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Die Sturmwarnung hallte wie ein kaum beachteter Ruf die Küste entlang.
Die Ohren dieser Menschen waren zu sehr an die brausende Musik der Herbstnächte gewöhnt. Die letzte Nacht hatte nicht lauter getobt als manche andere vor ihr.
Der Wind kam auch steif vom Osten her und strich mehr an der Küste entlang als gegen sie heran. Und die weißen Schaumstreifen musterten das dunkle Wasser nicht in gleichen Linien mit dem Ufer.
Das düstere Gewölk raste in der Höhe enggedrängt durcheinander. Es war wie eine Menge, in der jeder an dem andern vorbei will, um selbst in den Vordergrund zu kommen. Die Wolkenbilder wechselten jeden Augenblick ihre Stellung. Aber immer blieben sie gleich finster und gewaltig.
Die Sonne vermochte nicht einmal beim Tagesbeginn sich die kleinste Lücke zum Durchblick auf die Erde zu erobern. Die grauen, geballten Wolkenmassen standen vor ihrem Gesicht.
Bei dem lichtlosen Morgen füllte alle Zimmer im Hause ein karges, trübes Grau, das kaum den Namen »Tageshelle« verdiente.
Die Gesichter der Menschen erschienen in ihm bleich, verfärbt. Das Leben und Treiben hatte keine Frische. Es spielte sich gedämpft, nur unter dem Zwang der Gewohnheit ab.
Andree frühstückte allein. Auch er schien blassere Farben, ein fahles Aussehen zu haben. Aber sein Ausdruck zeigte, daß an diesem krankhaften Aussehen nur die Beleuchtung schuld sei. Er blickte fröhlich und fest vor sich hin, wie einer, der weiß was er will und muß.
Bruhn, der ihm den Tee auftrug, fragte, ob er nicht Licht anzünden solle, man könne ja kaum deutlich sehen.
Aber Andree war's gleichgültig. Er brauchte kein Licht.
Er fragte nach »dem Herrn«. Und Bruhn berichtete, daß Herr Hagen gestern abend erst sehr, sehr spät wieder ins Haus gekommen sei und so krank ausgesehen habe, daß er, Bruhn, noch bedachte, ob er nicht den jungen Herrn wecken solle. Zu Abend gegessen habe der Herr gar nicht und heut morgen, nach dem Bad, nur eine Tasse Tee genommen.
Aber diese Mitteilungen schienen Andree nicht sehr zu beunruhigen.
Er lächelte gut, ja glücklich vor sich hin. Er bildete sich ein, daß er eine Lösung gefunden habe. Er hatte ein fast überlegenes Mitleid mit einer derartigen nervösen Reizbarkeit und Leidfähigkeit. Nun, Papa war eben ein Künstler! Und das war für Andree, bei allem Respekt, doch im tiefsten Grunde mit einem kleinen Nebenbegriff verbunden.
Er saß und guckte in die Zukunft hinein und sah sie so genau und so reizend beleuchtet, wie etwa ein Diorama, das extra zur Ergötzung der Zuschauer aufgebaut worden ist.
Und während er so saß, war ihm, als höre er über sich einen Schritt.
Da oben lagen, sich über Hagens Arbeitszimmer und einen Teil des Eßzimmers hinziehend, die Räume, die einst von seiner Mutter bewohnt gewesen waren. Das Schlafzimmer, dann das große Gemach, in dem sie während ihrer letzten Leiden gelegen und auch gestorben war. Dann das kleine, phantastisch ausgeputzte Liebesnestchen, daß Andree einst gehaßt hatte und das die beiden Glücklichen »unser Zimmer« zu nennen pflegten.
Andree hatte früher oft beobachtet, daß Hendrik Hagen diese Räume betrat, lange darin auf und ab wanderte, vielleicht in Gedanken an die Verlorene hingegeben, vielleicht über seine Arbeit sinnend.
In den letzten Wochen bemerkte Andree nicht ein einziges Mal, daß die Besuche in den von Erinnerungen geheiligten Räumen noch fortgesetzt wurden. Aber er dachte: Papa wolle nur, in Rücksicht auf den geschlossenen Frieden, seine Eifersucht schonen und gehe vielleicht immer »zu Mama«, wenn er – Andree – vom Hause abwesend sei.
Daß er jetzt gerade da oben den Schritt vernahm, war ihm wie eine Art Zeichen. Es schien so wunderbar dafür zu sprechen, daß sie beide von den gleichen Stimmungen bewegt seien.
Und ohne sich zu besinnen, tat Andree, was er noch nie getan: er suchte den Mann auf, gerade da, wo alles am lautesten von dem früheren Eifersuchtshaß zwischen ihnen sprach.
Er ging rasch treppan. Er öffnete die Tür.
Da war das Sterbezimmer. Die fade Luft der unbewohnten Räume füllte es, und die kornblumenblaue Decke auf dem Bett ohne Leinenzeug wirkte kahl und kalt. Alle Möbel sahen leer aus.
Andree ging weiter mit seinen raschen, hallenden Schütten ...
Nun öffnete er die Tür, die in den bunten Raum führte...
»Papa,« sagte er betroffen, »Gott – Papa ...« An dem Schreibtisch der Toten saß ein Mann und der starrte ihm entgegen ... mit einer furchtbaren Angst in den Blicken ... und alt und grau war sein Gesicht ...
»Hab ich dich erschreckt? Verzeih. Mein Gott, Papa – du siehst aber wirklich nicht gut aus.«
Hendrik Hagen stand auf.
»Ich bin nicht krank«, sagte er.
