« sagte sie, wider Willen angenehm berührt. Sie sah ihm mit strahlendem, hingebendem Lächeln in die Augen, und durch ihr ganzes Sein strömte eine wunderbare Glückseligkeit, daß es ihr in den Ohren sang und das Blut ihr ungestüm durch die Adern tanzte.

»Ich schmeichle dir nicht« erwiderte er. »Ich habe nur unendliches Mitleid mit deiner erzwungenen Verlobung. Freilich dein Verständnis schlummerte noch. Du hattest deinen eigenen Wert noch nicht erkannt. Du warst wie ein Schwan unter den Enten und ahntest nicht, daß du zu einer höheren Gattung gehörtest. Das ist die Erklärung, und sie genügt mir.«

Sie war Brun dankbar, daß er gleichsam durch seine Darstellung das Rätsel ihres Charakters löste.

Und alle ihre Gefühle gingen in liebender Hingebung für den Mann auf, der sie zum Bewußtsein ihres eigenen Wertes geweckt und ihr die Augen für alles Große, Edle und Schöne im Leben geöffnet hatte.

Sie hatten schon eine Weile stillgeschwiegen und die Minuten, von denen jede einen Himmel voller Seligkeit faßte,« flogen dahin. Es lag für ihn in dieser unmittelbaren Nähe etwas so Berauschendes, daß er aufspringen mußte und auf und ab ging, obgleich er beständig in Gefahr war, Stühle und Tische umzuwerfen. Durch und durch Künstler, wie er war, hatte er ein feines ästhetisches Verständnis für ihre Anmut, ihre jungfräuliche Schönheit und die Reinheit ihrer Gefühle.

Es lag etwas Feierliches, Ueberwältigendes in der Stille der Nacht und in der alles verhüllenden Dunkelheit. Menschensatzungen von Recht und Unrecht erschienen kleinlich und gemacht, und nur die starke Stimme der Natur sprach. Die Kohlenglut im Kamin, die unter einem durchsichtigen Schleier von Asche fortgeglommen hatte, erlosch knisternd, und nur ein handbreiter, schwacher Lichtschein fiel durch die offen stehende Thür.

In diesem Augenblick hörte man deutlich ein Geräusch, das von Fußtritten herrührte, und ein Lichtstrahl drang durch das Schlüsselloch aus dem angrenzenden Zimmer. Olaf Brun blieb erschreckt mitten im Zimmer stehen, als die Thür sich öffnete und der Pastor in einem langen wattierten Schlafrock mit einem Licht in der Hand eintrat. Offenbar suchte er niemand, denn sein Antlitz war ruhig, und seine Augen blickten heiter. Aber als plötzlich der Lichtschein auf den Ingenieur fiel, fuhr der alte Mann überrascht zurück, und er sah den Besucher mit verwundertem Stirnrunzeln an.

»Nun, junger Mann« begann er mit mildem Vorwurf, »darf man fragen, zu welchem Zweck Sie bei nachtschlafender Zeit im Hause umherirren?«

Brun ergriff in größter Bestürzung eine Stuhllehne und erwiderte den Blick des Pastors mit hilflosem Starren.

»Sind Sie ein Nachtwandler,« fuhr Pastor Brinckmann im selben Ton sanfter Vorstellung fort, »oder leiden Sie vielleicht ebenso wie ich an Schlaflosigkeit?«

Brun blieb stumm und verlegen.

»Aber ich muß auf einer Erklärung bestehen,« nahm der Pastor wiederum das Wort, während in seinen Augen eine Befürchtung aufzutauchen begann.

Plötzlich erblickte er seine Tochter, die zum Vorschein kam, sich an Bruns Seite stellte, seine Hand ergriff und mit fester Stimme sagte: »Herr Brun und ich lieben einander, Vater, und es ist meine Schuld, daß er sich hier aufhält.«

Sie sah bei diesem furchtbaren Geständnis ihrer Liebe so edel aus, daß Brun, von Bewunderung für sie ergriffen, seine Stimme wiederfand und wiederholte: »Ja, wir lieben einander.«

Der Pastor stand, während ein erschreckter, schmerzerfüllter Ausdruck über sein Gesicht ging, lange Zeit still da und sah die beiden kummervoll an. Seine Hand zitterte so, daß ihm der Leuchter fast entfallen wäre. »Meine Tochter,« sagte er endlich mit einem Seufzer, der fast wie Stöhnen klang, »ich vertraute dir, und –du – du hast mich betrogen.«

»Nein, Vater,« antwortete sie stolz, »ich habe dich niemals betrogen.« Der freimütige Ton ihrer Stimme beruhigte ihn etwas; er ließ den Lichtschein auf ihr Gesicht fallen, sah sie prüfend an und flüsterte, wie zu sich selbst: »Nein, diese Augen lügen nicht; es kann nicht sein!«

Er stand noch einige Minuten lang in Gedanken verloren; dann fragte er, trostlos den Kopf schüttelnd: »Aber, Tochter, wie soll das enden? Deine Mutter und ich halten dich für Herrn Falcks Verlobte.«

»Ich bin nicht mehr mit Herrn Falck verlobt,« erklärte sie mit Festigkeit. »Ich achte und schätze Herrn Falck, aber ich habe ihn nie geliebt und habe auch nie behauptet, daß ich ihn liebte. Mutter bewog mich, ihn zu nehmen und ich hätte ihn auch geheiratet und ihrem Plan mein Lebensglück zum Opfer gebracht, wenn Herr Brun nicht zu meiner Rettung gekommen wäre.«

Diese Beleuchtung der Sachlage war dem Pastor so neu, daß er ganz bestürzt wurde. Ihm war zu Mut, als ob eine Anzahl Raketenschwärme unmittelbar vor seinen Ohren explodierte. Er war darauf vorbereitet gewesen, anzuklagen, zu tadeln, einen Richterspruch zu fällen, und nun wurde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen und er selbst wurde zum Verbrecher. Er stellte den Leuchter auf den Tisch, warf ein Holzscheit in den Kamin und setzte sich mit kummervoller Miene aufs Sofa. »Es kann ja sein,« sagte er und ließ den Blick verzagt auf seiner Tochter ruhen, »daß ich nicht so – so sorgsam gewesen bin, als ich hätte sein sollen.«

Die leise Selbstanklage in dieser Bemerkung und die seltsame, müde Resignation in seinen Augen rührten die Tochter, sie ging zu ihm hin, kniete zu seinen Füßen nieder und legte den Kopf in seinen Schoß. »Du weißt nicht, liebster Vater, wie ein junges Mädchen empfindet, du ahnst nicht, wie furchtbar der Gedanke für sie ist, ihr ganzes Leben in innigster Gemeinschaft mit jemand hinzubringen, den sie nicht liebt.«

Der Pastor nickte langsam, als wenn er ihren Worten beipflichte, und flüsterte mitleidig, während er ihr das verwirrte Haar glattstrich: »Armes Kind – armes Kind!«

Brun hatte inzwischen das Gefühl, als ob er überflüssig sei. Er setzte sich in einen Lehnstuhl und steckte sich eine Cigarette an. Obgleich er seiner Angst enthoben war, ward ihm doch etwas unbehaglich zu Mut bei der Wendung der Dinge. Es war ja gewiß, daß er dies Mädchen sehr verehrte; ja, er liebte sie so, wie ihm das bei seiner Natur überhaupt möglich war. Aber doch gab er sich in sentimentaler Anwandlung dem unklaren Gedanken hin, daß ein Künstler eigentlich keine andre Geliebte haben dürfe als seine Kunst.

Er wurde aus seinen Träumereien durch die Stimme des Pastors aufgerüttelt. »Darf ich Sie fragen, Herr Brun,« sagte der Pastor, »was für Zukunftspläne Sie haben?«

»Ich muß gestehen,« antwortete der Ingenieur, sich räuspernd, »daß ich bis jetzt noch keine festen Zukunftspläne gefaßt habe, ich beabsichtige nur, meinen jetzigen Beruf aufzugeben und, sobald ich majorenn bin, mich der Kunst zu widmen.«

»Das heißt, gerade heraus gesagt, Sie haben keinen Beruf?«

»Nun, wenigstens keinen, bei dem ich verbleiben will. Aber ich habe die Kunst, der ich mein Leben weihen werde, sobald ich mein eigener Herr bin«

»Aber das wird sehr langwierige Vorstudien erfordern.«

»Nun, ja – gewiß – man muß eigentlich sein ganzes Leben Vorstudien machen.«

Der Pastor verstand sich nicht auf Spitzfindigkeiten. »Wie ich also sehe, Herr Brun,« sagte er, indem er sich erhob und den Leuchter erfaßte, »haben Sie sich mit meiner Tochter verlobt, ohne ihre Eltern zu fragen oder sich um deren Einwilligung zu bemühen?«

»Aber, Vater, du weißt doch, Herr Brun wußte ja gar nicht –«

»Still, Kind, ich wünsche zu wissen ob Herr Brun sein Benehmen für ehrenhaft hält.«

»Wenn Sie gestatten, Herr Pastor,« sagte Brun indem er sich verletzt erhob und das Ende seiner Cigarette in den Kamin warf, »wollen wir diese Frage morgen miteinander erörtern.« Die große Milde des Pastors gab ihm Mut zu diesem selbstbewußten Auftreten. Eine jugendliche Anmaßung, die ihm gut stand, verlieh seinem Benehmen einen gewissen Reiz. »Ich will Ihnen jetzt gute Nacht sagen,« fuhr er fort, als er auf seinen letzten Vorschlag keine Antwort erhielt. Damit öffnete er die Thür und verschwand im Flur.


Hulda erwachte am nächsten Tage erst gegen Mittag, mit einem Gefühl, als ob sie wohl acht Tage lang geschlafen habe. Sie sah ihre Schwester Magda neben sich auf dem Bettrand sitzen mit einem Gesicht voll teilnehmender Betrübnis, aber noch einen Augenblick lag sie lächelnd da. Dann dämmerte es plötzlich in ihr auf, was Magdas Gesichtsausdruck heißen sollte, und eine dunkle Vorahnung kommenden Unheils regte sich in ihr.

Im Gemach herrschte noch Dämmerung, und der Ofen, in dem Berge von Kohlen aufgeschüttet waren, prasselte und knisterte. Draußen fiel der Schnee lautlos in großen, weißen Flocken auf die Erde und hüllte die Welt in Schweigen. Die gestern zugefrorenen Fensterscheiben waren aufgetaut, aber der dichte, wirbelnde Schnee häufte sich an den Fensterrahmen auf und überschüttete mit seinen glitzernden Krystallen das Glas. Es schien der Erwachenden nicht mehr die Welt von gestern mit ihrem klaren, knirschenden Frost, ihrem unendlichen, sternenbeleuchteten Himmel und ihrem weiten Horizont; nein, es war eine neue, feuchte, naßkalte, gespenstische Welt.

Ein unerklärliches Unbehagen legte sich wie ein Alp auf Huldas Brust, während sie sich die Ereignisse der vergangenen Nacht ins Gedächtnis zurückrief.

»Warum hast du so sehr eingeheizt?« fragte sie ihre Schwester, gleichsam bemüht, sich noch eine kleine Galgenfrist zu gönnen, ehe sie die volle Wahrheit erfuhr.

»Die Luft war zu kalt und feucht,« antwortete Magda.

Eine lange Pause entstand, in der die beiden Schwestern vermieden, sich anzusehen.

»Wie spät ist es?«

»Halb Zwölf,« antwortete Magda.

Wiederum eine Pause, die durch das Knistern des Birkenholzes im Ofen und das Tröpfeln des Wassers aus der Dachrinne ausgefüllt wurde. Dann klopfte jemand an die Thür, und ein Mädchen mit verschüchtertem Gesicht kam herein und forderte Fräulein Hulda auf, zu ihrer Mutter zu kommen. Hulda schlug das Herz bis in die Kehle bei dieser Meldung, und sich im Bett aufrichtend, fragte sie, was denn geschehen sei.

»Ach, Mutter – hat 'mal wieder ihren bösen Tag,« sagte Magda ausweichend.

»Was hat sie denn gethan?«

»Sie hat Herrn Brun mitten in der Nacht geweckt,« sagte die jüngere Schwester zögernd.

»Ihn geweckt – weshalb?«

»Das wirst du wohl besser wissen als ich, Hulda.«

Mit bleichem Gesicht fuhr Hulda aus dem Bett empor und kleidete sich hastig an. Es kochte in ihr, und sie verlangte nach einer Unterredung mit ihrer Mutter.

Magda stand auf und näherte sich der Thür.

»Wo – wo ist er jetzt?« fragte Hulda und fuhr mit dem Kamm durch eine widerspenstige Haarlocke.

»Ja, weißt du nicht, daß er fort ist?«

»Fort? Wohin?«

»Wahrscheinlich zurück nach der Stadt. Mutter sprach mit ihm ungefähr zehn Minuten im Wohnzimmer. Dann weckte sie die Mädchen, damit sie ihm Frühstück besorgten, und ließ Nils aufstehen und anspannen, um Herrn Brun nach der nächsten Station zu bringen, von wo er mit dem Dampfschiff weiterfahren konnte.«

Hulda sank mit dem Kamm in der Hand auf einen Stuhl hin und starrte ins Leere. Der Schlag war so vernichtend, daß sie für einen Augenblick überhaupt nicht zu denken vermochte. Sie war wie betäubt und zitterte am ganzen Körper.

Magda, die sich durch das Schweigen ihrer Schwester verletzt fühlte, ging hinaus.

Das Tripp, Tripp, Tripp der Wasserrinne wurde ihr unerträglich, und Hulda stand, über ihre eigene Ruhe verwundert, auf und beendete ihre Toilette. Ihr Gesicht sah hart und steinern aus, und um die fest aufeinander gepreßten Lippen lag ein Zug starrer Entschlossenheit. Eine unüberwindliche Macht schien sie den Flur entlang, die Treppen hinunter ins Wohnzimmer zu tragen.

Es war niemand im Zimmer, und sie ging mechanisch zum Fenster und blickte wie abwesend auf den wirbelnden Schneesturm hinaus. Dann kam das Mädchen und meldete, daß die Frau Pastor sie in dem blauen Zimmer erwarte. »Fräulein Hulda,« fügte sie in verstohlener Hast hinzu, »ich habe Kaffee und Frühstück für Sie auf den Küchenherd gestellt.«

Mit der Ruhe einer Schlafwandelnden ging sie ins blaue Zimmer, wo ihre Mutter mitten in der Stube auf einem großen mit Kattun überzogenen Stuhl saß. Lange Zeit hörte man nichts als das Klappern der Stricknadeln Es war kalt, und Frau Brinckmann hatte sich einen geflickten Shawl um die Schultern geworfen. Auf der einen Seite der Zimmerwand tötete ein blauer Kain einen blauen Abel, und ein blauer Noah stieg im Gefolge seiner blauen Familie aus der Arche. Hulda blieb an der Thür stehen, die Augen auf diese vertrauten Bilder geheftet, und wartete darauf, daß ihre Mutter sie anrede. Diese saß in ihrer steinernen Unbeweglichkeit da, mit dem glatt gescheitelten Haar, das zu beiden Seiten der Stirn heruntergestrichen war, und den Haubenbändern die zu beiden Seiten herunterfielen und jedesmal, wenn sie nickte, sich ein klein wenig bewegten, als ob sie jede ihrer Behauptungen bekräftigen möchten.

»Du hast mich rufen lassen,« sagte Hulda. Sie war von der Gerechtigkeit ihrer Sache durchdrungen und entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.

»Ich wundere mich, daß du deiner Mutter überhaupt noch ins Gesicht zu sehen wagst,« erwiderte die Frau Pastor, im Stricken inne haltend und einen vorwurfsvollen Blick auf ihre Tochter richtend.

Der Respekt vor dieser gewaltigen blonden Matrone war durch Gewohnheit so tief in Hulda eingewurzelt, daß sie es nicht fertig brachte, so sicher zu antworten, als sie gewollt.

»Ich muß sagen, du machst deiner Familie alle Ehre,« sagte Frau Brinckmann streng.

»Ich weiß, daß ich ihr keine Unehre gemacht habe,« sagte Hulda ruhig.

Es entstand eine lange Pause, die durch das Klappern von Frau Brinckmanns Stricknadeln ausgefüllt wurde. »Weißt du wohl,« fragte sie dann, jedes Wort langsam und deutlich betonend, »wie die Leute ein junges Mädchen nennen, das mit einem Manne verlobt ist und mit einem andern nächtliche Zusammenkünfte hat?«

»Ich hatte meine Verlobung mit Herrn Falck aufgelöst, ehe ich Herrn Brun anhörte.«

»Darf man fragen,« begann die Frau Pastor mit sarkastisch gekräuselten Lippen, »wie du über einen Mann denkst, der vorsätzlich die Braut eines andern stiehlt? Ueber einen Mann, den man in der Familie, im Vertrauen darauf, daß er ein Mann von Ehre ist, als Gast aufnimmt und der dann die Tochter seiner Wirte zu einem nächtlichen Stelldichein veranlaßt?«

»Wenn du Herrn Brun damit meinst,« sagte Hulda mit Festigkeit, »dann kann ich nur sagen, daß du falsch berichtet bist. Erstens ist eine erwachsene Frau kein Paket, das gestohlen werden kann, und zweitens ist sie kein Kind, das sich durch Ueberredung zu kompromittierenden Handlungen bringen läßt. Ich wählte offenen Auges zwischen Herrn Falck, den ich nicht liebte, und Herrn Brun, den ich liebe. Wenn jemand in der Angelegenheit eine Schuld trifft, so trifft sie mich, nicht ihn.«

Frau Brinckmann die auf ein so offenes Geständnis nicht vorbereitet war, faltete die Stirn und starrte ihre Tochter in hellem Erstaunen an. Die blaue Ader auf ihrer Stirn schwoll an, und das Strickzeug fiel ihr in den Schoß. »Ich wußte, daß du leichtsinnig warst,« sagte sie schließlich mit ruhiger Strenge, »aber ich wußte nicht, daß du schamlos bist!«

Die Hände auf ihre Kniee stützend, erhob sie sich geräuschvoll, und die Vasen und Leuchter auf dem Schreibtisch klirrten und zitterten als sie aus dem Zimmer schritt.

Hulda hörte, wie sie den Schlüssel im Schloß umdrehte, und jeder ihrer sich langsam entfernenden Schritte im Korridor weckte in ihrem Herzen ein wiederhallendes Klopfen. Wie ein Kind durch Einsperren und Hunger bestraft zu werden, weil sie sich das Recht anmaßte, über ihr eigenes Leben zu bestimmen, das war zu demütigend! Und Olaf Brun über Hals und Kopf fortzuschicken, als ob er ein dummer Junge gewesen wäre, war in ihren Augen ein schimpflicher Bruch der Gastfreundschaft.

Mehrere Stunden waren verflossen und der Sturm draußen hatte etwas nachgelassen. Dann hörte sie auf dem Korridor Schritte, die sie sofort erkannte. Ein Schlüssel knarrte im Schloß, und die Thür ging auf. Der Pastor erschien mit ganz verstörtem Gesicht auf der Schwelle und schloß die Thür hinter sich. »Aber liebes Kind,« begann er ihr liebevolle Vorstellungen zu machen, »was soll das eigentlich heißen? Malene sagt mir, daß du kein Frühstück und kein Mittagessen bekommen hast.«

Hulda saß unbeweglich da. Sie bemerkte, daß ihr Vater seine Reisestiefel anhatte und sein Gesicht von der Luft draußen gerötet war. Sie erriet sofort, daß Malene, das Mädchen dem Zorn ihrer Herrin getrotzt und sich an sein Mitgefühl gewendet hatte.

»Mein liebes, kleines Mädchen« fuhr er fort, indem er zu ihr trat und ihr zärtlich über die Wange strich, »willst du deinem Vater nicht sagen, was geschehen ist?«

Anstatt einer Antwort warf sie sich an seine Brust und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

»Nun, nun mein Liebling,« flüsterte er besänftigend, »immer den Kopf hoch! Weine nicht, Herzenskind, es wird schon wieder gut werden.« Dabei küßte er sie auf die Wangen, ließ seine Hand liebkosend über ihr Haar gleiten und sprach tröstend zu ihr.

Während sie noch, an seine Schulter gelehnt, fortweinte, trat Malene mit einem Theebrett ein, auf dem dampfender Thee, Brot, Butter und kaltes Fleisch standen.

