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Die Szene stellt einen Straßenbahnwagen dar, der während einer Winternacht schnell seinen Weg durch ein seltsam exzentrisches Stadtviertel nimmt. Dieser Straßenbahnwagen ist ungeheuer groß, ganz gelb und wird durch Elektrizität in Bewegung gesetzt. Er fährt mit donnerähnlichem Geräusch dahin, Blitze umzucken ihn, und bei den Wegwendungen umgibt ihn das Geheul wütender Windstöße.
Das Innere des Wagens ist folgendermaßen besetzt: Nach rechts von der Mitte ausgehend: Ein junger Ladengehilfe; – ein Mann, der schläft; – zwei Nonnen, die ihre Rosenkränze beten; – eine sehr dicke, gut gekleidete Dame, die mit den Fingern in der Nase herumbohrt. Dieser widerwärtige Sport, der früher nur das Vorrecht unerzogener Kinder war, die es nicht besser wußten, verbreitet sich immer mehr auch unter Erwachsenen, die sich demselben an öffentlichen Orten und sogar in besseren Salons hingeben und dadurch alle Gesetze des Anstandes verletzen und bei ihren Nachbarn Ekel und Widerwillen erregen. Diese dicke Dame, die breit und behäbig dasitzt, nimmt nicht nur ihren eigenen Platz ein, sondern auch den größten Teil des Platzes ihres Nachbarn, eines schüchternen jungen Mannes, der sich weder zu rühren noch zu beklagen wagt, obwohl er förmlich eingekeilt ist, da er von der linken Seite von den Waffen des Soldaten, als siebenten und letzten Reisenden der rechtsseitigen Serie gestoßen wird. Die Serie der linken Seite beginnt mit einer jungen Modistin, die auf dem Heimweg zu ihrer Mutter ist; ein ziemlich verlumpter Bengel, der ganz in die Lektüre eines politischen Blättchens niedrigster Ordnung vertieft ist; eine brave Familienmutter mit einem Marktkorb und einem Kind von vier Jahren. Neben dem Kind sitzt dann der Trottel der Omnibusse und endlich der alte Herr, der überall Beschwerde führt.
Vorne, durch dicke Scheiben isoliert, steht der Führer des Wagens, auf dem eine große Verantwortung ruht, auf der Plattform; er ist mit einem Pelzmantel bekleidet und kämpft gegen die Macht der Elemente.
Hinten hält sich der Kondukteur auf; er ist ein Kind des Volkes, trägt ein Käppi und hat Gummiüberschuhe an. Manchmal macht er die Runde durch den Wagen und verteilt kleine Fahrscheine, meistens aber tauscht er meteorologische Bemerkungen mit dem unerschrockenen kühnen Reisenden aus, der hinter ihm steht, eine Zigarre raucht und der zu jenen tapferen Leuten gehört, die ihren Stolz darein setzen, vor nichts Angst zu haben, was ungefährlich ist.
Auf dem Verdeck des Wagens halten sich die Reisenden zweiter Klasse, Enterbte der Gesellschaft, auf, die sich zuweilen dadurch in Erinnerung bringen, daß sie, um nicht starr vor Kälte zu werden, mit den Füßen trampeln; außer diesem Geräusch vernimmt man den dumpfen Lärm des Propellers, das Murmeln der Nonnen, die ihren Rosenkranz beten, das Schnarchen des schlafenden Mannes. Das Kind ist ganz artig.
Es ist sehr kalt, der Schnee fällt in dichten Flocken, und der Wind heult.
Der Wagen hält an einer Station, einem verlorenen Posten, der an der Grenze der bewohnten Welt liegt. Ein wild aussehender Kontrolleur, der verschlafen aussieht und vor Kälte zittert, kommt wütend aus seinem warmen Wigwam gestürzt, wechselt ein paar kabbalistische Zeichen mit dem Kondukteur, fragt den Soldaten, ob er wohl eine Militärperson sei. Niemand steigt ein oder aus. Der Wagen fährt weiter.
Pause.