Hinter ihm, so daß sein graues Haupt sich gegen das dunkle Kleid der Frau auf dem Bilde scharf abhob, schimmerte das Gesicht der Toten von der Wand. Es sah voll gütiger Mütterlichkeit auf beide Männer.
Unwillkürlich suchte der Sohn das Auge der Mutter. Es schien ihm lebensvoll zu leuchten.
»Papa,« sagte Andree, »ich hörte dich hier oben. Ich hab's nie gewagt, dich hier zu stören. Wenn ich das heute tue, ist es, weil ich denke, ich kann gerade vor Mama bestehen.«
»Kannst du?« fragte Hendrik Hagen mit einem seltsamen Lächeln, »kannst du? ... Ich nicht! Nein – ich – nicht ...«
»Papa ...«
»Still ...«
»O ja – du kannst doch! Du hast so großmütig verzichten wollen. Und nun komme ich und sage dir: was du kannst, kann ich auch. Ich sehe, wie du leidest. Papa: ich trete zurück von Rote Heide ... du sollst es behalten ... du allein.«
Andree wurde ganz rot, als er das sagte. Er hatte sich den Entschluß sehr schwer abgerungen. Gestern abend auf dem langen, einsamen Strandspaziergang war er endlich einig mit sich geworden. Es war das erstemal in seinem Leben, daß er sich zumutete, ein wirkliches Opfer zu bringen. Und nach dem Entschluß wurde ihm das Herz so wunderbar freudig, er fühlte sich von einem unschuldigen und liebenswürdigen Stolz erfüllt. Der leuchtete ihm nun aus den Augen und stand als neue Schönheit auf seinem frischen Jünglingsangesicht.
Der grauhaarige Mann sah ihn tief an – lange – stumm ...
Er war erschüttert und suchte sich zu fassen.
»Ja,« fuhr Andree fort, »ein bißchen schwer wurde es mir. Das will ich nicht leugnen. Erst dachte ich, sozusagen um es zu mildern: ich kaufe dann Iserndorf. Aber das kann ich nicht. Selbst wenn du mich ganz ausgezahlt hättest. Ich hätte da zu hoch gesessen – es ist nichts für 'n jungen Mann, mit so schweren Lasten anzufangen. Na, über den Gedanken macht' ich dann einen Strich.«
Bei ihm verband sich immer das, was sein Herz bewegte, mit allen praktischen Lebensfragen. Aber weil die Wärme echt war und die Anschauungen immer vernünftig, so wirkte es nur gesund, wirkte wie Festigkeit, die gute Zuversicht gibt.
Nach einer kleinen Pause, in der er dem als unausführbar erkannten Gedanken doch noch einmal wehmütig nachschaute, seufzte er herzhaft und sprach dann abschließend, sich und dem andern eine fast feierliche Erklärung gebend:
»Aber gestern abend, als ich noch mal so ganz still für mich am Strand entlang ging, da fühlte ich: du mußt!«
»Da – da?« brachte Hagen heraus. Sein Atem ging fast keuchend.
Und dann kam es noch einmal matter, wie ein Nachhall nur:
»Da? ...«
Seine Blicke ließen nicht von dem jungen, glücklichstolzen Gesicht ...
Daß es lebte – daß er es noch sah ... daß es nicht still und weiß und kalt von wogenden Wassern auf und ab geschaukelt ward ...
Jauchzen hätte er mögen – weinen ... danken.
Und dieser ehrliche Wille, ein Opfer zu bringen – ihm – ihm!
Hendrik Hagen legte seine beiden Hände vor sein Gesicht ...
Und da sah der junge Mann etwas, das ihn mit Schauer, mit Andacht, mit Rührung – mit hilfloser Verlegenheit erfüllte ...
Er sah ihn weinen ...
»Papa«, schrie er auf und warf sich fest gegen ihn und umarmte ihn ...
Da lösten sich die Hände von dem entstellten Männergesicht ...
Hendrik Hagen schob den Sohn sanft von sich.
Er sah ihn wieder an – tief, gramvoll – mit den Augen der Liebe ...
Denn jetzt, jetzt, in dieser Stunde, fühlte er, daß er ihn liebte...
Und sein zitterndes Herz fragte: darf ich es noch – ich ...
Und er hörte wieder in seinem Ohr den dumpfen, platzenden Ton eines Schusses ... und die raschelnden, zischelnden Stimmen der dürren Blätter...
»Ich danke dir,« sprach er mühselig, »ich danke dir mehr, als du jemals ermessen kannst.«
Er legte seine Hand schwer auf das dunkle junge Haupt.
Andree sah ergeben und erwartungsvoll zu ihm auf.
»Und ich bitte dich, verzeihe mir.«
»Was hätte ich dir wohl zu verzeihen«, rief Andree feurig.
Ihm schien es in diesem von tiefster Bewegung erfüllten Augenblick, als hätte er immer nur Liebe erfahren, als hätten diese gramvollen, gütigen Blicke nie feindselig und haßvoll gesprüht, wenn sie den seinen begegneten. Er vergaß – sein junges, enthusiastisches Herz füllte sich gleich ganz und gar mit dem neuen Gefühl: er hat mich ja lieb! Er hat mich ja wirklich lieb ...
»Ja – vergib – frage nicht – nicht fragen ... oh ... nicht fragen ...«
Andree wollte verwirrt werden – verstand nicht diese dringende, heiße Qual in der Bitte... Da fuhr der andere aber schon fort:
»Und was beschlossen war, bleibt. Ich habe meinen Abschied schon genommen von diesem Stück Welt ...«
Andree wollte sprechen – die tiefe Schwermut dieser Worte traf sein Herz.