»Aber Malene,« sagte der Pastor, »warum hast du Huldas Abendbrot hierher gebracht? Oder warte einen Augenblick. Du kannst es auch hier lassen und mir meine Mahlzeit ebenfalls herbringen.«

Das Mädchen zündete die Lichter an, machte ein Feuer im Ofen und deckte den Toilettentisch des Bischofs für zwei Personen. Mit liebevollen Worten suchte der Pastor die Tochter zum Essen zu bewegen. Er erzählte ihr drollige Geschichten von seinem alten Widersacher, dem Amtsrichter, der es ihm nicht vergeben wolle, daß er einen Ersatz für ihn im Quartett gefunden habe. Er berichtete von Lars Nordby, der ihm anvertraut habe, daß Hulda ein so heller Kopf sei, von Peter Vandsbeck, der sich dem Trunk ergeben und dessen Frau sich nun um Unterstützung an den Armenverein gewendet habe.

Sein Bemühen, sie durch solche Geschichten von ihrem Schmerz abzulenken, rührte sie. Aber bei all seiner Gutherzigkeit verstand er sie doch ebensowenig als ihre Mutter, wenn er meinte, daß sie wie ein Kind durch Märchenerzählen wieder guter Laune werden könnte.

»Vater,« sagte sie, »weißt du, wohin Herr Brun gegangen ist, als Mutter ihn fortschickte?«

Der Vater sah enttäuscht aus. »Nein, Kind, nein,« erwiderte er in abwehrendem Ton, »ich habe keine Ahnung.«

»Wenn du nicht versuchen willst, es zu erfahren so werde ich es selbst thun« sagte sie mit ruhiger Festigkeit.

»Mein liebes Kind, dieser junge Mann ist nicht einmal im stande, für sich selbst zu sorgen. Diese Erwägung kommt dir vielleicht niedrig und unromantisch vor. Aber darum ist es gerade die Pflicht der Eltern, sie zu berücksichtigen und ihr Kind davor zu behüten, daß es sich ins Unglück stürzt. Du mußt doch zugeben, daß deine Mutter und ich mehr vom Leben kennen als du, und daß wir nur den einen Wunsch haben, dich glücklich zu machen, soweit das nach Menschenkräften möglich ist.« Er erhob sich, küßte sie auf die Wange und ging aus dem Zimmer.

Hulda hatte fest erwartet, irgendwelche Nachricht von Olaf Brun zu erhalten, aber Wochen und Monate vergingen ohne einen einzigen Brief. Sie konnte nach seinen Liebesversicherungen nicht glauben, daß er auch gegen sie den Groll hegte, den er natürlicherweise gegen ihre Mutter fühlen mußte. Sie zweifelte nicht, daß er geschrieben hatte, vermutete aber, daß die wachsamen Augen ihrer Mutter die Handschrift erkannt und verhindert hätten, daß seine Briefe an sie gelangten. Sie wußte den Namen seines Onkels, des Staatsministers, und schrieb unter dessen Adresse zwei Briefe an Olaf, erhielt aber keine Antwort. Niemals kam ihr der Gedanke, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Sie kannte die feindlichen Mächte, die ihn ebenso wie sie umlauerten, und sie glaubte, daß er von derselben zärtlichen Sehnsucht, demselben Hoffen, denselben Wünschen verzehrt würde. Ihr unerschütterlicher Glaube an ihn war für sie eine Quelle der Glückseligkeit.

Die Tage der Landbewohner pflegen sich in ruhiger Gleichart abzuwickeln. Pflichten und Vergnügungen wechseln in heilsamer Weise miteinander ab, folgen aufeinander mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten und lassen ihnen nicht allzuviel Muße, sich in Gefühlsleiden zu vertiefen. Die Haushaltswochen, die die beiden ältesten Töchter des Pastors abwechselnd zu besorgen hatten, waren für Hulda eine rechte Qual, solange ihr Kummer noch frisch war. Während des ersten Monats nach Olafs Abreise befand sie sich in einem Zustande höchster Empfindsamkeit, und in diesem Zustande erschien es ihr entwürdigend und kleinlich, Kaffee und Zucker für die Knechte und Mädchen abwägen zu müssen, das Abmessen der Milch und das Abschöpfen der Sahne zum Buttern zu überwachen und sich für die Einzelheiten des Küchenzettels zu interessieren. Das Grausamste, was das Schicksal ihr auferlegen konnte, war für sie, mit einer langen weißen Schürze angethan, in die Küche zu gehen, während sie mit ihrem Kummer allein sein wollte, und nur die Macht der Gewohnheit konnte sie zu dieser Thätigkeit bewegen.

Inmitten all der Trübsal, die sie zu überwältigen drohte, hoffte Hulda wenigstens, von Falcks lästigem Werben befreit und nicht mehr zur Höflichkeit gegen jemand, den sie als den Urheber ihres Unglücks ansah, gezwungen zu werden. Aber der Hilfsprediger nahm, obgleich er nur geringen Appetit zeigte, seinen Platz an der Tafel so regelmäßig wie sonst ein. Er verriet keine besondre Aufregung, nur ein vergrämter Zug um den Mund und zwei Falten, die sich noch tiefer in seine Stirn eingegraben hatten, deuteten auf seinen Gemütszustand. Nur selten gab er eine Bemerkung von sich, er antwortete nur mit trockener Stimme und mit mühsamer Ueberwindung auf die Fragen des Pastors und der Frau Pastor. Der Pastor bemerkte zu seiner Freude, daß Falcks zweite Violine im Quartett an zartsinniger Auffassung und vertieftem Ausdruck gewann, und er pflegte zu prophezeien, daß Herr Falck noch eines Tages ein Künstler auf seinem Instrument werden würde. Die Frau hatte mit dem guten Pastor verabredet, daß keine Anspielung auf die unglückselige Angelegenheit gemacht werden und daß, da Herr Falck sie niemals von einer Auflösung der Verlobung in Kenntnis gesetzt, Huldas Verlobung mit dem Hilfsprediger als fortbestehend betrachtet werden sollte.

Die Frau Pastor vertraute auf den heilenden Einfluß der Zeit. Auch glaubte sie wahrzunehmen daß Hulda ihr gezwungenes Wesen allmählich verlor und daß ihr natürlicher Frohsinn nach und nach zurückkehrte. Eines Tages sogar redete Hulda Herrn Falck ohne ein Zeichen von Abneigung an, und dieser, der ängstlich bemüht war, nicht den geringsten Anstoß zu geben, begann wieder Hoffnung zu schöpfen, nicht weil er sich mit dem Gedanken täuschte, sie schon zurückgewonnen zu haben, sondern weil seine Liebe für sie so sehr ein Teil seiner selbst geworden war, daß der Versuch, sich von dieser Liebe zu trennen, ihm wie eine Art Selbstvernichtung erschien.

Acht Monate waren nach Olaf Bruns Abreise vergangen, als Hulda einen Brief von ihm erhielt, der ihr durch Zufall in die Hände fiel. Sie ging gerade mit ihrer Schwester auf der Landstraße spazieren, als sie den Stallknecht Nils traf, der die Posttasche trug. Dieser hatte darin einen Brief mit amerikanischem Poststempel, der an Hulda adressiert war, entdeckt, den er ihr nun übergab, und der dankbare Blick, mit dem sie ihn belohnte, sagte ihm, daß er darüber schweigen müsse.

Es ging aus Olafs Brief nicht deutlich hervor, ob er ihr schon früher geschrieben. Frau Brinckmann habe ihn bei seinem Onkel angeschwärzt und ihn in endlose Ungelegenheiten gebracht. Dieser habe darauf einen so beleidigenden Ton wegen seiner Verlobung mit Hulda gegen ihn angenommen, daß nur die grauen Haare ihn vor den wohlverdienten Prügeln bewahrt hätten. Doch am selben Tage noch, an dem Olaf sein einundzwanzigstes Jahr zurückgelegt, habe er sich sein kleines väterliches Erbteil auszahlen lassen und dem Vormund Lebewohl gesagt. Er sei nun nach Berlin, Düsseldorf, München gegangen, um seine Kunststudien wieder ernstlich aufzunehmen, aber die deutschen Professoren hätten ihm in Rücksicht auf sein Alter einstimmig davon abgeraten und so habe er den Mut verloren und sich aus reiner Verzweiflung nach Amerika eingeschifft, um hier sein Glück zu machen. Seit zwei Monaten habe er die östlichen und südlichen Staaten bereist, sich jetzt aber dauernd in Chicago niedergelassen, wo er eine ansprechende Thätigkeit zu finden hoffe.

Es standen keine Liebesbeteuerungen in dem Brief, vielmehr war er ausschließlich mit des Schreibers eignen Fährlichkeiten und Kümmernissen ausgefüllt.

In Huldas Augen aber war es ein rührender, herzergreifender Bericht, der keine häßliche Deutung zuließ. Olaf hatte wirklich viel »Pech« gehabt und war vom Schicksal grausam behandelt worden. Sie las den Brief wieder und wieder und empfand jedesmal dieselbe Rührung dabei. Dabei war sie glücklich in dem Gedanken, daß sie, wenn auch die halbe Welt sie trennte, doch über Länder und Meere hinweg jene Seelenharmonie fühlen konnte, in der ihre beiden Herzen schlugen.

In ihrem Glücksgefühl über diesen Brief war es Hulda nicht möglich, irgend jemand unfreundlich zu begegnen, und so wurde sie auch in ihrer Haltung gegen Falck nicht nur weniger ablehnend, sondern sogar fast liebenswürdig. Die Frau Pastor bemerkte diese Veränderung mit ruhiger Befriedigung, und Falck selbst fing an, eine Melodie vor sich hinzusummen während er durch die Gänge schritt, und in seinem Zimmer lustige Weisen zu spielen.


Es war spät im Oktober. Das Wetter war seit einer Woche sehr stürmisch gewesen. Hulda stand, in einen Regenmantel eingehüllt, auf dem Balkon. Es war ihr, als ob in dem Wehen des Sturms eine große, gewaltige Leidenschaft wütete, ein wildes, unbezwingliches Verlangen mit dem ihr Herzschlag sich verwandt fühlte, ein mächtiges Sehnen, alle Bande zu zerreißen und ein Leben voll ungetrübter Freiheit zu führen.

In diesen Gedanken wurde sie durch zwei Männer in gelben Oeljacken unterbrochen, die die Stufen heraufgestampft kamen und nach dem Pastor fragten. Der Regen tropfte von ihren Bärten und lief von dem Rand ihrer Hüte herab. Sie zogen ihre derben Fausthandschuhe aus und streckten beide dem jungen Mädchen eine hornharte Hand hin.

»Ihr habt ein häßliches Wetter mitgebracht,« sagte Hulda.

»Ja, ein rechtes Unwetter, aber in dieser Jahreszeit kann man's nicht anders verlangen.«

»Was wollt ihr von dem Pastor noch so spät am Abend? Hochzeit, Taufe oder Begräbnis?«

»Meine Frau liegt im Sterben,« erwiderte einer der Männer in langsamem, feierlichem Tone, »ich will den Herrn Pastor bitten daß er ihr das Abendmahl gibt.«

»Aber in einem solchen Sturm kann der Vater doch nicht über den Fjord setzen!« rief sie erschrocken aus.

Sie konnte die Antwort nicht hören, denn der Wind übertönte die Stimmen, und der Regen goß in solchen Strömen herab, daß sie sich schleunigst zurückziehen mußte. Sie mühte sich eine Weile mit der großen Hausthür ab, und der Flur war schon halb überschwemmt, bevor die Männer ihr zu Hilfe kamen und sie schlossen. Sie folgte ihnen in die Amtsstube des Pastors, wo außer ihrem Vater noch der Hilfsprediger saß, um eine Gemeindeangelegenheit zu besprechen.

Die beiden Bauern brachten nach den einleitenden Begrüßungen ihr Anliegen vor. Der Pastor wurde sehr ernst, rieb sich das Kinn und saß einen Augenblick nachdenklich da. »Es würde nicht recht von euch sein, wenn ihr Gott versuchen und in einem solchen Sturm zurückkehren wolltet,« sagte er. »Bleibt die Nacht hier, und morgen früh wollen wir miteinander ausbrechen.«

»Nein, Herr Pastor,« erwiderte der ältere der beiden Männer und sah ihn mit kummervollem Gesicht an, »es dauert nicht mehr bis morgen früh mit ihr, sagt der Doktor, und wenn Sie nicht mit uns kommen wollen, müssen wir allein gehen.« Er erhob sich, ging ans Fenster und starrte traurig in das dunkle Unwetter hinaus.

»Guter Mann,« sagte der Pastor, »euer Kummer betrübt mich. Aber wir haben doch nur ein Leben, und es ist Sünde gegen den, der es uns gegeben, es mutwillig in die Schanze zu schlagen.«

Die beiden Bauern, Vater und Sohn, standen unbeholfen da und starrten zu Boden, wo sich um jeden von ihnen eine große Wasserlache bildete. »Ich kann Ihnen nicht aus der Bibel antworten,« begann der ältere heiser, »ich habe nicht allzu viel gelernt. Aber wenn ich einer armen Seele dazu verhelfen könnte, daß –«

»Ach, Herr Pastor, kommen Sie doch,« flehte der jüngere, während ihm die Thränen die Backen herunterliefen, »sie stöhnt in ihrer Todesangst, und Sie allein können ihr helfen.«

»Sie ist ein gutes Weib gewesen und hat ihr Leben lang hart gearbeitet,« nahm der Vater wieder mit gebrochener Stimme das Wort, »und – und – ich denke mir, sie hat nichts Schlimmes auf dem Gewissen. Aber sie hat eine gräßliche Angst und ruft nach einem Pastor und will das Abendmahl und denkt, sie kann sonst nicht in den Himmel kommen. Doch ich meine: Gott wird nicht so hart mit ihr sein, er wird barmherziger sein als Sie.«

Hulda, die bebend vor Teilnahme zugehört hatte, sprang plötzlich auf, schritt auf den alten Bauer zu, ergriff seine Hand und brach mit vor Schluchzen erstickter Stimme in die Worte aus: »Ach wäre ich doch ein Geistlicher! Ich würde mit Ihnen gehen!«

»Kind, Kind,« mahnte ihr Vater, den der Vorwurf, der in ihren Worten lag, empfindlich traf, »du weißt nicht, was du sagst.« Er begann in höchster Aufregung im Zimmer auf und ab zu gehen.

Da stand Falck ruhig auf und sagte: »Ich bin ein Geistlicher und will mit euch gehen«

»Gott segne Sie dafür!« rief der ältere Bauer und stürzte auf ihn zu, als ob er ihn am liebsten mit forttragen möchte.

»Ich bin Ihnen für Ihren guten Willen dankbar, Herr Falck,« rief jetzt der Pastor, »aber ich kann Ihnen nicht erlauben, mitzugehen. Ihr Mitgehen würde gewissermaßen auf mich einen Schatten werfen und – Sie haben Pflichten noch gegen andre als gegen sich selbst.«

Falck bewegte die Lippen konnte aber keinen Laut hervorbringen. Seine Augen hefteten sich mit einem vielsagenden Ausdruck auf Hulda, und es war fast, als ob auch in ihrem Blick ein Verständnis aufleuchtete, das ihrem Antlitz eine eigentümliche Schönheit verlieh. Sie fühlte einen Augenblick, wie ein heiliges Feuer sie durchglühte, und mit dem unschönen Mann mit dem bleichen Gelehrtengesicht, der da vor ihr stand, ging in ihren Augen eine wunderbare Verwandlung vor, die ihr seine Heldenseele zeigte. Sie wußte zwar, daß er nur um ihretwillen bereit war, sein Leben zu wagen, doch das that seinem Heldentum keinen Abbruch, verlieh ihm vielmehr einen romantischen Hauch, der es doppelt schön machte.

»Lebe wohl, Hulda!« sagte Falck, ergriff ihre Hand und drückte sie fest, »wenn – wenn wir einander niemals wiedersehen sollten, denke daran –« Er kam nicht weiter. Sein Gesicht wurde noch um einen Schein bleicher, und große Schweißtropfen traten auf seine Stirn. Er ließ ihre Hand los und ging schnell aus dem Zimmer. Die beiden Bauern folgten ihm eilig.

Der Pastor erhob sich, ging ans Fenster, horchte auf das beständige Fallen der Regentropfen, die gegen die Fensterscheiben klatschten und beobachtete die langen fließenden Linien, die hie und da durch einen Guß, der alles überflutete, ausgewischt wurden. Er schien in trübe Gedanken versunken zu sein. »Das hättest du nicht thun sollen, Tochter,« sagte er plötzlich mit einem tiefen Seufzer, »du hast ihn in den Tod geschickt. Die Chancen sind zehn gegen eins, daß er nicht wiederkehrt.«

Im selben Augenblick hörten sie auf dem Flur schwere Fußtritte, dann folgte ein furchtbarer Knall, der das ganze Haus erschütterte.

Hulda fuhr mit erschrecktem Gesicht empor, und der Gedanke, daß sie einen Menschen in den Tod geschickt, überkam sie mit schrecklicher Lebendigkeit. Sie sah Falck mit den Wellen kämpfen, die schäumend und tosend über ihn hinwegsetzten. Sie sah, wie er die Hände nach ihr ausstreckte, als ob er sie anflehen wollte, ihn zu retten und sie vermeinte, ihn in dem schwarzen wirbelnden Abgrund versinken zu sehen.

Von Gewissensbissen gefoltert, stürzte sie auf den Flur, kämpfte eine Zeitlang mit der großen Hausthür und lief in das Unwetter hinaus. Es war stockfinster, nur ein flackernder Schein tauchte hie und da in der Dunkelheit vor ihr auf, um schnell wieder zu verschwinden und ebenso schnell wieder aufzuleuchten. Die Windsbraut erfüllte mit ihrem Heulen die Lüfte, und die kahlen Kastanien und Ahornbäume im Garten stöhnten und ächzten unter der grausamen Gewalt des Windes. Der Regen peitschte ihr das Gesicht, durchnäßte ihre Kleider und floß ihr den Rücken hinab. Sie setzte ihre ganze Kraft gegen den Sturm ein, focht verzweifelt mit ihm um jeden Zoll Boden und langte auf der Landungsbrücke an, gerade als die Laterne, die ihr Leitstern gewesen war, ins Boot hinabgelassen wurde. Sie konnte nicht die Hand vor Augen sehen und lief Gefahr, ins Wasser zu stürzen, das brausend und zischend hoch über die Landungsbrücke emporspritzte.

War sie zu spät gekommen? Sie versuchte Falcks Namen zu rufen, aber ihre Stimme ging in dem tosenden Lärm unter. Dann legte sie sich platt auf die Steine nieder und schrie. Es kam keine Antwort, nichts als das dumpfe Brüllen des Sturms. Sie kroch auf Händen und Füßen fort, aus Furcht, ins Meer zu stürzen, und als sie sich aufrichten wollte, fühlte sie eine menschliche Gestalt. Sie wußte, daß es der war, den sie suchte.

»In Gottes Namen, wer ist da?« schrie er auf, und sie fühlte, wie ein Zittern durch seine Glieder ging, als sie ihn umklammerte, um ihn vor dem Fallen zu bewahren.

»Es war unrecht von mir. Du sollst nicht gehen!« rief sie zurück.

»Hulda! Barmherziger Gott! Wie kommst du hierher?« sagte er in höchster Bestürzung. »Du bist kalt und naß. Hier nimm meinen Mantel. Ich brauche ihn nicht.«

»Nur wenn du mit mir kommst! Ich kann nie wieder glücklich werden, wenn du nicht kommst.«

Er stand da, sie fest mit den Armen umschlingend, und ein großer Freudenstrom ging durch sein ganzes Sein.

Da drangen die Zurufe der Männer im Boot durch den Wind hindurch zu ihm, und widerstrebend ließ er sie los, küßte sie auf die Stirn und sagte: »Lebewohl, Hulda.«

»Du gehst fort?«

»Ja, es muß sein. Lebewohl!«

Ein Strick wurde ihm zugeworfen, den er sich um den Leib band, während er die Steinstufen hinabschritt und auf eine Gelegenheit wartete, in das Boot zu springen, das wild auf den Wellen hin und her tanzte.

