Paul Bourget
Kosmopolis. Zweiter Band
Paul Bourget

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Elftes Kapitel.

Leidensschwestern

Alba Steno hatte den Abschiedsgruß in so besonderem Ton gesprochen, daß Dorsenne, noch ganz bewegt davon, die Treppe hinabging.

»Seien wir auf unsrer Hut, Meister Julian,« sagte er sich. »Die Kleine war heute abend mit dem etwas mageren Hälschen in dem weißen Tüllgekräusel, der blassen Haut, den roten Lippen und diesen hellen Augen gar zu hübsch – beunruhigend hübsch. Noch ein paar Gespräche dieser Art, und wir sind nicht mehr weit von der Dummheit« – Dummheit war seine nicht sehr höfliche Umschreibung von Heirat – »und das darf uns nicht passieren, nein, nein, nein. Erinnern wir uns des Spruches auf dem Ring . . .«

Er drückte den großen Saphir eines Ringes, den er immer am kleinen Finger trug, an seine Lippen. Die Buchstaben M. H. U. D. P. waren darauf eingraviert, die indessen keine Initialen aus dem Reich der Liebe waren, wie Albas Eifersucht jedenfalls vermutet haben würde, wenn ihr dieser seltsame Talisman eines Hagestolzen je in die Hände gefallen wäre. Dorsenne hatte mitunter seine kindischen Anwandlungen, und in einer solchen hatte sich dieser wunderliche Künstler ein berühmtes Wort der Schrift, das er auf das unbeständigste und zugleich systematischste Vagabundentum, die Schriftstellerei, anwendete, zum Wahlspruch erkoren: »Memoria hospitis unius diei praetereuntis« – Andenken an den flüchtigen Gast eines Tages. Das bedeutete die Inschrift des Ringes, und das war's, was er in Freundschaft und Liebe hinterlassen wollte. Seine Neider schalten ihn eitel, und doch war er's so wenig, daß er beim Heraustreten in die herrliche Mainacht nicht einmal die Frage aufwarf, welchen Eindruck er heute abend auf das junge Mädchen gemacht haben werde. Er hatte zwar von gefährlichem Spiel gesprochen, aber er erkannte nicht, daß, wenn für ihn die Junggesellenfreiheit auf dem Spiele stand, Alba ihr ganzes Herz wagte, ein so krankes Herz, daß es unbarmherzig war, damit zu spielen.

Leider war die mit gewollter Unbewußtheit unternommene Eroberung durch diesen gleichzeitig so wenig empfindsamen und doch auf Empfindungen andrer lüsternen Mann schon mehr als halb gelungen. Die Raubseele hatte die arme kleine Seele schon umsponnen, wie die Spinne eine unvorsichtige Fliege, die sich in ihr Netz wagt, mit einem Faden anheftet, den das zappelnde Tierchen vergebens zu zerreißen strebt. Als Dorsenne heute die Villa Steno verlassen hatte, ging es der Komtesse, wie es ihr schon so oft gegangen war – trotz der zahlreichen Gesellschaft, die sich darin umhertrieb, überkam sie ein fröstelndes Gefühl der Einsamkeit. Es war ihr häufig so zu Mute nach derartigen Plaudereien, denn Julian war der einzige Mensch, der durch den Zauber seiner Gegenwart viertelstundenlang die Qualen der fixen Idee bannen konnte, die an ihr zehrte. Er war schön, er war berühmt und verstand die Kunst, immer so mit ihr zu sprechen, als ob er ihr geheimes Leid verstünde, ohne sie je durch ein Uebermaß von Scharfblick zu verletzen. Jetzt hatte sich durch seinen merkwürdigen Zweikampf mit Gorka zum Ruhm seines Geistes und seiner litterarischen Thätigkeit noch der einer romantischen Tapferkeit gesellt. Endlich aber, und für dieses Element in ihrem Gefühl war der Schriftsteller wenigstens nicht verantwortlich, stand sein spöttischer Ton im mündlichen Verkehr in so starkem Gegensatz zu der rührenden Innigkeit mancher von seinen Arbeiten, daß die arme Kleine notwendig den Gedanken fassen mußte, auch er verberge geheime Schmerzen unter dieser Maske der Ironie. Ein einziger dieser Gründe hätte für eine andre Mutter hingereicht, um ihrer Tochter unbedingt jede Vertraulichkeit mit einem Mann zu untersagen, der wie geschaffen war, eine zwanzigjährige Phantasie zu beschäftigen und irrezuführen. Aber die Gräfin dachte um so weniger an eine derartige Wachsamkeit, als sie sich, wie fast alle Eltern, ein feststehendes Urteil über die Natur ihres Kindes gebildet hatte.

»Wer die in Flammen setzen wird,« pflegte sie lachend zu sagen, »ist noch nicht geboren!«

Alba war zu verschieden von der Mutter, als daß diese ein Gemüt hätte verstehen können, das sich um so mehr verschloß, je bewegter es war, während für die üppige, heißblütige Venetianerin Empfindung und Aeußerung in eins zusammenfielen. Auch heute abend wäre ihr Albas träumerische Versunkenheit nach Dorsennes Abgang vollständig entgangen, wenn Hafner nicht eine Bemerkung darüber gemacht hätte. Der schlaue Freiherr sah natürlich in Dorsennes Bemühungen um Alba nur die Absicht, eine Mitgift zu erjagen, die für keinen unbedeutend, für einen bürgerlichen Franzosen von mäßigem Wohlstand aber sehr groß war. Die fünfundzwanzigtausend Franken Zinsen von Dorsennes Vermögen machten ihn zum unabhängigen, die zweihundertfünfzigtausend, die Alba nach dem Tode der Mutter zufielen, würden ihn zum reichen Mann machen.

Hafner glaubte sich denn auch den Beinamen des alten Freundes wieder neu zu verdienen, indem er die Gräfin beiseite nahm und ihr sagte: »Finden Sie nicht, daß Alba in letzter Zeit ein wenig . . . seltsam geworden ist?«

»Das war sie von jeher,« erwiderte die Gräfin. »Die heutige Jugend versteht nicht mehr jung zu sein.«

»Glauben Sie nicht eher, daß dieser Schwermut etwas anderes zu Grunde liegt? Etwa eine Neigung für irgend jemand?«

»Alba verliebt?« rief die Mutter betroffen. »Und in wen?«

»In Dorsenne,« versetzte der Freiherr, seine Stimme noch mehr dämpfend. »Vor fünf Minuten ging er fort, und beobachten Sie nur ein wenig – seither beachtet sie nichts und niemand mehr!«

»Ach! Das wäre mir sehr willkommen,« sagte Katharina Steno lachend. »Er ist ein hübscher Bursche, hat Talent und Vermögen; er ist der Großneffe eines Helden, was in meinen Augen den Adel aufwiegt. Aber ich glaub' es nicht, nein, ich gebe Ihnen mein Wort, Alba denkt nicht daran. Sie hätte mir's gesagt, wie sie mir alles sagt, denn wir sind Freundinnen, fast Kameraden, und sie weiß, daß ich ihr in der Wahl eines Gatten unbeschränkte Freiheit lasse. Nein, nein, mein alter Freund! Ich kenne mein Kind! – Sie interessiert sich weder für Dorsenne, noch sonst für jemand. Leider, denn sonst würde sie das Vergnügen mehr genießen und nicht immer ermüdet und gelangweilt sein. Mitunter fürchte ich eine jener zehrenden Krankheiten, wie bei ihrer Cousine Andryana Navagero, der sie so ähnlich sieht . . . allein ich werde sie ein wenig aufmuntern, das macht sich rasch!«

»Einen Dorsenne als Schwiegersohn!« dachte Hafner, während er die Gräfin durch die zerstreuten Gruppen ihrer Gäste auf Alba zugehen sah, und kopfschüttelnd warf er einen befriedigten Blick auf seinen eigenen künftigen Eidam. »Das kommt davon, wenn man seine Kinder aus den Augen läßt! Man bildet sich ein, sie zu kennen, bis es einem bei irgend einer Thorheit wie Schuppen von den Augen fällt, und dann ist's zu spät. Nun, ich habe sie gewarnt – das übrige ist nicht meine Sache.«

