Ida Boy-Ed
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Anny Bewer war nach Hause gegangen. In den Straßen war es sehr windig, vor dem Tor konnte sie kaum gegen die Windstöße ankämpfen, aber sie hatte die Angewohnheit, die zehn Pfennige für die Pferdebahn nur bei Regenwetter auszugeben.

So kam sie denn ganz erschöpft in ihrer Wohnung an. Die Stube war sehr ausgekältet. Anny Bewer machte Licht und kramte ihre Teemaschine nebst Teetopf und Tasse aus dem Schrank. Sie hatte einstweilen noch die Milchglaskuppel nicht auf die Lampe gesetzt und nun gab die Flamme im Zylinder ein unangenehmes und zugleich kaltes Licht, welches sich schmerzhaft blendend in Annys Kneifer widerspiegelte.

Ihre Wirtin hatte ihr das Abendbrot schon auf den Tisch gestellt: zwei Semmeln und einige dünne Scheiben einer geringen Wurst.

Als Anny sich alles zurechtgemacht hatte, überdeckte sie die Lampe und setzte sich zu ihrem Tee nieder.

Es war zu kalt. Sie stand wieder auf und nahm ihren pelzbesetzten Abendmantel um.

Anny rührte mit ihrem Löffel nachdenklich den Tee um. Jetzt vielleicht tanzten ihre Verwandten mit lachenden Gesichtern im heißen Saal umher. Vielleicht auch Fribo.

Wie schön Irene gewesen war. Ob nicht auch er Augen dafür haben mußte?

Anny bereute plötzlich leidenschaftlich, daß sie Irenen von dem Vorfall im Klub erzählt habe, denn notwendigerweise mußte das zwischen ihm und ihr eine Veränderung des bisherigen, feindlich kühlen Verhaltens gegeneinander herbeiführen.

Lange grübelte sie darüber nach, wie diese Veränderung sich gestalten werde. Anny Bewer hatte einen scharfen Blick und einen scharfen Verstand, aber sie kannte die Männer nicht und konnte sich deshalb nur ein schiefes Bild von der möglichen Entwicklung seelischer Kämpfe in einer Männerbrust machen.

Sie legte sich alles zurecht, wie sie es wünschte. Sie kannte Fribo als ernst und allem Ungewöhnlichen abhold, deshalb kam sie zu dem Schluß, daß seine Empfindung für Irene wahrscheinlich kälter werden würde, weil sie die unschuldige Ursache peinlichen Aufsehens geworden. Männer seien ungerecht, hatte Anny oft sagen hören, und tragen gehabte Unbequemlichkeiten denen nach, welche sie verursachten. – Sie kannte Fribo auch als festen Charakter, der nie von einmal ausgesprochenen Ansichten abwich. Sie wußte nicht, daß Männer oft in einer gewissen Furcht vor sich selbst gerade über die Liebe und Ehe Prinzipien aussprechen und sich als richtig einreden, welche den eigentlichen Bedürfnissen ihrer Natur geradezu widersprechen, weil Fribo nun gesagt hatte, daß er ein ganz junges Mädchen heiraten wolle, um es sich zu erziehen, kam sie weiter zu dem Schluß, daß er sich niemals in die selbständige, gereifte Irene verlieben werde.

Ihre leidenschaftliche Reue, welche sie zehn Minuten ganz niedergedrückt hatte, fing an, einer still zufriedenen Heiterkeit zu weichen.

Der Tee hatte ihr Blut erwärmt, im Zimmer war es behaglicher geworden. Anny beschloß, sich auch etwas Gutes anzutun. Sie wollte zu Bett gehen und im Bett noch lesen.

Mit Sorgfalt, ja mit einem gewissen Raffinement räumte sie alles zurecht – Buch, Lampe und eine dampfende Tasse Tee auf das Tischchen vor ihrem Bett, vor welchem der verhüllende Wandschirm zur Nacht fortgenommen wurde. Im Bett lag eine Wärmkruke; von der fürsorglichen Wirtin wurde dieselbe tagsüber in den Ofen und abends in die Kissen getan.

Anny machte sich's bequem, und ein unnennbares Behagen, die Wonne des Ausruhens, löste ihre Glieder.

Sie saß halb aufrecht, hinter Rücken und Kopf eine Menge weißer Kissen. Es war ein gutes Bett, dasselbe Bett, in welchem einst der Mann ihrer Wirtin gestorben. Aber das wußte Anny Bewer nicht.

Sie las und nahm dazwischen einen Schluck Tee. Die Lampe warf still ihren Lichtkreis über Bett und Buch.