In demselben Augenblick, als er seine Hand von ihr wegzog, entschwand er auch schon ganz und gar ihren Blicken. Es schien, als ob die Dunkelheit ihn verschlungen hätte. Einen Augenblick war es ihr, als ob der Sturm innehielt, und währenddem hatte sie den Eindruck, als ob etwas Schwarzes an ihren Blicken vorüberglitte und in dem tosenden Chaos, das Erde und Himmel erfüllte, rettungslos unterginge.

Hulda wußte später nicht, wie oder wann sie nach Hause gekommen war, denn jede Erinnerung an das, was nach dem Abschied auf der Schiffsbrücke vorgefallen war, fehlte ihr. Sie kam erst wieder zu sich, als sie triefend und frostschauernd, von der ganzen Familie umgeben, auf dem Flur stand und angstvoll ausgefragt wurde. Ihre Mutter stand streng und mitleidslos vor ihr, und Hulda glaubte in dem harten und eisigen Gesicht ihr Urteil zu lesen. Sie nahm in ihrem Fieberwahn an, daß die Mutter sie für wenig besser als eine Mörderin hielt, die diesen Weg am Ende eingeschlagen, um die Pläne ihrer Eltern zu vereiteln und sich von dem lästigen Bewerber zu befreien. Gerade die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens weckte ihren Trotz. Die Zähne zusammenbeißend, um ihr Zittern und ihre Schwäche zu bekämpfen, stieg sie die Treppe hinauf, ging in ihr Zimmer und verschloß die Thür.

Sie glaubte jeden Augenblick den Schritt ihrer Mutter auf dem Gang zu hören, aber zu ihrer Ueberraschung folgte ihr nur ihr Vater. Er klopfte sanft an die Thür.

»Darf ich hineinkommen?« fragte er.

»Nein, Vater. Mir ist so kalt. Ich muß mich umkleiden.«

»Soll ich Magda zu dir schicken?«

»Nein, danke sehr, Vater. Ich möchte lieber allein bleiben.«


Es ist furchtbar, wie viel Qualen der Mensch in einer einzigen Nacht durchmachen kann. Hulda liebte Falck so wenig als je, und doch war ihr, als ob das Glück ihres ganzen Lebens von seiner Rettung abhinge. Das Bild seiner Leiche, die immer tiefer und tiefer in die grundlose Tiefe hinabsank, verfolgte sie und ließ ihr keine Ruhe. Sie ging aufgeregt im Zimmer hin und her, als ob sie diesen Vorstellungen entfliehen wollte, sie rieb sich die Augen, als ob sie sie wegwischen wollte, aber die Bilder ihrer Phantasie ließen sich nicht verbannen.

Sie setzte sich auf ihr Bett nieder und versuchte ruhig zu überlegen. Sie griff mit den Händen an ihren Kopf, preßte die Hand gegen ihre Schläfen, um die wilde Gedankenflut zu beruhigen. Alles vergebens. Die Thatsache blieb und konnte nicht fortgeklügelt werden. Sie hatte ihre Macht über ihn dazu benutzt, ihn in den Tod zu schicken. An seinem Tod konnte sie nicht zweifeln. Es wäre ja ein Wunder, wenn ein Mensch diesem dämonischen Aufruhr der wütenden Elemente entginge.

Mechanisch begann sie sich zu entkleiden und breitete ihre nassen Kleider über die Lehnen der Stühle aus. Plötzlich hielt sie wieder inne, als ob sie ganz vergessen hätte, was sie thun wollte. Ein heftiger Frostschauer ergriff sie, und sie warf sich aufs Bett nieder und hüllte sich in ihre Decken ein. Dann kam Magda, klopfte an die Thür und bat um Einlaß. Aber Hulda starrte in die Luft und begriff kaum, was man von ihr wollte. Fünf Minuten vergingen, während Magdas Klopfen immer ungeduldiger wurde. Das Knarren der großen Kastanien im Garten, die sich unter der Gewalt des Windes bogen und ächzten, weckte die furchtbarsten Ahnungen in ihr, und das harfenähnliche, gewaltige Getön, das mit jedem neuen Ausbruch des Sturms zum Himmel emporstieg, ließ sie bis ins Innerste erschauern.

Als Magda auf ihr Klopfen keine Antwort erhielt, lief sie in ihrer Angst zu Nils, der das Schloß dann gewaltsam mit einer Zange öffnete. Man entkleidete Hulda und verordnete ihr verschiedene Hausmittel, die mit ihren durchdringenden Gerüchen das Zimmer füllten. Drei oder vier Stunden lang saß Magda an Huldas Bett, hielt die Hand der fiebernden Schwester und strich ihr mit der kühlen Hand leise über die Stirn.

Endlich kam der Morgen und obgleich das Wetter noch nebelig und rauh war, hatte der Sturm doch nachgelassen. Es war kein merklicher Sonnenaufgang; nur gegen Süden zeigte der graue Himmel einen schwachen Lichtschein. Die niedrigeren Wolkenschichten, die vom Winde landeinwärts getrieben wurden, von dem man in der Niederung nur einen leisen Hauch verspürte, breiteten sich über den Wäldern in weißen, zerrissenen Flöckchen aus und sandten kleine Sturzschauer herab, wenn sie zwischen den Bergspitzen zu sehr eingeengt wurden.

Hulda stand mit einem Gefühl von großer Mattigkeit und einer Schwere in allen Gliedern auf und wurde von ihrem Vater dazu überredet, ihm beim Frühstück Gesellschaft zu leisten. Obgleich sie ihn stark im Verdacht hatte, daß er zum zweiten Mal frühstücke, nur um sie zum Essen zu bewegen, ließ sie sich täuschen und überwand sich, ein Ei und eine Tasse Thee zu sich zu nehmen.

Beider Gedanken drehten sich mit krampfhafter Beharrlichkeit um Falck und sein Schicksal, dennoch wurde sein Name nicht einmal erwähnt. Es war für Hulda eine große Erleichterung, als die Komödie zu Ende war und sie sich ihrem Kummer wieder hingeben konnte. Nachdem sie sich einen Shawl um die Schultern geworfen hatte, eilte sie hinunter nach der Schiffsbrücke, und da lief sie zu ihrem Schrecken abermals ihrem Vater in die Arme, der mit einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf dastand und angstvoll aufs Wasser hinausspähte. Es bedurfte nun keiner Verstellung mehr zwischen ihnen; der Pastor ging mit ernstem Gesicht auf sie zu, streichelte ihr die Wange und sagte: »Armes Kind!«

Und sie weinte eine Zeitlang schweigend an seiner Brust.

Sie waren wohl eine halbe Stunde lang ruhelos am Hafendamm hin und her gegangen, als Hulda plötzlich in dem Nebel ein verschwommenes Etwas erblickte, das einem Segel glich. Im selben Augenblick verschwand es wieder, und sie glaubte sich getäuscht zu haben. Ein ungleichmäßiger Wind erhob sich und trieb die grauen Dunstmassen vor sich her, sie hier und dort nach seiner Laune bald lichtend, bald zusammenballend.

Auf einmal vernahmen sie einen Ton, der wie das Knirschen von Rudern in den Dollen klang. Hulda, der das Herz heftig schlug, sprang auf den äußersten Vorsprung der Brücke hinaus. Mit forschenden Blicken spähte sie in den Nebel, und obgleich sie nichts sah, hörte sie deutlich, wie gleichmäßige Ruderschläge näher und näher kamen. Noch eine Minute, und ein Kahn tauchte aus dem Nebelmeer hervor. Die Gestalten von drei Männern zeichneten sich silhouettenhaft gegen den grauen Nebel ab. Zwei ruderten und einer stand aufrecht mit ausgestrecktem Arm, um den Stoß gegen die Brücke abzuwehren. Es war eine Seemannsgestalt mit einem breitkrempigen Hut und gelber Oeljacke.

Sie war ein paar Schritte zurückgetreten, als sie freudig beim Namen gerufen wurde. Der Mann in der Oeljacke sprang die Stufen hinauf und schloß sie in seine Arme. Sie war so überrascht, daß sie kaum zur Besinnung kam; aber in die Freude, die sie bei Falcks Anblick empfand, mischte sich ein unerklärliches Unbehagen. Sie machte sich so schnell, als sie konnte, aus seinen Armen frei.

»Ich bin froh, daß du wieder da bist,« brachte sie zögernd hervor.

»Du siehst nicht sehr froh aus,« antwortete er, über ihr kühles Wesen enttäuscht, »aber ich bin für uns beide glücklich darüber, daß ich wieder bei dir bin.«

Nach ihren schweren Kämpfen war dies nur ein sehr farbloses Wiedersehen, und sie fühlte unter lebhaften Selbstvorwürfen, daß er ein herzlicheres Willkommen wohl verdient hätte. Aber als sie im nächsten Augenblick seinem strahlenden Blick begegnete, bemitleidete sie ihn aus dem tiefsten Grunde ihrer Seele. War er wirklich mit den Brosamen von eines andern Tisch zufrieden, oder war er nach allem, was vorgegangen noch zu schwerfällig, um zu merken, daß sie ihm nur Brosamen geben konnte?


Während der nächsten Wochen zeigte sich, daß alle Mitglieder des Hauses Falcks Täuschung teilten. Die Brun-Episode wurde vorsätzlich weiter ignoriert, und niemand wagte, die geringste Anspielung auf die Vorkommnisse zu machen, die die zeitweilige Entfremdung zwischen den Brautleuten herbeigeführt hatten. Man begann allen Ernstes die Vorbereitungen zur Hochzeit zu treffen.

Hulda ging wie abwesend umher, und alles um sie her erschien ihr von der größten Gleichgültigkeit. Bisweilen raffte sie sich wohl auf und beschloß, ihren Vater anzuflehen, er möchte seine Autorität geltend machen und sie vor einer Heirat bewahren, die ihr doch nur Unglück bringen könnte. Aber dann kam hinterher stets der bittere Gedanke, daß der Pastor, so gutmütig er auch war, doch so vollkommen von dem Willen seiner Frau beherrscht wurde, daß sie bei ihm für ihre Wünsche kein Gehör finden würde. Sie sah sehr wohl ein, daß auch sie nicht vorwurfsfrei gehandelt hatte. Sie hatte unvorsichtigerweise Falck Veranlassung zu dem Glauben gegeben, daß ihre Gefühle gegen ihn sich geändert hätten. Ihre übertriebenen Gewissensbisse in jenem Augenblick, da ihre überreizten Nerven dem leisesten Eindruck widerstandslos nachgaben, hatten leicht falsch ausgelegt werden können; und ihr fehlte jetzt der Mut, sein Glück zu zerstören. Und nach all den aufregenden Scenen der verflossenen Monate lag etwas Beruhigendes in dem fatalistischen Gedanken, daß man sich in das Unvermeidliche fügen müsse.

Inzwischen rückte der für ihre Hochzeit festgesetzte Tag näher, und der Zwiespalt in ihr wurde immer unerträglicher. Zuletzt war es ihr, als ob ihr Herz leer gebrannt sei, und eine steinerne Gleichgültigkeit bemächtigte sich ihrer.

Falck bemerkte ihre Zurückhaltung zwar, glaubte sie aber bei seiner Unkenntnis des weiblichen Herzens aus der nahe bevorstehenden Heirat erklären zu sollen, und begegnete ihr mit einer zarten Nachsicht, die glühende Kohlen auf ihr Haupt sammelte.

Anfang Februar; ein Jahr nach jener denkwürdigen Schlittenfahrt, rief der Pastor Hulda in sein Studierzimmer und teilte ihr mit großer Feierlichkeit mit, daß ihr Aufgebot jetzt dreimal öffentlich nach den gesetzlichen Vorschriften erfolgt sei und daß die Einladungen zu ihrer Trauung, die am nächsten Mittwoch stattfinden werde, ergangen seien. Er lobte Falck und sagte, es sei ihm ein tröstlicher Gedanke, daß er das Glück seiner Tochter einem so guten und braven Menschen anvertrauen dürfe. Dabei fiel es Hulda auf, daß er bei allen diesen freundlichen Gemeinplätzen eine Art Amtston hatte und nicht mit dem Herzen sprach. Er hatte offenbar seine Unterweisungen bekommen und führte ein vorher überlegtes Programm aus. Mit unbewegtem Gesicht hörte sie zu und antwortete kurz und einsilbig, wenn er sie fragte.

Sie sah mit Schaudern den lähmenden Alpdruck eines liebelosen Zusammenlebens vor sich, eine Scheinehe, die nimmermehr eine wirkliche werden konnte. Mit ihrem wilden Heißhunger nach Glück, mit ihren hochgespannten Erwartungen vom Leben konnte sie es nicht über sich gewinnen, diese schönen Akkorde ihrer Mädchenträume in die nüchterne, einförmige Tonart alltäglicher Prosa zu übertragen.

Die Sitte des Landes brachte es mit sich, daß sie sich an den Vorbereitungen zur Hochzeit fast gar nicht beteiligte. Die Küchenwoche wurde ihr abgenommen und Magda übergeben. Natürlich waren die jüngeren Mädchen wegen der Hochzeit in großer Aufregung und nahmen an allem, was damit zusammenhing, das lebhafteste Interesse. Die Mutter wollte, daß Hulda eine Aussteuer bekommen sollte, die der Familie Ehre machte, und sie bemerkte wiederholt, wenn sie die Stöße von Strümpfen, Röcken, Hemden und Kopfkissenbezügen, die auf Betten, Tischen und Stühlen aufgestapelt waren, besichtigte, daß eine Prinzessin auf eine solche Aussteuer stolz sein könnte. Sie befühlte alle Stoffe mit der kritischen Wertschätzung einer echten Hausfrau, und sie verstand nicht, wie ihre Tochter für die Qualität ihres Tisch- und Bettzeugs, das im Hause gewebt, auf dem Rasen gebleicht und auf der großen, mit Steinen angefüllten Rolle gerollt war, kein Interesse finden konnte. Für Frau Brinckmann gab es nichts Erhebenderes als den Duft von frischgewaschenem Leinen.

Am Abend vor der Hochzeit saß Hulda allein in ihrem Zimmer. Die Lichter in den zwei- und dreiarmigen blankgeputzten Messingleuchtern brannten auf dem Ankleidetisch, der mit einem schneeweißen Tuch bedeckt war. Das Mädchen, das halb entkleidet vor dem Spiegel saß und auf ein weißes, vom Alter leicht vergilbtes Atlaskleid hinstarrte, das über zwei Stühle ausgebreitet war, sah bleich und verstört aus. Düfte vom Backen und Braten gingen durch das ganze Haus und drangen durch die Schlüssellöcher und Thürspalten, und das »Bumm, bumm, bumm« der hölzernen Mörserkeule, mit der Nils den Fleischteig bearbeitete, tönte durch die langen leeren Gänge.

Plötzlich wurden Schritte auf dem Korridor laut, und es klopfte an die Thür. »Hulda,« sagte Magda, »bitte, mach auf.«

»Was willst du?«

»Die Mutter sitzt unten mit Herrn Falck und läßt dir sagen, daß sie dich gern im Hochzeitskleid sehen möchten.«

»Ich bin noch nicht fertig«

»Dann werde ich dir helfen.«

Hulda stand teilnahmlos auf und öffnete die Thür. Magda trat in geschäftiger Eile ein, während sie sich das Haar mit beiden Händen aus der Stirn strich. Ihre Wangen waren vom Herdfeuer gerötet, ihre Augen blickten voll hausmütterlicher Sorge. Sie hielt mitten im Zimmer inne, als sie ihre Schwester sah, und beide Hände zusammenschlagend, rief sie aus: »Aber, liebste Hulda, was ist denn geschehen?«

Hulda senkte die Augen und sah mit seltsam starrem Blick zu Boden. Als sie wieder aufblickte, gleichsam entschlossen, sich nicht zu verraten, ergoß sich eine helle Röte über Wangen und Hals, und ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen. Es lag eine Seelenangst in ihrem Blick, die sogar die praktische Magda rührte. »Bist du krank, Hulda?« rief sie besorgt aus.

»Nein, mich friert nur,« antwortete Hulda zusammenschauernd.

»Du darfst nicht im Negligé sitzen und dich erkälten.« Damit nahm sie das altmodische Gewand vom Stuhl und strich mit den Fingern liebkosend über den schimmernden Stoff. »Ich wollte, ich wäre an deiner Stelle und hätte morgen Hochzeit.«

»Das wollte ich auch,« antwortete Hulda teilnahmlos.

»Das ist doch gewiß nicht dein Ernst!«

»Doch, das ist mein voller Ernst.«

»Du willst doch nicht sagen, daß du noch an den Ingenieur denkst?« fragte Magda.

»Ach – wozu soll das nützen!« antwortete Hulda achselzuckend. Sie war jetzt aufgestanden und überließ sich ruhig Magdas geschickten Händen. Als diese ihr den Rock des Hochzeitskleides über den Kopf warf, entströmte ein schwacher Lavendelduft wie ein Geist vergangener Zeiten seinen sittsamen Falten.

»Wenn man denkt, daß Mutter einst in das Kleid hineingepaßt hat,« rief Magda aus, »es ist doch zu entzückend – diese kurze Taille, beinahe bis unter die Arme, du siehst darin aus wie Marie Antoinette –«

»– die zur Hinrichtung geführt wird,« ergänzte Hulda schwermütig.

»Nein, wahrhaftig! Ich werde beide Nähte im Rücken auslassen müssen. Wenn es nur nicht zu sehen sein wird,« rief Magda mit erzwungener Lustigkeit aus, »und wenn deine Tochter mal so weit ist, um es zu tragen, werden gar keine Nähte mehr da sein, die noch ausgelassen werden können. Aber wahrscheinlich wird sie ebenso schlank sein wie Falck –«

Hier hielt sie einen Augenblick inne, und die Blicke der beiden Schwestern trafen sich im Spiegel. Hulda wandte sich plötzlich um, sah ihre Schwester mit ihrem kummerverzehrten Gesicht an, und im nächsten Augenblick lagen sie einander in den Armen und schluchzten, als ob ihnen das Herz brechen wollte.

Die Minuten schlichen dahin, und die Lichter waren bis auf ein Stümpfchen heruntergebrannt. Hulda weinte ruhiger, und Magda streichelte ihr das Haar und flüsterte ihr zärtliche Worte zu. Dann wurde wieder an die Thür geklopft – ein scharfes, hartes, beunruhigendes Klopfen; beide sprangen auf, wischten sich die Spuren ihrer Thränen ab und begannen hastig ihr zerzaustes Haar zu ordnen.

»Was ist denn eigentlich aus euch geworden, ihr Mädchen?« fragte streng die Stimme der Mutter. »Der Vater und Falck warten nun schon eine Stunde auf euch.«

»Wir kommen im Augenblick hinunter,« antwortete Magda schnell. »Hulda fühlte sich nicht ganz wohl.«

»Schön, ich will noch zehn Minuten warten,« sagte die Mutter und ging zur größten Erleichterung der beiden Mädchen fort, ohne hereinzukommen.

»Ich werde als Braut einen traurigen Anblick bieten,« bemerkte Hulda und überließ sich wieder der freundlichen Sorgfalt ihrer Schwester.

Das Hochzeitskleid wurde endlich mit vieler Mühe zugeschnürt, ohne daß die Nähte ausgelassen waren, und nachdem die Schwestern ihre Gesichter in kaltem Wasser gebadet hatten, wappneten sie sich zu der Feuerprobe und stiegen Hand in Hand die Treppe hinunter.


Nachdem das Hochzeitskleid in Augenschein genommen war, gingen die beiden Schwestern zu Bett, und Magda verfiel bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Hulda aber war zu wach, um an Schlummer zu denken. Sie lauschte eine Weile Magdas gleichmäßigen Atemzügen, und als sie bemerkte, daß die Schwester fest schlief, erhob sie sich lautlos und schlüpfte schnell in ihre Kleider. Ihr Gesicht war bleich vor Entschlossenheit, und ihre Augen hatten einen unnatürlichen Glanz. Der Mondschein, der durch die dünnen Fenstervorhänge fiel, schien mit seinem matten Licht auf die Flut des goldblonden Haares, das sie schnell in einen Knoten am Hinterkopf zusammenfaßte.

Als sie ihre Toilette beendet hatte, nahm sie aus dem Schreibtisch eine goldene Brosche, eine goldene Uhrkette und eine alte Sparbüchse und schüttete ungefähr neununddreißig Thaler in kleinen Silbermünzen in ihren Schoß. Beim Zählen des Geldes hörte sie, wie die Uhr unten auf dem Hausflur zwölf schlug. Schnell packte sie die notwendigsten Kleidungsstücke in eine Handtasche, dann stand sie mitten im Zimmer still und dachte nach, ob sie nichts vergessen habe. Ihre Augen fielen auf das Hochzeitskleid, und ein bitterer, haßerfüllter Zug flog über ihr Gesicht.