Hagen wehrte ihm ab.
Und da fühlte er, daß es gewiß klug sei, diesen leidenden, gefolterten Mann sich selbst zu überlassen.
Er umarmte ihn noch einmal, stumm, mit schonenden Gebärden.
Er suchte noch einmal zutraulich und liebevoll den tiefen, gramvollen Blick und begegnete ihm mit einem zuversichtlichen, tröstenden Ausdruck.
Und dann verließ er ihn.
Aber für ihn war mit der Ablehnung seines Verzichtes die Angelegenheit keineswegs abgeschlossen.
Er fühlte sich in seiner Opferwilligkeit so erhoben. Nun war er auch zäh in ihr.
Er beschloß bei sich, sofort den vertrauten Ratgeber auszusuchen, auch diesem seinen Entschluß zurückzutreten darzulegen und sogleich in die Stadt zu Berthold zu fahren.
Eine halbe Stunde nachher fuhr er auch schon in den grauen, windigen Tag hinein, Busekist auf dem Bock. Und Busekist sprach sich über das Wetter aus und die Dummheit der klugen Leute, die Stürme voraussagten, die nicht einträfen. Nach seiner, des erfahrenen Busekist Meinung, hatten sich »die Wettermacher« wieder mal gräßlich blamiert. In der Hauptsache traf aber seine Mißachtung den Mann, der das Wachower Wochenblatt schrieb und der ja woll gar nicht mehr wußte, was er alles für Lügen in die Zeitung setzen sollte. Andree sagte, daß er es immerhin recht stürmisch fände und daß es da, wo die Küste ihre Ufer gerade dem Osten zukehre, gewiß wild genug hergehe.
Na ja, meinte Busekist, irgendwo in der Welt sei wohl immer Sturm. Warnungen gingen einen aber bloß was an, wenn sie direkt für Rote Heide gälten. Während Andree sich bemühte, ihn zu belehren, wozu Busekist überlegen lächelte, holten sie mit ihrem Wagen das Arbeiterehepaar ein, daß die Kantine auf Neu-Wachow hielt.
Andree, immer voll Gutmütigkeit gegen alles, was es mühseliger im Leben hatte als er, ließ Busekist halten und fragte die Leute, ob sie in die Stadt wollten. Ja, sie mußten für ihre Kantine einkaufen. Nun, so sollten sie aufsteigen und mitfahren. Busekist fand es nicht standesgemäß, aber er mußte sich knurrend fügen und sah voll Hochmut immer an dem Mann vorbei, der sich schweigend und bescheiden neben dem bedeutenden Busekist hielt, während die Frau auf dem Sitz neben Andree ganz zutraulich auf die freundlichen Fragen des jungen Herrn antwortete.
Über die Landstraße jagte der Wind und in der Höhe wühlten die grauen Wolken. Eine Rabenschar, denen die rasch fahrende Luft das Federwerk zauste, flog in geschlossenem Flug vom kahlen Felde auf und zerstreute sich zu vielen kleinen schwarzen Pünktchen.
In gleichmäßiger Schnelle trabten die Füchse stadtwärts ... Der Mann, der einsam zurückgeblieben war, verließ das Zimmer, wo er die Tote gesucht hatte, als sei sie eine Lebende und könne ihn richten ...
Nicht zu der Frau, die er einst geliebt, hatte er seine Not getragen...
Nein, die Mutter hatte er gesucht – mit verzweifelter Seele die Mutter ...
Und nun dachte er müde:
»Hat sie verziehen? ...«
War es nicht die Liebe zu ihr, die ihren Sohn bewegt, hierher zu kommen und ihm seine junge, strahlende Großmut anzutragen...
Er konnte nicht mehr denken ... nicht mehr zurück und nicht voraus...
Eine seltsame Stille war in ihm. Als schliefe etwas Schweres, Großes im Grunde seines Wesens. Und davon ging eine so sonderbare Müdigkeit aus und erfüllte ihn ganz und machte seine Schritte mühsam.
Vielleicht war es körperlich.
Er entsann sich, daß er viele, viele Nächte nicht mehr wirklich geschlafen habe.
Seine Lider brannten ...
Ja, das war es. Schlaf – Schlaf. Und dann erst wieder denken. Das Leben ansehen – wie es nun war, werden würde ...
Er ging in sein Arbeitszimmer. Es war auch nur von dem kargen Licht des Tages mit fahler Helle erfüllt. Trübselig, freudlos. –
Er legte sich auf das lange, breite Sofa unter dem Bilde der toten Frau. Das Bild oben war so gütig in Mütterlichkeit. Dies, in weißen, schimmernden Farben, strahlte von zärtlichem Leben. Er sah nicht empor zu ihr...
Sie war tot ... tot ... Nicht mehr die, die er heiß geliebt ... nicht mehr die, die er verleugnete, weil sie vor seiner neuen Liebe stand ... Sie war nur noch die Mutter des Mannes, den er lieb hatte ... weil er lebte! Der ihm Gnade und Reichtum bedeutete, nur weil er noch lebte ...
Er schloß die Lider. Er dachte nichts als: ja, ich will schlafen ...
Lange lag er so. Vielleicht zwei Stunden – oder länger ...
Der Tag rückte vor ...
Dem müden Mann schien er ein Schlummerlied zuzurauschen. Es brauste in seinen Ohren – es pfiff in den Lüften – immerfort – – Die ganze Welt schien erfüllt von großen, dunklen Orgeltönen, die majestätisch heranwallten ...
Bis irgendwo ein Krachen und Klirren erklang und durchs Haus schütterte ...