Allmählich vergaß Anny den Tee. Der französische Roman erregte ihre brennende Spannung. Die Finger, welche die Seiten umblätterten, zitterten. Die lesenden Augen funkelten.

Was es doch für unerhörte Dinge in der Welt gab! Und was für Frauen – Frauen, die alles haben und genießen können, wonach es sie gelüstet.

Anny empfand einen grenzenlosen, aber süß beängstigenden Abscheu vor der Sünde und dieser Art von Lebensgenuß. Sie las mit Entsetzen und Entzücken zugleich das Buch zu Ende.

Dann legte sie es in das Schubfach des Nachttischchens, sank in die Kissen zurück und starrte träumend vor sich hin.

Ob Fribo wohl auch schon der Held solcher Abenteuer gewesen, von denen sie gelesen?

Brennende Neugier quälte sie. Wenn sie alles, alles hätte erfahren dürfen, was er je erlebt. Jeder Mann lebt sich aus, auch er war gewiß nicht reif und fest geworden ohne Erfahrungen.

Ihre Phantasie versetzte nun Fribo in den Mittelpunkt aller möglichen, leidenschaftlichen Erlebnisse. Dabei ward ihr Herz zerfleischt von maßlosen Empfindungen, die vielleicht ebensosehr eine dämonische Neugier, wie gegenstandslose Eifersucht waren.

Sie nahm sein Bild aus dem Schubfach, wohin sie es jeden Abend trug, um es noch anzusehen, ehe sie die Lampe löschte.

Sie vertiefte sich in den Anblick und sprach zu der Photographie. Die ernste Stirn, das klare, bestimmt blickende Auge rührten sie zu tränenvoller Begeisterung. So männlich schön gab es kein Angesicht mehr auf der Welt. Und diese gerade, edle Nase. Und diese stolzen und doch weichen Lippen unter dem Schnurrbart.

Ihre Augen schwelgten und ihr Mund ward ihr trocken.

Tränen rannen ihr immer zahlreicher über die Wangen.

Er tanzte vielleicht und war sorglos glücklich, während sie hier einsam, verlassen mit einem todunglücklichen Herzen lag.

Anny wünschte, daß sie krank wäre oder plötzlich würde. Dann hätte sie das Recht, ihn zu rufen, ihn zu sehen, seine Hand zu fassen.

Bei dem Gedanken an solche Möglichkeit klopfte ihr Herz so sehr, daß ihr Atem stockte.

Sie fing an zu schluchzen.

Das Herzklopfen war beängstigend. Wenn nur jemand da wäre, sie zu trösten, ihr beizustehen.

Der Trotz gegen das Verlassensein wallte in ihr auf. Sie schluchzte immer wilder. Wenn irgendeinem anderen so elend wäre, wenn irgendeine andere solch fürchterliches Herzklopfen hätte, würde die Dienerschaft oder die Familie gleich zum Doktor laufen. Sie aber, sie konnte hier ungesehen und ungehört leiden.

Sie weinte laut, immer lauter, so daß ihre Wirtin, die Doktorswitwe, es hörte.

Annys Tür war immer unverschlossen. Die geängstigte Frau kam leise herein.

Sobald Anny ihre Gegenwart merkte, steigerte sich ihr Gefühl des Elends. Die Äußerungen desselben wurden noch maßloser. Die Frau sollte nicht denken, daß Anny um gar nichts weine.

Nein, sie war krank, sehr krank und hatte einen krampfartigen Anfall und ein Herzklopfen, wie noch nie.

Und während sie sich körperlich immer tiefer in einen Zustand hineinraste, der ihr in der Tat schließlich nicht mehr gestattete, ihre Nerven wieder zu beherrschen, wartete sie mit dem einzig klaren Gedanken, den sie noch hatte, darauf, ob man nun Fribo holen würde oder nicht.

Und die geängstigte Frau, welche noch niemals einen hysterischen Anfall gesehen und nicht wußte, daß ihm sehr einfach und gesund durch kaltes Wasser und strenge Worte beizukommen, schickte in der Tat ihr Dienstmädchen, das eben hatte zu Bett gehen wollen, nach Fribo Steinbrück aus.

Von diesem Augenblick an wurde Annys schreiendes Schluchzen langsam sanfter. Sehr langsam freilich, denn die empörten und gewaltsam aufgestörten Nerven kannten sich nicht so schnell beruhigen. Sie arbeiteten noch mechanisch weiter.

Endlich lag Anny still, mit geschlossenen Augen, todesmatt, da.

So fand Fribo sie, als er über die Schwelle trat.

Die Frau, welche neben Annys Bett gesessen, erhob sich und berichtete ihm flüsternd, wie es hergegangen.