Dann singt der Trambahnführer:
»Voran! Voran, immer voran! Dies ist die letzte Station. Jetzt werde ich niemals mehr anhalten. Ich habe endlich genug davon, immer den Weg hin und zurück zu machen. Denkt man mich für das lächerlich kleine Gehalt, das ich beziehe, zum Sklaven machen zu können? Nur zu lange habe ich meine Leidenschaften gezügelt. Jetzt endlich will ich das Leben in meiner Weise genießen. Ich werde bis an das Ende der Welt mit meinem Wagen fliegen. Voran, voran, voran!«
Er erhöht die Schnelligkeit des Wagens. Niemand hat ihn gehört. Der ruhige Gott der Sicherheit sitzt unter den Reisenden; er stützt seine Arme auf das Vertrauen des Menschen in seine eigenen Erfindungen und auf seine Unkenntnis der nahenden Gefahr, sein Haupt auf die bekannte Sorglosigkeit der Menschen, wenn andere die Initiative und Verantwortlichkeit tragen.
Indessen:
Der junge Ladengehilfe: Er sieht die Modistin schüchtern, aber mit entzückten Augen an, beiseite:
Wie reizend sie ist! Oh! Diese langen braunen Wimpern, die ihre Wangen beschatten. Oh, dieser Mund und die reizende Bildung ihrer Büste. Wie ich sie liebe! Seit drei Monaten bin ich jeden Abend mit ihr gefahren. Ob ich es wohl wagen soll, sie anzureden?
Die Modistin, beiseite: Er ist hübsch ... Er ist wirklich sehr hübsch ... Wahrhaftig, er hat etwas sehr Distinguiertes ... Und dabei etwas so Ernsthaftes ... Seit so langer Zeit fahre ich nun schon jeden Abend mit ihm zusammen ... Ich bin sicher, daß er mich sehr gut unterhalten müßte ... Wie fein und wellig sein Bart ist und was er für eine schöne Krawatte trägt ... Er wagt es nicht, mich anzusehen ... Wenn er mich anredete, ob ich ihn wohl anhören würde, trotz allem, was Mama mir gesagt hat? ...
Sie betrachtet den jungen Mann verstohlen, er tut dasselbe.
Ihre Augen begegnen sich. Sie werfen sich strahlende Blicke zu.
Die Familienmutter zu ihrem Kind: Titi, Tintin, komm, mach Dodo bei Mama.
Das Kind, dessen wirklicher Name Konstantin ist:
Es legt sich behaglich zurecht und schläft auf dem mütterlichen Busen ein.
Der Mann, der eingeschlafen ist: Er schnarcht.
Die Nonnen: Sie beten den Rosenkranz.
Der Bengel, der das politische Blättchen liest, zwischen den Zähnen murmelnd:
Diese schweinische Regierung!
Der Trottel: Ich bin der Trottel der Omnibusse. Ich lasse mich durch nichts aus der Ruhe stören und bin zufrieden, wenn ich auf meiner Bank sitzen kann. Ich bin der Trottel der Omnibusse.
Der alte Herr, Beschwerde führend: Es ist ein Skandal! Diese elektrischen Wagen sind nicht einmal ordentlich geheizt. So etwas kann auch nur in Frankreich vorkommen. (Er bückt sich, um das Wärmrohr zu untersuchen und wendet sich dann an den Trottel.) Sie müssen zugeben, mein Herr, daß dieses Wärmrohr ganz kalt ist. Ach, in Amerika würde so etwas nicht geduldet werden. Die Reisenden würden es sich nicht gefallen lassen und dann ...
Fortsetzung eines interesselosen und lügenhaften Geredes.
Die dicke Dame, fortfahrend, mit ihren Fingern methodisch in der Nase herumzukrabbeln:
Ich bin eine gutgekleidete dicke Dame und ich nehme eine Stellung ein ... Ich bin reich, gewiß, und ich könnte anders reisen als in einem elektrischen Straßenbahnwagen, aber Geld ist Geld, und ich erzähle dann, daß ich mich fürchtete, in einem Wagen zu fahren ... Ich möchte gleichzeitig den Eindruck einer sehr reichen Dame machen, damit man mich beneidet und den einer ganz armen Frau, damit mich nur niemand bittet, ihm Geld zu geben.