Er fuhr auf ...
Er besann sich ...
Da kam Bruhn herein.
»Ach, Herr ... seit einer Stunde hat sich der Wind gedreht ... es ist Nordost geworden ... es ist furchtbar ... das ganze Dorf läuft zusammen ... wegen der Baustelle ...«
Hendrik Hagen ward ganz wach.
»Ist die gefährdet?«
»Ich weiß nicht. Es heißt so. Die Leute haben immer gesagt: es sei zu nah am Ufer.«
Er stand auf. Er hatte vergessen, daß er eben noch im Halbschlummer der Schwäche dagelegen ... Das heiße, gespannte Interesse eines, der im vertrauten Umgang mit der Natur steht, war in ihm wach.
Er sah sich nach seiner Mütze um. Bruhn hatte sie schon in der Hand. Er eilte hinaus. Und da vernahm er die großen, dunklen Orgeltöne, die so majestätisch durch seinen Halbschlummer wallten, lauter, gewaltiger ...
Sie rauschten durch die Luft, in stolzer Klangfolge – regelmäßig – einer erhabenen Ordnung gehorchend ...
Und vor dem Hintergrund dieser breiten Riesenmusik knatterten und krachten kleinere, lärmende Stimmen. Die ächzten in den Bäumen und klapperten von den Dächern und pfiffen um die Hausecken.
Hendrik Hagen ging über den Wirtschaftshof, durch den Park, durch das Dorf.
Hinter dem grünen Gatter kläffte ihn wieder der verärgerte Rattler an und ließ sich auch nicht von seinem Besitzer zur Ruhe verweisen. Nicht allein aus Respekt vor dem Herrn, sondern um selbst besser zu Wort zu kommen, schalt Dröge den Köter aus. Das von zahllosen Falten durchmusterte rötliche Gesicht des Bauern hatte einen höchst verweisenden Ausdruck. Der richtete sich gegen jedermann, unbestimmt, so ins allgemeine hinein. Denn Dröge fand es albern, daß man sich um das bißchen Sturm kümmere. Das kam nur wegen des Baus am Strand. Früher hatte kein Mensch Wirtschaft davon gemacht, wenn es um diese Jahreszeit mal toll wehte. Und es wurde nicht schlimmer als sonst, das wußte Dröge für gewiß, er hatte nicht das richtige Reißen gehabt.
Ganz besonders sprach aber Dröge seine Mißbilligung darüber aus, daß der Krüger soeben an den Bürgermeister telephoniert habe, als wenn der den Sturm still machen könne.
Geduldig hörte Hagen zu. Er sah dabei die Dorfstraße entlang, in deren Perspektive man fern das düstere, rasende Meer erblickte. Die Bewegung hatte von hier aus beinah etwas Künstliches. War so wühlend, wie wenn auf dem Theater die mit Wasser bemalte Leinwand von Maschinen gedreht wird.
Und jetzt ging mit schweren, steigenden Schritten ein älterer Mann mit vorgebeugtem Oberkörper quer über die Dorfstraße. Es war ein Mann mit einem harten Profil und einem rotgelben Bartfetzen unter der Lippe.
Hagen erkannte ihn gleich.
»Ist ein Wagen aus Iserndorf hier?« fragte er rasch.
Dröge nickte ruhevoll.
Die Herrschaften, so meinte er, wollten sich woll mal den Wellenschlag ansehen, wie so Herrschaften tun.
»Adieu«, sagte Hendrik Hagen und ging weiter – rasch – rasch –
Sie war da – sie war da – er sah sie wieder ...
Weiter wußte er nichts mehr.
Die Flamme in ihm loderte jauchzend auf ...
Sie verzehrte die Erinnerung an die letzten Tage und Stunden.
Er wußte nur das eine: sie wiedersehen.
Er verstand nur das eine nicht, warum er Tage gelebt hatte, ohne sie zu sehen.
Der Sturm preßte sich ihm entgegen. Er mußte mit geneigtem Oberleib sich dem Luftdruck entgegenstemmen. Es war, als ringe man mit einem mächtigen Wesen, das in bewußter Gegenwehr handle.
Brausend, brüllend kam das Geräusch der Wogen daher, die sich in toller Eile auf das Ufer stürzten.
Nun stand er auf der sanften Höhe des Geländes, am Rand des Dorfes, von dem aus sich der Strand langsam abwärts senkte, zerklüftet in kleine Sandbergzüge und weiße Talmulden.
Wie die schwarzen Wasser herantobten. Sie bäumten sich hoch auf, wie zum zielbewußten Wurf, ehe sie auf den Strand fielen.
Grauschwarz fegten die Wolken durch die Luft, gleich ungeheuren, abgerissenen Fetzen, die nur noch lose oben mit dem düstern Himmelsgewölbe zusammenhingen.
Links hinauf am Rande des Ackerbodens, den ein Knick säumte und an dem ein Weg sich entlang zog, die mütterliche Erde vom unfruchtbaren, gelbweißen Strand scheidend – links stand eine Gruppe von Menschen.
Hendrik Hagen ging dahin, während der Sturm versuchte, ihn gegen den Knick zu drängen ...
Er sah nach der Baustelle aus ... Das Gerüst war schon zerbrochen. Die Fahnenstange geknickt, das bunte Tuch hing kläglich und zerwühlt als greller Farbenfleck in den kahlen Büschen des Knicks.