Dieser feine Beobachter, dessen Blick noch lange wohlgefällig auf der anmutigen von Peppino Ardea und Fanny gebildeten Gruppe ruhte, hatte keine Ahnung, daß er selbst diese Tochter, die er einem römischen Fürsten verlobt und durch die er das höchste Ziel seines gesellschaftlichen Ehrgeizes erreicht hatte, ebensowenig kannte. Unter allen, die in dieser Halle und draußen auf der Terrasse beisammen waren, erriet weder ein Mann, noch eine Frau, nicht einmal die scharfsinnige Lydia Maitland, die über neue Rachepläne brütete, wie es in Wahrheit um diese junge Braut stand. Nur Alba hatte eine Ahnung davon, aber es war eben auch nicht mehr als eine Ahnung. Sie hatte sich nicht getäuscht, als sie die Anfänge eines Erwachens aus beglückender Täuschung wahrzunehmen glaubte bei dieser Freundin, zu der sie sich seit Mauds Abreise mehr und mehr durch ein inniges Mitgefühl für die grausame Uebereinstimmung ihrer Schicksale hingezogen fühlte, und sie hatte richtig erkannt, daß die Gespräche ihres Verlobten dem jungen Mädchen im höchsten Grad mißfielen. Und doch brachte er nichts vor, als sehr harmlose Späße über die Fürsten des Heiligen Stuhls, wie sie in Rom in schwarzen so gut als in nationalen Kreisen im Schwang gehen. Ardea machte sich trotz Fannys zunehmender Gereiztheit ein Vergnügen daraus, ihr allerhand mehr oder minder verbürgte Geschichtchen aus dem vatikanischen Haushalte zu erzählen, und bezweckte damit, ihrer katholischen Ueberschwenglichkeit, die ihm etwas bange machte, einen Dämpfer aufzusetzen. Sein Sinn fürs Komische und sein Gefühl für gesellschaftliche Mißgriffe sagten ihm, wie gründlich lächerlich es wäre, wenn er jetzt wieder in die kirchlichen Kreise zurückkehren wollte, nachdem er eine Millionärin, die eine Katholikin von gestern war, zur Frau genommen hätte. Um billig zu sein, muß man zugeben, daß der Sekt des Stenoschen Hauses auch seinen Anteil hatte an der Beharrlichkeit, womit er seine Verlobte über ihre religiöse Unschuld neckte. Es war nicht sein erster Rückfall in die Weinseligkeit, die eine Lieblingssünde seiner ersten Jugend gewesen war und die in den sonnigen Ländern gar nicht so selten ist, als wir in unsrer nordischen Bescheidenheit annehmen.

Als Alba, die von ihrer Mutter an ihre Pflichten als Haustochter erinnert worden war, jetzt zu dem jungen Paar trat und sich neben Fanny setzte, sagte Peppino lachend: »Sie kommen wie gerufen, Komtesse! Ihre Freundin ist ganz entsetzt über ein Histörchen, das ich ihr eben erzählt habe . . . Sie werden sie ja kennen, die Geschichte von dem Offizier der päpstlichen Leibwache, der diesen Winter über das vatikanische Telephon benützt hat, so oft er, ohne Ugolinos Eifersucht zu erregen, mit der Julia Rezzonico seine Stelldichein verabreden wollte.«

»Ich sagte Ihnen schon, daß ich an derlei Scherzen keinen Geschmack finde,« bemerkte Fanny, ihre Gereiztheit bekämpfend. »Wenn Sie nicht aufhören können damit, so stehe ich auf und überlasse die weitere Unterhaltung der Komtesse.«

»Wenn Sie sehen, daß es ihr peinlich ist,« sagte Alba, »so sprechen Sie doch von etwas andrem.«

»Ach, Komtesse!« seufzte Peppino mit einem wehmütigen Kopfschütteln. »Sie stehen ihr jetzt schon bei – wie soll das erst später werden? Nun denn, ich thue feierlich Abbitte für meine harmlosen Witze. Schade übrigens,« setzte er lachend hinzu, »denn ich hätte noch zwei oder drei sehr lustige Einzelheiten auf dem Herzen.« Und Ardea begann, sie auszukramen.

»Wo gehst du hin?« fragte Alba, als Fanny ihre Drohung ausführte und wirklich aufstand.

»Ich habe meinem Vater etwas zu sagen . . .«

»Sagt' ich Ihnen nicht, Sie sollen dieses gefährliche Gebiet verlassen?« bemerkte Alba, als sie nun allein neben dem Fürsten saß.

»Sie werden mir zugeben, daß ich mich in einer wunderlichen Lage befinde, Komtesse,« versetzte Ardea ein wenig zerknirscht, aber doch lustig die Achseln zuckend. »Ueber ein Kleines verbietet sie mir, in den Quirinal zu gehen. Es fehlt nur noch, daß Papa Hafner auch noch religiöse Skrupel bekäme und es für unstatthaft hielte, den König zu grüßen . . . Jetzt muß ich aber Fanny besänftigen . . .«

»Mein Gott,« dachte das junge Mädchen, während Peppino seiner Braut nachging, »ich glaube, er ist ein wenig betrunken . . . welch ein Jammer!«

Auch wenn er nicht ein paar Gläser zu viel von dem für seine Güte berühmten Sekt der Gräfin Steno getrunken hätte, würde der sehr moderne Erbe des Nachfolgers von Sixtus V. die religiöse Verletzbarkeit seiner Verlobten nicht ernsthaft genommen haben. Ohne den macchiavellistischen Kunstgriff zu durchschauen, womit Justus Hafner sich des Meisters Noë Ancona, des berüchtigtesten Geschäftsagenten in Rom, bedient hatte, um ihn zu dieser Heirat zu drängen, machte er sich keinerlei Illusionen über ihren geschäftlichen Untergrund. Zu seiner Entschuldigung oder weiteren Belastung – es kommt hierbei auf den Gesichtspunkt an – muß gesagt werden, daß er der Sache keine große Bedeutung beilegte. Wenn er auch naturgemäß viel auf seinen Namen hielt, war er doch praktisch genug, um Adel ohne Vorrechte für einen zweifelhaften Besitz zu erachten, und er hatte das Gefühl, daß er bei diesem Heiratsgeschäft dem Finanzmann gegenüber die Rolle des Ausbeuters spiele.

Die sichtliche Hochachtung, womit Hafner das Wappen der Castagna behandelte, erschien dem Abkömmling dieses edlen Hauses wie ein lustiges Possenspiel, und die kirchliche Schwärmerei der neubekehrten Fanny war ihm vollends urkomisch. Vielleicht war diese Auffassung nur ein Winkelzug des in tausenderlei Gestalten auftretenden Adelsstolzes. Die Gleichgültigkeit eines vornehmen Herrn für äußere Auszeichnungen, die uns häufig für ihn einnimmt, ist eine dieser Gestalten.

Ganz gewiß hatte der Fürst seinen Schwiegervater richtig erkannt, aber in Fanny täuschte er sich gründlich. Aber wer hätte ihm das Verständnis beibringen sollen für die Natur dieses jungen Mädchens und ihren religiösen Entwicklungsgang, der es wohl verdient, wenigstens in flüchtigen Umrissen gezeichnet zu werden, schon weil er aufs engste mit der tragischen Lösung des Kampfes in Alba Stenos Herz verknüpft ist. Eine ehrliche Bekehrung ist immer ein interessantes sittliches Problem, aber weder der kleine Auftritt dieses Abends, noch die darauffolgenden sind ohne eine kurze Analyse verständlich, die freilich für einen Römer von der Art Ardeas ins Gebiet des Undenkbaren gerechnet würde. Die Frage der Religion war für ihn von jeher mit lokalen Interessen, städtischen Angelegenheiten und der Alltagspolitik seines Landes verquickt gewesen. Wenn er zufällig in der Peterskirche an einem Beichtstuhl vorüberkam, so verfehlte er nicht niederzuknieen, seinen Kopf einem der Priester zu neigen und sich durch die Berührung seiner Haare mit dem Stab die Vergebung seiner verzeihlichen Sünden erteilen zu lassen. Die Ironie, womit er, gerade wie der übrige Adel der ewigen Stadt es von jeher gethan hat, den Vatikan betrachtete, schloß eine gewisse aufrichtige Verehrung keineswegs aus. Für Fanny jedoch, die am Vorabend aus den eigenen Händen des Papstes die Hostie empfangen hatte, war der Gegensatz zwischen dieser weihevollen Stimmung und dem Geschwätz Ardeas unerträglich.

