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Zwischen Meer und Himmel.

»Island ist das schönste Land unter der Sonne!« sagte Sigurd Sigurdson zu seinen beiden Söhnen.

»Wie kannst du das wissen, Vater?« fragte Thoralf, der ältere der Knaben. »Du hast ja noch kein anderes gesehen.«

»Mein Herz sagt es mir«, entgegnete Sigurd.

»Ich glaube, ich könnte, wenn ich dazu gezwungen würde, auch mit einem anderen Lande vorliebnehmen«, meinte Thoralf.

»Du solltest vor Scham erröten«, entgegnete der Alte. »Du verdienst gar nicht, ein Isländer genannt zu werden, wenn du nicht einsiehst, welcher Segen es ist, in einem so schönen Lande geboren zu sein.«

»Ich wünschte, es wäre weniger schön und brächte mehr eßbare Dinge hervor«, murmelte Thoralf. »Ich zweifle nicht daran, daß gesalzener Stockfisch der Seele zuträglich ist; aber den Magen beschwert er sehr, besonders wenn man ihn täglich dreimal essen muß.«

»Danke Gott, daß du Stockfisch zu essen hast und nicht als ein nackter Wilder auf irgend einer Südseeinsel lebst, wo du dich wie ein Tier von Gräsern nähren müßtest.«

»Ich esse lieber Stockfisch als geräucherten Seepapagei«, bemerkte Jens, der jüngere Bruder, der an einem Pfeifenkopfe schnitzte. »Geräucherter Seepapagei macht mich seekrank; er schmeckt wie Lebertran.«

Sigurd lächelte, streichelte Jens zärtlich den Kopf und trat dann in die Hütte.

»Du solltest nicht so mit dem Vater sprechen, Thoralf«, begann Jens mit überlegener Würde, denn die Liebkosung hatte ihn stolz und glücklich gemacht. »Vater arbeitet so angestrengt und mag niemand unzufrieden sehen.«

»Das ist es eben, was mich unzufrieden macht. Vater arbeitet so angestrengt und ist kaum imstande, die Not von der Schwelle fernzuhalten. Wenn er in einem anderen Lande so emsig arbeitete, so könnte er im Wohlstand leben; in Amerika würde er wohl gar ein reicher Mann werden.«

Dieses Gespräch fand an einem Spätherbsttage vor einer Fischerhütte der nordwestlichen Küste Islands statt. Der Wind blies hastig vom eisumgürteten Pole her und es gehörte ein besonders lebhaftes Temperament dazu, nicht vor Kälte blau zu werden. Das Meer, das nur wenige hundert Schritte entfernt lag, brüllte wie ein wildes Tier, schüttelte seine weiße Schaummähne und schleuderte sie gegen die dunklen Wolken. Mit jedem neuen Windstoße flog eine Menge Salzwasser zischend in die Luft und umwirbelte den Schornstein, dessen Windseite von getrockneten Salzniederschlägen bereits ganz weiß war. Auf dem moosbedeckten Dache lagen kreuz und quer große Stücke Treibholz, mit Steinen beschwert, und an den Außenwänden der Hütte hingen an Holznägeln ganze Reihen von Fischernetzen.

»Wenn es so weiterstürmt,« bemerkte Thoralf, den wetterkundigen Blick auf den dunklen Horizont gerichtet, »werden wir heute nicht fischen können, und Mutter sagt, daß die Vorratskammer fast leer ist.«

»Ich wünschte, der Wind brächte uns einen Engländer oder sonst jemanden her,« entgegnete Jens; »die Engländer haben immer so viel Geld und kaufen alles, was sie sehen.«

»Wenn du dir schon jemanden wünschest, warum nicht lieber einen Amerikaner? Die Amerikaner haben ganze Gebirge von Gold, und es ist ihnen gleichgültig, was sie damit machen.«

»Nun gut, laß uns einen oder gleich mehrere Amerikaner herbeiwünschen, damit wir einen gemütlichen Winter haben. Doch ich fürchte, daß die Jahreszeit schon zu weit vorgerückt ist, als daß wir noch Fremde erwarten könnten.«

Die beiden Knaben plauderten in dieser Weise weiter, während sie an Holzschnitzereien arbeiteten, die sie an ausländische Reisende zu verkaufen gedachten. Thoralf war sechzehn Jahre alt, hochgewachsen, aber rundschultrig, weil er schon im zarten Alter angestrengt arbeiten mußte; doch konnte man ihn trotz seiner eckigen, wettergebräunten Züge und seines frühreifen Aussehens einen schmucken Burschen nennen. Jens zählte erst vierzehn Jahre und war der Liebling der Mutter. Isländische Mütter sind so geartet, daß sie, wenn eines ihrer Kinder schwächer und kränklicher ist als die anderen, und dieses demzufolge ihrer Zärtlichkeit in höherem Maße bedarf, fähig sind, den Schwächling den übrigen Kindern vorzuziehen und ihm die erdenklich sorgfältigste Pflege angedeihen zu lassen. Weil Jens engbrüstig war und neben seinem aufgeschossenen kräftigen Bruder so klein und schmächtig aussah, überhäufte ihn seine Mutter mit Liebkosungen und Aufmerksamkeiten.