Und wenn die Wogen mit ihrem verbrecherischen Stolz, hocherhobenen Hauptes, grünschwarzen Drachen mit schaumgeifernden Mäulern gleich, herankamen, legte sich ihr Leib auf das kleine bißchen Menschenwerk, was da begonnen war. Wenn sie dann zergingen und zerflossen, wurden auf einige Augenblicke die roten Mauerlinien sichtbar, die kreuz und quer im weißgrauen Strand wurzelten.
Und da stand die Baracke. Ihr schwarzes Dach glitzerte nicht mehr von Brillantpuder. Es sah tot und frostig aus. Der Mund des Schornsteins schickte keinen Rauchatem in die Luft.
Nun sah der Mann die eine ...
Sie und ihr Vater erkannten auch ihn. Sie versuchten ihm entgegenzugehen.
Der Sturm fuhr in ihr Kleid und drückte ihr den Stoff fest, fest gegen den schlanken Körper. Er zauste mit ihrem Haar, das ihr rauh und gelockert schon um den Kopf hing. Mit der erhobenen Linken hielt sie ihr Mützchen fest. Die wilde Luft peitschte gegen ihr Gesicht, so daß es von frischen Farben leuchtete. Und aus ihren Augen sprühte die Erregung über das gewaltige Schauspiel, das die Natur gab.
Sie sah aus wie die Jugend, der Mut, die Freude...
Ihr Vater, hoch, mager, vornübergeneigt, kam heran und auch in seinem stillen Träumergesicht war mehr Leben als sonst.
Er erzählte, daß sie ausgefahren seien, um ihn zu besuchen, nach seinem Befinden zu sehen, von dem Andree beunruhigt geschrieben. Unterwegs, dicht vor Rote Heide, habe ihnen ein Bauer erzählt, daß ein ungeheurer Wogengang sei Und den habe er doch beobachten wollen. Er sprach von seiner Freude, Hendrik Hagen wohl zu sehen. Er war ergeben. Und eine Art fast scheuer Verehrung leuchtete aus seinen Augen.
Aber Hagen hörte kaum. Es war auch nur möglich, sich zu verstehen, wenn man schrie.
Wozu Worte...
Er sah sie... Er nahm ihre Hand ... Er blickte ihr in die strahlenden Augen ...
Ihm war, als wache er nun aus einem schrecklichen Traum auf ... Als sei alles, was er gelitten, nur die Einbildung gewesen ... künstlich zusammengetragen ... aufgebaut, wie er sonst die Handlung eines Romans ausspann ...
Ganz wunderlich war ihm, als läge nicht ein Stück schmerzensreichen Lebens, als läge nur viel schwere geistige Arbeit hinter ihm.
Nun durfte er sich wieder der holden Wirklichkeit erfreuen.
Die Zärtlichkeit für Brita machte ihn glückselig.
Sie nickte ihm zu – kindlich ergeben, glücklich, ihn scheinbar wohl zu sehen, denn auch in sein Gesicht hatte der Sturm Farben gepeitscht ...
Auf ihrem Herzen aber, unter ihrem Kleid trug sie den Brief, in dem Andree zu ihr so bedeutungsvoll gesprochen ... Und sie hatte verstanden ... Und liebte diesen Mann, der ihr jetzt nur noch »Andrees Vater« war, nun noch mehr in töchterlicher Bewunderung ...
Sie standen schweigend nebeneinander. Die Gruppe der Arbeiter, ein paar Schritte von ihnen entfernt, blieb nicht in so erschauernder Stummheit dem brüllenden Ungeheuer gegenüber.
Sie beredeten es, daß man die Baustelle weiter zurücklegen müsse. Daß zum Glück nichts verloren sei, als drei Wochen Arbeit. Einige waren der Meinung, daß ein solcher Sturm nur alle paar Jahre käme, daß ein starkes Gebäude ihm trotzen könne, daß es klüger sei, die einmal gewählte Stelle beizubehalten. So redeten sie hin und her.
Und immer rasender ward das Meer und die schwarzgrünen Drachenleiber der Wogen bäumten sich immer drohender auf.
»Die Leute in der Kantine?« fragte Herr von Benrath.
Hagen verstand die Frage, weil eine deutende Handbewegung sie begleitete.
Er trat an die Arbeitergruppe heran. Er fragte.
Oh, die, die seien in der Stadt.
Und mit schwerem Rauschen schwollen die Wasser heran und warfen sich jetzt gegen das kleine, gestreckte Haus mit dem schwarzen Dach. Der krachende Widerhall des Anwurfs der Wassermenge gegen das hölzerne Gebäude schallte als hohler Ton durch die brausende Musik der Lüfte.
Hendrik Hagen sah plötzlich ein Erinnerungsbild vor seinem Auge erscheinen: sonnige Weite; davor auf weißem, überwärmtem Strand Arbeiter in der raschen, schlanken Bewegung des emsigen Mauerns; ein flinkes Räuchlein aus dem Schornstein, das unter dem blauen Himmel so anmutig emporwirbelte, und ein kleines, watschelndes, dickes Kind, das mit einem Kochlöffel in der Hand den erfahren blickenden Dackel schlagen wollte.
»Wo ist das Kind?« fragte er.
Die Arbeiter sahen sich betroffen an.
Da schrie einer dem andern zu: das Kind brächten sie immer ins Dorf.
Manchmal schlössen sie es auch ein, ließen es schlafen. Es sei gestern schon im Bett gewesen, mit Husten. Nein, mit Fieber. Nein, es sei nachmittags vor dem Hause umhergelaufen. Oh, das sei doch vorgestern gewesen ...
Nun standen sie alle und schwiegen und sahen sich mit heimlicher Unruhe an.
War das Kind in dem Haus oder nicht?