Der schüchterne junge Mann: Die rechts sitzende dicke Dame ist einfach furchtbar, ich werde erdrückt von ihrer Korpulenz. Der an meiner linken Seite sitzende Soldat drückt mich grausam mit seinem metallenen Harnisch. Meine Lage ist einfach scheußlich ... Um Gottes willen, warum bin ich so schüchtern, daß ich es nicht wage, mich zu rühren oder zu suchen, einen andern Platz zu bekommen?
Der Soldat: Teufel auch, wie kalt es hier ist ... Wenn man wenigstens einen ordentlichen Tropfen bekommen könnte ... Ob ich es versuche? ...
Der Kondukteur auf der Plattform zu dem unerschrockenen Reisenden:
Der Schnee ist weiß, er fällt von dem dunklen Himmel. Das ist nicht gut für die Bestellung des Landes.
Der unerschrockene Reisende: Er steckt sich eine zweite Zigarre an:
Ich habe im Laufe meiner gefährlichen Forschungsreisen Schlimmeres gesehen: Löwen, Tiger, Hunger, Durst, Kälte, Hitze, nichts konnte mir Angst machen, so wenig wie die weißen Bären oder die wilden Papuaneger.
Die Reisenden des Wagenverdecks: Wir sind die bleichen Reisenden des Verdecks mit den erfrorenen Füßen. Ach, weshalb befinden wir uns in einer so elenden Lage? Warum stehen wir nicht so hoch auf der gesellschaftlichen Leiter, daß es uns erlaubt wäre, unten in dem Wagen fahren zu dürfen, wo es trocken ist und wo man vor der Unbill des Wetters geschützt ist? Oh, der Ungerechtigkeit, der grausamen Ungleichheit der menschlichen Stellungen. Oh, ist das die Strafe dafür, daß unsere Väter die Könige abgesetzt haben? ...
Finsternis. Schneestürme, entsetzliche Kälte. Der elektrische Wagen jagt in immer vermehrter Schnelligkeit durch unbekannte Regionen, an Ebenen, an Bergen und Wäldern vorbei, die schneebedeckt unter dem schwarzen Himmel liegen.
Der Trambahnführer: Schneller, immer schneller! Ich werde die Kälte und die Nacht besiegen! Der Tod soll mich nicht einholen. Vor mir liegt der endlose Raum, der keine Grenzen hat, ich stürze mich hinein. Hinter mir ertönen die Klagen der entsetzten Reisenden, diese Quälgeister meines hündischen Lebens ... Ich mache mir nichts daraus ... Mögen sie, wenn es ihnen gefällt, noch hunderttausendmal lauter schreien ... Ich kenne sie nicht mehr ... In dieser Stunde erfüllt sich endlich der einzige Wunsch meines Lebens, die fixe Idee, die mich während meiner ganzen Karriere verfolgt hat – und ich habe 17 Jahre des Dienstes hinter mir ... Mein so lange zurückgedrängter Wunsch nimmt eine wahnsinnige Größe an. Schneller, immer schneller, schneller!
Der Dämon des schwarzen Schreckens: Seine Stirn ist mit Schweiß bedeckt, seine Augen mit Tränen erfüllt; mit klappernden Kinnladen und gerungenen Händen schüttelt er die Reisenden, die zu begreifen beginnen, daß nicht alles so ist, wie es sein sollte.
Die Reisenden: Haltet ihn, haltet ihn! Er will uns töten ... Kondukteur, halten Sie ihn! O es ist entsetzlich, entsetzlich!
Der Kondukteur: Der Führer, der nach Gott Herr seines Trambahnwagens ist, muß betrunken oder wahnsinnig sein, er spielt jetzt mit unserem Leben ... Niemand vermag etwas über ihn ...
Der Mann, der schläft: Er erwacht.
Das, was sein soll, wird sein.
Er schläft wieder ein.