Der Sturm tobte die ganze Nacht um die Hütte; die Fenster klirrten, die Wände knarrten in ihren Fugen und die Türen schienen aus ihren Angeln gerissen zu werden. Von Zeit zu Zeit kam ein Windstoß heulend durch den Schornstein und wirbelte die Asche vom Herde gleich grauen Schneeflocken durchs Zimmer. Natürlich war das Feuer ausgelöscht, aber die tanzende Asche klatschte wie strömender Regen gegen die Wände, drang in die Schlafkabinen und puderte die Köpfe der Insassen. In Island besitzen nur sehr wohlhabende Leute besondere Schlafzimmer. Alle anderen ziehen sich für die Nacht in viereckige kleine Verschläge zurück, die in die Wand des Wohnzimmers eingefügt und mit Schiebetüren versehen sind. Man entkleidet sich hinter diesen Türen und schiebt dieselben, sobald das Licht ausgelöscht wird, zurück, um frischer Luft Einlaß zu gewähren.

In einem solchen Verschlage befanden sich die beiden Knaben und lauschten dem Brausen des Sturmes. Thoralf versuchte, sich sanft aus der Umarmung seines ängstlichen Bruders zu befreien und schlummerte bald ein. Jens lag jedoch mit weitgeöffneten Augen da und starrte ins Dunkel; dann und wann schob er die Tür zur Seite und streckte den Kopf hinaus, bis der Aschenregen ihn zwang, ganz und gar unter die Schaffelldecke zu schlüpfen. Als er das letztemal seinen Mut zusammenraffte, um auszuspähen, schauerte er zusammen, denn es sah ringsum sehr einsam und trostlos aus. Immerfort klangen ihm die Worte seines Vaters ironisch in den Ohren: »Island ist das schönste Land unter der Sonne!« Zum erstenmal in seinem Leben begann er sich zu fragen, ob sein Vater sich nicht irre und von Vaterlandsliebe verblendet sei. Aber er bereute seine Zweifel sogleich wieder und lispelte, wie um sich selbst zu überzeugen, jenen patriotischen Ausspruch vor sich hin, bis auch er endlich einschlief.

Es war stockfinster, als er von seinem Vater, der sich über ihn beugte, geweckt wurde.

»Schlafe nur weiter, mein Kind,« sagte Sigurd; »ich wollte nicht dich, sondern deinen Bruder wecken.«

»Was gibt's, Vater? Was ist geschehen?« fragte Jens, sich im Bette rasch aufrichtend und die Asche aus den Augen reibend.

»Wir sind eingeschneit«, entgegnete der Alte ruhig. »Es muß schon um neun Uhr herum sein, und noch dringt kein Lichtstrahl durchs Fenster. Ich möchte, daß Thoralf mir die Tür öffnen hilft.«

Thoralf erwachte und beeilte sich mit dem Ankleiden. Die Finsternis, die feuchte Kälte, die geschlossenen Fensterläden bedrückten ihn. Er hatte das Gefühl, als ob etwas Unangenehmes geschehen wäre oder geschehen sollte. Sigurd zündete ein Stück Treibholz an und befestigte es an einer Wandspalte. Der Sturm schien sich gelegt zu haben; eine unheimliche, grabähnliche Stille herrschte drinnen und draußen. Auf dem niedrigen Herde lagerte eine dünne Schneeschicht, die bei der unsteten Beleuchtung sternengleich glitzerte.

»Bringe die Schneeschaufeln, Thoralf,« sagte der Vater, »aber beeile dich, jede Minute ist kostbar.«

»Sie sind draußen unter dem Wetterdach«, antwortete der Knabe.

»Das ist schlimm, nun müssen wir unsere Fäuste gebrauchen.«

Nur mit großer Anstrengung gelang es den beiden, die Tür, die nach außen zu öffnen war, ein wenig aufzustoßen. Der Sturm hatte den Schnee in solchen Massen herangeweht, daß es vergebliche Mühe schien, weiter gegen die feste, hohe, weiße Wand, die ihnen den Weg verstellte, anzukämpfen.

»Unsere Anstrengungen sind ganz zwecklos, Vater; wir müssen mindestens den ganzen Tag dazu verwenden. Laß mich lieber durch den Schornstein kriechen.«

»Aber du könntest im Schnee stecken bleiben und elend zu grunde gehen«, wendete Sigurd besorgt ein.

»Ich glaube nicht. Stelle dich auf den Herd, damit ich auf deine Schulter klettern kann«, drängte Thoralf.

Widerwillig und zögernd willfahrte Sigurd diesem Verlangen seines Sohnes, der sich mittlerweile auf den Rücken des Vaters geschwungen hatte und nun die Füße auf dessen Schulter stemmte. Er zog seine gestrickte Wollmütze über Augen und Ohren, um diese vor dem herabfallenden Ruß zu schützen, und suchte dann vorsichtig mit den Fußspitzen die vorspringenden Stellen in der Wand. Er hatte bald einen sicheren Halt gefunden und schwang sich dann kühn durch den Schornstein aufwärts, bis er mit seinem rußigen Kopfe die Schneedecke durchbrach. Ein Getöse wie von tausend heulenden Wölfen stürmte auf seine verwirrten Sinne ein; der Wind kreischte, brüllte, tobte und fegte ihn fast weg und die Kälte schnitt ihm wie scharfe Peitschenhiebe ins Gesicht.