Und wem von ihnen sollte zugemutet werden, hinzugehen? ... Kam man noch heran, ohne daß einen die Wellen zerschlugen oder mit hinausnahmen? Wer konnte gegen das Wasser an? Ja, wenn man es gewiß gewußt hätte! Aber so – auf ein Vielleicht hin ... Man riskierte das Leben oder doch die Gliedmaßen und nachher stellte sich möglicherweise heraus, daß das Kind sicher im Dorf war ...
Und überhaupt ... war es denn nicht denkbar, daß die Baracke sich tapfer hielt?
»Man müßte mal im Dorf nachfragen«, sagte ein Arbeiter.
Die Dorfleute, die hier herumstanden, wußten auch nichts.
Und schon warfen sich zwei gegen den pressenden Sturm und liefen, um im Dorf nachzufragen.
Hagen ging zu Brita. Sie stand fest gegen den Knick gedrückt. Der Sturm umtobte sie und spielte mit ihrem kupferfarbenen Haar, das er auseinandergezerrt hatte.
»Du solltest fortgehen – komm«, sagte ihr Vater.
Sie schüttelte nur den Kopf.
Sie sah hinaus in die wild zerwühlte Welt, die nur noch aus Wasser und Wolken zu bestehen schien.
Wieder warf sich mit Krachen eine ungeheure Woge über das kleine Haus. Und rann ab, in Wassersträhnen und Bändern...
»Man weiß nicht, ob das Kind darin ist oder nicht«, sagte Hagen ihr ins Ohr.
Sie schrie auf.
»Und keiner, keiner hat den Mut, nachzusehen ...«
In diesem Augenblick ging eine, die gleiche Bewegung durch all diese Menschen hin ... ein aufzuckender Schreck ... eine kurze Erstarrung ...
In dem landwärts gewandten Fensterchen des Hauses, neben der verschlossenen Eingangstür, erschien ein weißblonder Kopf und ein vom Schreien rotes kleines Gesicht ...
Von der letzten Woge, die ganz über das Haus dahingefahren war, mochten Wasser durch die Fugen gesickert sein und hatten vielleicht mit ihrer Nässe das Kind erschreckt. Oder der Donnerton, der den kleinen Bau durchzittert haben mußte, hatte die arme kleine Seele aufgejagt.
Es weinte – aus unbestimmter Furcht vielleicht nur – wie Kinder weinen ...
»O Gott,« schrie Brita – »o mein Gott...«
Es war, als hielten die Menschen alle ein paar Herzschläge lang den Atem an – in der furchtbaren Spannung ...
Und in dieser Sekunde geschah dem Mann, was ihm wie ein beängstigendes Wunder schon oft geschehen ... Eine Wolke schien auf ihn zuzuwallen ... ein ungeheures, unübersehbares Übermaß von Gedanken, Empfindungen, Bildern ... und aus ihrem Kern löste sich blitzartig ein Erkennen...
Er sah Andree – fühlte: Dies ist ehrlicher Männerkampf – Tat erobert jedes Weib – er fühlte zugleich die grenzenlose Barmherzigkeit mit der Kreatur, die elend umkommen sollte – hörte das Weinen, das er nun sah, unerträglich wimmernd in seinem Ohr – spürte das Zaudern der armen Männer, deren Leben vielleicht Frauen und Kindern Brot bedeutete – sah die Geliebte ihm, ihm sich entgegenstürzen, wenn er das gerettete Kind herantrug ...
Dies alles war zusammengefaßt, wie man mit einem Blick ein ganzes Stück Natur übersieht ...
Es war nur wie ein Gedanke – kurz, rasend rasch ...
Und ward Tat ...
Brita schrie auf ... die Männer standen in dumpfem Staunen ...
Rasch und kraftvoll schritt Hendrik Hagen gegen die Wasser an. Sie umspülten ihn kaum bis zu den Knien.
Da kam wieder mit großem Rauschen, hoch und stolz ein Wogenschwall ...
Der Mann duckte sich ihm entgegen ... und tauchte aus dem zurückflutenden Wasser wieder empor.
Er kannte das Element ... er liebte es, an stürmischen Sommertagen sich mit ihm abzuringen ...
Alle Blicke hingen an ihm, folgten ihm – sahen, wie er scheinbar verschlungen ward – sichtbar wurde – wieder – nochmals – zum zweiten und dritten Male – sich dem Hause näherte ...
Und darüber sahen sie nicht, daß die schwarzen Wolkenfetzen sich tiefer und tiefer senkten und daß vom Horizont her eine Wand heranzurücken schien ... als wenn sich Wasser und Himmel dort einander genähert hätten, um zusammen die Welt abzuschließen.
Nun stand der Mann vor der Tür ... fast höher als sie war seine Gestalt und sein graues Haupt schien sich an ihrem Balken zu stoßen ... Man sah, wie zwei Fäuste sich erhoben und mit eiserner Kraft gegen das Holz schlugen ... die Tür ging zurück ... der Weg war frei ...
Abermals kam ein schwarzgrünes Ungeheuer mit weißem, breitem Kraushaar und stürzte sich über das Haus her und sank auf seinem Dach in sich zusammen.
Brita klammerte sich an ihren Vater ...
Sie stammelte allerlei ... Worte vielleicht der Angst ... vielleicht Bitten ...
Der Mann erschien in der Tür, von deren Balken die Wasser liefen, als verhänge ein Perlvorhang die Öffnung ...
Er begann den Rückweg.
Nun war die Gefahr größer, denn sie konnte ihn rücklings überfallen, er konnte sich ihr nicht mit ausgebreiteten Armen, sich duckend, entgegenwerfen. Auch trug er eine Last.