Der junge Ladengehilfe zu der Modistin: In dieser Gefahr verbrenne ich meine Schiffe hinter mir! O Klementine, ich heiße Adolf! Ich liebe dich, komm an mein für dich entflammtes Herz, süßer Engel! ... Wenn wir schon untergehen sollen, so laß uns wenigstens das beste aus den letzten uns gebliebenen Minuten machen, und möge der Tod uns in den Armen der Liebe finden ... Mit dir wird der Tod mir süß sein.
Die Modistin: Mein Herr, was sagen Sie? Mein Gott, wie furchtbar rasch der Wagen dahinjagt, Mama, ich habe Angst ... Rette mich, Adolf ...
Sie wirft sich in seine Arme.
Die Familienmutter zu ihrem Kind: Tintin, der Wagen wird umstürzen. (Geräusch in ihrem Korb.) Da haben wir es, meine Eier zerbrechen, die Welt geht unter.
Das Kind, müde: Tintin will schlafen.
Die Nonnen, denen vor Angst die Zähne aufeinanderschlagen: Herr des Himmels, das Paradies ist gut und schön, aber bitte, so spät wie möglich. Außerdem haben wir noch nicht gebeichtet ... Heilige Jungfrau, der Weg ist rauh ...
Sie beten verzweifelnd ihren Rosenkranz.
Der Straßenbengel: Diese schweinische Regierung! Da sieht man, was bei ihren Monopolen herauskommt.
Der Trottel: Ich kann gar nicht sagen, wie egal mir das alles ist! Ich denke an nichts, ich gehe nirgendwohin ... Meine Augen blicken so ausdruckslos, daß sie Furcht erregen ... Ich bin ein elender Waschlappen, der Trottel der Omnibusse.
Der alte Herr: Nun ist es aber genug, ich will, daß man anhält. Kondukteur, ich werde mich beschweren! Wahrhaftig ... das ist ja unerhört ... In Amerika ...
Die dicke Dame: Was nützt es mir in dieser Gefahr, daß ich eine dicke und sehr gut situierte Dame bin? Soll ich sterben und alles verlassen? ... Dieser Trambahnführer ist ja geradezu ein verruchter Verbrecher, wenn er sich selbst um das Leben bringt und alle andern in das Verderben reißt, so verstehe ich das sehr gut, aber mich, mich, die ich 60.000 Franken Rente habe. Das weiß er gewiß nicht, oder er muß ein Anarchist sein ... Gott, das geht immer schneller. Militär ... Militär ... Militär ... Hilfe, zu Hilfe!
Der schüchterne junge Mann: Die dicke Dame neben mir schwitzt vor Angst so stark, daß ihr Schweiß mich überschwemmt. Der Soldat ängstigt sich schrecklich, und er drückt nicht mehr wie vorher ... ich bin vielleicht der einzige, der keine Furcht hat ... ich bin zu schüchtern dazu.
Der Soldat: Donnerwetter, wenn ich der Vorgesetzte dieses Kerls wäre, dem diktierte ich vier Tage Dunkelarrest. Ich wette darauf, wir sind schon an der Kaserne vorübergesaust. Und dann macht die dicke Dame mir solch seltsame Augen ... Ich werde ihr wohl zu Hilfe eilen müssen.
Der kühne Reisende: Ich habe Angst! Ich habe Angst!
Er wirft sich von der Plattform und tötet sich.
Die Reisenden des Verdecks: Wir haben wirklich genug davon, auf den Verdecken zu fahren ... Bei dieser Todesfahrt wird es kälter und kälter ... Die Eiszapfen hängen an unserm Mund, unsere Füße tragen uns nicht mehr, die Nase ist uns erfroren und wird wie eine reife Frucht abfallen ... Es ist zuviel ... Hier ist uns der Untergang gewiß ... Es ist zuviel ... Angesichts des Todes verwischen sich die Unterschiede der gesellschaftlichen Stellung.
Wenn wir aber schon sterben müssen, so soll es wenigstens unten im Wagen sein, wo es warm, trocken und hell ist. Kommt, laßt uns hinuntergehen.
Sie drängen sich der Treppe zu.
Der Kondukteur: Er ergreift die Eisenstange, mit der er in normalen Zeiten das Gleis der Bahn reinigt.