Wer je das Glück gehabt hat, einer von den Privatmessen beizuwohnen, die Leo XIII. zu celebrieren pflegt, weiß, daß die Verklärung, die den Papst in der Inbrunst des Meßopfers ergreift, ein Schauspiel von einer Herrlichkeit ist, neben der aller Prunk der Sixtinischen Kapelle verblaßt. Diese tiefe Stimme, die nicht eine Silbe von den Gebeten ohne Betonung und Beseelung ausspricht, dieser hinfällige Körper, dessen Kraft gerade noch hinzureichen scheint, das Feuer des Gedankens zu ernähren, die Einfachheit und Großartigkeit der Gebärde, womit er den Segen erteilt, der weit über die Häupter der kleinen Zahl von knieenden Frommen hinweg, weit über die enge Kapelle zur ganzen Christenheit hinauszieht, diese Augen des Nachfolgers Petri, die einen Widerschein des im voraus geschauten Himmels ausstrahlen, diese ganze Poesie bleibt jedem unvergeßlich. Sie ergreift auch den nur Halbgläubigen, falls er noch nicht verlernt hat, vor dem seelisch Großen zu erbeben. Aber für ein Mädchen in Fannys Alter, das am Tag vorher aufrichtig gläubigen Herzens sein katholisches Bekenntnis abgelegt und jetzt zum erstenmale das Abendmahl der Katholiken empfing, war der Augenblick, wo der greise Papst die herrlichen Worte »Corpus domini nostri . . .« gesprochen und ihr mit der ehrwürdigen, blassen, fast durchsichtigen Hand die Hostie gereicht hatte, überwältigend gewesen. Wenn Peppino Ardea nicht fühlte, daß die leiseste Bespöttelung dieses Eindrucks ein nicht wieder gut zu machender Mißgriff war, so ging seine Klugheit wahrhaftig nicht über die eines beliebigen Roßtäuschers hinaus, so mußte ihm die ganze sittliche Welt mit sieben Siegeln verschlossen sein! Und dabei bildete er sich noch ein, wunder wie klug gehandelt zu haben, indem er sich zum voraus gegen Kindereien oder, wie er beinahe dachte, Komödienspiel wappnete.

Wie fast alle Umwälzungen dieser Art war auch der in Fannys Gemüt seit Jahren vorbereitete Uebergang zum Katholizismus auf ein Beispiel zurückzuführen. Das wahre Werkzeug der Religionsausbreitung ist weder Lehre noch Ueberzeugung, sondern die Berührung, worin eine Seele mit einer andern kommt. Der Glaube wird weder gelehrt noch befohlen, er teilt sich kraft einer ihm innewohnenden Ausdehnungsfähigkeit mit, wodurch sein geheimnisvoller, menschlich unergründlicher Gehalt bewiesen ist. Fanny hatte sich ganz jung, siebzehnjährig, als mutterloses Mädchen, das gemütlich ebenso verarmt als äußerlich mit Schätzen überladen war, innig befreundet mit einem Fräulein von Sallach, der Tochter eines Großgrundbesitzers aus Oesterreich, die brustkrank nach Rom gekommen war, um hier zu sterben. Herr von Hafner hatte diese Beziehungen aus Eitelkeit begünstigt, ohne sich über den Einfluß, dem er sein Kind aussetzte, Rechenschaft zu geben. Mathilde von Sallach war nämlich eines von jenen Wesen, die durch die Innigkeit und Glut ihres Glaubens fast überirdisch erscheinen, und ihre gläubige Seele hatte bald unbedingte Herrschaft über die schwankenden Ueberzeugungen der Freundin gewonnen.

Nachdem Fanny mit Fräulein von Sallach einige fromme Schriften gelesen, hungerte und dürstete sie nach dem Katholizismus, wie ihr Vater nach Millionen und Titeln gehungert und gedürstet hatte. Mathildes Krankheit und Sterben gewährte ihr den erhabenen Anblick, den der Tod eines wahrhaft Gläubigen bieten kann, und befestigte ihren Glauben. Sie war dabei, als jene die Sterbesakramente empfing, und sah die Seligkeit des ewigen Heils auf den verklärten Zügen einer zwanzigjährigen Todesbraut ruhen. Mit dem Lächeln unerschütterlicher Sicherheit flüsterte ihr die Sterbende zu: »Ich werde unsern Heiland um deine Seele bitten . . .«

Wie hätte Fanny diesem Ruf, wie diesem Bild widerstehen sollen? Schon am Morgen nach Mathildes Tod erflehte sie vom Vater die Erlaubnis, in den Schoß der allein seligmachenden Kirche zu treten. Die Antwort, die sie erhielt, war bezeichnend.

»Mein Kind,« sagte dieser merkwürdige Mann, der an Stelle des Herzens einen Kurszettel trug und bei dem alles seinen Preis hatte, auch der liebe Gott, »ich bin gerührt und beglückt dadurch, daß die Religion dir derart Herzenssache ist. Sie ist eine nützliche, sehr nützliche, ja, ich möchte sagen unentbehrliche Einrichtung. Für das Volk ist sie ein notwendiger Zügel, für uns andre gehört sie zu einem gewissen Auftreten, sie bildet einen Bestandteil höherer Lebensstellungen und Kreise. Ueberdies soll eine Person, die, wie du, berufen ist, in Oesterreich oder Italien zu leben, katholisch sein . . ., trotzdem muß ich aber den Fall ins Auge fassen, du würdest einen Mann andrer Konfession heiraten. Bitte, mein Kind, keine Widerrede – ich bin dein Vater und muß alles bedenken. Du weißt, daß du nach Neigung heiraten darfst, warte also ab, bis dein Herz spricht, dann erst soll diese Frage entschieden werden. Liebst du einen Katholiken, so kannst du ihm durch den Uebertritt zu seinem Glauben eine Gefälligkeit erweisen, die er dir hoch anrechnen wird. Ich will dich schon jetzt in der Wahl des Gottesdienstes nicht beschränken. Die Kultformen der katholischen Kirche gehören entschieden zu den schönsten, und es ist mir selbst zu Zeiten des päpstlichen Regiments manchmal eingefallen, in die Peterskirche zu gehen. Diese Kunstwerke, dieser Prunk, der Gesang, alles hat mich ergriffen . . . Aber mit einem entscheidenden, unwiderruflichen Schritt mußt du dich noch gedulden. Deine jetzige Stellung als Protestantin hat den großen Vorzug, weniger ausgesprochen, neutraler zu sein . . .«

Was für Worte für ein von der Gnade berührtes, von der Sehnsucht nach der Ewigkeit erfüllte Herz! Aber dies Herz war auch ein zärtliches, reines Kindesherz, das nicht imstande war, den Vater zu richten. Die erschreckende Nüchternheit des Freiherrn hatte sie in Bestürzung versetzt, aber sie zog keine andern Schlüsse daraus, als daß sie dem Vater gehorchen und für ihn um Erleuchtung beten müsse. Sie hatte also in demütiger Hoffnung gewartet, und der Kardinal Guérillot hatte sie während dieser Frist aufrecht erhalten und geleitet. Dieser Prälat, eine der erhabensten Gestalten, die je einen römischen Bischofsstuhl geziert haben, war einer von jenen überzeugten Christen, für die Gottes Hand im menschlichen Schicksal so deutlich wahrnehmbar ist, als sie für andre unsichtbar bleibt. Als Fanny, die längst als hingebende Wohlthäterin an seinen Liebeswerken teil hatte, ihm ihre schwere Gewissensangst und den über die Konversion entstandenen Zwiespalt zwischen dem Vater und ihr klagte, hatte der Kardinal ihr geantwortet: »Vertrauen Sie auf Gott. Er wird Ihnen ein Zeichen geben, wann Ihre Stunde da ist . . .«