Noch einmal überblickte sie das Zimmer, in dem sie so manche glückliche und qualvolle Stunde zugebracht hatte. Mit liebevoller Rührung beugte sie sich über ihre schlafende Schwester, sah sie lange und zärtlich an und drückte einen innigen Kuß auf ihre Lippen. Magda rührte sich im Traum, murmelte ein paar unverständliche Worte und verfiel wieder in Schlaf.

Jetzt warf sich Hulda einen Mantel um, ergriff die Handtasche und schlüpfte lautlos auf den Flur hinaus. Sie eilte die Treppen hinab und schloß die große Flurthür mit der Leichtigkeit einer Schlafwandelnden auf. Dann schlich sie am Wohnhause entlang dem Leutehaus zu, wo Nils schlief. Bis Balholm, der nächsten Station, wo das Dampfschiff in den Wintermonaten anlegte, waren es ungefähr fünf Meilen; sie wußte, daß sie bald eingeholt werden würde, wenn sie diese Strecke zu Fuß mit einer schweren Tasche in der Hand zurücklegte. Deshalb wollte sie Nils wecken, dessen treue Anhänglichkeit sie kannte.

Sie tastete sich nach Nils' Bett hin und schüttelte ihn am Arm. Zu ihrem Erstaunen setzte er sich sofort aufrecht hin, rieb sich die Augen und fragte schläfrig: »Was ist denn los?«

»Willst du mir nicht helfen Nils?« brachte sie mühsam hervor.

»Wer ist da?«

»Ich bin es – Hulda.«

Nils wurde in einem Augenblick völlig wach, sprang ohne weitere Umstände aus dem Bett, zog sich die Hosen an, und sie war noch nicht ganz aus dem Zimmer, als er sie schon eingeholt hatte. »Was ist denn los, Fräulein Hulda?« fragte er angstvoll.

»Nils, willst du mir versprechen, keinem Menschen ein Wort davon zu sagen?«

»Darauf können Sie sich verlassen, Fräulein Hulda.«

»Ich will, daß du den großen Rotschimmel anspannst und mich so schnell, als das Pferd nur laufen kann, nach Balholm bringst.«

»Der kleine Braune läuft schneller, Fräulein Hulda.«

»Dann spanne ihn an und nimm auch die Glocken vom Geschirr ab.« Sie trat aus dem Licht des Mondes, drückte sich dichter in den Schatten der Mauer und zählte klopfenden Herzens die Minuten.

Die Wetterfahne auf der großen Scheune, die sich scharf gegen den hellen Himmel abzeichnete, der am Fjord entlang führte, die Linien der Berge, die ihre kleine Welt, so lange sie denken konnte, eingeschlossen hatten, alles weckte in ihr eine Flut von Erinnerungen, die sie warnten, den verhängnisvollen Schritt zu thun.

Aber da stand schon Nils mit dem Schlitten fix und fertig, und mit schwerem Herzen näherte sie sich dem Gefährt, indem sie sich noch einmal umwandte und das Haus anblickte, dessen Fenster durch die kahlen Bäume schimmerten.

»Wenn Sie nicht bald abfahren, werden die Leute wohl aufstehen,« bemerkte Nils.

Seine Stimme weckte sie aus ihren Träumereien, und sie stieg in den Schlitten. Mit gespenstischer Eile glitten sie hinaus auf den Weg, und lange Zeit flogen sie schweigend dahin; nur das dumpfe Aufschlagen der Pferdehufe war hörbar. Erst als sie einige Meilen vom Dorfe entfernt waren, begann sie freier zu atmen. Ihr fiel ein, was Nils ihretwegen auf sich genommen hatte. Vielleicht würde er seinen Dienst verlieren, wenn man dahinter kam, daß er ihr geholfen hatte. Hulda war ganz gerührt von dieser stummen Aufopferung, die ihren eigenen Wert so gar nicht ahnte.

Gegen fünf Uhr morgens langten sie in Balholm an. Man konnte das Dampfschiff gerade um einen Vorsprung weit draußen im Fjord herumbiegen sehen, und der Mond, der eben hinter der Bergkette untertauchen wollte, beschien den schwarzen Rauch, der sich wie eine kolossale Schlange hinter ihm herwindend aus dem Schornstein des Schiffes emporstieg. Hulda, die von der langen Fahrt durchkältet war, stieg aus dem Schlitten und hatte die Absicht, ins Posthaus zu gehen, um sich etwas zu erwärmen. Aber plötzlich fiel ihr ein, daß der Postmeister sie am Ende kenne. Deshalb kehrte sie um und ging zu dem Schlitten zurück, sagte Nils Adieu und händigte ihm ein Geldstück ein.

»Nehmen Sie's nicht übel, Fräulein Hulda,« sagte dieser nach einer verlegenen Pause, während er das Geldstück in seiner Hand hin und her drehte, »aber Sie werden das Geld jetzt nötiger brauchen als ich –«

»Nils, keine solche Bemerkungen!« Und Nils steckte mit einem dummen Gesicht das Geld ein.

Er wagte nicht, ihr an die Schiffsbrücke zu folgen. wo sie bald zwischen den Koffern, Schachteln und Paketen auf und ab ging, um ihr Blut in Bewegung zu halten

Das Dampfschiff kam näher und ließ plötzlich einen Pfiff ertönen, worauf der Postmeister aus dem Hause trat, ebenso ein schläfriger Handlungsreisender, der über alle möglichen Hindernisse stolperte und halblaut vor sich hin fluchte. Hulda zog ihren Schleier herunter und ging weiter auf und ab, ohne nach rechts oder links zu sehen, bis das Dampfschiff still lag und der Uebergangssteg herabgelassen war.

Dann kam Nils mit ihrer Handtasche herbeigelaufen. die sie ganz vergessen hatte, und sie sagte ihm leise ein paar Dankesworte, als sie seine hornharte Hand schüttelte. Und dies war für sie der allerschwerste Augenblick, dieser letzte Abschied von Nils, der ihren Schritt unwiderruflich machte. Solange Nils noch da war, schien ihr noch immer ein gesicherter Rückzug zu bleiben, aber als sie jetzt sah, wie seine plumpe Gestalt den Hügel hinaufstieg und dem kleinen Braunen den Zügel anlegte, zitterte sie heftig. Sie schritt schnell über den Steg und schmiegte sich in eine warme Ecke am Schornstein, wo sie nichts als den Himmel droben und ein paar Gepäckstücke vor sich sehen konnte. Dann begann die Schraube des Dampfers zu arbeiten; wieder ertönte ein greller Pfiff, und der schwarze Koloß setzte sich in Bewegung.


Am Nachmittag des folgenden Tages kam das Schiff in Bergen an, und Hulda hatte das Glück, das Dampfschiff nach Hull gerade, als es die Anker lichtete, zu erreichen. Sie bedauerte den gethanen Schritt nicht mehr, keine Zweifel beunruhigten ihr Gemüt oder trübten ihr Urteil. Sie war fest entschlossen, dem Zuge des Herzens zu folgen und den Mann den, sie liebte, aufzusuchen wo er auch sei, und ihn zu heiraten.

Die Fahrt durch die Nordsee war ziemlich stürmisch, aber Hulda hatte die zweite Kajüte ganz für sich, und die Stewardeß war freundlich zu ihr und hilfsbereit. In Hull, wo sie nach einer Reise von fast zwei Tagen anlangte, verweilte sie nur wenige Stunden, um sofort weiter nach Southampton zu fahren, wo sie beinahe den Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie verpaßt hätte. Sie hatte jetzt gerade noch so viel Geld, um die Ueberfahrt als Zwischendeckspassagier zu bezahlen. Wäre sie übrigens nur eine Stunde später gekommen, so wäre sie polizeilich an der Weiterreise verhindert worden, da aus Bergen ein Telegramm eintraf, das die englischen Behörden ersuchte, sie anzuhalten.

Für das junge Mädchen, das ihr ganzes Leben in einer geordneten und sauberen Häuslichkeit zugebracht hatte, war der Lärm, der Schmutz und die schlechte Luft im Zwischendeck nahezu unerträglich. Deshalb brachte Sie den ganzen Tag und auch noch einen Teil der Nacht auf Deck zu und stieg nur dann in den übelriechenden Raum hinab, wenn das Wetter sie gebieterisch dazu zwang. Sie bemerkte, daß die übrigen Passagiere und die Schiffsoffiziere sie neugierig musterten; aber da sie sich zu keiner Annäherung herbeiließ und sich stets kühl und reserviert verhielt, wagte niemand, sie anzusprechen oder auszufragen. Die Macht ihrer Persönlichkeit, die ihr zu Hause schon eine überwiegende Stellung gegeben, schützte sie auch jetzt vor Zudringlichkeiten und Belästigungen. Ihr Wesen hatte, obgleich es jede Vertraulichkeit ausschloß, durchaus nichts Abstoßendes; im Gegenteil, es lag in ihrem Benehmen gegen ihre ärmeren Mitpassagiere jene freundliche Leutseligkeit und Rücksichtnahme, die stets die wirkliche Dame kennzeichnen.

Der Dampfer langte nach achttägiger Ueberfahrt in der ersten Märzwoche in New-York an. Bartholdys »Freiheit« mit ihrem Diadem von elektrischem Licht hob ihre Riesenfackel hoch über den Nebel der Küste empor, und die neugierigen Einwanderer erklommen das Takelwerk und blickten mit hoffnungsvoll strahlenden Augen das Häusermeer der Weltstadt an, aus dem hier und da ein Turm oder eine Kuppel in das tiefdunkle Blau emporragte.

Hulda, die den Aufenthalt im Zwischendeck bei Nacht noch mehr als am Tage fürchtete, saß auf dem Verdeck auf ein paar aufgestapelten Koffern und wartete auf den Anbruch des Tages, und das Herz schwoll ihr vor Freude bei dem Gedanken, daß jetzt die schweren Tage vorüber waren und das Wiedersehen mit dem Geliebten bevorstand. Ab und zu wurde sie von Müdigkeit überwältigt, und trotz des Lärms um sie her fiel sie in Schlaf. Als sie erwachte, war sie an allen Gliedern steif und konnte sich einige Sekunden lang nicht rühren. Dann bemerkte sie, als sie wieder zum vollen Bewußtsein kam, daß irgend ein gutherziger Mensch ihr eine Decke übergeworfen hatte. Als sie endlich den Gebrauch ihrer Glieder wieder erlangt hatte, sah sie, daß die Quarantäneoffiziere an Bord gestiegen waren und die Passagiere oberflächlich im Vorüberschreiten musterten. Das Schiff glitt langsam der Landungsbrücke zu, und Hulda war eine der ersten, die auf den Schlepper hinüberbefördert wurden, der die Zwischendeckspassagiere nach Castle Garden bringen sollte.

Hulda hatte jetzt nur noch drei Thaler in ihrem Besitz, und Chicago war, wie sie wußte, noch weit über zweihundert Meilen von New York entfernt. In ihrer Not beschloß sie, den Rat des norwegischen Konsuls in Anspruch zu nehmen. Sie erfuhr im Informationsbüreau des großen Einwandererdepots, daß das Konsulat nicht allzu weit entfernt sei. Trotzdem gebrach es ihr an Mut, es aufzusuchen.

Mit schwerem Herzen und ganz niedergeschlagen trat sie aus dem Thor von Castle Garden und starrte die gegenüberliegenden riesengroßen Gebäude an. Vier bis fünf Dampfer waren am Abend vorher angekommen, Schwärme von Deutschen, Böhmen, Polen und Italienern, deren verschiedene Sprachen verwirrt an ihr Ohr klangen, durchzogen den Battery Park. Das Wetter war klar, aber es wehte ein kalter Wind, der sie durchschauerte

Hulda überkam ein Gefühl der Schutzlosigkeit und Verlassenheit, und zum erstenmal, seitdem sie sich auf diese abenteuerliche Reise begeben hatte, fragte eine leise Stimme in ihr, ob sie auch richtig gehandelt habe. Wie sie da an der Schwelle ihres neuen Lebens stand, wurde ihr das Herz warm, wenn sie an die trauliche Behaglichkeit, die Gemütlichkeit und den Schutz ihres alten Lebens dachte, und sie fühlte, wie brennende Thränen unter ihren Wimpern hervorquollen. Mit jedem Augenblick widerstrebte es ihr mehr, in diesen schwirrenden Menschenwirbel unterzutauchen. Ihr war, als müsse sie sich unwiederbringlich darin verlieren.

Ihre Schwäche und ihren Widerwillen überwindend, stürzte sie endlich vorwärts in der Richtung, die der Kommissär des Einwanderungsamts ihr bezeichnet hatte. Sie wurde geschoben und gestoßen, hierhin und dorthin gepufft, bahnte sich aber schließlich ihren Weg durch das Gedränge der Hotelagenten und sonstiger zweifelhafter Personen hindurch, die vor dem Eingang zu Castle Garden Posto gefaßt hatten. Plötzlich bemerkte sie, daß ihr zwei ziemlich anständig gekleidete Leute von höchst abstoßendem Aussehen folgten, und als einer von ihnen sich ihr näherte und ihr eine Stellung als Gesellschafterin bei einer reichen alten Dame anbot, geriet sie so in Angst, daß sie zu laufen anfing. Ihr zweiter Verfolger verschwand, als er den Mißerfolg des ersten sah, traf aber zu ihrem Schrecken zwei Häuser weiter wieder mit ihr zusammen, verbeugte sich höflich und warnte sie vor den Fallstricken, die alleinstehenden fremden jungen Damen so leicht in dieser verderbten Hauptstadt gelegt würden. Aus bloßer Hilflosigkeit, da sie nicht wußte, wie sie ihn los werden sollte, ließ sie ihn neben sich hergehen und hörte seinen scheinheiligen Reden zu.

Sie hatte inzwischen auf die Häusernummern geachtet, und nach zwanzig Minuten etwa bog sie in eine andre Straße ein, die nach der ihr gegebenen Weisung zum Konsulat führen sollte. Es war jedoch eine enge und finstre Gasse, von beiden Seiten von ungeheuer hohen Gebäuden eingefaßt und ebenfalls gedrängt voll von Menschen. Ihr Gefährte blieb stehen, sobald sie stehen blieb, wiederholte seine paar salbungsvollen Phrasen und bat sie, sich nicht in eine so gefahrbringende Nachbarschaft zu begeben. Wenn sie mit ihm die Straßeneisenbahn besteigen wollte, würde er sie an einen sicheren, ruhigen und anständigen Ort führen, wo gut für sie gesorgt werden würde und wo sie viel Geld verdienen könnte. Da er glaubte, daß sie mittlerweile Vertrauen zu ihm gefaßt habe, wurde er zudringlicher, und Hulda sah, wie ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht glitt, so daß es sie eiskalt durchschauerte. Sie hätte am liebsten laut aufgeschrieen, wenn sie nicht gefürchtet hätte, einen Straßenauflauf zu verursachen. Vor Angst und Schrecken fast erstarrt, stand sie wie an den Boden gewurzelt, ohne zu wissen, wohin sie im Augenblick ihre Zuflucht nehmen sollte.

Da sah sie wenige Schritte weit einen Mann in Uniform mit einem Helm auf dem Kopf und einem Stock in der Hand. »Ach bitte,« rief sie und stürzte auf ihn zu, »möchten Sie mich nicht von diesem Herrn befreien?«

Sie wußte selbst nicht, wie sie es in dem Augenblick fertig gebracht hatte, so viel englisch zusammenhängend zu sprechen; sie ersetzte, was ihr an sprachlicher Deutlichkeit mangelte, durch ihre flehende Stimme und ihre Gebärden.

»Von welchem Herrn sprechen Sie denn, mein Fräulein?« fragte der Polizist, indem er die Straße auf und nieder sah.

Hulda wandte sich um, fand aber zu ihrem Erstaunen keine Spur von ihrem Verfolger. Er war verschwunden, als ob die Erde sich geöffnet und ihn verschlungen hätte.

»Wo wollen Sie hin, Fräulein?« fragte der Polizist entgegenkommend.

»Zum Konsulat von Schweden und Norwegen.«

»Ich werde Sie hinführen.«

Und sie unter seinen Schutz nehmend, geleitete er sie ein Stück die Straße hinunter und zeigte ihr das Konsulatsgebäude.

Im Konsulatsamt befanden sich einige zwanzig norwegische Matrosen, und Hulda wurde aufgefordert, sich hinzusehen und zu warten, bis die Reihe an sie käme. Sie sah von der langen Reise etwas mitgenommen aus; ihr Kleid war zerdrückt, und sie scheute sich davor, einem Landsmann so unvorteilhaft entgegenzutreten, daß er notwendigerweise ein Vorurteil gegen sie bekommen mußte. Sie hatte gar nicht gewußt, wie müde sie war, bis sie aufgerufen wurde, aufzustehen versuchte und von einem der Schreiber in die Amtsstube geführt wurde.

Der Konsul, der wohl ein Dienstmädchen zu sehen erwartet hatte, stand bei ihrem Anblick mit der größten Höflichkeit auf; sein geübtes Auge erkannte trotz ihrer mitgenommenen Kleidung sofort die Dame in ihr. Er war ein großer, hübscher und stattlicher Mann in den fünfziger Jahren, mit einer vornehm-diplomatischen Haltung. Es war ein wohlthuendes Gefühl für Hulda, endlich einmal wieder einem Kavalier gegenüberzustehen, noch dazu einem, der ihre eigene Sprache redete. Seine kühle Art und Weise verletzte sie in keiner Weise, denn gerade die entgegengesetzte Eigenschaft bei den Männern hatte sie ja eben noch in Not gebracht.

»Bitte, setzen Sie sich, mein Fräulein,« sagte er auf norwegisch und holte einen Stuhl herbei. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Das ist recht schwierig zu sagen, Herr Konsul,« erwiderte sie und sah ihn mit großen, offenen Augen an. »Ich bin herübergekommen, um meinen Verlobten hier zu treffen, den ich heiraten werde, sobald –«

»Sobald ich ihn gefunden,« wollte sie sagen, aber sie fürchtete, der Konsul könne das falsch auffassen, und sie brach deshalb mitten im Satz ab.

»Ja, ja, gewiß, Sie werden ihn heiraten, sobald Sie ihn treffen. Ich verstehe,« ergänzte er, bemüht, ihr aus der Verlegenheit zu helfen.

Sie wollte gerade fortfahren, als sie seinen Blick plötzlich aufmerksam auf sich ruhen fühlte, Eine tiefe Röte ergoß sich über ihr Gesicht, und halb unabsichtlich stand sie auf.

»Würde es unbescheiden sein, nach dem Namen des Herrn zu fragen, den Sie heiraten wollen?« fragte der Konsul vorsichtig.

»Er heißt Olaf Brun. Er ist – das heißt er war Ingenieur.«

Sie hatte eigentlich »Künstler« sagen wollen, aber dann fiel ihr ein, daß das zu Mißverständnissen führen könnte, wenn die Identität nachgewiesen werden sollte. Wiederum nahm sie wahr, wie der Konsul sie mit eigentümlich prüfenden Blicken betrachtete Dann erhob er sich und schloß die Thür.

»Dann ist Ihr Name,« sagte er, sich wieder setzend, »Hulda Brinckmann.«

Sie fuhr auf und eilte angsterfüllt auf die Thür zu.

»Sie brauchen nichts zu fürchten,« sagte der Konsul, »mein einziger Wunsch ist, Sie zu beschützen.«

»Aber woher wissen Sie, wie ich heiße?« fragte sie atemlos.

Er nahm ein Couvert von feinem Schreibpult und überreichte es ihr. Sie nahm es und entfaltete eine Kabeldepesche, die lautete: »Bitte, Tochter Hulda anzuhalten, zweiundzwanzig Jahr, blond, fünf Fuß sieben Zoll. Sucht einen Herrn Brun. Kommt mit Rugia. Brinckmann.«

Als sie die Depesche zu Ende gelesen, ließ sie sie wie eine glühende Kohle fallen und stürzte wiederum auf die Thür zu. Sie konnte sie jedoch nicht öffnen. Die Springfeder – ein Mechanismus, den sie nicht kannte – hatte gefaßt, und sie stand mit verblüfftem Gesicht da und sah den Konsul böse an.