Aber die atemlosen Zuschauer sahen: die nächste Woge, die hinter ihm dahergefahren kam, um ihn zu überholen, warf sich auf ihn, wollte ihn zu Fall bringen ... doch hatte er sich gegen den Anprall gehalten ... schritt tappend weiter ...
Jetzt kamen auf dem Weg neben dem Knick zwei Männer heran. So rasch strebten sie vorwärts, als sie es, mit dem Druck der Luft kämpfend, nur vermochten. Der große, blonde, breite Mann sah ganz rot aus vor Aufregung und Anstrengung. Ihm etwas voraus war schon Andree. Er sah die Geliebte – er sah in den Wassern, die den Strand überfluteten, den Mann ... und die großen, rauschenden Wogen, die sich von hinten her über ihn warfen ... Und all die stumpf und tatenlos starrenden Zuschauer ...
Er sah aber auch, daß draußen auf dem Meer Wolkenfetzen und aufschäumende Wogen zu tollem Durcheinander sich einten – daß der schwarzgraue Himmel niederzubrechen schien ...
Wenn das kam – landwärts rückte ... »Helft,« schrie er, »helft.«
Und wollte sich schon ins Wasser stürzen, dem mühsam sich vorwärts kämpfenden Mann entgegen.
»Nein ...« jammerte eine Stimme auf. Er erriet fast nur den Laut ... er fühlte sich von klammernden Händen angstvoll gehalten.
Brita...
Er stieß sie zurück ...
»Kette bilden«, schrie der Bürgermeister und seine Donnerstimme klang an jedes Ohr.
Und sie gehorchten ihr mit blindem Eifer – erlöst aus der stummen Angst.
Er selbst, breit, schwer, ein Koloß, stand am Knick, die klammernde Rechte um einen derben, uralten Schlehenstamm, die Linke dem nächsten Mann reichend. Und dieser wieder streckte seine Hand einem dritten hin. So krallte sich mit eiserner Festigkeit Hand in Hand. Und der erste, vorderste in dieser Männerreihe war Andree. Sicher schritt er hinaus in die wallende, kreisende Flut.
Sie waren alle ruhig jetzt – besonnen ... eine Minute noch – noch eine halbe ... und der Mann, der das Kind herantrug und die Männer, die ihm als Kette entgegenrückten, erfaßten einander ...
Wieder ein glasiger, ungeheurer Wasserschwall – fast wie eine Kuppel wölbte es sich einen Herzschlag lang über den Häuptern der Männer. Und brach klatschend, zerfallend zusammen ...
Die Kette wankte. Aber sie hatte sich nicht gelöst.
Von draußen her stäubte und wirbelte es heran – Nebel? Wolke? Gischt? – wer wußte, was das war ...
Naß und grau und undurchdringlich füllte es die Luft zwischen Himmel und Erde ... peitschte die Gesichter ... nahm den Atem ...
Und köpfte mit gewaltigem Schlag und Stoß das kleine Haus.
Brita lag auf den Knien ... sie sah nichts mehr ... sie weinte ... und wußte es nicht ... sie betete und wußte es nicht ... sie war sinnlos vor Angst um den Einen ...
Der keuchende Mann im Wasser kam vorwärts ... Noch zwei, drei Schritt ...
Gleich Schatten im Nebel sah er schon in dieser Wolke von stäubenden Tropfen den ersten Mann von den ihm Entgegenrückenden ...
Er sah eine Hand ... Sein linker Arm umklammerte das Kind, das schwer als Last an seiner Brust lag ... Die Rechte streckte er schon der andern Hand entgegen ...
Und gerade riß der Sturm den Wolkenfetzen, der von oben herabhängend über Wasser und Erde fegte, weiter ...
Der Mann erkannte das Gesicht, das ihm nahe war, heiß und ernst und von Rettungseifer glühend.
Das Gesicht, das seine haßvollen Wünsche gestern schon tot und still auf nächtigen Wogen schaukeln sahen ...
Er staunte – nein – stockte – es war nur ein Atemzug lang – kaum das ...
Und doch schon zuviel – zu lang für diesen Augenblick, der alle gesammelte Kraft – jeden festen Gedanken forderte – denn es galt, dem Tod zu trotzen ...
Er verlor den Halt ... Die ungeheure Woge, die ihn im Rücken traf, warf ihn vorwärts – entriß ihm das Kind... trug es weiter...
Er richtete sich wieder auf...
Wollte nach der Hand greifen, sah sie nicht gleich ...
Und fühlte einen harten, furchtbaren Stoß in seinem Rücken ... eine krachende, brausende Erschütterung, die seinen Körper zu zerbrechen schien ... Und dann nichts mehr...
Einer der Männer sah das Kind, ergriff es, ehe die zurückleckenden Wogen es mit sich ziehen konnten ...
Die Kette war gelöst ...
Die vordersten Männer hoben den Gefallenen ...
Sie wichen mit ihm zurück ... hatten noch zwei-, dreimal den niederfallenden Schlägen der auf sie stürzenden Wassermengen standzuhalten ... erreichten die Höhe des Ufers und selbst naß, keuchend, mit zitternden Knien, trugen sie ihre Last...
Auf dem Wasser schwamm das Dach der Baracke, schwarz, mit seinen beiden schrägen, spitz zusammenstoßenden Seiten, einem großen Tierrücken ähnlich. Es schwamm und wiegte sich, ward gehoben, kam dräuend näher und ward von der nächsten Woge zurückgerissen. Es schien wie ein heimtückisches Lebewesen, sich seiner bösen Tat bewußt ...