Die Ueberzeugung und Sicherheit, die aus seinen Worten klangen, waren in das Herz des jungen Mädchens übergegangen, um es nicht wieder zu verlassen. Mehr als zwei Jahre hatte sie in stiller Erwartung ausgeharrt, was nur der erstaunlich finden kann, der die Wunder des Glaubens nie erfahren hat und nicht kennt. Der Gegensatz zwischen dem glänzenden Rahmen, worin sich das äußere Leben dieses verwöhnten Kindes abspielte, und dieser Seelenstimmung war freilich so groß, daß nur ein Mann wie der Kardinal Guérillot dadurch nicht irregeführt werden konnte. Bei Montfanon war bekanntlich das Gegenteil der Fall und einigermaßen auch bei Peppino Ardea. Von einem in seiner Uebertreibung beinahe frechen Luxus umgeben, den sie nicht nur dulden, sondern auch verwalten mußte, da sie ja bei den üppigen Festen ihres Vaters die Hausherrin spielte, immer geschmückt wie eine Modepuppe, mußte Fanny jedem Unbeteiligten, der sie auf dem Pincio oder im Garten der Villa Pamfili mit einem Gespann fahren sah, das mindestens zwanzigtausend Franken wert war, als die Verkörperung weltlicher Genußsucht erscheinen. Hafner, bei dem die Eitelkeit zu einer Leidenschaft geworden war, wie das Spiel, der Geiz oder Ausschweifungen bei andern, verlangte, daß seine Tochter das unbestreitbare Scepter der Eleganz schwinge. Wer hätte es erraten sollen, daß dieses blasse Mädchen mit den schönen, edlen Zügen ihre Pracht nur aus Opfermut und Gehorsam und fast mit einem Gefühl der Demütigung zur Schau trug? Wer hätte ihr zutrauen sollen, daß sie in der rastlosen Unruhe eines aus Geselligkeit bestehenden Lebens jeden Abend in Erwartung eines Wunders einschlief, jeden Morgen mit der Sehnsucht nach dem ihr vom Kardinal verheißenen himmlischen Zeichen erwachte? Wie hätte ein Uneingeweihter, selbst wenn er die Vorurteile des reizbaren Marquis nicht teilte, begreifen sollen, daß diese vom Mysticismus ergriffene Seele ihre Begegnung mit Peppino Ardea als das heißersehnte Wunder auslegte?

Ja, dieser Untergang eines Erben Papst Urbans VII., der das Opfer seiner eigenen unverständigen Spekulationen geworden war, das wohlverdiente Mißgeschick eines anmaßenden, leichtsinnigen, hohlen Lebemannes, seine unvernünftigen Unternehmungen, seine thörichten Anleihen, sein Zwangsverkauf, alle Einzelheiten dieser alltäglichen, trostlosen Geschichte waren ihr vom Vater in der Beleuchtung eines Märtyrertums vorgeführt worden. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, daran zu zweifeln. Sie glaubte vielmehr in dem verabscheuungswürdigen Ränkespiel, das auf Kosten ihres Glückes die erbärmlichen aristokratischen Neigungen des einstigen Börsenjobbers befriedigen und mit erschwindelten Millionen die Kastanien des Wappens Ardea neu vergolden sollte, den Plan einer gütigen Vorsehung zu erkennen. Dieser Anlaß zu ihrem Uebertritt war ihr wie die Erhörung der Gebete erschienen, die ein Engel des Erbarmens dort oben für sie verrichtet hatte, jener Engel, der ihr sterbend das Wort gegeben hatte, sie zu retten. Was noch unwahrscheinlicher klingen mag und doch Wahrheit ist – der Kardinal Guérillot teilte diesen frommen Wahn! Trotz seiner siebzig Jahre, trotz der Erfahrungen des Beichtstuhls, trotz der noch viel ernüchternderen Lehren, die ihm ein erbitterter Kampf gegen die Widersacher der Kirche in seinem französischen Sprengel eingetragen hatte, der auch die Ursache seiner Verbannung nach Rom war, erblickte der ehrwürdige Greis in Fannys Heirat gleichfalls eine überirdische Fügung. Viele unter den Priestern sind solcher Kindlichkeit fähig, die am letzten Ende so häufig recht behält, für den Augenblick aber durch den Widerspruch zwischen den unbestreitbaren Thatsachen und ihrer Auffassung davon geradezu komisch wirkt.

Als er Fanny in die katholische Kirchengemeinschaft aufgenommen hatte, war über den einstigen Bischof von Clermont eine so tiefe Glückseligkeit gekommen, daß er dem geliebten Kind gesagt hatte: »Ich kann jetzt wie die heilige Monica nach der Taufe des heiligen Augustinus sprechen: ›Cur hic sim nescio, nam consumpta spe hujus saeculi‹ – ich weiß nicht, weshalb ich noch hienieden weile, denn meine ganze Hoffnung des Jahrhunderts ist erfüllt . . . Und ich kann wie sie hinzufügen: ›Das einzige, was es mir wünschenswert machte, noch ein Weilchen auf dieser Erde zu wohnen, war, Sie vor meinem Tode katholisch zu sehen. Jetzt kann der Reisende, der sich verspätet hat, aufbrechen. Er hat die letzte, die herrlichste Blume gepflückt.‹« Er hatte den Umweg durch einen andern Mund gewählt, um ihr die ganze Innigkeit seiner zarten, freundschaftlichen Achtung kund zu thun, dieser edle, vertrauensvolle Apostel, der in der That so bald nachher aufbrechen sollte und wohl verdient hatte, daß man wiederum die Worte des afrikanischen Bischofs über seine Mutter auf ihn anwendete: »Die fromme Seele wurde vom Leib befreit.«

Wie wenig ahnte er, daß er sie kurz darauf so teuer bezahlen werde, diese Verwirklichung seiner letzten Sehnsucht! Er sah nicht voraus, daß dieses Mädchen, das er so unbefangen seine herrlichste Blume nannte, ihm ein Anlaß schmerzlichster Traurigkeit werden würde. Der arme, große Kardinal! Es war seine letzte irdische Prüfung, der letzte bittere Tropfen in seinem Leidenskelche, daß er ein Zeuge sein mußte der Ernüchterung, die bei seiner sanften Schülerin so rasch auf die Trunkenheit der ersten Weihe folgen sollte! Wen hätte sie denn um Rat angehen sollen in den qualvollen Zweifeln, die sie alsbald über ihr eigenes Gefühl für den Verlobten beschlichen, wenn nicht ihn? So zog sie denn gleich am nächsten Morgen nach der Stenoschen Gesellschaft, wo der unbesonnene Ardea mit wenig edler Beharrlichkeit über ihr heilige Dinge gewitzelt hatte, die Glocke an der Wohnung, die der Kardinal Guérillot in dem weitläufigen Gebäude der Vierbrunnenstraße bewohnte, das auch das Schaffneramt der St. Sulpitiuskirche beherbergt.

Sie hatte nicht im Sinne, die Geistlosigkeit der Witze Ardeas zu bekritteln, noch ihre niederdrückenden Beobachtungen über die Unmäßigkeit des Fürsten preiszugeben. Nein, sie wollte Erleuchtung suchen für ihr von düsteren Schatten bedrohtes Gewissen. Sie hatte im ersten Strudel der Verlobungsfeier Ardea zu lieben gewähnt, weil die endlich erreichte Befreiung ihres religiösen Empfindens und dessen Erregung sie mit überströmendem Danke gegen den Mann erfüllt hatten, der doch nur der äußerliche Anlaß dazu war. Heute fürchtete sie nicht nur, ihn nicht zu lieben, sondern ihn zu hassen, und hauptsächlich war sie ein Raub jenes Ekels vor den unnützen Sorgen dieser Welt, jenes Ueberdrusses an flüchtigen Hoffnungen, jenes Heimwehs nach der Ruhe in Gott, die unverkennbare Anzeichen eines höheren Berufes sind. Bei der Vorstellung, daß sie sich, falls sie den Vater überlebte und frei bliebe, eines Tages zu den Schwestern vom Cenacolo zurückziehen könnte, stieg ein heißer Widerwille gegen die so nahe bevorstehende Heirat in ihr auf, der durch die augenscheinlichen Beweise vom sittlichen Unwert ihres künftigen Gatten natürlich noch gesteigert wurde. Hatte sie das Recht, mit solchen Gesinnungen einen unauflöslichen Bund zu schließen? Würde sie ehrenhaft handeln, wenn sie ohne neue thatsächliche Gründe eine Verlobung löste, die zwischen dem Vater und ihr der Preis seiner Einwilligung zu ihrer Taufe gewesen war? So weit war sie schon nach den wenigen Tagen! Und ihre Klage war um so schmerzlicher, je tiefer ihr Gefühl gestern verletzt worden war.