»Ich versichere Ihnen,« wiederholte dieser beschwichtigend und über ihren Zorn lächelnd, »Sie brauchen nichts zu fürchten. Ich bin nicht gesetzlich berechtigt, Sie anzuhalten oder irgendwie hindernd in Ihre Handlungsweise einzugreifen. Sie sind über einundzwanzig Jahre alt und haben nach dem amerikanischen Gesetz das Recht zu heiraten, wen Sie wollen. Ich darf Ihnen nur meinen Rat anbieten, aber ich kann Sie keineswegs mit Gewalt festhalten, selbst nicht auf Ihres Herrn Vaters Bitte hin.«

In seinem Ton lag etwas so Beruhigendes, daß sie sich ihrer Furcht schämte, sich dem Schreibpult wieder näherte und noch einmal Platz nahm.

»Ich freue mich, daß Sie mich sogleich aufgesucht haben,« fuhr der Konsul fort, als ob gar keine Unterbrechung stattgefunden hätte. »Ich hatte einen meiner Schreiber an den Hafendamm hinuntergeschickt, und ich begreife nicht, daß er Sie verfehlt hat.«

»Es war ein großes Gedränge, und ich war die erste, die ans Land ging.«

»Ja, trotzdem. Da Sie nun aber hier sind, müssen Sie mir zunächst erlauben, daß ich Ihnen wegen Ihres übereilten Schrittes Vorwürfe mache.« Und auf die höflichste und zarteste Weise riß er den Schleier von ihren Illusionen herunter und machte ihr klar, was für ein unsicheres Leben ihrer warte, wenn sie bei ihrer Absicht verharre. Er bat sie, unter seinem Schutz zu bleiben, bis ihr Vater oder irgend jemand aus der Heimat käme. Dann erzählte er ihr allerlei warnende Geschehnisse aus seiner eigenen Erfahrung, von jungen Mädchen, die gleichfalls ihre schöne Heimat verlassen und sich mit ihren Verlobten in Amerika vereint hätten; wie sie hinfort in elenden Chambres garnies, die wochenweise bezahlt oder vielmehr nicht bezahlt wurden, gewohnt und ein erbärmliches Dasein geführt hätten. Eine ganze Stunde redete er auf sie ein.

Als er geendet hatte, sah er ihre Augen mit aufmerksamem, aber festem und unerschüttertem Blick auf sich gerichtet, und er wußte, daß seine Warnungen vergeblich gewesen waren.

»Sie haben eins nicht in Betracht gezogen, Herr Konsul,« sagte sie und erhob sich mit ruhiger Würde, »ich liebe diesen Mann und kann niemals einen andern lieben.«

»Meine liebe junge Dame,« antwortete er ohne eine Spur von Aerger, »Ihren ersten Satz will ich gelten lassen, aber Ihre letzte Behauptung ist doch wohl fraglich. Das können Sie gar nicht wissen, bis Sie es ausprobiert haben, bis Sie ›einen andern‹ gesehen haben.«

»Ich habe ihn gesehen und habe es versucht.«

»Nun, dann war es eben nicht der Rechte. In Ihrem Alter denkt man gar zu leicht, daß nur einer auf der ganzen Welt unsre Seele ausfüllen, uns glücklich machen könne. Aber man braucht gerade kein Cyniker zu sein, um einzusehen, daß diese ideale Gesinnung eine Illusion ist.«

Hulda erwiderte nichts, sondern zog ihren Mantel fester zusammen und schickte sich zum Gehen an. »Vielleicht sind Sie jetzt so freundlich, mir die Thür zu öffnen?« fragte sie kühl.

»Verzeihen Sie – noch einen Augenblick,« erwiderte er und holte sein Taschenbuch heraus. »Da Sie Norwegen ohne Ihres Vaters Zustimmung verlassen haben, werden Sie sich wahrscheinlich in Geldverlegenheit befinden. Wenn meine Frau zu Hause wäre, würde ich Sie bitten, sich bei uns aufzuhalten, aber leider bin ich momentan Strohwitwer. Ich werde jedoch den Vicekonsul darum bitten, daß er eine anständige Pension für Sie sucht, und wenn Sie dies Geld als ein Darlehen von mir annehmen wollen, das Sie mir gelegentlich zurückzahlen können, so bitte ich, darüber zu verfügen.«

Damit überreichte er ihr eine Fünfundzwanzigdollarsnote, die sie halb mechanisch annahm, ohne sich klar zu machen, daß er sie dadurch ja mit den Mitteln zu der Flucht versah, von der er sie eben hatte zurückhalten wollen.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar,« sagte sie einfach und steckte den Schein in ihre leere Börse.

Der Konsul öffnete jetzt die Thür und stellte ihr einen jungen Mann mit einem hübschen, biedern norwegischen Gesicht vor. Dies war der Vicekonsul, und seiner Führung überließ sie sich nun fürs erste.

Die anständige Pension wurde in Brooklyn entdeckt; sie war von Musiklehrern, Kunstjüngern und alleinstehenden Frauen und Mädchen besucht. Nachdem der Vicekonsul der Pensionsvorsteherin einige nähere Auskunft erteilt und den Preis des Zimmers mit ihr verabredet hatte, verließ er seinen Schützling mit dem Versprechen, sich am andern Tage wieder nach ihr umzusehen.

Wie groß war aber sein Erstaunen, als man ihn am nächsten Tage benachrichtigte, daß die junge Dame ihre Rechnung für einen Tag bezahlt habe und ohne Angabe ihres Ziels abgereist sei.


Hatte New York schon auf Hulda einen sinnverwirrenden Eindruck gemacht, so überwältigte Chicago sie vollends.

Dem jungen Mädchen schwand jede Hoffnung, ihren Geliebten in diesem summenden, dampfenden, brausenden Kessel menschlicher Geschäftigkeit zu finden. Sie kam nach einer schlaflosen Nacht gegen zehn Uhr morgens an und ließ sich widerstandslos von dem Menschenstrom fortführen, bis sie ungefähr hundert Schritte vom Bahnhof auf der Brücke von Adamstreet zur Besinnung kam.

Da stand sie nun und sah auf die Lokomotiven hinab, die fortwährend wirr durcheinander hin und her sausten und mit dem Klingeln der Glocken, dem Zischen der hervorströmenden Dampfwolken einen ohrzerreißenden Lärm machten. Alle Straßen schienen in einer Rauchwolke zu enden, und enorme, rußgeschwärzte Gebäude, deren bloße Größe schon einen überwältigenden Eindruck machte, schnitten ihr jede weitere Aussicht ab.

Sie begann plan- und ziellos weiter zu wandern, indem sie fortwährend überlegte, wie sie es wohl anfangen sollte, Olaf Brun, dessen Adresse sie auf dem Brief in ihrer Tasche hatte, aufzufinden. Endlich beschloß sie, einen Polizisten zu fragen. Er setzte sie auf eine Straßenbahn und sagte dem Kondukteur, daß sie in Divisionstreet absteigen wolle. Nach zwanzig Minuten rief der Beamte laut den Namen der Straße, und mit Hilfe eines zweiten Polizisten fand sie das gesuchte Haus.

Es lag etwas so geheimnisvoll Lautloses über dem ganzen Hause, daß es ihr beinahe unangemessen vorkam, anders als im Flüsterton zu sprechen. Das Haus schien ihr ein schlechtes Gewissen zu haben. Auch die Hauswirtin, die endlich nach wiederholtem Klingeln erschien, ging auf den Zehen, als ob sie fürchte, jemand zu wecken.

Als Hulda mit heißen Wangen und wildklopfendem Herzen fragte, ob Herr Brun zu Hause sei, überlegte die Frau einen Augenblick, den Kopf zur Seite geneigt, und wiederholte mit verwundertem Stirnrunzeln: »Brun, Brun?«

»Ja, Herr Olaf Brun – der norwegische Künstler,« rief Hulda angstvoll.

»Ach ja, Herr Olaf Brun. Er ist schon seit sechs Monaten nicht mehr hier. Im Frühling ist er fortgezogen.«

»Können Sie mir vielleicht sagen, wohin er gezogen ist?«

»Ich wollte, ich wüßte es! Das wäre fünfunddreißig Dollars für mich wert.«

Hulda verstand nicht, was sie meinte, aber in der Art und Weise, wie die Frau von Brun sprach, lag so wenig Ehrerbietung, daß Hulda nicht nachzuforschen wagte.

»Sie haben also keine Ahnung, wo ich ihn finden kann?« fragte Hulda, und das Herz wurde ihr mit jedem Augenblick schwerer. Sie stand noch unten im Hausflur unter dem Bronzekronleuchter, und die Frau sah sie mit eigentümlich prüfenden, aber nicht unfreundlichen Blicken an.

»Armes Kind,« sagte sie endlich, und ein teilnehmendes Verständnis ging über ihre Züge, »er hat Sie wohl hintergangen, nicht? Na, ich kann Ihnen aber sagen, es nützt Ihnen nichts, wenn Sie ihn finden. Er hat keinen roten Heller mehr, der ihm gehört, und kriegt wohl auch niemals einen.«

Das dumpfe Gefühl wie von einem Unheil, das auf Huldas Brust gelegen, seit sie die Schwelle dieses Hauses überschritten, kroch ihr fröstelnd den Rücken hinab. Sie hatte nur den einen Wunsch, von dieser schrecklichen Frau fortzukommen, ehe sie ihr Ideal gänzlich zerstörte. Die Frau hatte ja allerdings nichts Ehrenrühriges über Olaf gesagt, nur daß er arm sei, und doch bebte sie vor Angst, daß sie plötzlich noch irgend ein schreckliches Geheimnis erfahren könne.

Schnell verließ sie das Haus und ging, einige Schritte wie halb betäubt, fand jedoch mit fast wunderbarer Sicherheit durch das Gewirr unbekannter Straßen den Weg nach dem Büreau des skandinavischen Konsuls in der Milwaukee Avenue, indem sie sich stets an die Polizei wandte, wenn sie nicht mehr weiter wußte.

Der Konsul kannte allem Anschein nach Olaf Brun, meinte aber, daß er häufig seinen Wohnort wechsle und daher im Augenblick sich nicht so leicht auffinden lassen werde. Er war außerordentlich zurückhaltend, und Hulda hatte ihn in Verdacht, daß er ihre Geschichte, die sie nur bruchstückweise erzählte, mit einem gewissen Vorbehalt und Mißtrauen entgegennehme. Sie machte die Erfahrung, daß ein junges Mädchen, das einen Herrn unerwartet überfällt, nicht immer willkommen ist, wenn ihre Beweggründe auch noch so edel und rein sind.

»Darf ich fragen, wo Sie selbst sich aufhalten?« fragte der Konsul, als sie sich erhob, um zu gehen. »Es bedarf wohl kaum meiner Versicherung, daß ich, wenn ich über Herrn Bruns Aufenthaltsort irgendwie Näheres erfahren sollte, Sie dann baldigst benachrichtigen werde.«

Sie mußte bekennen, daß sie eben erst angekommen sei und daß sie bis jetzt noch kein Unterkommen gefunden habe.

Er bat um Entschuldigung, ergriff eine Feder und schrieb ihr einen Empfehlungsbrief an die Vorsteherin eines »christlichen Mädchenheims«.

»Wenn Sie sich an diese Adresse wenden,« sagte er, »werden Sie billig und angenehm wohnen, bis – bis Sie vielleicht den Wunsch haben, von hier fortzugehen.«

Sie dankte ihm hastig für seine Güte und empfahl sich

Sie war jetzt von der Aufregung, dem Hunger und der Ermüdung so schwach, daß sie alles um sich her nur noch wie durch einen Schleier sah und der Boden unter ihren Füßen zu schwanken schien. Mit Anspannung ihrer ganzen Willenskraft versuchte sie, dies Ohnmachtsgefühl zu überwinden, mußte sich jedoch jeden Augenblick an einen Laternenpfahl anklammern, um nicht umzusinken. Jetzt, da das Ziel nahe vor Augen lag, durfte sie nicht schwach werden! Mitten in dem betäubenden Tumult des Straßenlebens kam sie sich wie ein hilfloses, verlassenes Kind vor, und unwillkürlich fielen ihr Gebete aus der Kinderzeit ein, die ihr aufs neue Kraft und Stärke verliehen und sie das Rasseln der Wagen und das Pfeifen der Lokomotiven um sie her ganz vergessen ließen. Aber obgleich sie innerlich ruhiger wurde, konnte sie sich doch nicht verhehlen, daß sie körperlich immer matter und schwächer wurde.

Sie richtete sich noch einmal so fest auf, als sie konnte, und mühte sich verzweifelt ab, den schrecklichen Nebel, der sich vor ihren Augen zu verdichten schien, zu zerteilen. Da fiel ihr Blick auf das nächste Ladenfenster, das zufällig das eines Bäckers war, und sie steuerte kühn darauf zu. Sie erreichte das Haus gerade, als die Kräfte sie verließen, und sich an die Thürklinke klammernd, schwankte sie mit dem Rest ihrer Kraft in den Laden hinein.

»Ich bin krank,« keuchte sie, »bitte, verzeihen Sie einen Augenblick.« Damit verlor sie das Bewußtsein und fiel zu Boden.

Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, begegnete sie den Augen einer freundlichen deutschen Matrone, die ein Glas Brandy an ihre Lippen hielt und ihr besänftigend zuredete. Das brennende Gefühl, als die Flüssigkeit ihr die Kehle hinunterglitt und ihr Blut erwärmte, war alles, was sie empfand.

»Ach, Sie waren sehr krank,« meinte die Bäckersfrau besorgt, »aber jetzt ist Ihnen doch wieder besser, nicht wahr?«

Als Hulda ganz zur Besinnung gekommen war, bemerkte sie ein flachshaariges junges Mädchen von sechzehn oder siebzehn Jahren, das sie mit unverhohlener Neugier anblickte.

»Weißt du denn gar nicht, was sich schickt, Johanna?« fragte die Mutter und versetzte ihr einen gehörigen Puff. »He, was gaffst du denn so? Mein Gott, hast du noch nie eine Dame gesehen, die ohnmächtig wurde?«

Als das Mädchen sie so dreist anstarrte, ward Hulda unangenehm daran erinnert, daß sie so schäbig und abgerissen aussah. Es verlangte sie sehnlichst nach einem sauberen Bett und frischer Wäsche. Das Gefühl, sich in ein falsches Licht zu setzen, das sie seit ihrem Abschied von Hause gequält hatte, kehrte jetzt mit erneuter Heftigkeit zurück. Sie merkte der Bäckersfrau an, daß sie wohl herzliches Mitleid mit ihr habe, sie aber, ihren Kleidern nach, gesellschaftlich falsch taxiere.

»Vielleicht sind Sie so freundlich, mir eine Tasse Kaffee und ein paar Brötchen zu geben,« sagte sie.

»Ich kann es wohl gleich im voraus bezahlen,« fügte sie hinzu, ein demütigendes Gefühl bekämpfend, als sie beobachtete, wie die Züge der Frau sich bei ihrer Bitte verhärteten.

Es war amüsant zu sehen, wie schnell der unfreundliche Ausdruck im Gesicht der Frau in ein Lächeln überging, als Hulda einen Fünfdollarsschein auf den Ladentisch legte. Johanna brachte ihr sofort Kaffee und präsentierte ihn der Kundin mit einem Knix. Frisches Brot, gute Butter und kalte Zunge wurden ihr ebenfalls angeboten, Hulda aß mit einem wahren Heißhunger von diesen Leckerbissen und fühlte, wie ihre Kräfte wiederkehrten.

Nach einer Stunde begab sie sich wiederum auf ihre Wanderung, nachdem sie genaueste Erkundigung über die Lage des »Mädchenheims« eingezogen hatte.


Das Zimmer, das ihr durch die Vorsteherin des Mädchenheims angewiesen wurde, war überall mit gemalten, von Herbstblätterranken umgebenen Bibelversen ausgeschmückt. Daneben hingen an den weißgetünchten Wänden Kupferstiche von Bischöfen der Chicagoer Methodistengemeinde in schwarzen Rahmen. Auf einem Klavier lag ein großer Stapel abgenutzter Bibeln und Gesangbücher.

Eine große, hagere, bebrillte und eckig aussehende Frau von ungefähr fünfzig Jahren, die ein fadenscheiniges schwarzes Kleid und Filzschuhe trug, trat ins Zimmer und streckte mit einem ihr augenscheinlich zur Gewohnheit gewordenen wohlwollenden Lächeln Hulda eine feucht-kalte Hand hin.

»Wir freuen uns, Sie hier begrüßen zu können,« begann sie mit einschmeichelndem Tonfall, »wir haben hier schon viele junge Mädchen aus Norwegen gehabt. Es waren recht liebe Mädchen darunter, ja – aber nicht alle haben sich gut geführt – nein, nicht alle.« Nach jedem Satz, den sie sagte, stieß sie einen eigentümlichen, ergebungsvollen Seufzer aus, als ob das alles gar zu traurig sei, und doch lächelte sie unausgesetzt während des Sprechens. »Wir nehmen hier nur drei und einen halben Dollar für Kost und Wohnung,« fuhr die Matrone fort, indem sie Hulda gegenüber Platz nahm, »aber wir können Ihnen dafür kein eigenes Zimmer anweisen. In jedem Zimmer wohnen zwei, drei oder vier Mädchen zusammen, je nach der Größe des Zimmers. Sie können aber ein eigenes Bett bekommen und einen Schirm davor, damit Sie ganz ungeniert sind.« Sie fuhr, ohne eine Antwort von Hulda zu erwarten, fort zu sprechen, mit demselben stereotypen Lächeln, das zu den harten Linien des Gesichtes wenig paßte und ihm wie eine Art Aushängeschild für den Besuch aufgesetzt zu sein schien; sie erzählte, daß Punkt sechs Uhr zu Mittag gegessen würde und daß es zum ersten Frühstück Hafermehlgrütze oder Reisbrei und Brot, Butter und Kaffee gäbe, während die Mädchen ihr zweites Frühstück, ihr » luncheon« außer dem Hause nähmen.

Als sie mit ihrer Auseinandersetzung fertig war, gab Hulda sich auf eine Woche in Kost und Wohnung, obgleich ihr bei dem Gedanken an das unbekannte Mädchen, dessen Zimmer sie teilen sollte, unbehaglich wurde.

Die ganze Einrichtung des Hauses war so kahl, schmucklos und spärlich, daß es sich wie ein dumpfer Druck auf Hulda legte. Sie warf sich auf das eiserne Bett, das ihr angewiesen wurde, mit einem Herzen so schwer wie Blei. Der Märzsonnenschein, der durch den Straßennebel ins Zimmer blickte, beleuchtete mit seinem matten Licht ein zerbrochenes und trübes Spiegelglas, das wiederum die Strahlen in einem zitternden unregelmäßigen Lichtbild gegen die Decke warf. Hulda fühlte sich so grenzenlos unglücklich, daß sie sozusagen davor zurückscheute, die ganze Größe ihres Unglücks zu erfassen. Und während sie so mit ihren Gedanken kämpfte, überkam sie eine große Müdigkeit, und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

Nach ungefähr drei Stunden wachte sie von dem Schein eines Lichtes auf, das vor ihren geschlossenen Augen sich hin und her zu bewegen schien. Sie fuhr im Bett empor und sah ein unbekanntes Mädchen vor sich stehen.

»Sie sind sehr hübsch,« sagte das fremde Mädchen ganz unvermittelt, »ich habe noch nie eine so hübsche Person gesehen.«

Hulda rieb sich die Augen, um sich zu überzeugen, daß sie nicht mehr träumte. »Wer – wer sind Sie?« fragte sie norwegisch, und dann, sich der Sachlage bewußt werdend, wiederholte sie die Frage aus englisch.

»Ich bin Ihre Zimmergenossin – Hattie Halloran.«

»Nun – dann bitte ich um Entschuldigung,« sagte Hulda, die jetzt ganz wach geworden war, »daß ich hier so eingedrungen bin.«

»Eingedrungen?« wiederholte Hattie Halloran, als ob sie das Wort nicht verstände, »was meinen Sie damit?«

»Nun –daß ich in Ihrem Zimmer schlafe, ohne Sie vorher gefragt zu haben.«

»Lieber Himmel, das ist ja nicht mein Zimmer. Ich bezahle ja nur die eine Hälfte.«

Hattie war ein großes, mageres und eckiges Mädchen mit gelblich grauem Teint, hellbraunen Augen, dünnen Lippen und unbestimmter Haarfarbe. Ihre Züge waren grob und unbedeutend. Das harte Leben, die Entbehrungen, das Elend von Jugend auf hatten sie vor der Zeit jeder Anmut beraubt und die Blüte aufkeimender Jungfräulichkeit zum Welken gebracht.