»Hinter den Knick – hinter den Knick ...«, schrie die riesenhafte Baßstimme.
Sie trugen den schweren, nassen Körper hinter den Knick.
Der Bürgermeister zog seine Röcke aus ... breitete sie auf dem braunen, von junger Wintersaat grünlich schimmernden Boden des Feldes aus ... hart, hart hinterm Erdwall des Knicks, wo Schutz war ...
Er gab Befehle: ins Dorf ... Tragbahre mit Betten ... ins Herrenhaus ... das Automobil zur Stadt... Er dachte an alles. Er war ganz beherrscht. Aber immerfort blickte er dabei auf das totenhaft bleiche, stille Gesicht ... Und sein treues, gutes Herz weinte ...
Denn er sah wohl, was auf diesem Gesicht stand.
Andree war wie versteinert ...
Er sah hinab und glaubte nicht, was er sah ...
Und wandte sich langsam um ... ihm war, als müsse er die Eine fragen:
Siehst du es auch ... kann es wahr sein ...
Und schon umklammerte sie ihn mit beiden Armen und hing an seinem Halse und weinte an seiner Schulter ...
Sie wußten es gar nicht anders ... Es konnte nicht anders sein ...
Es war ganz einfach ... sie gehörten zusammen. Wenn sie es sich auch noch nicht gesagt hatten ... die Not der furchtbaren Stunde sagte es lauter und heißer als jedes Wort ...
Brita fühlte, daß jemand ihren Arm erfaßte.
Erschreckt fuhr sie auf.
Es war ihr Vater. Er deutete auf den stillen, schwer und lang daliegenden Mann.
Es schien, als gehe eine Bewegung über das Gesicht.
Brita sank in die Knie, neben ihn, beugte sich über ihn – mühte sich dabei, ihr Haar zurückzuwerfen, das ihr der Sturm zauste.
Und Andree kniete neben ihr ...
Zärtlich, leidenschaftlich wünschten sie beide, das ein Blick sie träfe – ein Wort vernehmbar würde ... Nur ein Blick noch – nur ein Wort noch ...
Hendrik Hagen öffnete die Augen. Mit großem, tiefem Blick sah er auf.
Er hatte gar keine Schmerzen. Er hatte gar keinen Körper mehr. Er fühlte nichts von sich. Nicht seine Füße, nicht seine Hände. Und das war so sonderbar... so leicht ... und doch so schwach ... so losgelöst von allem Menschlichen ... von aller Schwere ... aber auch von aller Kraft...
Und da stand der Bürgermeister und hatte gar keinen Rock an und sah ihn so aufmerksam an ...
Und die Luft war so voll Lärm ... nur wo er lag, war Stille ...
Er sah Brita ... sah ihr Haar wehen und sah ihren zärtlichen Blick...
Er wußte, wo er war – und daß er das Kind aus brausendem Wasser ins Leben zurückgetragen ...
Er dachte: Tat – ja Tat erobert das Weib ...
Aber er dachte es nicht im Siegerrausch –
Mit einer seltsamen Stille in der Seele ...
Andree sah er nicht und nicht, daß zwei junge Menschen Hand in Hand geklammert hielten – um sich zu fassen – sich Mut zu geben, einer dem andern ...
Nur den zärtlichen Blick sah er, nur das über ihn geneigte, schöne, geliebte Gesicht ...
Er wollte sprechen.
Er konnte nicht.
Aber es machte ihm weder Qual noch Mühe, daß er es nicht konnte...
Diese Stummheit war fast schön ...
Wie eine Müdigkeit ohne Schmerz...
Der zärtliche Blick leuchtete ihm in die Augen ...
Und doch dachte er: ich will es ihr sagen ...
Alles hatte er sagen können – alle Not und alle Seligkeiten seines Herzens ...
Wie eine leidenschaftliche Musik klangen sie nach in seinen Werken...
Aber von dieser einen, höchsten Not der letzten Liebe und von dieser einen, höchsten Seligkeit sollte er nichts mehr sagen ...
Nicht der Geliebten – nicht der Welt ...
Seine Augen schlossen sich wieder.
Und er versank in das große Schweigen, das noch kein Menschenwort zerbrach ...
Sie, die um ihn knieten und standen, warteten atemlos ...
Der Sturm brauste ... das Meer brüllte ... die Welt war erfüllt von Lärm.
Wie konnte man hören, ob noch ein leiser Laut von diesen blassen, ein wenig geöffneten Lippen kam ...
Die Luft peitschte salzige Tropfen gegen die Menschen und beizte ihnen die Augen ...
Wie konnte man sehen, ob sich diese Brust noch atmend bewegte ...
Sie lauschten ... sie warteten ... sie sahen ...
Und sahen endlich: das war der Tod ...
Brita warf sich in die Arme des Mannes, der sie tröstend umschloß, männlich, fest – ob ihm auch selbst die Tränen über das junge Gesicht liefen ...
Neben ihnen stand einer, der heiß schluchzte und aus seinen Tränen heraus über sein weißes, zusammengepreßtes Taschentuch weg immerfort sagte:
»Mein alter Junge ... mein alter Junge ...«
Als könne er ihn noch an fröhliche Jugendtage mahnen ...
Lang und steil lag der stille Mann. Sein Kopf mit dem grauen Haar hatte sich schwer ein wenig hintenüber gesenkt, so daß das stolze, stumme Gesicht himmelan gewendet schien ...
Und aus dem düstern Gewölk, das der Herbststurm vor sich herjagte, flogen nun wirbelnd, im schnellen Fall die ersten Schneemassen herab ...