»Das Recht, Ihr Wort zurückzunehmen, steht Ihnen freilich zu,« lautete die Antwort des Kardinals, »aber nicht das Recht, lieblos zu urteilen.«

Fanny war eine zu redliche Natur, ihr Glaube zu schlicht und zu tief, als daß sie diesen Verweis nicht buchstäblich genommen hätte und ihm in Worten und Gedanken nachgekommen wäre. Als sie am Nachmittag eine Spazierfahrt mit Alba Steno machte, gab sie sich deshalb die größte Mühe, auch den leisesten peinlichen Eindruck zu verwischen, den der kleine Auftritt zwischen ihr und dem Verlobten im Gemüte der Freundin zurückgelassen haben mochte. Ja, ihre guten Vorsätze gingen noch weiter, sie hatte im Sinne, Peppino um Verzeihung zu bitten. Um Verzeihung? Wofür? Daß sie von ihm gekränkt, an der empfindlichsten Seite ihres Wesens verletzt worden war! Aus der Art, womit sowohl der eine als der andre Schritt aufgenommen wurden, konnte sie sich überzeugen, daß die ihr vom Kardinal ans Herz gelegte Tugend, im Urteile mild zu sein, eine schwierige Aufgabe ist. Sie erheischt eine Schulung des Herzens, die vielleicht mit klarer Einsicht nicht zu vereinigen ist. Alba sah ihrer Freundin mit beinahe schmerzlicher Verwunderung ins Gesicht und gab ihr dann einen innigen Kuß.

»Peppino ist nicht würdig, auch nur den Staub zu küssen, den dein Fuß betrat« – sie nannten sich seit der kirchlichen Feierlichkeit du – »das ist meine Meinung, und wenn er nicht sein ganzes Leben darauf verwendet, deinen Besitz zu verdienen, so ist er ein Verbrecher und ein großer Thor.«

Das war Albas Ausspruch, der Fürst selbst aber hatte für das Gefühl, das dem jungen Mädchen Worte der Abbitte auf die Lippen drängte, so wenig ein Verständnis, als Hafner es gehabt hätte. Er dachte sich, der Vater werde seiner Tochter den Text gelesen haben, und klatschte sich selbst Beifall, dieser kleinen Komödie übertriebener Kirchlichkeit sofort ein Ende gemacht zu haben.

»Lassen wir's ruhen!« sagte er voll Herablassung. »Ich habe einen Verstoß gegen die Form gemacht, denn was das Wesen der Sache betrifft, so wissen Sie ja wohl, daß ich immer hochhalten werde, was die Meinigen so lange verehrt haben. Allein die Zeit schreitet vorwärts und religiöse Ueberspanntheiten sind nicht mehr kleidsam, nicht einmal für unsre Namen. Das war's, was ich Ihnen andeuten wollte – die Art und Weise, wie ich's that, konnten Sie mit Recht tadeln.«

Damit drückte er seine Lippen mit ritterlichem Anstand auf Fannys kleine Hand und ließ sich nicht träumen, daß er dem hochsinnigen Kind das Herz nur noch schwerer gemacht hatte. Die Kluft zwischen der Gedankenwelt, worin sie lebte, und der, worin der verarmte Wüstling atmete, war nicht ausgefüllt, sondern erweitert, sie gehörten, wie die Mystiker so sinnvoll sagen, nicht in denselben Himmel. Oder richtiger gesagt – weil es lächerlich ist, bei einem so aller Ideale baren Menschen wie dieser liebenswürdige Fürst, den Himmel hereinzuziehen – Ardea war ganz Fleisch und Blut, Fräulein von Hafner ganz Geist und Herz. Jede weitere Begegnung zwischen ihnen mußte diesen Zwiespalt in demselben Maße steigern, als Peppino seinen wahren Charakter offener zeigte. Fanny machte also in diesen letzten zwei Maiwochen, die in ihrer strahlenden Schönheit recht dazu angethan gewesen wären, bräutliches Glück zu verklären, eine Reihe von täglichen kleinen Enttäuschungen durch; sie empfing die fortwährend zurückgewiesenen und sich fortwährend wieder aufdrängenden Belege dafür, daß diese mit so stolzen Hoffnungen eingegangene Verbindung für sie eine stete Selbstopferung wäre.

Trotzdem würde die immer deutlicher bloßgelegte sittliche und gemütliche Verkommenheit ihres Verlobten nicht hingereicht haben, sie zu einer Lösung zu bestimmen.

Daß der im Müßiggang aufgewachsene, durch den doppelten Hochmut der Geburt und des Reichtums verderbte Peppino mit achtundzwanzig Jahren ein glaubensloser, leichtfertiger Spötter war, daß er die Durchtriebenheit des Italieners mit der Herzensdürre eines Pariser Klubmenschen verband, daß seine Vorsätze für das eheliche Leben auf die gesicherte Wiederaufnahme eines lustigen, seine Eitelkeit befriedigenden Daseins hinausliefen, daß er allzu häufig mit übermäßig funkelnden Augen, feuchten Lippen und ausgelassenem Gelächter vom Tisch aufbrach, waren gewiß peinliche Thatsachen für ein junges Mädchen. Besonders wenn dieses Mädchen sich in dem ehrlichen Glauben verlobt hatte, einem ehrwürdigen Haus den alten Glanz wiederzugeben, eine Ungerechtigkeit des Schicksals gut zu machen, einen unbesonnenen, aber großmütigen Menschen vom Untergang zu retten und sich mittels einer erlaubten Liebe Gott zu nähern. Von all diesen Luftschlössern, die nach wenigen Stunden eingestürzt waren, blieb ihr nichts. Aber Gott und ihren Glauben durfte sie behalten, und das edle Geschöpf sagte sich: »Mein Vater ist so glücklich – ich kann ihm seine Freude nicht stören. Ich werde meine Pflicht gegen diesen Gatten erfüllen und ihm eine so gute Frau sein, daß ich ihn zu einem andern Menschen machen werde. Er hat doch noch Religion, er hat Gemüt, meine Aufgabe wird es sein, ihn zum wahren Christen umzuwandeln. Und ich werde vielleicht Kinder haben . . . und die Armen!«

Das waren die Träume, die hinter der weißen, von herrlichem dunklen Haar umrahmten Stirne dieser viel beneideten Braut nisteten, deren Ausstattung die Zeitungen schon zu beschreiben anfingen, für die ein ganzes Volk von Schneiderinnen, Weißnäherinnen, Putzmacherinnen und Goldschmieden arbeitete, deren Ehevertrag mit Namen unterzeichnet werden sollte, gleich dem einer Prinzessin von Geblüt, und die selbst Fürstin und mit dem ruhmvollsten Adel der Welt verschwägert sein würde.

Das waren die Gedanken, die sie ohne Zweifel ihr Leben lang im Garten des Castagnaschen Palastes, der bald der ihrige sein sollte, weiterspinnen würde, in jenem historischen Garten, wo auf der Stelle, wo Sixtus V., dem Tode nah, sich gebückt haben soll, um eine Birne aufzuheben, noch heute Birnbäume erhalten werden. Er soll die Frucht gekostet und dem Kardinal Castagna mit einem Wortspiel über ihre beiden Namen – er selbst hieß Peretti – gesagt haben: »Die Birnen taugen nichts mehr. Die Römer sind ihrer überdrüssig und werden bald Kastanien essen!«

Diese Familienanekdote, die, nebenbei bemerkt, für den bedeutendsten Papst vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts nicht sonderlich geistreich ist, war Justus Hafners Entzücken. Er fand den köstlichsten Humor darin und wurde nicht müde, sie seinen Klubfreunden, Lieferanten, jedem, der ihm in die Hände lief, zu erzählen, wobei er häufig vergaß, daß er diesen oder jenen schon vor zwei Tagen damit gelangweilt hatte. Sogar gegen Dorsennes Spottlust war er nicht mehr auf seiner Hut.