»Gib mir meinen Schafspelz!« schrie er durch den Schornstein in die Stube hinunter. »Der Wind macht sonst jeden Blutstropfen in mir erstarren.«

Mittels einer langen Stange wurde ihm der gewünschte Rock gereicht, den er, auf der Schornsteinkante sitzend, mit vieler Mühe anzog und fest zuknöpfte. Dann lüftete er die Mütze ein wenig und setzte Augen und Nasenspitze der eiskalten Luft aus. Das verursachte ihm wohl eine ziemlich schmerzhafte Empfindung; doch wie das ändern? So weit sein Blick reichte, war alles weiß.

Der Wind wirbelte den Schnee in dichten Flocken bald hoch in die Luft, bald hinunter zur Erde. Große, trichterartige Schneesäulen tanzten auf dem Abhang des Hügels und verschwanden dann am dunklen Horizont. Der Anblick war für den Knaben keinesfalls einladend; doch ließ er sich, von Kindheit auf gewöhnt, mit Gefahren zu kämpfen, nicht leicht entmutigen. Nach reiflicher Überlegung kletterte er über den Schornstein und rutschte in der Richtung des Wetterdaches hinab. Er würde viel tiefer gelangt sein, wenn er nicht die Vorsicht gebraucht hätte, gegen den Wind zu rutschen. Als er sicher zu sein glaubte, den erwünschten Punkt erreicht zu haben, spreizte er die Beine und Arme, um nicht weiterzugleiten. Die Außenlinie des Schnees deutete ihm den Eingang des Schuppens an und er kroch an der Dachkante entlang bis zur richtigen Stelle.

Der tapfere Junge, der, vom Kopf bis zum Fuß mit Schnee bedeckt, mehr einem Eisbären als einem Menschen ähnlich sah, bereitete sich auf einen mühsamen Abstieg vor. Er richtete sich auf und sprang dann mit aller Macht hinunter, denn er hoffte, durch die eigene Schwere einige Fuß tief zu sinken. Zu seinem Erstaunen war das Ergebnis ein viel günstigeres; der Schnee gab unter seinen Füßen nach wie Eiderdunen, und Thoralf stürzte kopfüber in eine weiße Höhle gerade vor dem Eingang des Wetterdaches. Der Sturm hatte den Schnee windwärts getrieben und ihn hier an der Leeseite nur lose umhergestreut, so daß unter der hervorstehenden Traufe ein beträchtlicher Raum unbedeckt blieb.

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Thoralf erhob sich, trat ohne Schwierigkeit in den Schuppen, füllte einen Korb mit Torfstücken und befestigte denselben mit Achselbändern auf seinem Rücken. Sodann machte er sich daran, mit einer Schneeschaufel den Weg zum nächsten Fenster zu bahnen, was bei der kurzen Entfernung nicht sehr mühsam war. Das Fenster wurde geöffnet, der Torf, zwei Schaufeln und zwei Paar Schneeschuhe (für den Notfall) hineingereicht. Der Knabe, der von der Anstrengung einen Wolfshunger bekommen hatte, beeilte sich, denselben Eingang zu benützen. Dabei kam er auf den Gedanken, daß er sich die halbe Mühe erspart haben würde, wenn er statt vom Kamin gleich vom Fenster aus seine Expedition unternommen hätte. Er hatte eben irrtümlich vorausgesetzt, daß die Schneemassen überall so fest aufeinandergehäuft seien wie vor der Tür. Die Mutter, welche die aufregende halbe Stunde damit verbracht hatte, den kleinen Jens zu erwärmen, zündete nun rasch ein Feuer an und machte Kaffee; Thoralf bedurfte keiner Aufmunterung, um dem Frühstück Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, trotzdem es, wie alles auf Island, nach Salzfischen schmeckte.

Fünf Tage waren bereits verstrichen und der Sturm wütete noch immer mit ungeschwächter Kraft. Die Zugänge zum Ozean waren abgeschnitten und mit ihnen auch alle Lebensmittel. Der letzte Rest Mehl mußte zu Brot verarbeitet werden und vom gesalzenen Stockfisch, der sonst in langen Reihen von der Zimmerdecke herabhing, war nur noch ein kleines, mageres Exemplar übriggeblieben. Die Eltern saßen sorgenvoll am Herde. Der Vater las in seinem Gesangbuche, die Mutter streichelte den Kopf ihres jüngsten Sohnes; Thoralf, der an seinem ewigen Pfeifenkopf – einem dicken, kurzbeinigen Türken mit einem ungeheuren Schnurrbart – schnitzte, blickte von seiner Arbeit auf und fragte plötzlich: »Vater! wäre es dir lieb, zu verhungern?«

»Der Himmel wird uns davor bewahren, mein Sohn«, entgegnete der Alte voll Gottvertrauen.