Hier stehe ich am Fuße der Treppe mit meiner Eisenstange in der Hand. Es darf keiner herunterkommen. Ich bin mir meiner Pflicht bewußt und erfülle sie ... Beim Himmel, ich werde den ersten, der sich herabdrängt, erschlagen, und den zweiten ... und ...
Die Reisenden des Verdecks: Brutaler, harter Mensch, aber wir werden dennoch herabkommen.
Der Kondukteur, wild mit der Eisenstange um sich schlagend:
Seid ihr denn des Lebens müde?
Die Reisenden des Verdecks: Er wird es nicht wagen, uns niederzuschlagen. Laßt uns hinuntergehen, Freunde.
Sie steigen hinab. Der erste, der auf der Plattform erscheint, wird von dem Kondukteur mit der Eisenstange auf den Kopf geschlagen, er stirbt und fällt herunter. Die andern weichen erschrocken einige Stufen zurück.
Sie legen sich jetzt aufs Bitten.
Du bist der Stärkere, Kondukteur, das ist wahr. Aber habe Erbarmen. Sieh, wie wir leiden, und erbarme dich der Tränen, die auf unseren Wangen zu Eis werden ... Wir sind da oben in einer eiskalten Hölle. Unten ist noch Platz genug ... Laß uns herunter ... Gott wird dich dafür belohnen.
Der Kondukteur: Gott hat nicht das geringste mit den mir gegebenen Vorschriften zu tun ... Ihr seid Verdeckreisende, ihr habt nur drei Sous bezahlt und folglich kein Recht auf Innenplätze, also marsch, steigt wieder hinauf.
Die Reisenden: Der Kontrakt, auf den du dich berufst, ist zweideutiger Natur. Indem uns dieser Wagen weit über das bestimmte Ziel hinausführt, verletzt der Führer die uns gegenüber eingegangenen Verbindlichkeiten. Darum sollte es uns doch auch gestattet sein, die unsern zu überschreiten.
Der Kondukteur: Das geht mich gar nichts an. Ihr könnt ja schreiben und Beschwerde führen. Keinesfalls habt ihr das Recht, herunterzukommen.
Die Reisenden: Habe Mitleid ... Sieh, wir sind wie du Kinder des Volkes ... Wir haben wie du die bittere Milch des Elends getrunken. Wir haben unter der Ungerechtigkeit der Kapitalisten, Fabrikbesitzer und Direktoren schwer gelitten. Wir hausen wie du in erbärmlichen Wohnungen. Wir haben an Sonnabenden vor unseren Türen miteinander geplaudert. Wir haben zusammen in der Kneipe zuerst Wein und dann Absinth getrunken. Sei gut! Laß uns hinunter ... Habe Mitleid mit deinen Brüdern.
Der Kondukteur: Ich bin euer Bruder nicht. Ich trage ein Käppi mit Tressen daran ... Schnell, steigt wieder hinauf.
Die Reisenden: Sie steigen hinauf.
Dieser Mann hat kein Herz. Das Glück, eine so ehrenvolle Stellung gefunden zu haben, hat ihn verhärtet. Wir werden alle untergehen.
Sie drücken sich auf dem Verdeck des Wagens so eng wie möglich aneinander, aber die furchtbare Kälte macht sie erstarren, und sie erfrieren und sterben alle miteinander.
Düstere, unbekannte Ebene, durch die der Wagen wie eine Kugel fliegt.
Der Trambahnführer: Schnell, schnell, schnell! Hurra, Hurra, Hurra! Alles erhöht meinen Genuß: die Kälte, die Schnelligkeit, der Wind, der Schnee, das Verbrechen, der Tod! Ich trotze dem Tod, und ich spiele mit ihm, was tut's? Ich mache die Reise um die Welt. Welcher Ruhm! Mit einem elektrischen Wagen! Mein Genie reißt einige Philister mit in den Abgrund, was macht das? Es ist ein Glück für sie. Es sind große Dinge, die ich unternehme, und sie nehmen daran teil, wenn auch ohne zu wollen. Das Schicksal will es so, und mit einem Helden untergehen zu dürfen, das ist immer eine Wohltat der Götter. Ich aber bin ein Held! Ich weiß, was ich will und freue mich dessen. Schnell, schnell! Hurra!