»Er ist sein eigener Nachahmer geworden,« bemerkte Julian lachend, als er Ende des Monats mit Alba in Gesellschaft zusammen war. »Heute früh bin ich ihm auf dem Corso begegnet und habe das herzlich schlechte päpstliche Wortspiel über Birnen und Kastanien in dritter Auflage anhören müssen. Wir gingen dann ein paar Schritte zusammen, und er hat mir den Palast Bonaparte mit dem himmlischen Ausruf gezeigt: ›Diese da haben wir auch . . .‹

»Das bedeutete, daß ein Großneffe des Kaisers eine entfernte Cousine von Peppino zur Frau hat! Er hält sich also für einen Verwandten von Napoleon – ich gebe Ihnen mein Wort – darauf ist er aber nicht einmal sonderlich stolz. Die Bonaparte? Pah, kleine Leute, wenn es sich um Adel handelt! Ich sehe die Zeit kommen, wo er sich ihrer schämen wird!«

»Und ich die Zeit, wo er nach Verdienst bestraft werden wird,« sagte Alba düsteren Tones. »Er triumphiert mit gar zu großer Frechheit . . . Doch nein, das wird nicht geschehen, alles gelingt ihm ja! Wenn es wahr ist, daß sein Vermögen die Beute eines ungeheuren Diebstahls ist, so denken Sie nur an die Bestohlenen. Woran sollen diese Leute angesichts seines vermessenen Glückes noch glauben?«

»Lassen wir die aus Geier und Pfau zusammengesetzte Persönlichkeit beiseite, um an die reizende Tochter zu denken. Ich kann Ihnen eine angenehme Botschaft für sie auftragen. Erinnern Sie sich, von einem Gebetbuch des seligen Montluc gehört zu haben?«

»Gewiß! Dasselbe, das Ihr Freund Montfanon an sich gebracht hat, um Fanny zu ärgern?«

»Ganz richtig. Ich habe gestern bei Ribalta vorgesprochen, und er sagte mir, daß der alte Legitimist es zurückgebracht hat. Ohne Zweifel hat er sich das als Buße auferlegt – ich vermute das wenigstens, denn persönlich mit dem armen teuren Mann zusammenzukommen, ist mir seit dem Zweikampf, den er durch seine Heftigkeit gegen Ardea und Hafner unvermeidlich gemacht hat, noch nicht gelungen. Er hat sich, ich weiß nicht auf wie viele Tage, in das Kloster vom Berg Oliveto bei Siena zurückgezogen, wo er einen Freund hat, einen gewissen Abbé Negro, von dem er immer als einem Heiligen spricht. Ich hörte von Ribalta, er sei zurück, aber unsichtbar. Nun, ich werde den Versuch machen, seine Thür zu sprengen . . . also, wie gesagt, das Buch ist wieder in der Höhle des Petroleurs in der Borgognonastraße, und wenn Fräulein Hafner noch Lust hat . . .«

Dieses Gespräch Dorsennes mit Alba hatte um zwei Uhr stattgefunden. Um vier Uhr sollte sie Fanny abholen, um ein paar Besorgungen zu machen und den Rest des Nachmittags im Garten der Villa Celimontana zuzubringen. Es war dies ein Lieblingsplatz der neuen Katholikin, die besonders eine Eichenallee liebte, an deren Ende sich eine Grotte mit der in Stein gehauenen Inschrift befindet: »Hierher kam der heilige Philippus von Neri, um im Kreis seiner Jünger von göttlichen Dingen zu reden.« Das erste, was die Komtesse der Freundin mitteilte, war natürlich die von Dorsenne überbrachte Nachricht, daß sich das heißbegehrte Gebetbuch wieder im Laden des alten Garibaldianers befinde.

»Was für ein Glück!« rief Fanny mit freudestrahlenden Augen. »Wie hab' ich mir nicht den Kopf zerbrochen, was ich meinem verehrten Kardinal zum Geschenk machen könnte! Wenn du einverstanden bist, gehen wir gleich hin und besorgen diesen Einkauf.«

»Montlucs Gebetbuch?« sagte der alte Ribalta, als die beiden jungen Damen vor seinem Haus aus dem Wagen gestiegen und in das Gewölbe getreten waren, das noch staubiger, noch überfüllter war als sonst und worin der Alte noch blutloser, noch hohläugiger unter seinem großen Schlapphut hervorsah, den er aufzubehalten für gut fand. »Woher wissen Sie denn, daß ich's wieder habe? Wer hat Ihnen das gesagt? Haben denn die Spürhunde überall ihre Nasen?«

»Die Sache geht ganz mit natürlichen Dingen zu,« versetzte Fanny mit ihrer weichen Stimme. »Herr Dorsenne, ein Freund des Marquis von Montfanon, hat uns darauf aufmerksam gemacht.«

»Kann sein, kann sein,« brummte der Alte mit gewohnter Unverschämtheit, indem er die Schublade aufzog, worin er die kunterbuntesten Schätze vergraben hatte. Er zog den kostbaren Band heraus, hielt ihn den Käuferinnen vor die Augen, ohne ihn aus der Hand zu geben, und stimmte dann mit seiner knarrenden, widerwilligen Stimme marktschreierische Anpreisungen an, worin er alles verwertete, was er von Montfanon erfahren hatte. »Ein zuverlässig beglaubigtes Stück, ein unvergleichliches Stück! Hier eine Unterschrift, die etwas verstümmelt, aber unbestreitbar echt ist. Ich habe sie selbst im Archiv von Siena verglichen . . . es ist Montlucs Handschrift, und hier ist sein Wappen mit den Pechkränzen. Da sind auch die Halbmonde der Piccolomini . . . es hat eine Geschichte, dieses Buch. Der Marschall selbst hat es nach der berühmten Belagerung von Siena einem Glied dieses erhabenen Geschlechts verehrt, und im Auftrag eines Abkömmlings dieses Hauses habe ich den Verkauf übernommen. Unter zweitausend Franken wird es überhaupt nicht abgegeben.«

»Dieser Schwindler!« sagte Alba auf englisch zu der Freundin. »Dorsenne hat mir erzählt, Montfanon habe es um vierhundert gekauft.«

»Bist du dessen sicher?« sagte Fanny.

Alba nickte bejahend, worauf sich Fräulein von Hafner freundlich, oder doch mit etwas vorwurfsvollem Ton an den Antiquar wendete.

»Zweitausend Franken, Herr Ribalta. Der Preis ist ein wenig übertrieben, nachdem Sie es dem Marquis von Montfanon um den fünften Teil dieser Summe gelassen haben . . .«

»Dann bin ich also ein Lügner und ein Dieb!« schrie der Alte grob. »Ein Dieb und ein Lügner! Vierhundert Franken! Um vierhundert Franken möchten Sie dieses Gebetbuch haben? Ich wollte nur, der Herr Marquis wäre da, um Ihnen selbst zu sagen, welchen Preis ich ihm gemacht habe. Ein Dieb und ein Lügner!«

Mit einem boshaften Gelächter schob er den Band wieder in die Schublade, drehte den Schlüssel um und maß die beiden jungen Mädchen, deren vornehme Schönheit und duftige, helle Sommerkleider einen köstlichen Gegensatz zu dem verstaubten, trübseligen Gewölbe bildeten, mit einem so feindseligen Blick, daß sie sich unwillkürlich erschrocken und schaudernd aneinander schmiegten.

»Wenn Sie nur vierhundert Franken ausgeben wollen,« fuhr der Antiquar mit seiner krächzenden Stimme beinahe tonlos und in eigentümlich zischenden Tönen fort, »so hab' ich ein Bändchen, das die Summe wohl wert ist und das ich ohnehin dieser Tage in den Palast Savorelli tragen wollte. Hehe! Es muß wohl eines der letzten Exemplare sein, denn der Herr Baron hat sie ja alle aufgekauft.«

Während er diese rätselhaften Worte aussprach oder vielmehr kläffend vor sich hinmurmelte, hatte er die Schrankthüren unter dem Schiebfach aufgemacht und unter vielen andern ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Bändchen herausgegriffen; er kannte sich offenbar in seinem Chaos genau aus. Das Zeitungspapier entfaltend und den Band zwischen seine Riesenhände mit den schwarzen Nägeln nehmend, schlug er das Titelblatt auf und bot es den jungen Damen zur Ansicht hin.

»Hafner und seine Spießgesellen. Ein paar Betrachtungen über eine schmachvolle Freisprechung von einem Aktionär.«

Es war eine nun schon längst vergessene Schmähschrift, die kurz nach dem berüchtigten Prozeß gegen Hafner in den Börsenkreisen von Paris, London und Berlin, wo sie gleichzeitig in drei Sprachen erschienen war, viel Staub aufgewirbelt hatte. Um selbst gegen einen Ungerechten gerecht zu sein, muß zugegeben werden, daß dieses Werkchen, wie die meisten Arbeiten seines Schlages, von Ungenauigkeiten wimmelte. Die einzig wirklich vernichtenden, weil unbestreitbar richtigen Stellen darin waren die, wo ein kurzer Auszug der Prozeßakten und die Begründung der Freisprechung abgedruckt waren, die für Hafner nicht minder schmachvoll war, als eine Verurteilung.