»Aber nur dann, wenn wir ebenfalls versuchen, uns davor zu schützen«, bemerkte der Knabe ernst. »Wir können nicht wissen, wie lange der Sturm noch anhält und es wäre besser, wenn wir nach Lebensmitteln suchten, solange wir noch kräftig sind, statt zu warten, bis der Hunger uns geschwächt hat.«

»Was glaubst du, daß ich tun soll?« fragte der Alte traurig. »In diesem Wetter aufs Meer zu gehen, wäre sicherer Tod.«

»Das ist richtig; aber wir könnten versuchen, auf Schneeschuhen die ›Papstnase‹ zu erreichen und dort Papageitaucher oder Möwen zu jagen oder mit unseren Schlingen zu fangen. Ich bin zwar, wie du weißt, kein besonderer Freund dieser Kost.«

»Warten wir, mein Sohn, warten wir; für heute reichen unsere Lebensmittel noch aus, und bis morgen mag sich der Sturm gelegt haben, so daß wir ohne Lebensgefahr fischen gehen können.«

»Wie du meinst, Vater«, erwiderte der Knabe, durch des Alten Zögern etwas verstimmt; »aber wenn du einen Blick aus dem Schornstein tust, wirst du dich überzeugen, daß der Horizont so schwarz ist, als ob es noch eine Woche fortstürmen würde.«

Statt den Rat Thoralfs zu befolgen, ging Sigurd zum Bücherschrank, nahm einen lateinischen Livius heraus und begann eifrig zu lesen. Zeitweilig suchte er im Lexikon, das er aus der öffentlichen Bibliothek zu Reikjavik geborgt hatte, nach der Erklärung eines Wortes.

Obzwar nur ein armer Fischer, war Sigurd Sigurdson doch ein halber Gelehrter. An den Winterabenden hatte er Lateinisch und Griechisch gelernt. Auf Island sind die Leute gezwungen, ihre Abende daheim zu verbringen. Seit dem Jahre 1876, wo amerikanische Gelehrte ihnen zur Feier des tausendjährigen Bestehens der Nation eine reichhaltige Bibliothek geschenkt hatten, bildet die Lektüre ihren Hauptzeitvertreib. Auf Sigurd Sigurdson übten die Bücher eine große Macht aus; seine Vorliebe für Homer und Livius veranlaßte ihn oft, an Tagen, an denen er seine Netze hätte auswerfen können, zu Hause zu bleiben und lieber zu lesen. Thoralf betrachtete Griechisch und Latein als einen sträflichen Luxus, den seiner Ansicht nach kein Familienvater pflegen dürfe. Er hielt dies »Laster« für die Hauptursache, weshalb sie immer arm und dem Verhungern ausgesetzt bleiben mußten, wenn schlechtes Wetter sie am Fischen verhinderte.

Am nächsten Morgen – dem sechsten seit dem Ausbruch des Sturmes – erklomm Thoralf seinen Beobachtungsposten auf der Schornsteinspitze und sah zu seinem Entsetzen, daß seine Voraussetzung richtig gewesen war. Es schneite zwar nicht mehr, aber der Wind blies heftiger denn je und die Kälte war grimmig.

»Willst du meinen Rat befolgen oder nicht, Vater?« fragte Thoralf, als er wieder in die Stube zurückkehrte. »Unser letzter Fisch ist bereits aufgezehrt und das letzte Brot wird bald nachfolgen.«

»Ich will mit dir gehen, mein Sohn«, entgegnete Sigurd und legte zögernd den Livius beiseite. Er hatte gerade zum hundertsten Male von der Vertreibung der Tarquinier aus Rom gelesen und sein Herz war von Mitleid und Begeisterung erfüllt.

»Da hast du deinen Rock, Sigurd«, sagte sein Weib und half ihm in den großen Schafspelz.

»Und hier sind deine Schneeschuhe, deine Pulswärmer und deine Mütze!« rief Thoralf, den Moment ausnützend, in dem der Vater zum Handeln gestimmt schien.

Wie Eskimos bis zu den Augen vermummt, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, in den Händen lange, mit Roßhaarschlingen versehene Stangen tragend, zogen die beiden auf ihren Schneeschuhen aus. Der Wind wehte heftig und raubte ihnen den Atem; sie mußten wie das Schiff im Sturm im Zickzack hin und her lavieren. Obgleich die gesuchte »Papstnase« – ein Vorgebirge – nur ungefähr anderthalb Kilometer entfernt war, obgleich die beiden die genaueste Ortskenntnis besaßen, verirrten sie sich zweimal und sie mußten sich von Zeit zu Zeit in den Schnee legen, um Atem holen zu können und ihre der Kälte ausgesetzten Gesichtsteile zu erwärmen. Erst nach zwei Stunden erreichten sie ihren Bestimmungsort. Zu ihrem unaussprechlichen Erstaunen schien der Ozean verschwunden und an seiner Stelle erstreckte sich, so weit das Auge reichte, eine unermeßliche Fläche aufgehäuften Eises, das in Gestalt phantastischer Türme, Schanzen und Säulen zum Himmel ragte. Der heftige Sturm hatte diese gewaltige Eiswüste vom Polargebiet hergetrieben. Nun waren die Leute von allen Seiten abgeschlossen und von allem menschlichen Verkehr abgeschnitten.

»Wir sind verloren, Thoralf«, murmelte der Vater, nachdem er eine Zeitlang in sprachlosem Entsetzen die aufgetürmten Eisberge angestarrt hatte. »Wir hätten ebensogut zu Hause bleiben können.«

»Der Wind, der uns das Eis gebracht, kann es ebensogut wieder wegtreiben«, tröstete der Knabe mit erzwungener Zuversicht.