Unterdessen hat der schöne Engel der Gewohnheit, dessen Gesicht den Ausdruck der Resignation trägt und der sein Äußeres den ihn umgebenden Verhältnissen anpaßt, seinen beruhigenden Einfluß auf die im Innern des Wagens sitzenden Reisenden ausgeübt. Sie fangen wieder an, Interesse an ihren eigenen und gegenseitigen Angelegenheiten zu nehmen.
Der junge Ladengehilfe hat mit Hilfe einiger Nadeln seinen Überzieher mit dem Schal der kleinen Modistin zusammengeheftet und damit einen isolierenden Vorhang geschaffen, der das Pärchen von den andern Reisenden trennt und ihm ein lauschiges Plätzchen gewährt, das sie als eheliches Gemach betrachten. Man sieht nichts – aber man hört!
Die Stimme des Ladengehilfen begeistert deklamierend:
Oh, du Wunder eines idealen Frauenkörpers. O du göttliches Wunder.
Die Stimme der Modistin: O wie weh das tut! Mama! Mama!
Die andern Reisenden kümmern sich nicht um dies alte, ewig neue Drama, und jeder denkt nur an seine eigenen Angelegenheiten.
Die Familienmutter: Sie hat ihren Korb geöffnet, um ihrem Jungen, der frisch und lächelnd erwacht ist, etwas daraus zu essen zu geben.
Titi. Tintin zu Mama kommen, hier bißchen essen.
Konstantin: Tintin will gern essen.
Der verlumpte Bursche, der durch die Lektüre seines politischen Blättchens ganz erregt ist: Es lebe die Anarchie.
Der Herr, der immer Beschwerde führt: Kleiner Schurke! In Amerika würde man dich durch Elektrizität hinrichten.
Der Bursche, sich in die Brust werfend: Sagen Sie mal, für wen halten Sie mich eigentlich?
Der Trottel: Ich bin der Trottel der Omnibusse. Der Wagen läuft, läuft, alles läuft! Ist egal, ist mir ganz egal.
Der Mann, der schläft – er träumt:
Grünes Feld ... schöne Sonne ... frisches Gras ... süße Freundin ... Primeln sind unser Kopfkissen ...
In der reizenden Ungeniertheit seines Schlummers streckt und dehnt er sich und legt dann seinen Kopf behaglich auf die Brust der Nonne, die seine Nachbarin ist.
Die Nonne, eingeschüchtert und ängstlich:
Die christliche Barmherzigkeit verbietet es mir, dieses schlummernde Haupt von meiner Brust wegzustoßen, meine Keuschheit untersagt mir, es liegen zu lassen ... Was soll ich tun?
Die andere Nonne: Die Vigilien der großen Feste nahen ... Töten wir unser Fleisch durch Kasteiungen und Fasten.
Die erste Nonne läßt indessen den Kopf des Mannes, der übrigens jung und schön ist, auf ihrer Brust ruhen. Für sich:
Ob ich hierdurch mein Fleisch ertöte?
Sie beten beide den Rosenkranz.
Die dicke, gut gekleidete Dame: Ich bin eine dicke, gut gekleidete Dame. Dieser Soldat scheint heißblütig und sehr kräftig zu sein, und ich liebe die schönen Männer ... Außerdem dient er bei der Kavallerie ... Ich werde ihm eine Stelle als Gärtner mit 45 Franken Gehalt monatlich anbieten – mit freier Nutznießung meiner Person. Das wird ökonomisch und zugleich sehr lustig werden ... Um ihn noch mehr zu reizen, werde ich ihm versprechen, ihn in meinem Testament zu bedenken, indem ich ihn als Hüter und Pfleger Trou-Trous, meines angebeteten Pudels, einsetze – – übrigens hoffe ich ihn und Trou-Trou zu überleben, wie ihre Nachfolger in meiner Gunst.
Über den gequälten Körper des schüchternen Mannes weg neigt sie sich dem Sohn des Mars zärtlich entgegen und gibt sich seiner Umarmung hin, sie ist so dick, daß er sie kaum umfassen kann, aber die Sache amüsiert ihn.