»Wo kommen Sie her?« fragte sie, noch immer das Licht emporhaltend und Hulda unverweilt anstarrend.

»Ich komme von Norwegen.«

»O je, wirklich?« Sie stellte das Licht auf Huldas Nachttisch hin, setzte sich sans façon auf den Stuhl vors Bett, faltete die Hände über dem Knie zusammen und sagte mit unterdrücktem Eifer: »Erzählen Sie mir doch, bitte, von Ihrem Leben. Was für Liebhaber Sie gehabt haben, was für Essen Sie gewöhnt sind, wie Ihre Mama gegen Sie gewesen ist.«

Hulda blickte sie erstaunt an und schwieg.

Hattie war sichtlich darauf nicht vorbereitet. In den Kreisen, die sie kannte, war es unerhört, daß ein Mädchen nicht ihr Herz ausschütten und ihre Geheimnisse auskramen wollte. Lange sah sie Hulda nur mit einem höchst verwunderten Blick an. »Bist du verrückt?« platzte sie endlich heraus.

»Nein, ganz und gar nicht,« sagte Hulda sanft.

»Du magst mich wohl nicht? Warum sagst du es nicht? Mich hat noch nie jemand leiden mögen, daß du's nur weißt.« Sie machte ihr diese Eröffnung als etwas ganz Selbstverständliches.

»Warum mögen sie dich denn nicht?« fragte Hulda mit erwachendem Interesse.

»Ich habe keine Erziehung gehabt, siehst du. Ich habe keine Manieren. Mein Vater hat selbst keine Erziehung gehabt, und dann trinkt er, und alles, was ich thun kann, ist, ihm aus dem Wege zu gehen, wenn ich etwas Geld habe.«

»Womit verdienst du Geld?« fragte Hulda.

»Na, siehst du, ich habe mich an die Stadtmissionsgesellschaften der vielen amerikanischen Sekten gewandt, um leben zu können. Ich war nacheinander bei den Methodisten, den Baptisten, den Presbytern und Episkopaliern und wurde von jeder Sekte getauft und konfirmiert; ich feierte alle ihre Feste mit und wurde zu Weihnachten immer reich beschenkt. Jetzt bin ich bei den Episkopaliern und denke bei ihnen zu bleiben. Wenn man erst größer wird, erkennen sie einen zu leicht wieder, dann kann man sich nicht mehr verändern. Und seit ich hier im Mädchenheim der Episkopalkirche das Schriftsetzen für die Druckereien erlernt habe, brauche ich die andern Missionsgesellschaften nicht mehr. Ich verdiene die Woche zehn Dollars, und manchmal bringe ich's auch wohl auf fünfzehn bis sechzehn Dollars, wenn ich nebenher zu Hause arbeite.«

Hulda hörte diesen merkwürdigen Bericht mit größter Aufmerksamkeit an. Hatties Mitteilungen wurden jedoch durch die Tischglocke unterbrochen, und Hulda sprang hastig empor, um noch flüchtig Toilette zu machen, ehe sie mit Hattie ins Eßzimmer hinabging.

Auf der Treppe trafen sie mit einem halben Dutzend Mädchen von derselben Art wie Hattie zusammen; nur war der Eindruck, den die meisten von ihnen machten, nicht ganz so trostlos.

Das Eßzimmer unten im Hause glich mit seinen kahlen weißgetünchten Wänden, denen jeder Schmuck fehlte, fast einer Scheune. Drei lange Tische, an denen hölzerne Stühle von der allereinfachsten Machart standen, liefen von den Fenstern bis an die gegenüberliegende Wand. Das Geschirr war weiß und plump. Die Aufwartung besorgten einige Kostgängerinnen, die auf diese Weise ihre Rechnung beglichen.

Die Mädchen stellten sich hinter ihren Stühlen auf und blieben stehen, während die Matrone einen anwesenden Geistlichen bat, das Tischgebet zu sprechen.

Die Suppe war eine kraftlose, lauwarme Brühe, auf der ein paar Fettaugen schwammen. Das Roastbeef war so trocken wie Sägespäne und ganz erschrecklich zäh. Das Gemüse war unschmackhaft zubereitet und wässerig, und das Dessert bestand aus einem unbeschreiblichen Pudding, der aus altbackenem Brot gemacht, mit etwas Zimmet gewürzt und mit einer braunen Kruste überzogen war.

Hulda, die eine feine Zunge hatte und sich recht gut aufs Kochen verstand, hatte nie in ihrem Leben ein so abscheulich zubereitetes Essen genossen. Sie war daher auch nicht überrascht, daß selbst Hattie Halloran, die man wohl kaum verwöhnt nennen konnte, nur mit Mühe von dem Roastbeef hinunterwürgte, und daß die Mädchen sich laut in allerhand abfälligen Bemerkungen über das Essen ergingen. Da sie selbst nur etwas Brot zu genießen vermochte, hatte sie vollauf Gelegenheit, die Mädchen zu beobachten. Unter den zwanzig oder dreißig konnte sie kein einziges Gesicht entdecken, das den natürlichen Frohsinn der Jugend gezeigt hätte.

»Was thun eigentlich alle diese Mädchen hier, und was sind sie?« fragte Hulda ihre neue Freundin, denn es fiel ihr auf, daß alle eigentlich etwas Unfeines an sich hatten.

»Weswegen sie hier sind?« wiederholte Hattie halb verächtlich, »na, weil sie arm sind, denke ich mir; sie müssen sich ihren Unterhalt selbst verdienen und können sich nichts Besseres leisten.«

»Womit verdienen sie Geld?«

»Mit allem Möglichen. Einige sind Setzerinnen in derselben Druckerei wie ich, einige Stenographistinnen oder Maschinenschreiberinnen; andre nähen oder arbeiten in Fabriken; die meisten aber werden wohl Ladenmädchen sein.«

Als Hulda nach Tisch fortschlüpfen wollte, bat die Matrone sie, zu bleiben. »Wir haben die hübsche Gewohnheit,« sagte sie, »nach dem Mittagessen uns im Wohnzimmer zu versammeln und ein paar geistliche Lieder zu singen, und heute abend haben wir sogar das Glück, einen Vortrag von Seiner Hochwürden Herrn Doktor Trump zu hören.«

Als der Geistliche seinen Vortrag beendet hatte, dankte die Matrone ihm in überschwenglichen Worten. Zum Schluß sang man gemeinschaftlich einen Choral, in den Hulda mit einstimmte, da ihr die Melodie bekannt war. Sobald ihre volle, reine und schöne Stimme sich in den etwas unsichern Chor mischte, fielen die übrigen Stimmen eine nach der andern ab. In hellem Erstaunen hörten die Mädchen zu, und schließlich sang Hulda allein noch mit Herrn Doktor Trump. Sogar der Geistliche fühlte, daß sein heiserer Baß den seltenen musikalischen Genuß nur verderbe, und beim letzten Vers ließ er Hulda den Gesang allein beenden.

Kaum war der letzte Ton verhallt, als alle Mädchen sich um sie drängten und baten, sie möge doch noch etwas singen. Als zuletzt Doktor Trump und die Matrone sich diesen Bitten anschlossen, setzte sich Hulda ans Klavier, griff aufs Geratewohl ein paar Akkorde und entlockte dem abgenützten Instrument einen unverhofften Klangreichtum. Dann kam ein eigenartiger Antrieb über sie – jenes rebellische Gefühl, das in ihr emporgestiegen war, als sie zum erstenmal mit Olaf Brun sang, und süße halbvergessene Regungen schwellten ihr die Brust. Dasselbe gewaltige, machtvolle und tiefe Sehnen nach Glück, das stets das Zeichen einer großangelegten Natur ist, quoll wieder in ihrer Seele empor und verlieh ihrer Stimme einen eigentümlich bewegten Ausdruck.

Hulda sang ein leidenschaftliches norwegisches Lied, das wie eine Sturmflut dahinbrauste und durch die erhabene Einfachheit der Melodie die Zuhörer unwiderstehlich ergriff. Thränen stahlen sich in die Augen der Mädchen, und jedes dieser armen liebedürstenden Wesen wurde von namenlosem Sehnen erfüllt. Und wie Hulda so in der vollen Schönheit ihrer germanischen Jungfräulichkeit, in der anmutigen Fülle, die ihr die Natur verliehen, dasaß, erschien sie wie eine Rose unter Disteln. Doktor Trump selbst, so wenig empfänglich er sonst für Frauenschönheit war, mußte Huldas prachtvollen Wuchs bewundern, der freilich einen auffallenden Gegensatz zu diesen armseligen, verkümmerten Geschöpfen bildete, die sich aus der großen Zahl Schiffbrüchiger im Leben hierher gerettet hatten.

Obgleich die Worte des Liedes norwegisch waren, bedurften sie keiner Auslegung für die Zuhörer. Als Huldas Stimme von übermächtigem Gefühl erbebte, lag jener weiche Schmelz darin, der den Zuhörer mit wonnesamem Schauer durchrieselt. Sie fühlte sich wieder daheim im alten Pfarrhause; sie sah, wie das liebe Gesicht ihres Vaters unwillig aussehen wollte, aber wie die Freude an der Musik dann doch über sein Mißfallen die Oberhand gewann. Das Gefühl von dem, was sie für immer verloren, überkam sie mit solcher Lebhaftigkeit, daß ihre Bewegung sie zu überwältigen drohte und ihre Stimme fast von Thränen erstickt wurde.

Sie sang das Lied mühsam zu Ende, dann erhob sie sich hastig und entschuldigte sich. Ein Murmeln des Staunens, Bewunderns und Entzückens erhob sich in dem Augenblick, als die Thür sich hinter ihr schloß. Doktor Trump war voll Begeisterung, und die Matrone stimmte ihm in ihrer überschwenglichen Art bei.

»Meiner Treu, dies Mädchen ist eine Künstlerin« sagte der amerikanische Geistliche, »ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so schöne Stimme gehört. Wenn die Dame eine Anstellung in einer unsrer Kirchen haben will, kann ich ihr leicht eine sehr einträgliche verschaffen.«

Hattie Halloran, die sich als Beschützerin Huldas fühlte, beeilte sich, ihr diese Bemerkung zu überbringen, und war ziemlich enttäuscht darüber, daß Hulda sie so teilnahmlos aufnahm.

Sie fand sie im Dunkeln auf ihrem Bett liegen, das Gesicht der Wand zugewendet.

»Dein Papa war wohl reich?« fragte Hattie unvermittelt, nachdem ihre Versuche, eine Unterhaltung anzuknüpfen, gescheitert waren.

Hulda antwortete nur mit einem tiefen Seufzer.

»Du bist wohl an besseres Essen gewöhnt?« bemerkte die unermüdliche Hattie nach Verlauf von wieder fünf Minuten.

Hulda nickte langsam, und Hattie fuhr ermutigt fort: »Hat vielleicht dein Schatz dich sitzen lassen?«

Das sichtliche Mißfallen, das diese Frage erregte, machte Hattie ein wenig ungeduldig, und sie sagte daher etwas ärgerlich: »Du könntest ganz gut mit mir sprechen. Ich bin kein Schwatzmaul, daß du's nur weißt. Ich würde dir schon aus der Klemme helfen, wenn du nur wolltest.«

»Danke bestens, das ist sehr freundlich von dir,« erwiderte Hulda, sich auf ihren Ellbogen stützend und prüfend ihrem Gegenüber ins Gesicht sehend. Ihr kam der Gedanke, daß dies Mädchen, das in der Stadt Bescheid wußte und gutherzig war, ihr am Ende nützen könne.

Es widerstrebte ihr zwar, vielleicht aus übertriebener Empfindsamkeit, von ihrer Liebe zu diesem nichts weniger als zartbesaiteten Mädchen zu reden, das schwerlich die Motive ihrer Handlungsweise verstehen und sicherlich ganz verkehrte Schlüsse daraus ziehen würde; dennoch bezwang sie sich und sagte mit fester Stimme: »Ich bin hergekommen, um Herrn Olaf Brun zu heiraten, einen jungen Künstler, mit dem ich schon länger als ein Jahr verlobt bin. Unglücklicherweise ist er umgezogen, und der Brief, in dem er mir seine neue Adresse angegeben haben wird, scheint verloren gegangen zu sein. Nun muß ich natürlich alles daran setzen, ihn zu finden, und wenn du mir vielleicht einen guten Rat geben könntest, wie ich das am besten anfange, würde ich dir sehr dankbar sein.«

Hatties graue Augen funkelten förmlich vor Aufregung, als sie diese rührende Geschichte hörte. Sie fühlte, wie sie in ihrer Selbstachtung wuchs, wenn sie daran dachte, daß ihr ein so wichtiges Geheimnis anvertraut worden war. Aber gerade dies stolze Gefühl trieb sie auch an, sich bei dieser Gelegenheit würdig zu benehmen und sich etwas zurückzuhalten. »Du willst doch wohl nicht sagen, daß du die ganze weite Reise von Schweden gemacht hast – nur um ihn aufzusuchen?«

»Nein, ich bin von Norwegen gekommen,« sagte Hulda ruhig.

»Na, das ist ja ganz dasselbe. Mußt du ihm aber gut sein! Und liebt er dich ebensosehr?«

»Ja, ebensosehr wie ich ihn,« sagte Hulda mit Ueberzeugung.

Es kam Hattie ganz wunderbar vor, daß Hulda so frei und ohne Erröten von ihren Beziehungen zu einem jungen Mann sprechen konnte, und ihr Heißhunger nach diesem ungekannten Thema ließ sie ihre Zurückhaltung vergessen, so daß sie rasch fragte: »Hat er – hat er dich schon geküßt?« Dabei errötete sie selbst bis an die Haarwurzeln.

»Ja, natürlich, warum denn nicht?« erwiderte Hulda einfach, während ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg.

»Donner! Er muß wohl toll in dich verschossen gewesen sein!« war Hatties Kommentar, während sie dasaß und ihre Freundin mit demütiger Bewunderung anstarrte. Als sie keine Antwort erhielt, meinte sie mit unverfrorener Aufrichtigkeit: »Ich wollte, ich wäre ein Mann! Würde ich mich da in dich verlieben!«

»Du wolltest mir ja raten,« sagte Hulda achselzuckend, »du weißt so gut Bescheid in der Stadt, und vielleicht kannst du mir sagen, wo man einen jungen Künstler am leichtesten finden kann. Wo verkehrt er wohl am häufigsten?«

Hattie nannte eine berüchtigte Musikhalle, die von der jeunesse dorée in Chicago vielfach besucht wird.

»Was für ein Lokal ist das?« fragte Hulda unschuldig.

»Na – Künstler, weißt du, haben keinen guten Ruf,« erklärte Hattie ausweichend. »Aber ich weiß nicht einmal, ob es etwas nützen würde, wenn wir ihn dort suchten.«


Am nächsten Morgen wurden die Mädchen um halb sechs Uhr durch eine Glocke geweckt, die fünf bis zehn Minuten lang einen ohrbetäubenden Lärm verursachte. Draußen fiel der Regen in Strömen herab, schwarz schlug der Rauch nieder, der jedoch immer wieder in der trüben Luft in phantastischen Krümmungen emporzusteigen versuchte. Eine schauerliche Kälte herrschte im Hause – denn die Mädchen konnten sich des Morgens kein Feuer erlauben – und die ärmliche, übelriechende Zimmerlampe verbreitete nur einen schwachen Lichtschein über den Tisch.

Hulda und Hattie kleideten sich fröstelnd, eine jede hinter ihrem Schirm, an und sprachen außer einem »Guten Morgen« nichts miteinander. Sie hatten beide« ihre einfache Toilette beendet und wollten schon ins Eßzimmer hinuntergehen, als Hattie, mit dem Rücken der Thür zugewandt, fragte: »Bist du vielleicht noch mucksch?«

»Nein, ich bin nicht böse,« erwiderte Hulda.

»Dann will ich dir was sagen. Ich will dir deinen Schatz suchen helfen, wenn du willst.«

»Aber wie willst du das anfangen?«

»Das geht dich nichts an. Ich werde ihn schon finden.«

»Aber du mußt ja zur Arbeit? Du kannst sie doch nicht versäumen?«

»Ich schwänze eben mal einen Tag.«

»Und womit willst du dich entschuldigen?«

»Ach, ich denke mir schon was aus – kannst dich drauf verlassen«

»Aber warum kannst du mir nicht lieber sagen, wohin ich gehen soll. Dann kann ich es ja selbst thun.«

Hattie blickte statt einer Antwort ihre Freundin lange prüfend an, wie um das »Für« und »Wider« der Frage zu erwägen »Ach,« bemerkte sie dann, »bist du aber schnurrig!«

Hulda, der dies Kompliment unverständlich war, wiederholte ihre Frage.

»Na, bedenke doch nur,« rief Hattie aus, »an mir vergreift sich keiner, da ich so häßlich bin, und wenn mir wirklich jemand zu dreist werden sollte, werde ich mich schon zu wehren wissen.«

»Auch gegen mich würde ganz gewiß niemand zu dreist werden,« sagte Hulda ruhig.

»Aber ich weiß hier in der Stadt in- und auswendig Bescheid, und du bist fremd. Ich werde keinen schlechten Detektive abgeben.«

»Kann ich dich nicht wenigstens begleiten?«

»Nein, das geht nicht, du bist zu hübsch.« Und um ihrer Freundin jede Möglichkeit zu nehmen, sich die Sache noch anders zu überlegen, öffnete Hattie schnell die Thür, und sie gingen beide hinunter zum Frühstück.

Die Mädchen saßen mit verdrießlichen Gesichtern um den Tisch, eine trübe Flüssigkeit schlürfend, die nur die eine gute Eigenschaft hatte, daß sie warm war. Als sie fertig waren, stand eine nach der andern auf und eilte auf den Flur hinaus, wo sie sich in ihre Regenmäntel hüllten, um dann in dem brausenden Menschenstrom der Stadt unterzutauchen


Nachdem Hattie Halloran unter einem Vorwand Erlaubnis erhalten hatte, aus ihrer Druckerei wegzubleiben, dachte sie, sich an eine ihrer Kolleginnen, eine Maschinenschreiberin zu wenden, die im Büreau eines norwegischen Rechtsanwalts beschäftigt war. Dies Mädchen Annie Halvorson, war sehr hübsch, und Hattie schloß instinktiv aus ihrer allgemeinen Kenntnis des menschlichen Geschlechts, daß ein hübsches Mädchen wahrscheinlicherweise eher die Bekanntschaft des leichtlebigen Künstlers gemacht haben könne, als ein häßliches. Ueberdies meinte Hattie sich zu erinnern, daß Annie eine aufregende Geschichte mit irgend einem Künstler gehabt habe, und es kam ihr der Gedanke, daß dieser Künstler vielleicht Olaf Brun sein könne. So sehr viele norwegische Künstler konnte es doch am Ende in Chicago nicht geben, und irgend ein Leitfaden mußte dann früher oder später zu, dem, den sie suchte, führen.

Zufällig war der Rechtsanwalt auf dem Gericht, als sie in seinem Büreau vorsprach, und die beiden Mädchen konnten sich daher ungestört hinsetzen und nach Herzenslust plaudern.

Hattie brachte die Unterhaltung geschickt auf die Künstler im allgemeinen, über die sie redete, als ob sie mit ihnen auf sehr vertrautem Fuße stände, und sah mit Vergnügen, daß ihre Freundin geradeswegs in die Falle ging und beispielsweise einen jungen Künstler erwähnte, in den sie ganz toll vernarrt gewesen wäre.

»Hieß er nicht Brun – Olaf Brun?« fragte Hattie so beiläufig.

»Woher weißt du das? Hat er sich etwa über mich lustig gemacht?« rief Annie Halvorson erregt.

»Bewahre. Aber vielleicht meinen wir gar nicht denselben. Der, den ich meine, wohnt Divisionstreet.« Hattie nannte Bruns letzte Adresse, die Hulda ihr mitgeteilt hatte.