»Ich kann kein lebendes Wesen entdecken«, sagte Sigurd betrübt nach einer Pause, die er benützt hatte, um ängstlich umherzuspähen.

»Ich auch nicht; aber wenn wir suchen, werden wir gewiß etwas finden. Ich habe ein Seil mitgebracht und will den Möwen und Seepapageien, die in den geschützten Felsspalten ihr Versteck haben müssen, einen Besuch abstatten.«

»Junge, bist du toll!« rief der Alte voll Entsetzen; »das werde ich nimmer zugeben!«

»Aber es gibt keine andere Hilfe«, erwiderte der Sohn entschlossen. »Hier, Vater, erfasse dieses Ende des Seiles, das andere werde ich um meinen Leib schlingen. Halte es fest und stemme deine Beine gegen den Felsen.«

Nach einigen Einwendungen gab Sigurd, wie gewöhnlich, dem mutigen und entschlossenen Knaben nach. Er streifte die Schneeschuhe ab, steckte sie mit der Spitze abwärts in den Schnee und wühlte mit den Füßen so lange darin, bis sie den harten Felsen erreichten; dann band er sich das Seil ebenfalls um den Leib, wand es mehreremal um seine Hände und gab schließlich bebenden Herzens das Zeichen zu dem gefährlichen Unternehmen. Das Vorgebirge stieg steil bis zu einer Höhe von 200 bis 300 Fuß über dem Meeresspiegel empor. Die an der Windseite gelegene, zackige Wand wies eine Menge eis- und schneebedeckter Risse und Spalten auf, während die der Leeseite schwarz und teilweise kahl war.

»Jetzt loslassen!« schrie Thoralf. »Aber einhalten, wenn ich am Seil zerre.«

»Sehr wohl!«

Langsam, recht langsam durch die Luft schwebend, bald sich einem unwiderstehlichen Angstgefühl hingebend, bald hoffnungsvoll, vorsichtig und tapfer, glitt Thoralf den Abgrund hinab, den nie zuvor ein menschlicher Fuß betreten hatte. In der freien Hand hielt er die Stange mit der Roßhaarschlinge. Von seiner Schulter herab hing eine fuchslederne Jagdtasche. Wachsam, mit weitgeöffneten Augen spähte er umher, jede Felsenritze durchforschend und mit der Stange alle Löcher untersuchend, in denen er vermutete, daß Vögel darin Zuflucht gefunden haben könnten. Von Zeit zu Zeit kamen Windstöße, die ihn gegen die Felswand geschleudert haben würden, hätte er nicht die Vorsicht gebraucht, mit Hilfe seiner Stange einen heftigen Zusammenstoß zu vermeiden.

Das Seil schnitt ihm furchtbar in den Leib und er suchte nach einem Stützpunkt für seine Füße, um es, wenn auch nur für einen Augenblick, zu lockern. Lange tastete und suchte er vergebens umher. Endlich erblickte er einen kahlen Vorsprung. Sofort gab er seinem Vater das verabredete Zeichen, schwang sich mit Hilfe der Stange auf das vorspringende Riff, das sehr schmal und, was noch weit schlimmer, von den Überbleibseln vieler Möwennester ungemein schlüpfrig war.

Thoralf setzte sich, ließ die Füße herabhängen und starrte auf den unermeßlichen Ozean hinaus, der in seiner eisigen Pracht wie ein Wald von glitzernden Türmchen und Minaretts aussah. Thoralf wußte, daß dieser Ort bei schönem Wetter den Schlupfwinkel unzähliger Seevögel bildete und folgerte, daß diese auch jetzt nicht weit entfernt sein konnten.

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Vorsichtig kroch er auf Händen und Füßen das Riss entlang, jedes Winkelchen aufmerksam prüfend. Seine Augen, die vom glitzernden Schnee halb geblendet gewesen, hatten ihre Sehkraft wiedererlangt.

Da – was war das?! Etwas schien sich unter dem Vorsprung zu bewegen. Er neigte sich vor und – erblickte eine ganze Reihe von Papageitauchern. Einige saßen aufrecht wie Soldaten, als ob sie entschlossen seien, der Gefahr zu trotzen; andere wieder in Gruppen zusammengekauert und trübselig dreinblickend. Eine Anzahl lag tot am Fuße des Felsens; ob sie dem Hunger und der Kälte erlegen oder als Opfer in dem heftigen Kampfe um ein Plätzchen gefallen waren, konnte Thoralf nicht unterscheiden.

Der Anblick genießbarer Vögel entzückte ihn, obgleich die Papageitaucher ein recht armseliges Essen sind; er senkte langsam seine Stange, warf die Schlinge um den Hals eines großen, militärisch aussehenden Tauchers und zog ihn mit raschem Griff in die Höhe. Der Vogel schlug einigemal mit den Flügeln um sich und verschied dann. Sein Verschwinden schien auf seine Gefährten nicht den geringsten Eindruck zu machen, denn sie gaben keinen Laut von sich und bewegten sich nur, um den leeren Platz auszunützen. Nummer zwei ergab sich mit derselben stummen Ergebung in sein Schicksal. Nummer drei, vier und fünf wurden ebenfalls beseitigt, ohne daß die Nachbarn die geringste Unruhe gezeigt hätten. Die Tiere schienen halb starr vor Hunger und ihre sonst so wachsamen Sinne waren betäubt und verwirrt.