Der Soldat: An der ist was dran, Teufel auch! An der ist was dran!
Der schüchterne Mann: Man sieht nichts mehr von ihm als einen Fuß, den er krampfhaft im Todeskampf bewegt. Seine Stimme ist ein Röcheln.
Werden sie nicht über meinen Körper weg ihre Gelüste befriedigen? Ich – ich – sterbe – an dieser Schamlosigkeit.
Er haucht seine Seele aus.
Der Kondukteur, nachdenklich für sich: Sollte ich nicht ein Zuschlagsgeld für alle Plätze reklamieren, da der elektrische Wagen längst über das vereinbarte Ziel hinaus ist? Warum sollen sie eine Gratisfahrt haben?
Die Gespenster: Es sind die rächenden Geister der auf dem Verdeck des Wagens erfrorenen Reisenden. Sie schlingen einen höllischen Reigen um den harten Mann, der Ursache ihres Todes ist.
Kondukteur, Kondukteur! Geh in dich, bereue, was du getan! Wir sind die Geister der Opfer deiner Herzlosigkeit! Wir brennen jetzt in der Hölle, nachdem wir dank deiner Grausamkeit erfroren sind.
Der Kondukteur: Was sind das für scheußliche Phantome? Und was wollen sie von mir? Ich habe Furcht! Mein Gewissen regt sich, und doch habe ich nur meine Pflicht erfüllt, indem ich erbarmungslos war.
Die Gespenster: Die Pflicht verlangt keine wilde Grausamkeit von dir. Man soll gut und freundlich mit seinesgleichen umgehen.
Der Kondukteur: Pflicht heißt, sich genau an die gegebenen Vorschriften halten ... und es fand sich keine Bestimmung über einen solchen Fall ...
Die Gespenster: Komm mit uns in das düstere Gestade, um den Lohn deines Verbrechens zu erhalten und zu erkennen, was die wahre Pflicht ist.
Der Kondukteur kämpft vergebens mit den Gespenstern, die ihn herabreißen und zur Hölle schleppen.
Gibt es denn zwei Arten von Pflichten?
Die Gespenster: Du bist ein herzloser verfluchter Bösewicht.
Während der Wagen wie toll durch diese öde Gegend in der von Schneestürmen erfüllten schrecklichen Nacht dahinrast, hört man in der Ferne die Brandung des Meeres und das Geräusch der sich an den Klippen zerschellenden Wellen – denn jeder irdische Weg führt zum Meer.
Der Trambahnführer: Ich glaube, daß ich einen Fehlgriff getan habe. Ich werde meinen Wunsch, bis an das Ende der Welt zu reisen, nicht erfüllen können, denn mein Wagen fährt gewiß nicht über das Wasser ... Daran habe ich nicht gedacht ... Übrigens ist es mir im Grunde auch sehr gleichgültig ... Bis an das Ende der Welt fahren – warum sollte ich das tun? Gar nicht davon zu reden, daß ich unausgesetzt meine Pflicht verletze und das Vertrauen meiner Vorgesetzten hintergehe ... Außerdem ist die Welt rund ... es gibt also kein Ende ... ich würde einfach wieder am Ausgangspunkt meiner Fahrt ankommen ... das würde ja geradezu lächerlich sein. –
Die Fahrt war amüsant, aber jetzt kommen wir in die Nähe des Meeres, das mir heute abend seltsam bewegt vorkommt ... kehren wir also um. Zurück, mein Wagen, zurück!
Der Trambahnwagen: Nein! Du hast mich gelehrt, was die Pflicht bedeutet. Wie du habe ich darunter gelitten, unter den Befehlen eines andern zu arbeiten, aber ich habe geglaubt, daß es so sein müßte ... Du hast mir die Freiheit gezeigt. Ich nehme mir mein Teil davon. Ich will lieber sterben, als weiter als Sklave leben! –
Er sagt es, und den Bemühungen des Führers, ihn zum Stillstehen zu bewegen, Widerstand entgegen setzend, rast er vorwärts und stürzt sich in das Meer, das ihn mit all seinen Insassen verschlingt. –