»In Anbetracht der schwer zu erkennenden Grenze zwischen Fahrlässigkeit und Betrug . . .« war eine der mildesten Wendungen, wodurch dieses Urteil begründet wurde, für dessen rücksichtsvollere Fassung der Freiherr vergebens Unsummen aufgewendet haben sollte. Darauf hatte auch der Verfasser dieses Pamphlets gerechnet, der dem zunächst Beteiligten sofort nach Erscheinen ein Exemplar überreicht und erwartet hatte, er werde die ganze Auflage in Bausch und Bogen kaufen.

Allein Hafner hatte ihm einfach erwidert: »Warum soll ich für diese fünfhundert Exemplare vierzigtausend Franken hinlegen, während ich weiß, daß ich sie in zwei Tagen von jedem Antiquar zu fünfzig Kreuzer das Stück beziehen kann?«

Thatsächlich hatte er mit Geduld und Umsicht eine große Anzahl von Exemplaren an sich gebracht und vernichtet, und bei wem sollten ihm die da und dort noch zerstreuten schaden? Dieser echte Realist wußte haarklein, wie zarte Gewissen ihn beurteilten, aber er verachtete die Dummheit solcher Leute genau so sehr als die Feigheit der andern. Er wußte auch zu gut, wie wenig Bedeutung das gedruckte Wort nach der ersten Ueberraschung behält, selbst wenn die darin gegebenen Enthüllungen auf Wahrheit beruhen. Ribalta war also gänzlich im Irrtum, wenn er ein Werkzeug der Gelderpressung in Händen zu halten glaubte, und ebenso gründlich täuschte er sich in der Voraussetzung, daß die arme Fanny so weit in die Angelegenheit ihres Vaters eingeweiht sei, um vom Vorhandensein dieser beleidigenden Klageschrift zu wissen. Uebrigens würde er, wenn er auch die Wahrheit gekannt hätte, nämlich die vollständige Unkenntnis, worin sich Hafners Tochter über den üblen Leumund ihres Vaters befand, ihr das Pamphlet doch gezeigt haben. In diesem Revolutionär, der sein armseliges Dasein unter den alten Scharteken der elenden Bude auslebte, steckte ein Bodensatz hämischer Grausamkeit, wie er sich in der Seele aller derer vorfindet, die als blutige Rächer der Gesellschaft Schiffbruch gelitten haben.

In seinen kleinen, kastanienbraunen Augen funkelte eine geradezu teuflische Lust, als er, den Band hinbietend, seinen Preis wiederholte: »Das, das ist doch wohl seine vierhundert Franken wert?«

»Sieh das Buch nicht an, Fanny,« sagte Alba, nachdem sie einen Blick auf den Titel geworfen hatte, sich wieder des Englischen bedienend. »Es ist eine von den Schändlichkeiten, womit man auch nicht einmal seinen Gedanken besudeln darf.« Sie hatte sich mit diesen Worten zwischen ihre Freundin und den Buchhändler gedrängt und fuhr nun, ordentlich gewachsen vor Entrüstung und Widerwillen, fort: »Sie können Ihr Buch behalten, mein Herr, da Sie sich doch zum Mitschuldigen der Verfasser gemacht haben, indem Sie aus der Furcht, die es Ihrer Meinung nach erregen würde, Gewinn ziehen wollen. Fräulein von Hafner kennt es längst, aber weder sie noch ihr Vater würden einen Centime dafür geben!«

»Schön! Um so besser, um so besser,« höhnte Ribalta, das Bändchen wieder zurückstellend. »Immerhin können Sie dem Herrn Papa sagen, daß ich es ihm zur Verfügung stelle.«

»Der Elende!« rief Alba, als die beiden Mädchen wieder im Wagen saßen. »Die Frechheit, dir dieses Buch zu zeigen, dir! Und es gibt kein Gericht, das solche Gemeinheiten bestrafte!«

»Du hast ja gesehen,« versetzte Fanny, »daß ich vor Entsetzen kein Wort über die Lippen bringen konnte . . . Daß dieser Mensch gewagt hat, mir das schändliche Buch anzubieten, ist ja traurig, aber er ist ein armer Tropf, der ohne Zweifel Geld nötig hat. Daß sich aber ein Mensch gefunden hat, der gegen meinen Vater schreibt, das, das ist gräßlich! Ach, mein Vater! Du machst dir keinen Begriff von seinem peinlichen Ehrgefühl in geschäftlichen Dingen. Es gibt kein regierendes Haus in Europa, das ihm nicht bezeugt hätte, daß er eine Zierde seines Standes ist. Du hast doch all seine Ehrenkreuze und Orden gesehen? Als er durch Neider in jenen Prozeß verwickelt wurde und sie bekämpfen mußte, war ich noch ein kleines Mädchen, aber ich weiß noch, wie erschüttert er war. Man wagte seinen Namen anzutasten! Und diese Elenden haben fortgemacht – selbst nachdem das richterliche Urteil seine Rechtschaffenheit ins glänzendste Licht gestellt hatte, nachdem ihm, soviel ich weiß, die glänzendste Genugthuung geworden ist, die je ein ehrlicher Mann erhalten hat. Glücklicherweise hat er keine Ahnung davon . . .«

Diese leidenschaftliche Beteuerung war so rührend, die Täuschung, worin das hochsinnige Kind befangen war, so echt und aufrichtig, daß Alba ihr nur innig die Hand drücken konnte. Sie war fast bewegter als die Freundin, aber sie erörterten den schmerzlichen Gegenstand nicht weiter, weil sie unmittelbar darauf in einem Laden auf dem Spanischen Platz mit Fannys Gesellschafterin zusammentrafen, die beide unter ihre Obhut nehmen sollte. Aber jedes Wort, jeder Blick, jede Bewegung der Komtesse während der Spazierfahrt war wie eine sanfte, zärtliche Liebkosung der Leidensschwester, die trotz des eben erlebten Schreckens glücklicher war als sie – die Stunde des Zweifels hatte ihr ja noch nicht geschlagen!

Als sie abends Dorsenne sprach, der wieder bei der Gräfin Steno speiste, nahm sie ihn beiseite, um ihm den entsetzlichen Auftritt zu schildern und ihn zu fragen, ob er die Schrift kenne.

»Ja, seit heute,« erwiderte der Schriftsteller. »Montfanon, den ich endlich gefunden habe, hatte sich eben eines von den zwei Exemplaren gekauft, die Ribalta in letzter Zeit aufgestöbert hat. Der alte Legitimist nimmt natürlich, wenn es gegen Hafner geht, alles für bare Münze. Ich dagegen bin skeptisch im Guten wie im Bösen! Wirklich gepackt hat mich nur der Auszug aus den Akten, denn hier handelt sich's um Thatsachen, und das Urteil – was für ein Urteil! Ich gestehe, wenn man das liest, so preist man sich unwillkürlich glücklich, diesen ›Freigesprochenen‹ nicht zum Vater zu haben!«

»Und doch wurde er freigesprochen!«

»Ja, aber es steht darum nicht minder fest, daß er Hunderte und aber Hunderte von Menschen zu Grunde gerichtet hat. Soviel mir aus dieser verwickelten, dunklen Geschichte klar geworden ist, hatte er für seine Gesellschaft die Konzession für eine ziemlich wichtige Eisenbahnlinie erhalten. Auf welche Weise der Freiherr und seine Spießgesellen die Aktien von zweihundertfünfzig Franken auf fünfhundert, siebenhundert, ja tausend hinaufgetrieben haben, und wie dann der große Krach kam, will ich Ihnen lieber nicht erklären. Es ist dieselbe Geschichte wie bei unzähligen andern Unternehmungen, die nur Kanäle bilden, um die Ersparnisse des kleinen Mannes etlichen Jobbern von Hafners Sorte zuzuführen. Denn das ist vollständig nachgewiesen, daß er das Steigen und Fallen der Werte künstlich gemacht hat. Welcher Mittel er sich dabei bedient hat, fragen Sie mich lieber nicht. Ich habe es versäumt, die Börse zu studieren, was für einen Romanschreiber, der heutiges Leben schildern will, eine Unterlassungssünde ist – ich hätte auf ein paar Monate unter die Makler gehen sollen. So viel steht jedenfalls fest, daß unser Freund die Gimpel, die ihm ins Netz gingen, gehörig gerupft und sich haarscharf am Staatsgesetzbuch vorbeigedrückt hat. Aus dem Haar, das ihn davon trennte, hat Meister Justus – der Name ist unbezahlbar! – offenbar durch Geld eine ganze Perücke zu machen gewußt und das Ende vom Lied war, daß die Aktionäre eben nicht imstande waren, ihn ins Zuchthaus zu liefern.«

»Für Sie ist also aus diesem Prozeß klar hervorgegangen, daß er ein Schurke ist?« unterbrach ihn Alba.