Aber der Vogel Nummer sechs erhob, als er die Schlinge um den Hals fühlte, ein Geschrei, welches die ganze Kolonie in solchen Aufruhr versetzte, daß deren Mitglieder sich wild aufkreischend die Klippe herabstürzten und kopfüber aufs Eis fielen, wo sie entweder besinnungslos liegen blieben oder hilflos zappelten.

Durch alle Ritzen und Schlupfwinkel des Vorgebirges verbreitete sich der Wirrwarr; das Geschrei und Geschnatter mischte sich mit dem Sturmesbrausen und erfüllte die Luft. Im Nu umkreiste eine große Möwenschar kreischend das Haupt des Eindringlings und versuchte trotz des heftigen Windes, der sie unbarmherzig umherwirbelte, ihn mit den Flügeln ins Gesicht zu schlagen, so daß er Mühe hatte, sie mit seiner Stange abzuwehren.

Es lag nicht in seiner Absicht, einen der Vögel zu fangen; ganz zufällig jedoch geriet eine graue Möwe mit einem Fuß in die Schlinge. Sie machte den Versuch, sich zu befreien und erhob, als ihr dies mißlang, ein durchdringendes Geschrei, wobei sie mit ihren großen Flügeln verzweifelt um sich schlug.

Thoralf packte drei Vögel in die Jagdtasche und warf die anderen drei, nachdem er sie zusammengebunden hatte, über die Schulter; dann umschlang er das Seil, glitt langsam vom Felsen herab und wollte dem Vater das Zeichen geben, ihn heraufzuziehen, mußte aber zu seinem Erstaunen wahrnehmen, daß ihn sein lebender Gefangener, der am Ende der Stange zappelte, durch die Kraft seiner mächtigen Flügel viel tiefer hinunterschleuderte, als ihm lieb war.

Er hätte am liebsten die Möwe mitsamt der Stange weggeworfen; doch fiel ihm rechtzeitig ein, daß wenn er es täte, die Schwere seines Körpers ihn gegen die Felswand schmettern würde.

Eine seltsame, höchst unangenehme Empfindung durchzuckte seine Nerven, in seinen Ohren brauste und wogte es, als er, über dem schrecklichen Abgrund schwebend, hundert Fuß tiefer das zackige Eisfeld mit den scharfen, glitzernden Türmen erblickte. Kraft seiner großen Willensstärke zwang er sich, seine Gedanken zu sammeln und, die Zähne fest aufeinandergepreßt, klar zu denken. Die Möwe flatterte bald gegen Osten, bald gegen Westen und der arme Junge schwankte mit jeder ihrer Bewegungen gleich einem lebenden Pendel zwischen See und Himmel hin und her. Er begann schwindlig zu werden; aber wieder kam ihm sein starker Wille zu Hilfe; er starrte standhaft bald nach der Spitze der »Papstnase« hinauf, bald nach einem anderen vorspringenden Riff hinunter, um seine Augen und seine Sinne an den Anblick zu gewöhnen.

Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, heftig an dem Seil zu zerren und nun wartete er, von den starken Armen des Vaters in die Höhe gezogen zu werden. Zu seinem Entsetzen erfolgte keine Antwort auf das Zeichen. Er wiederholte dieses ein-, zwei-, dreimal und verspürte wohl einen leichten Ruck des Seiles, aber keine Bewegung nach aufwärts. Da blieb dem tapferen Knaben das Herz fast stillstehen und sein Mut drohte ihn zu verlassen. »Vater!« schrie er verzweiflungsvoll, »warum ziehst du mich nicht hinauf?«

Der Ruf verlor sich in dem heulenden Winde und keine Antwort erfolgte. Thoralf erfaßte das Seil noch einmal mit der einen freien Hand und erwog die Möglichkeit des Kletterns; aber die elende Möwe schien mit jedem Augenblick ihre Fluchtversuche zu verdoppeln und verhinderte ihn dadurch, seine Hände zu gebrauchen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, sich den Schädel am Felsen zu zerschmettern. Etwas wie der Klang eines rauhen, unterdrückten Rufes klang an sein Ohr. Er richtete seinen Blick in die Höhe und sah über dem Rande des Abgrundes den vorgeneigten Kopf seines Vaters.

»Der Strick droht zu reißen,« schrie Sigurd, »ich habe ihn an den Felsen gebunden!«

Thoralf erkannte seine Lage sofort. Infolge der schwingenden Bewegung, die sowohl durch den Wind als auch durch den Kampf mit der Möwe hervorgerufen wurde, hatte sich das Seil an den scharfen Felskanten abgeweht. Nun sagte er sich, daß sein Leben keinen Groschen mehr wert sei. Mit dem Erwachen dieses Bewußtseins verließ ihn die Aufregung und eine große Ruhe bemächtigte sich seiner. Er schien der Ewigkeit von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und wollte, da er sich selbst nicht mehr zu helfen wußte, wenigstens sein Herz stählen, um dem Tode wie ein Mann und ein echter Isländer zu begegnen.