»Ja, den meine ich,« rief Annie ahnungslos aus, »aber da ist er nicht mehr. Er wohnt jetzt 148 Halstead Street.«

»Nicht möglich! Halstead Street? Das ist gerade keine vornehme Gegend.«

»Nein, es geht ihm nicht gut. Er soll seine letzte Wohnung heimlich verlassen haben. Seine Verwandten drüben in Europa sind sehr vornehm, aber sie wollen nichts mehr von ihm wissen. Er hat zweimal eine Anstellung gehabt, aber jedesmal verloren, weil er nicht zeitig genug aufstehen wollte.«

»Na, das ist doch arg, nicht wahr? Aber nun muß ich fort. Ich kann hier nicht den ganzen Morgen versitzen. Adieu.«

Hattie traf nach kaum einer halben Stunde bei der bezeichneten Wohnung in Halstead Street ein und kehrte, nachdem sie sich vergewissert, daß alles stimme, nach Hause zu Hulda zurück.

Diese erhob sich erwartungsvoll, als sie Hattie hereinkommen sah, und öffnete den Mund, konnte aber keinen Ton hervorbringen.

»Ich habe ihn gefunden!« rief Hattie triumphierend.

Hulda preßte die Hand aufs Herz. Sie getraute sich nicht zu sprechen. Dann, nachdem sie mehreremal im Zimmer auf und ab gegangen und ruhig geworden war, setzte sie ihren Hut auf, zog den Mantel an und bat Hattie, ihr zu folgen.

Der Regen hatte nachgelassen, aber der Himmel glich einem bleiernen Dach, das die Stadt einschloß und all ihren Rauch und ihre Dünste gefangen hielt. Die Luft hatte eine graubraune Färbung und war so dick, daß man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Die riesigen zehn und zwanzig Stock hohen Gebäude ragten aus dem Nebel hervor und verloren sich in nebelhaft verschwommenen Umrissen; die warenbeladenen Karren, die endlose Reihe von Droschken und Wagen, deren einförmiges Gerassel aus dem Zwielicht hervorklang, die schreienden Kutscherstimmen, das heisere Brüllen der Schutzleute, alles zusammen ergab ein vielgestaltiges Bild weltstädtischen Lebens, dessen Großartigkeit einen gewaltigen Eindruck auf Hulda hervorbrachte.

Sie klammerte sich fest an den Arm ihrer Gefährtin und war froh, daß sie sich der Leitung Hatties anvertrauen konnte. Mühsam schob sie sich weiter, immer unter dem bedrückenden Gefühl einer hoffnungslosen Verlassenheit, das sie niemals überwinden zu können glaubte. Plötzlich befand sie sich in einem Pferdebahnwagen, der nach Halstead Street ging, und hörte zu, wie Hattie auf sie einredete und ihr von der List erzählte, durch die sie die Adresse Bruns herausbekommen hatte.

Huldas Herz war zum Ueberströmen voll. Sie hatte nur Platz für einen Gedanken: an den, den sie liebte, um dessentwillen sie Heimat und Eltern und Geschwister verlassen hatte und den sie jetzt wiedersehen sollte. Sie hatte geglaubt, einen Rausch des Entzückens zu fühlen bei dem bloßen Bewußtsein, ihm so nahe zu sein, und sie freute sich ja auch wirklich, aber doch beunruhigten sie allerhand häßliche Vorgefühle, die sie nicht recht unterdrücken konnte.

Etwa um elf Uhr vormittags hielten sie vor einem braunangestrichenen Hause, dessen Vorderseite nach der Straße zu lag. Ein Haufen Asche und Kehricht lag davor, und eine unsaubere Passage trennte es von den beiden angrenzenden Gebäuden. Ein Mädchen mit angeschwärztem Gesicht öffnete ihnen die Thür und geruhte nach kurzer Unterredung mit Hattie, ihnen den Weg zu den Zimmern des Herrn Brun zu zeigen. Die Treppe und der Flur des Hauses waren mit kariertem Wachstuch bedeckt, in dem sich schon an verschiedenen Stellen Löcher befanden.

»Nun aber,« sagte Hulda, die wieder die Gewalt über sich erlangt hatte, »möchte ich dich freundlich bitten, hier auf mich zu warten. Oder, wenn du lieber willst, kannst du ja auch nach Hause zurückgehen. Ich bedarf jetzt deiner Hilfe nicht mehr. Du bist sehr gut gegen mich gewesen, und ich bin dir wirklich sehr dankbar.«

Hattie nahm diese Erklärung mit erstauntem Blick auf. Sie hatte gemeint, daß sie der Versöhnungsscene beiwohnen und als schützende Freundin der Heldin in den verschiedenen weiteren Kapiteln des Romans eine Rolle spielen würde. Huldas Verabschiedung kam ihr daher sehr ungelegen. »Du wirst doch nicht wollen,« wandte sie ein, »daß ich dich hier allein lasse. Ich werde mich, wenn du mich nicht mitnehmen willst, einfach hier auf die Treppe setzen und auf dich warten.«

Hulda ging die knarrende Treppe hinauf und blieb vor der Thür stehen, die das Mädchen ihr zeigte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, das Blut hämmerte ihr in den Schläfen. Sie klopfte und lauschte atemlos auf eine Antwort. Sie konnte hören, wie sich drinnen jemand rührte, sich eilig hin und her bewegte, über einen Stuhl stolperte und ein Fenster schloß oder öffnete.

Sie wiederholte ihr Klopfen, und nach einer kleinen Pause öffnete sich die Thür, und ein junger Mann mit zerzaustem Haar und hübschem, aber traurigem Gesicht stand ihr gegenüber. Er trug ein Paar Pantoffeln, die am Hacken heruntergetreten waren, und seine schlanke Gestalt steckte in einem abgetragenen Rock.

»Was wünschen Sie?« fragte er mißmutig. Er konnte ihre Züge auf dem dunklen Gange kaum unterscheiden, aber doch wurde er stutzig, wich einen Schritt zurück und öffnete die Thür weiter. »Du lieber Himmel!« rief er dann aus, als das Licht vom Fenster auf ihr Gesicht fiel. »Hulda! Um Gottes willen wie kommst du hierher?«

Es war schwer zu sagen, ob er nicht mehr erstaunt als erfreut war. Aber nach einem Augenblick größten Staunens zog er sie ins Zimmer, küßte sie herzlich, faßte ihre beiden Hände, sah sie an und küßte sie wieder.

»Warum überfällst du einen auch so unverhofft!« rief er aus, sich verwirrt entschuldigend. »Wer in aller Welt konnte dich auch hier erwarten! Ja, liebe Hulda, ich bin wie in der Hölle gewesen, seit ich dich zuletzt gesehen. Du ahnst nicht, was ich gelitten habe, seit ich in dies verfluchte Land gekommen bin.«

Er zog den einzigen Stuhl herbei, der sich im Zimmer befand, und bat sie, sich zu setzen. Der gequälte Ausdruck seines Gesichts verschwand allmählich, als er sie ansah, und seine alte Lebhaftigkeit kehrte wieder. Aber jener unbeschreibliche, jugendfrische Zauber in seiner Sprache und seiner Art und Weise war in dem einen Jahr fast geschwunden, das Lächeln, das früher sein Gesicht gleichsam von innen heraus verklärte, glich nur noch einem bloßen Flackern. Sein Gesicht war bleich, und um seine Lippen zuckte es häufig, wie von nervöser Ueberreiztheit. Sein weicher, blonder Schnurrbart, den er früher so sorgfältig gepflegt und keck emporgewirbelt hatte, hing jetzt nachlässig herab. Man sah es Olaf deutlich an, daß er noch nicht lange aufgestanden sein konnte, er hatte noch nicht einmal einen Kragen umgebunden. Die Luft im Zimmer war so kalt, daß sein Atem sichtbar war. Nahe am Fenster der spärlich möblierten Stube stand eine einfache Staffelei, auf der ein Zeichenbrett mit einer unvollendeten Skizze stand.

Hulda war von den widersprechendsten Empfindungen zu sehr überwältigt, um auch nur ein Wort hervorbringen zu können. In regungslosem Staunen saß sie da und starrte das bleiche Gesicht Olafs an. Sie zitterte und fühlte sich am Ende ihrer Kraft, war aber doch fest entschlossen diesen Mann den sie trotz all seiner Schwächen liebte, zu retten.

Er ging auf und nieder im Zimmer und erzählte sprungweise und krampfhaft humoristisch von dem vielen »Pech«, das er in Amerika gehabt, und verriet deutlich, wie unbehaglich er sich unter ihrem festen ruhigen Blick fühlte. »Ein ganz verwünschtes Land, dies Amerika,« sagte er, »die Leute hier verstehen ebensowenig von der Kunst als ein Esel vom Lautenschlagen. Es war ein großer Fehler, daß ich herkam, soviel ist gewiß. Aber das läßt sich nun nicht mehr ändern. Ich friste mein Leben kümmerlich damit, daß ich ab und zu den verschiedenen Zeitschriften Illustrationen liefere. Gerade als du hereinkamst, war ich dabei, ein Reklamebild für eine neue Seife zu entwerfen.«

Trotz seiner abgetragenen Kleidung bemerkte Hulda, daß noch jeder Zoll an ihm Gentleman war. Es lag sogar etwas Vornehmes in seiner Abgerissenheit, und sie war weit entfernt, in der ganzen Begrüßungsscene etwas Komisches zu sehen.

»Olaf,« sagte sie ernst und sah ihn mit großen, ausdrucksvollen Augen an, »ich möchte dir erzählen was geschehen ist, damit du weißt, was wir thun müssen. Letzten Mittwoch vor einem Monat sollte ich Falck heiraten, das Aufgebot war schon erfolgt, und alles zur Hochzeit vorbereitet.«

»So hat er deine Mutter wirklich doch noch so weit gebracht!«

»Nein, er hat nichts gethan, was eine unehrenhafte oder niedrige Gesinnung zeigte. Er konnte nicht dafür, daß es mir nicht möglich war, ihn zu lieben. Als ich sah, daß es keine Rettung mehr gab, bat ich Nils, mich in der Nacht nach Balholm zu bringen, von wo ich mit dem Schiff nach Bergen fuhr. Das war am Abend vor der Hochzeit. Nun weiß ich aber von dem Konsul in New York, daß entweder Vater oder Herr Falck mir nachgereist ist, um mich zurückzuholen. Er kann jeden Tag hier eintreffen, und wenn wir nicht verheiratet sind –«

»Verheiratet!« rief der junge Mann aus, hielt im Gehen inne und warf einen Blick voll komischen Entsetzens auf den Aermel seines fadenscheinigen Rocks. »Jetzt? Gut – wie du meinst! Du wirst uns sicherlich mehr Glück ins Haus bringen, als ich's als Junggeselle hatte.«

Seitdem Olaf sich gezwungen gesehen, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, hatte er so vollständig Schiffbruch gelitten, daß er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie eine Heirat möglicherweise sein Dasein noch elender gestalten könne.

Seine traurige materielle Lage fiel ihm zuerst ein, aber als sein Blick auf dem des reinen und lieblichen Mädchens haften blieb, das da vor ihm stand, regte sich eine Art Schamgefühl in ihm, und nachdem er noch einmal im Zimmer auf und nieder gegangen war, blieb er vor ihr stehen und sagte: »Höre mich an, Hulda. Du bist zu gut, um dich an mich fortzuwerfen! Halte das, bitte, nicht etwa für Unsinn, Liebste. Mache es mir nicht gar zu schwer, ehrlich gegen dich zu sein. Du kannst mir glauben daß sie mir hier in diesem verfluchten Lande alles, was eingebildet heißt, längst ausgetrieben haben. Ich bin nicht der Mann, der ich früher zu sein glaubte. Ich war hier in eine Gesellschaft norwegischer Bummler hineingeraten, Exstudenten, Exoffiziere und so weiter, die mir schmeichelten, Geld von mir liehen und mich, nachdem sie mich ausgeplündert hatten, links liegen ließen. Es war die schlimmste Gesellschaft, die man diesseits der Hölle antreffen kann. Jetzt bin ich mit ihnen fertig; aber ich bin nicht mehr, der ich sonst war – wenn überhaupt jemals etwas an mir gewesen ist. Wir dürfen uns der Thatsache nicht verschließen, daß ich entsetzlich eingebildet war und daß ich's noch mehr wurde durch deine Liebe und Bewunderung! Es war sicherlich unrecht von mir, dich diesem Esel von Falck abspenstig zu machen, der, wenn auch langweilig und pedantisch, doch ein ehrenhafter Mensch ist!«

Sie hatte in peinlicher Ueberraschung dieser Auseinandersetzung zugehört und war durch den verzweifelten Ton, der durch seine Worte klang, tief gerührt. Das war wieder die alte, gewinnende Art und Weise, der Zauber, der einst in vergangenen Zeiten ihr unbewachtes Herz gewonnen hatte, und anstatt sie in ihren Entschlüssen wankend zu machen, bestärkte sie die Erkenntnis, daß Olaf ihrer bedurfte, daß ohne sie seine Gaben verloren gehen würden, nur noch fester in ihren Vorsätzen. Voll Mitleid saß sie da, bebend vor Eifer, ihn gegen seine Selbstanklagen in Schutz zu nehmen.

»Nein,« sagte sie ernst und entschieden, »du hast mich nicht gestohlen. Es war nicht deine Schuld, daß ich dich liebte. Es überkam mich so plötzlich, als wir das erste Mal zusammen sangen. Ich kann noch heute nicht sagen, warum oder wie. Es ist sehr leicht, von Treue und Aufrichtigkeit zu reden; der Vater hat mir das alles gesagt. Aber es gibt etwas, das höher steht, als ein erzwungenes Versprechen zu halten: das Recht der freien Selbstbestimmung. Keine Frau hat die Pflicht, ihr ganzes Leben einem voreiligen Versprechen zu opfern, besonders, wenn sie dem Mann mehr Unheil als Segen bringen würde, der willens ist, ein solches Opfer anzunehmen.«

»Um Gottes willen, denke nur nicht, daß ich meine Gefühle dir gegenüber geändert hätte und meinerseits mein Wort nicht halten wolle!« rief Olaf, der in ihrem Gesicht mehr als in ihren Worten einen solchen Gedanken zu lesen glaubte, »nur dich möchte ich retten, nicht mich! Laß mich dir noch einmal – ich werde nie wieder darauf zurückkommen – sagen, daß du es bereuen wirst, mich beim Wort genommen zu haben. Ich bin lange Zeit ein rechter Taugenichts gewesen, aber so tief bin ich doch nicht gesunken, um dein schönes Vertrauen zu mißbrauchen. Wahrhaftig, ich fühle schon wieder einen ganzen Kerl in mir, wenn ich dich mit deinen wundervollen, großen, klaren Augen dasitzen sehe, wie du mir bis auf den Grund der Seele schaust. Nur das ist ein Jammer, Hulda, daß du deine reiche Liebe nicht jemand geschenkt hast, der deiner würdiger ist!«

Durch seine Vorstellungen klang ein Ton von Aufrichtigkeit, der Hulda wohlthat. Ihr fiel endlich Hattie wieder ein, die noch immer draußen auf sie wartete. Sie stand auf und nahm Abschied von ihm, nachdem sie zum folgenden Nachmittag eine Zusammenkunft verabredet hatten.

»Noch eins, Liebste,« sagte er mit ratlosem Gesicht, »es ist vielleicht nicht so wichtig, aber es muß doch immerhin erwähnt werden. Wovon sollen wir uns einrichten und in der ersten Zeit leben, wenn wir verheiratet sind? Ich habe so gut wie nichts und habe ebensowenig als du Schätze zu erwarten. Und der Verdienst in nächster Zeit –«

»Deswegen brauchst du keine Angst zu haben« erwiderte sie wohlgemut, »ich werde für uns beide Geld verdienen, bis du deinen Ruf als Künstler begründet hast. Man hat mir bereits ein Anerbieten gemacht, daß ich in der Kirche singen soll, und die beiden Tage vor unsrer Hochzeit will ich dazu benutzen, Klavier- und Gesangschülerinnen zu suchen.«

Wie sie ihm diesen Plan auseinandersetzte, leuchtete ihr Gesicht vor lieblichem Eifer, und sie sah in dem Augenblick so reizend aus, daß seine Mutlosigkeit verschwand und er sie, von Hoffnungen belebt, freudig in seine Arme schloß.

»Ich bin ein ganz schrecklicher Mensch, das weiß ich,« rief er mit einem Anflug seines alten Uebermuts, »aber es ist auch gar nicht hübsch von dir, daß du mit einem solchen Gesicht zu einem armen, hungernden Künstler auf die Bude kommst und ihn in Versuchung führst.«

Hulda sah nicht mehr sein bleiches Gesicht, auch seine defekte Kleidung störte sie nicht mehr. Er war wieder ihr Held, und mit der ganzen leidenschaftlichen Hingabe ihrer Natur schloß sie ihn, der ihrer Stütze bedurfte, aufs neue in ihr Herz. Wie alle energischen, leistungsfähigen Frauen, hielt sie es nicht für erforderlich, daß der Mann, den sie liebte, dieselben Eigenschaften besitze. Sie liebte nicht seinen Charakter, sondern sie liebte eben ihn selbst mit allen seinen kleinen Schwächen und Unvollkommenheiten. Ihr war so leicht zu Mute, als sie mit Hattie auf der Straße zusammentraf, daß sie ganz mitteilsam wurde und ihre neue Freundin dadurch natürlich in das größte Entzücken versetzte. Sie fragte sie um Rat wegen einer Wohnung und wegen der Wahl eines Geistlichen. Hattie empfahl Doktor Trump, der großen Einfluß hätte und ihr ganz gewiß die Stelle als Hauptsopranistin im Episkopalkirchenchor verschaffen würde.


Die Hochzeit fand im »guten Zimmer« des Mädchenheims statt und war das wichtigste Ereignis, das dieses Gemach je erlebte. Die Feier war auf den Abend angesetzt, und alle Mädchen waren daher anwesend. Ihre allgemeine Begeisterung verlieh der Sache etwas Aufregendes.

Als Hulda, die nur ganz einfach gekleidet war, am Arm ihres Bräutigams eintrat, erhob sich von allen Seiten ein langgezogenes Ah! der Bewunderung.

Der Bräutigam sah sehr stattlich und glücklich aus. Seiner glänzenden Ueberredungskunst war es geglückt, sich einen neuen Hochzeitsanzug von einem renommierten Schneider zu leihen, und er trug ihn mit der Ungezwungenheit eines Menschen, dem elegante Kleidung etwas Naturgemäßes ist. Die Wandlung, die überhaupt seit Huldas Besuch in Halstead Street vorgegangen, war so überraschend, daß sogar sie sich darüber wundern mußte. Hatte sie auch stets den Gentleman in ihm erblicken können, so machte er doch jetzt in seiner tadellosen, vornehmen Haltung den sicheren Eindruck eines Mannes, der aus guter Familie hervorgegangen ist und in günstigen Verhältnissen lebt.

Gerade als Doktor Trump mit seiner vollklingenden Stimme die Feier einleitete, wurde an der Thürglocke auf dem Flur geläutet, das Hausmädchen aber stand hinter der übrigen Zuschauerinnen auf den Zehen und interessierte sich zu lebhaft für den Vorgang, um auf den draußen Wartenden zu achten. Der Regen schlug gegen die Fenster, und im Kamin heulte der Wind und verlieh den feierlichen Worten erhöhten Nachdruck: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, und du sollst deinem Manne unterthan sein, und er soll dein Herr sein«.

Hulda lauschte den Worten des Geistlichen mit Demut und Ergebung. Ja, in ihrer liebenden Selbsterniedrigung war sie gerade von der hehren Strenge der Worte begeistert und gelobte sich, in guten und schlimmen Tagen immer dem Gelübde dieser Stunde treu zu bleiben.

Der Wind im Kamin winselte und heulte, und alle lauschten mit gespanntester Teilnahme den Worten des Geistlichen. »Wenn jemand gegenwärtig ist und weiß einen Grund, weswegen dieser Mann und dieses Mädchen einander nicht ehelichen sollen, so rede er jetzt und schweige hernach,« sagte Doktor Trump zum Schluß seiner Ansprache, indem er die vorgeschriebene Trauungsformel verkündete.

Die Thürglocke tönte zum zweiten Mal, aber niemand außer dem Hausmädchen achtete darauf. »So erkläre ich euch denn für Mann und Weib. Was Gott zusammengefügt, das soll der Mensch nicht scheiden!« sprach der Geistliche und legte ihre Hände ineinander.