Fribo warf seinen Pelz ab. Er war im Frack und man hatte ihn von dem Souper, welches den Ball unterbrach, fortgeholt.

Während die Frau auf ihn einsprach, sah er mit strengem Ausdruck auf das Bett hin, wo Anny mit gefalteten Händen lag.

Ein Ausdruck stillen Glücks verklärte ihre bleichen Züge. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie wußte und hörte: er ist da.

Fribo trat jetzt an ihr Bett und die Doktorswitwe verließ leise das Zimmer.

»Anny,« sagte er halblaut.

Sie schlug die Augen auf. Da sah sie das ernste Antlitz mit strengem Ausdruck über sich gebeugt.

Tränen schossen ihr sogleich wieder in die Augen.

Er umschloß fest ihre Hand, um den Puls zu fühlen.

»Vergib mir,« flüsterte sie, »ich weiß nicht, was es war.«

Tiefe und schmerzliche Scham stritt in ihrer Brust mit der Wonne über seine Gegenwart.

»Es war ein Mangel an Selbstbeherrschung,« sprach er in seiner festen und doch milden Weise. »In solche Zustände arbeitet man sich hinein. Sie übermannen einen nicht. Fester Wille, nicht aber der Arzt ist da der Helfer.«

Ihre Tränen flossen stärker.

»Vergib mir,« sagte sie noch einmal, »aber mir war, als müsse ich sterben, wenn ich dich nicht sähe!«

Und danach war Schweigen, ein sehr qualvolles Schweigen.

Annys Herz klopfte wieder rasend, es war vor Schreck über ihre unwillkürliche Aufrichtigkeit.

Fribos Stirne rötete sich. Er wußte mit einemmal, daß das alternde, unglückliche Mädchen ihn liebe. Die peinlichste Bestürzung und das tiefste Mitleid erfüllten sein Herz. Auch eine ganz kurze Regung des Widerwillens bäumte sich in ihm auf, denn die Natur ist so grausam: sie läßt den Mann gegen ihm dargebrachte Liebe, welche er nicht erwidern kann, beinahe Feindschaft empfinden.

Aber in Fribos Seele blieb nach wenigen Sekunden nur das Mitleid und eine Art von Beschämung zurück. Die Beschämung darüber, daß er nichts zu tun vermochte, dieses arme und verschmachtende Herz zu erquicken.

Er drückte fest die Hand, welche er noch immer umschlossen hielt und setzte sich vor dem Bett nieder.

»Wenn es dir wohltat, mich zu sehen, freut es mich, daß deine Wirtin mich rufen ließ. Leider ist unser Kommen denn auch oft das einzige, das wir unsern Patienten als Medizin zu geben vermögen,« sprach er so ruhig, als es ihm irgend möglich war. »Auch dir, liebe Anny, kann ich nichts weiter verordnen, als ich schon seit Monaten tat. Daneben aber muß ich dich warnen, dich deinen traurigen Stimmungen so hinzugeben, daß sie in Weinkrämpfe ausarten, denn solche Vorkommnisse untergraben deine Gesundheit vollends.«

Diese Ruhe und diese Zurechtweisung erbitterten Anny, weil sie sich schämte.

»Leute, welche auf der Höhe des Daseins stehen, haben es bequem, denen, die im Staube kriechen, stete Fassung anzuempfehlen. Man wirft sich eben mal nieder und verzweifelt.«

Wer mochte ergründen, was diese Frauenseele auch sonst noch reizte? Hatte sie vielleicht gehofft, ganz unbestimmt, ganz leise, daß er ein zärtliches Wort finden würde? Daß er aus Mitleid wenigstens ihr eins vorlügen werde?

»Anny!« rief er streng.

Vor diesem Ton sank sie wieder zusammen und wurde demütig.

»Vergib mir,« flehte sie, seine Hände umklammernd.

Und wie er das arme, kränkliche und alternde Wesen da so liegen sah, ein Opfer lauter freudloser Lebensverhältnisse, begriff er plötzlich, daß alles, um dessentwillen die Welt sie bemitleidete, um dessentwillen er selbst bisher zart und barmherzig mit ihr gewesen, nur die nebensächlichen Äußerlichkeiten waren, und daß ihr einziges, eigentliches Unglück nur ihre Liebe zu ihm sei.

Und er, Fribo, bei dem alle Äußerlichkeiten gerade die entgegengesetzten waren, denn man nannte ihn jung, reich, im Beruf freudig tätig, er befand sich ganz in derselben Lage wie Anny. Sie waren Genossen in dem Schicksal, hoffnungslos zu lieben.