»Ich versuche, das Seil unter der abgeriebenen Stelle zu erfassen«, hörte er seinen Vater rufen, als der Wind sich wieder einen Moment legte.

»Versuche es nicht,« antwortete der Knabe, »denn allein kannst du es doch nicht. Laß mich lieber auf den tiefergelegenen Vorsprung hinuntergleiten; dort will ich stillsitzen, bist du Hilfe geholt hast.«

Der Alte, gewohnt, des Sohnes Rat zu befolgen, ließ ihn vorsichtig zehn bis zwanzig Fuß tiefer hinab, bis er sich in gleicher Linie mit einem abschüssigen Riff befand, das breiter war als dasjenige, auf dem er zuerst Fuß gefaßt. Aber – o Schrecken! Der Vorsprung ragte nicht genügend hervor, um mit den Füßen erreicht werden zu können! Das schon stark durchwehte Seil konnte jeden Augenblick reißen – entsetzlicher Gedanke! In dieser Not durchkreuzte eine Idee sein Hirn. In einer lebhaften, kräftigen Bewegung warf er die Stange von sich, worauf seine eigene Schwere ihn mit solcher Macht einwärts gegen den Vorsprung schleuderte, daß er sicher auf demselben landete.

Zum Glück war Thoralf sehr warm gekleidet, sonst hätte er die schrecklichen Stunden, die er nun auf dem Riff sitzend zubringen mußte, nicht ertragen können. Den ganzen Nachmittag hörte er das Stöhnen und Heulen des Windes, der ihn mit seinem eisigen Atem durchkältete. Sein erfinderischer Geist verließ ihn auch in dieser ungemütlichen Lage nicht. Um sich ein wenig zu erwärmen, band er einen der Vögel wie ein Tuch um seinen Hals, wobei er die Füße und den Kragen desselben zu einem Knoten ineinanderschlang. Die weichen, dichten Federn verschafften ihm ein behagliches Gefühl, trotzdem er sich bewußt war, daß jede Stunde seine letzte sein könne. Wenn er es nur zuwege brachte, sich die Nacht über wach zu erhalten! So allein hatte er Aussicht, den Morgen zu erleben! Um dies zu erreichen, faßte er einen sinnreichen Plan. Er öffnete den Schnabel des Papageis, der seinen Hals erwärmte, riß den unteren Teil ab und gab dem oberen, der scharf war wie ein Messer, eine derartige Stellung, daß er ihn unfehlbar ins Kinn schneiden mußte, wenn er einnickte; dann lehnte er sich an die Felswand, an seine Mutter und die warme Kaminecke daheim denkend. Der Wind schien ihm dieses Gedenken übelzunehmen, denn er trieb ihm sofort einen so schneidenden Windstoß ins Gesicht, daß Thoralf seine Nase in die flaumige Brust des Papageitauchers vergraben mußte, um den heftigen Schmerz zu lindern. Die Nacht fing bereits an, sich über See und Land auszubreiten, nur hie und da wurden noch weiße Türme aus dem Dunkel sichtbar, die Thoralf, um seine Gedanken zu beschäftigen, zu zählen begann.

Plötzlich schien einer der Türme sich zu bewegen, dann noch einer und wieder einer. Der Knabe fürchtete, daß die anhaltende Aufregung ihn seines Verstandes beraubt hatte. Auch der Wind wehte nach einigen eisigen, heftigen Stößen sanfter und ruhiger. War es möglich, daß er all das nur träumte? War es vielleicht schon die Nähe des Todes? Oder war er gar schon tot und schwebte durch diese fremdartige, eisige Umgebung in eine bessere Welt?

All diese Vorstellungen durchkreuzten sein Hirn, doch verwarf er sie bald wieder als unmöglich, denn er kratzte sein Gesicht mit der Kralle eines Tauchers, um sich zu vergewissern, daß er wirklich wach sei. Es war nicht zu bezweifeln: er war wach! Noch einmal richtete er sein Auge auf die geisterhaften Türmchen und Türme und – ein kalter Schauer durchrieselte seinen Körper – sie bewegten sich noch immer. Plötzlich glaubte er ein Geschoß schwerer Artillerie, gefolgt von einer Salve leichteren Musketenfeuers, zu hören und ein knirschendes, knarrendes, krachendes Geräusch, als ob der ganze Ozean von Glas wäre und in Stücke zersplitterte. ›Wie,‹ dachte Thoralf, ›wenn das Eis jetzt bräche!‹ Die Aufklärung des gespensterartigen Panoramas lag klar wie der Tag vor ihm. Der Wind hatte sich südostwärts gedreht und trieb nun die riesigen Eisstücke wieder fort. Mehrere Stunden lang – er wußte nicht, wie viele Stunden es waren – beobachtete er das herrliche Schauspiel bei den fahlen Schein des Nordlichts, das um Mitternacht quer über dem Himmelszelt zu schimmern begann und den nördlichen Horizont beleuchtete. Er fand den Anblick so interessant, daß er darüber seine Erschöpfung vergaß. Allmählich jedoch, als das Morgenrot immer mehr erblaßte und Wolken im Osten heraufzogen, überkam ihn eine grenzenlose Mattigkeit. Unter sich sah er das dunkle Gewässer; die glitzernden Eisblöcke verschwanden rasch in der Dämmerung, um den Schiffen und ihrer Mannschaft, die ihnen in den Weg kommen mochten, Tod und Unheil zu bringen.