Noch ehe die Worte aus seinem Munde gekommen waren, hörte man, wie eine laute Stimme aus dem Flur sich nach Miß Hulda Brinckmann erkundigte.

Ueber Huldas Wangen ergoß sich eine tiefe Röte, eine entschlossene Glut brannte in ihren Augen, und ein Seufzer unendlicher Erleichterung entstieg ihrer Brust, als die letzte Silbe des Geistlichen verhallte.

Wenige Augenblicke darauf bahnte sich ein fremdartig aussehender Mann, der vor Nässe triefte und dessen Züge verhärmt aussahen, seinen Weg durch die Versammelten.

Als Hulda mit ihrem Gatten eben die Gratulationen der Mädchen entgegennahm, begegnete sie den Augen des Fremden.

»Hulda!« rief er mit einer Stimme, die vor tiefem Gefühl erbebte, »so habe ich dich doch endlich gefunden –«

»Nein, Herr Falck, Sie haben mich für immer verloren!« erwiderte sie fest. »Ich bin mit Herrn Brun verheiratet.«

Er schaute sie bestürzt an, als ob er den Sinn ihrer Worte nicht ganz verstehe »Verhei – verheiratet?« wiederholte er abgebrochen, wie nach Luft ringend, »mit diesem Mann?«

»Ja, Herr Falck. Und nun quälen Sie mich, bitte, nicht mehr. Es ist nutzlos.«

»Ihr Vater will, daß ich Sie ihm zurückbringe.«

»Es thut mir leid, daß ich ihm ungehorsam sein muß, aber ich werde bei meinem Mann bleiben!«

Es bedurfte für die Versammelten keiner Erklärung, wer dieser ungelegene Besuch sei. Und obgleich die jungen Mädchen Hulda bewunderten und ihren elegant aussehenden Mann »göttlich« fanden, konnten sie doch nicht ein leises Mitgefühl für den unglücklich Liebenden unterdrücken.

Als es Falck klar wurde, daß Hulda unwiederbringlich verloren sei – denn bis zu diesem Augenblick hatte ihn eine thörichte Hoffnung aufrecht gehalten – wurde ihm schwarz vor den Augen, der Boden schien unter seinen Füßen zu schwanken, und er wagte keinen Schritt zu thun, aus Furcht hinzustürzen.

»Wer ist der Herr?« fragte Doktor Trump.

»Es ist jener Mann, den ich nach dem Wunsch meiner Eltern heiraten sollte,« antwortete Hulda gelassen.

Bis dahin hatte sie Falck kaum ordentlich angesehen. In ihrer Aufregung waren alle Dinge vor ihren Blicken wie in einen leuchtenden Nebel gehüllt gewesen, Aber jetzt schwand der strenge Blick aus ihren Augen und wich einem mitleidsvollen Ausdruck. Denn jeder Zug in seinem Gesicht erzählte ihr von durchgekämpften seelischen Leiden. Falcks Augen lagen eingesunken in den Höhlen; seine Wangen waren hohl, und um den Mund zogen sich schmerzvolle, harte Linien, ja er war so abgezehrt von Kummer und Ueberanstrengung, daß sein Gesicht ganz verfallen aussah.

Einen Augenblick stand er noch und sah mit leeren Blicken im Zimmer umher, indem er absichtlich vermied, Hulda anzusehen. Dann kam ihm der Gedanke, daß seine Anwesenheit sie in Verlegenheit setzen könnte, ja ihr vielleicht gar peinlich sein möchte, und er wunderte sich über seine Rücksichtslosigkeit und seine Dummheit, nicht früher daran gedacht zu haben. Langsam ging er nach der Thür.

Er war froh, in die weite, mitleidige Nacht hinauszukommen, zu fühlen, wie das Dunkel ihn einschloß. Er eilte vorwärts, zuweilen stolpernd und taumelnd, aber ohne Aufenthalt, wie vom Schicksal mit unwiderstehlicher Gewalt fortgetrieben.

Falck konnte sich später nicht entsinnen, wohin er gegangen und wie lange er umhergeirrt war, bis er das Bewußtsein verloren hatte. Am nächsten Morgen befand er sich in einem Polizeigewahrsam, wohin man ihn als des Vagabundierens verdächtig gebracht hatte. Am Nachmittag kaufte er sein Billet zur Rückfahrt über New York, Southampton nach Norwegen.


Nach Verlauf einiger Zeit schrieb Falck an Doktor Trump und bat ihn, ihm mitzuteilen, wie es den Bruns erginge, und, falls sie in Not wären, eine Summe von ihm zu erheben und sie Herrn Brun zu übermitteln, ohne ihn wissen zu lassen, von wem das Geld käme. Der Brief blieb unbeantwortet; Doktor Trump befand sich auf einer längeren Missionsreise.

Falck behielt aber die unerschütterliche Ueberzeugung, daß Olaf Brun ein Prahlhans und Thunichtgut sei, dessen Unzuverlässigkeit sich bald herausstellen würde, und so vermochte er sich über Huldas Schicksal nicht zu beruhigen.

Nach Jahr und Tag – denn Huldas Name wurde nie mehr im Brinckmannschen Hause erwähnt – erbat Falck von dem Pastor unter dem Vorwande von Kränklichkeit ein Jahr Urlaub, den er zu einer zweiten Pilgerfahrt nach Chicago benutzen wollte. Der Plan der Frau Brinckmann, Falcks Neigung Magda zuzuwenden, war an der Halsstarrigkeit des Hilfspredigers bisher gescheitert. Für einen so zurückhaltenden, vom Leben unberührt gebliebenen Mann, wie er mit seinen altmodischen Begriffen über Recht und Unrecht war, wurde es eben zu schwer, seine Gefühle auf ein andres Wesen zu übertragen. Hulda hatte seine Seele derart ausgefüllt und füllte sie noch heute so vollständig aus, daß für niemand anders Platz blieb. Und so eigentümlich es klingt: er würde es als eine Art Entweihung angesehen haben, durch irgend jemand, und wenn es selbst ihre eigne Schwester gewesen wäre, all die kostbaren Erinnerungen schmälern zu lassen, die ihr und ihr allein in seinem Herzen gehörten. Sein Herz glich einem wohlverwahrten Totenzimmer, das aufs peinlichste genau so erhalten wird, wie es der Verstorbene verlassen hat. Hulda hatte ihm sein Leben zerstört; aber wenn er alles in Betracht zog, so erschien ihm das am Ende doch nicht so wichtig, wie die Frage, was aus ihr selber geworden war. Für Falcks Gemütsruhe wurde es nachgerade unerläßlich, daß er sich Gewißheit über Huldas Schicksal verschaffte

So machte er sich denn abermals nach den Vereinigten Staaten auf. Er landete nach achttägiger Seefahrt in New York und befand sich schon am nächstfolgenden Abend in Chicago, wo er ein bescheidenes Hotel aufsuchte.

Zwei Tage währte es, bis er der Familie Brun auf die Spur kam, die während der drei Jahre seit ihrer Heirat mancherlei Schicksale durchgemacht zu haben schien. Falck, der diese Nachrichten von der Vorsteherin des Mädchenheims erhielt, schloß daraus, daß seine Befürchtungen noch jetzt wohl begründet seien.

Voll Mitleid für Hulda ging er daran, die Wohnung zu suchen, die die Vorsteherin ihm aufgegeben hatte. Es dauerte eine volle Stunde, bis er aus dem Menschenschwarm, der durch die großen Schlagadern der Stadt flutete, herauskam und in einer abgesonderten, von Ulmen beschatteten Seitenstraße landete, wo sich kleine, hübsch gepflegte Gartenanlagen vor den Häusern befanden. Es lag wie Frieden und ruhiges, bescheidenes Wohlbehagen über dieser reinlichen, zierlich gehaltenen Oase, so daß Falck sich überrascht umsah und dann wie zweifelnd auf die Karte hinblickte, die man ihm in dem Mädchenheim gegeben hatte. Das war hier nicht der Ort, wo die Armut ihr Haupt erhob. Aber die Straße und die Nummer stimmten, ein Irrtum war ausgeschlossen.

Falck zog an der Glocke eines weinumrankten zweistöckigen Häuschens und fragte das schmuck aussehende Mädchen, das die Thür öffnete, ob Frau Brun zu Hause sei.

»Ich will mal nachsehen,« antwortete sie norwegisch und nahm seine Karte in Empfang, »wollen Sie, bitte, nähertreten.«

Er traute seinen Augen nicht, als er in das bezeichnete Zimmer trat. Alles war mit vorzüglichem Geschmack eingerichtet und machte einen sehr behaglichen Eindruck. Ein schöner Flügel fiel ihm in die Augen, und Notenblätter lagen auf den Stühlen umher, als ob sie eben benutzt worden wären. Ein großer Blumentisch mit blühenden Rosen, Fuchsien und Kallas stand zwischen den Fenstern. Ein Mahagonitisch, über dem eine rot und schwarze Decke lag, stand vor dem Sofa, und das Arrangement der Stühle im Zimmer erinnerte ihn sofort an das Pfarrhaus in der Heimat. Der Sonnenschein schien ungehindert durch die duftigen, weißen Gardinen. Luft und Licht waren von jeher Lebensbedingungen für Hulda gewesen, wie Falck sich noch so gut erinnerte.

Mitten in diesen Betrachtungen ging die Thür nach dem angrenzenden Zimmer auf, und Hulda streckte ihm ihre Hand mit natürlicher Herzlichkeit entgegen, die zu seiner verlegenen Verwirrung einen scharfen Gegensatz bildete. Sie bot seinen erstaunten Augen das Bild einer voll und reich entwickelten Frauenblüte, die keine Spur von Kummer oder Sorge aufwies. Sie war, wenn möglich, noch schöner geworden als in ihren Mädchentagen, und eine gewisse knospende, matronenhafte Würde in der Figur und in den Zügen machte sie überraschend liebreizend. Sie trug den Kopf so frei und leicht, wie es nur ein vollkommen glücklicher Mensch thun kann.

»Wie freue ich mich, Sie zu sehen, Herr Falck,« sagte sie und setzte sich ihm gegenüber in einen Lehnstuhl. »Ich hörte schon von Magda, daß Sie kommen wollten, und wußte, daß es Ihnen nicht schwer fallen würde, uns aufzufinden.«

»Entschuldigen Sie – aber – dann korrespondieren Sie mit Magda?« brachte er stotternd hervor. »Da hätte ich mir die Reise sparen können.« Er fühlte, daß diese Bemerkung nicht allzu höflich war, aber seine Zunge hatte ihn schon öfter etwas aussprechen lassen, was ihn hinterher reute.

»Ich habe gehört, daß Sie längere Zeit krank waren, das hat mir sehr leid gethan,« nahm Hulda wieder herzlich das Wort, »Magda meinte, daß Sie das Klima zu Hause nicht gut vertrügen.«

Es rührte ihn fast, daß sie so gar keine Notiz von seiner Befangenheit nahm.

»Ja, vielleicht war das Klima schuld,« sagte er leise und traurig.

»Sie sind offenbar überrascht, daß ich mit Magda in Briefwechsel stehe,« fuhr Hulda fort, um ihm über sein Unbehagen hinwegzuhelfen, »das kam nämlich so, sie schrieb mir zuerst auf Vaters Wunsch unter der Adresse des Konsuls, und Vater weiß, wie ich Ihnen gestehen will, von allem Bescheid. Ich habe sogar einmal einen Brief – von Nils bekommen. Sie sehen also, daß ich über alles zu Hause gut unterrichtet bin.«

»Aber damit ich den Ihrigen doch nähere Nachricht von Ihnen bringen kann, verzeihen Sie mir vielleicht, wenn ich ein paar Fragen an Sie richte.«

»Ich werde Ihnen sehr gern alles beantworten,« rief sie mit hellem, melodischem Lachen aus, »ich weiß schon vorher alles, was Sie fragen wollen, ich kann Ihnen Ihre Fragen also ersparen. Erstens möchten Sie wissen, womit wir unsern Lebensunterhalt bestreiten, nicht wahr?«

»Vielleicht,« sagte Falck zaghaft.

»Nun, wir haben sehr viel Glück gehabt. Doktor Trump hat mir eine vorzügliche Stelle als Sopransängerin in einem Kirchenchor verschafft, und das führte zu vielen andern Engagements. Ich singe jetzt in zwei Kirchen und habe so viele Gesangschülerinnen, als ich überhaupt nur unterrichten kann.«

»Aber die Vorsteherin," wandte Falck ein, »sagte mir, daß Sie allerhand Schicksale –«

»Hat sie das gesagt?« Eine leichte Verlegenheit in ihrer Antwort und die erhöhte Farbe ihrer Wangen verrieten, daß die indiskrete Bemerkung der Vorsteherin sie unangenehm berührte.

»Bitte, wollen Sie mich einen Augenblick entschuldigen,« sagte sie, stand auf und ging aus dem Zimmer.

Falck saß einige Minuten lang, in trübselige Gedanken vertieft, da und kam zu dem Schluß, daß die Vorsteherin wohl Geldverlegenheiten im Auge gehabt haben müsse, da das Paar in der That sein eheliches Leben mit vier leeren Händen angefangen hatte, von denen nur zwei geschickt zum Geldverdienen waren.

Als Hulda zurückkam, trug sie auf ihrem Arm ein etwa fünf Monate altes Kind, das in allerhand unartikulierten Lauten krähte und mit seinen rosigen, kleinen Fäustchen in drolligster Weise herumfocht. Der Schatten von Huldas Stirn war verschwunden, und ihr Antlitz strahlte vor Freude und mütterlichem Stolz.

»Magda hat Ihnen wohl nicht erzählt, daß wir einen süßen kleinen Jungen haben?« sagte sie und tändelte zärtlich und fröhlich mit dem Kind.

»Nein – ich wußte nicht, daß Sie ein Kind haben,« erwiderte Falck ungewandt, und da er doch irgendwelches Interesse an dem Kind zeigen mußte, fügte er hinzu: »Wie heißt denn der Kleine?«

»Olaf, nach seinem Vater.«

»Hm – es geht Herrn Brun hoffentlich gut?«

»Ja, danke sehr, es geht ihm recht gut. Aber er ist stark in Anspruch genommen.«

»Was thut er denn, wenn ich fragen darf?«

»Er ist früh und spät in seinem Atelier bei der Arbeit. Jedoch in einem Lande, wo absolut kein Kunstverständnis herrscht, verkauft er selten etwas, ausgenommen gelegentlich eine Illustration – aber das ist nicht seine Schuld. Und glücklicherweise sind wir jetzt auch so gestellt, daß er sich ganz seinen Studien widmen kann, ohne Rücksicht darauf, ob sie Geld einbringen oder nicht. In ein paar Jahren, wenn wir genug erübrigt haben werden, wollen wir auf ein Jahr nach München gehen, damit er sich dort vervollkommnen und die großen Galerieen benutzen kann. Chicago ist für einen Mann mit seinem hochfliegenden Temperament so ziemlich der ungeeignetste Ort der Welt.«

Falck erkannte mit traurigem Lächeln in dieser kleinen Rede einige von Bruns eigenen Phrasen wieder, die sie in gutem Glauben und ohne den geringsten Hintergedanken wiedergab. Sie glaubte also noch ebenso begeistert wie ehedem an ihren hübschen Springinsfeld und hielt mit weiblicher Leichtgläubigkeit all seine kupfernen Münzen für Gold. Es zerriß Falck fast das Herz, als er sah, wie ihr Gesicht aufleuchtete, sobald sie von Olaf sprach.

»Sie dürfen nicht fortgehen, ohne ihn gesehen zu haben,« sagte sie mit Eifer, »er läßt sich zwar nicht gern stören, wenn er im Atelier ist, aber bei einer so außergewöhnlichen Gelegenheit will ich es doch wagen.«

Sie übergab das Kind einer Wärterin und forderte ihren Besuch auf, mit ihr die Treppe nach dem oberen Stockwerk hinaufzugehen, wo sie ein hübsch ausgestattetes – Atelier betraten. Ein feiner Cigarrenduft wehte ihnen entgegen, und durch blaue Wolken hindurch, die von einer Chaiselongue mitten im Zimmer emporstiegen, entdeckten sie die Gestalt Olaf Bruns, der in aller Gemütsruhe lang ausgestreckt dalag und einen französischen Roman in gelbem Umschlag las. Er rührte sich nicht, als sie die Schwelle überschritten.

»Da ist Herr Falck, der die weite Reise von Norwegen her gemacht hat, um uns zu besuchen, Olaf,« rief Hulda, indem sie den Rauch mit der Hand zur Seite wehte.

Brun wandte den Kopf seitwärts, legte das Buch mit der Blattseite nach unten auf einen niedrigen türkischen Rauchtisch, erhob sich nachlässig und trat dem Geistlichen entgegen. »Freut mich sehr, Sie zu sehen, Herr Falck,« sagte er mit einem matten Lächeln, während er ihm zwei Finger entgegenstreckte, »ich fühlte mich heute nicht recht aufgelegt zur Arbeit und ruhte ein wenig.«

»Ach, hast du wieder deine lästigen Kopfschmerzen?« fragte Hulda teilnehmend.

»Ja; ich quäle mich mit diesem verdammten Prometheus ab, und ich fürchte, es wird doch nichts Rechtes daraus.«

»Ja, mein Schatz,« sagte Hulda, »ich würde ihn in deiner Stelle, wenigstens zeitweilig, beiseite legen, bis du wieder in der rechten Stimmung bist.«

Auf Falck machte die Veränderung, die mit Brun vor sich gegangen war, einen solchen Eindruck, daß er eine Zeitlang kein Wort zu sagen wußte. Brun sah wohlgenährt und frisch aus; er schien sich mit lässiger Resignation in diesem behaglichen Nest eingerichtet und sich mit dem Gedanken abgefunden zu haben, daß einstweilen auf den Schultern seiner Frau die Verantwortlichkeit lag, für den Lebensunterhalt zu sorgen. Sein Hausanzug war von luxuriöser Eleganz, und in seiner matten Höflichkeit lag etwas von einem grand seigneur. Wenn er ein Menzel oder ein Meissonier gewesen wäre, hätte er kein vollendeteres künstlerisches Aussehen haben können. Er hatte sein weiches, wallendes Haar lang wachsen lassen und trug einen kurzen braunen Sammetrock, weite, helle Beinkleider und eine nachlässig geschlungene leuchtende Krawatte.

Nachdem er seinem Gast eine Cigarre angeboten hatte, fing er an, über Kunst und die schweren Prüfungen für einen Künstler in diesem mammonanbetenden Lande zu reden.

Hulda war es sichtlich eine Enttäuschung, daß Falck so gar nicht darauf eingehen wollte, und er sah, daß die Freundlichkeit, die ihr Herz gegen ihn erfüllt hatte, sich während der Unterhaltung merklich verringerte. Sie fühlte, daß in Falcks Herzen noch ein Rest der alten Feindschaft geblieben war, und sie las in seiner etwas steifen Zurückhaltung eine Kritik, die sie gern widerlegt hätte.

Es war für Hulda und ihren Mann eine Erleichterung, als Falck aufstand, um Abschied zu nehmen. Sie baten ihn, zum Mittagessen bei ihnen zu bleiben, waren aber nicht allzu betrübt, als er dankend ablehnte. Sie sagten ihm mit solcher Herzlichkeit Lebewohl, daß es Falck fast scheinen wollte, als ob sein Gehen sie noch mehr erfreue als sein Kommen.

Er konnte die bitteren Gefühle nicht unterdrücken, die ihn bei dem Gedanken erfüllten, sie beisammen verlassen zu müssen, die Frau, die er liebte, und den Mann, den er verachtete Er malte sich ein trauliches Zusammenleben aus, und sein einsames Leben erschien ihm nach diesem Einblick in eine sonnige, warme Häuslichkeit doppelt trübe und frostig. Seine Seele schien erstorben zu sein, und bei der Aussicht auf die langen, öden, einsamen Jahre, die vor ihm lagen, überlief ihn ein eisiger Schauer. Er gedachte, als er die stille Straße hinunterschritt, seiner ersten Predigt über das Unkraut unter dem Weizen, deren Moral Hulda damals angezweifelt hatte. Brun hatte eitel Unkraut gesät und goldenen Weizen geerntet, er selber erntete Unkraut statt Weizen – durfte er sich aber beklagen, da sie so glücklich geworden? Um die Liebe war es nun einmal ein eigen Ding, und am Ende hatte doch wohl jeder Mensch das Recht, sein Schicksal selbst zu bestimmen.

Ende.


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