Er wußte, Anny würde mit Freuden noch mehr arbeiten, noch karger leben, sich noch mehr demütigen lassen, wenn er ihr nur das eine himmlische Wort zu sagen vermocht hätte!

Da tat er etwas, das seinem verschlossenen Wesen ganz unähnlich war. Er beugte sich über Anny und küßte die arme, von Ärger und Leiden gefurchte Stirn. –

Ein Zittern ging durch ihre Gestalt. Ihre Hände falteten sich wie zum Gebet.

Sie schlug die Augen zu ihm auf, und der Blick heiliger Dankbarkeit erschütterte ihn tief.

»Anny« sprach er leise, »bist du meine Freundin?«

Sie nickte wortlos und drückte heftig seine Hand.

»Nun denn, versprich mir, fortan ein tapferer Mensch zu sein. Du bist unglücklich, ich weiß und fühle es. Aber laß dich nicht hinabziehen und verliere dich nicht in unwürdige Exaltationen. Strebe empor! Es gibt auch eine Höhe der Entsagung, und es sind gerade die reifen und vornehmen Geister, die allein die Kraft haben, sich emporzuschwingen. Auf der Höhe des Glückes kann sich auch der Unbedeutende voll stolzer Haltung zeigen.«

»Du verachtest mich,« murmelte Anny, mit geschlossenen Augen zurücksinkend. »Und ich gab dir das Recht dazu.«

»Nein,« sprach er innig, »nein. Ich traue dir Größeres zu, als ich bis jetzt von dir zu sehen bekam. Ich traue dir die Kraft zu, weiblich, sittlich und nützlich zu handeln, und zwar nicht im Trotz, sondern aus edler Freude an menschlicher Größe.«

»Du sprichst wie sie,« flüsterte Anny.

Er wußte, wen sie meinte, seine Stirn erglühte.

»Anny« sagte er, »auch ich bin nicht glücklich. Ich liebe und kann sie, die einzige, nie erringen.«

»Irene?« sprach Anny und sah ihn groß an.

Er neigte das Haupt.

Anny fühlte, warum er ihr das gestand. Er wollte ihr sagen, daß sein Herz gewählt habe, damit ihre Seele leichter von ihm lasse, er wollte ihr aber auch zeigen, daß sie vor allen Menschen ihm teuer sei. Denn Anny wußte wohl, daß er dergleichen weder seiner Mutter noch seinem Bruder gestanden haben würde.

Sie lag ganz still. Der Schmerz, welchen ihr ein solches Geständnis sonst verursacht hätte, ging unter in den erhabenen Vorsätzen, welche sie ganz erfüllten.

Fribo sollte lernen, sie zu achten. Sie wollte um seine Freundschaft ringen und kämpfen, damit er ihr teil an seinem Leben gönnen möge. Sie wollte werden, wie er verlangte: weiblich, sittlich, nützlich in edler Freude.

»Fribo,« begann sie nach langem Schweigen, »ich bin sehr schwach nun und möchte ruhen. Geh' jetzt. Ich danke dir. Diese Stunde soll Segen bringen über all meine künftigen Tage. Ich will ein neues Leben anfangen. Die Wege dazu sind mir von dem herrlichen, gütigen Mädchen eröffnet worden. Sage Irenen, bitte, aber sage es genau so: Die Wendung, von welcher ich gesprochen, sei eingetreten und ich nähme deshalb die Stellung an, welche mir geboten ist. Willst du ihr das sagen?«

Ja.«

Anny sah ihn unruhig an, als er sich nun zum Gehen rüstete.

»Komm noch her,« bat sie, als er den Pelz umgetan hatte.

Er trat an das Bett, und sie streckte die Hände zu ihm empor.

Ein herzzerreißendes Lächeln ging über ihr Gesicht.

Ihre mageren Hände umschlossen seine Wangen.

Sie sah ihn tief an, in unaussprechlicher Liebe, wunschlos und treu, wie eine Mutter.

Und dann küßte sie ihn voll Andacht auf die Stirn.

Sie lächelte noch immer, aber eine Träne zitterte an ihren Wimpern.

Er aber sah es, daß sie so in Lächeln und in Tränen den Entschluß faßte, das Feuer ihrer Liebe fest, fest zuzudecken, damit die Flammen nie mehr ihren Verstand verzehrten.

Und er wußte es, daß fortan über diesem sonnenlosen Frauenleben der Stern des Mutes leuchten werde.

Er ging in die Nacht hinaus. Auf das Ballfest mochte er nicht mehr zurückkehren, denn er fühlte sich nicht gestimmt, auch nur als Zuschauer, an einem leeren Vergnügen teilzunehmen.



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