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Es war schrecklich, wie schneckenartig langsam die Stunden dahinschlichen! Thoralf schien es, als ob eine Woche verflossen sei, seitdem sein Vater ihn verlassen. Er kniff sich, um munter zu bleiben; aber es nützte nichts, denn die Augenlider fielen ihm zu und der Kopf sank ihm schwer auf die Brust. Da, o Schrecken! was war das? Der Knabe hatte den scharfen Schnabel des Papageitauchers vergessen! Er faßte mit der Hand nach dem Kinn und fühlte etwas Warmes und Klebriges an seinen Fingern – Blut. Mehrere Minuten vergingen, bis er es zu stillen vermochte; die Wunde war größer, als es in seiner Absicht gelegen; aber sie beschäftigte ihn und hielt ihn wach, was für ihn eine Lebensfrage war. Nach langem, verzweifeltem Kampf mit seiner Schläfrigkeit sah er endlich den Morgen im Osten anbrechen. Es waren nur blasse Schatten von Licht, aber für den ermatteten Knaben, dem in den schrecklichen Stunden Tod und Gefahren ins Gesicht gestarrt, schienen sie eine Bürgschaft für seine Rettung. Tränen traten ihm in die Augen, aber nicht Tränen der Mutlosigkeit, sondern Tränen der Dankbarkeit dafür, daß er die schwere Prüfung überstanden habe. Nach und nach breitete sich das Licht wie ein matter, grauer Schleier über den östlichen Himmel aus und im Ozean spiegelten sich bereits die ersten schwachen Strahlen der ausgehenden Sonne. Der Wind wehte milde, Tausende von Vögeln, die das Eis in den Felsspalten gefangengehalten hatte, flatterten in die Höhe und tauchten dann mit wildem Geschrei in die Flut hinab. Man konnte es sich schwer vorstellen, wo sie alle gesteckt, denn die Luft schien von ihnen erfüllt zu sein, alle Riffe wimmelten, sie kämpften, kreischten und schnatterten wie ein wehklagender Volkshaufen während einer Hungersnot. Infolge dieses ohrenzerreißenden Lärms überhörte Thoralf die Stimme, die ihm von der Felsspitze zuschrie. Seine Sinne waren von dem Gekreisch und der überstandenen Aufregung halb verwirrt; doch plötzlich drangen einzelne Laute an sein Ohr, er horchte und glaubte einen ganzen Stimmenchor zu vernehmen. Er versuchte nach oben zu blicken, aber der vorspringende Fels verhinderte jede Aussicht und er bemerkte nur ein dickes Seil, das sich ihm langsam näherte. Mit der ganzen Kraft seiner Lungen antwortete er auf die Zurufe von oben, worauf er ein wildes, triumphierendes Freudengeschrei durch die Luft brausen hörte. Er erkannte an den Stimmen Hundings Söhne, die auf der anderen Seite des Vorgebirges wohnten, und wußte, daß sie auch ohne Mithilfe ihres Vaters Kraft genug besaßen, um eine dreimal so schwere Last wie ihn, in die Höhe zu ziehen. Die einzige Schwierigkeit bestand jetzt darin, das Seil zu erfassen, das er mit den Händen noch nicht erreichen konnte.

»Schüttelt das Seil heftig!« schrie er nach oben. Im nächsten Augenblicke geriet dasselbe in wellenförmige Schwingungen und nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, der Schlinge habhaft zu werden. Diese um den Leib zu befestigen und das Zeichen zum Aufzug zu geben, war das Werk einer Minute. Die Söhne Hundings stießen jubelnde Hochrufe aus, denn Thoralf schwebte, von ihren starken Armen gezogen, immer höher, immer höher zwischen den zackigen schwarzen Wänden empor, bis er endlich das Ziel erreichte. Das erste, was er sah, war das bleiche, abgehärmte Antlitz seines Vaters und daneben starrten ihm noch ein Paar kummervolle Augen entgegen. Wem gehörten sie doch an? Seiner Mutter! Eine ihm bisher fremdartige, köstliche Wonne erfaßte ihn, seine Augen füllten sich mit Tränen; er wußte nicht, was mit ihm geschah, aber ein unbeschreibliches Glücksgefühl zog in seine Brust ein. Ein gewaltiges Freudengejauchze durchbrauste die Luft – die Isländer verstehen sich auf derlei – aber es drang nur ganz schwach auf seine verwirrten Sinne ein. Etwas Kaltes berührte seine Stirne, es schien Schnee zu sein; dann fühlte er warme, herabfallende Tropfen auf seinem Gesicht, es waren Tränen. Er schlug die Augen auf und fand sich in den Armen seiner Mutter. Der kleine Jens schluchzte laut auf vor Freude und bedeckte ihn mit Küssen, während sein Vater und die Söhne Hundings mit gekreuzten Armen danebenstanden und ihn freudig bewegt anblickten. – –

Der tapfere, junge Isländer war gerettet.

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