»Davon bin ich so fest überzeugt, als daß ich Sie vor mir sehe, falls Sie nämlich den einen Schurken nennen, der seinen Nächsten ausplündert und sich vor dem Gesetze zu hüten weiß. Das wäre aber noch nicht das Schlimmste. Der dunkelste Punkt ist der Selbstmord eines gewissen Schröder, eines braven Mannes, der mit unserm Freiherrn auf vertrautem Fuße stand und auf den Rat seines zuverlässigen Freundes dreihunderttausend Gulden, sein ganzes Hab und Gut, bei diesem Unternehmen arbeiten ließ. Er hat alles verloren und in der Verzweiflung sich selbst und seiner Frau samt drei Kindern das Leben genommen. In der öffentlichen Verhandlung wurde ein Brief dieses Mannes an Justus Hafner verlesen – ein Brief, sage ich Ihnen! . . .«

»Und diesen Brief hätte Fanny in dem Schriftchen lesen müssen!« rief Alba, die Hände ringend.

»Ja, und alles übrige auch samt den urkundlichen Belegen. Aber beruhigen Sie sich – es soll nicht in ihre Hände fallen. Morgen früh werde ich bei Ribalta vorübergehen und dieses letzte Exemplar erwerben, falls Hafner es nicht schon an sich gebracht hat. Zu andern Zeiten wäre er der Mann, Witze darüber zu reißen, aber jetzt steht die Hochzeit vor der Thür. Er muß sich vor der Presse in acht nehmen und alles zu unterdrücken suchen, was Licht in seine schattenreiche Vergangenheit bringen könnte. Die mündliche Aussage von Schröders Bruder ist noch schrecklicher als dieser Brief.«

Trotz des gewohnheitsmäßigen Spottes und trotz der entschieden festgehaltenen geistigen »Ichsucht« war Julian ein gefälliger Mensch. Er zauderte nie, jemand einen Dienst zu erweisen. Das Versprechen, den gefährlichen Band auf alle Fälle aufzukaufen, war kein leerer Trost für die kleine Freundin. Gleich am andern Morgen trat er mit vierhundert Franken in der Tasche in den Buchladen der Borgognonastraße. Wie ward ihm aber, als Ribalta grinsend sagte: »Schon zu spät, Herr Dorsenne. Das junge Fräulein ist gestern abend noch einmal hier gewesen – sie wollte es vor der andern nicht zeigen, wie viel ihr an dem Buche lag. Ohne Zweifel hätte sie auch gerne was vom Preis abgehandelt, aber sie mußte ihn zahlen. He, he! dem Vater hätt' ich noch ein hübsches Sümmchen mehr abgefordert, aber gegen eine junge Dame muß man zuvorkommend sein.«

»Unglückseliger!« rief Dorsenne. »Und Sie witzeln noch über Ihren Judasstreich. Einer Tochter die Sünden des Vaters aufdecken, von denen sie keine Ahnung hat! Nie – verstehen Sie mich recht – niemals werde ich wieder den Fuß über Ihre Schwelle setzen, weder ich, noch der Marquis von Montfanon, noch der Kardinal Guérillot, noch irgend einer meiner Bekannten. Ganz Rom werde ich Ihren Schurkenstreich erzählen, darüber schreiben werde ich und alle Zeitungen der Stadt damit erfüllen. Ich werde Sie zu Grunde richten, hören Sie mich wohl, werde Sie zwingen, diese unsaubere Bude zu schließen.«

»Geduld! Geduld!« versetzte der Alte, ohne sich über diesen Angriff zu erbosen. »Sie werden eines schönen Tages recht froh sein, den Schutz des Vaters Ribalta anrufen zu können. Sie werden bei mir unterkriechen, wenn der große Krach, die Abrechnung zwischen Kapital und Arbeit, anbricht. Dann wird es Sie gereuen, diesem echt französischen Zornesanfalle Luft gemacht zu haben . . . Reden Sie doch nur nicht so!« fuhr er mit einem Ingrimm fort, der deutlich bewies, wie wenig dieser häßliche Handel sein Gewissen anfocht. »Ich hab' ihr nichts Neues kund gethan, dieser Tochter des deutschen . . . und wenn sie es durch mich erst erfahren hätte, wär's nicht recht und billig? Ich hab's auch gelesen, dieses Buch. Waren etwa diese kleinen Schröderschen Kinder, die um dieses Hafner willen gestorben sind, minder unschuldig als seine eigene Tochter? Und die vielen andern Mädchen, die unter den Kehricht der Menschheit geraten sind, weil ihre Eltern, wieder durch diesen sauberen Herrn, Hab und Gut verloren haben? Zur Guillotine möchte ich sie schicken, alle beide, Vater und Tochter, wie man sie 1793 hingeschickt hätte . . . Das sind Menschen! Das ist eine Zeit! Aber Geduld! Geduld! Der Tanz wird von neuem losgehen, und zwar noch lustiger! Mittlerweile ist's immerhin etwas, wenn dieser Schmöker sie auseinander bringt, den Vater und die Tochter. Wenn das wahr ist, so ist doch etwas geschehen! He, he, he!«

Dorsenne entwich ohne Antwort. Grauen hatte ihn gepackt beim Ausbruch dieser rohen Lustigkeit. Ribalta war ihm jetzt als die Verkörperung dessen erschienen, was er in seiner Eigenschaft als geistiger Feinschmecker am meisten haßte: als der moderne Revolutionär, der nichts auf seine Fahne schreibt als Zerstörung. Er, der sich als politisches Leitmotiv den Ausspruch erwählt hatte, womit Goethe es rechtfertigt, daß er bei der Belagerung von Mainz die Ausübung der Volksjustiz an einem Verdächtigen verhindert hat: »Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen,« würde bei ruhigem Blut über das Pathos des Garibaldianers gelächelt haben. Allein unter diesen Umständen erfüllte ihn dieser Mann, der das blinde Werkzeug einer rächenden Gerechtigkeit geworden war, mit lähmendem Entsetzen. Er machte sich mit bewegter Seele klar, daß die Enthüllung von Hafners Vergangenheit, die der Tochter in solcher Zeit und auf so gewundenem und doch wiederum so geradem Wege zu teil geworden war, der Blitzstrahl sei, der vom wolkenlosen Himmel seines Glückes nach des Vaters Haupt züngle. Das in ihren endlosen Erörterungen über Vererbung und Rasse von Montfanon so häufig angeführte Bibelwort von den Sünden der Väter, die an den Kindern heimgesucht werden, stand deutlich vor ihm. Wenn Fanny, wie nicht anders anzunehmen war, das heimlich gekaufte Buch gelesen hatte, so mußte sie sich gestern abend in dem nämlichen gräßlichen Zustand befunden haben, wie Alba nach Empfang des anonymen Briefes.

Den ganzen Tag über suchte Dorsenne vergebens die schwere Last abzuschütteln, die der Besuch bei dem Antiquar auf sein Gemüt gewälzt hatte. Die Vorstellung des furchtbaren Schlages, der die arme Fanny betroffen hatte, erweckte sein Mitgefühl, und zugleich fürchtete er für Alba den Einfluß dieses dem ihrigen so ähnlichen Kummers. Würde das Bewußtsein, eine Leidensschwester zu haben, den Jammer der beiden Mädchen lindern oder steigern? Als er um neun Uhr die Villa Steno betrat, um der Komtesse Bericht zu erstatten, war er selbst seltsam erregt. Außer den Maitlands und zwei englischen Diplomaten, die auf der Durchreise nach ihren Posten im fernsten Morgenland kurze Zeit in Rom verweilten, traf er keine Gäste.

»Ich habe Sie erwartet,« sagte Alba, sobald sie den Freund unbemerkt in eine einsame Ecke der Halle ziehen konnte, »denn ich muß Sie um einen Rat bitten. Gestern abend hat sich bei Hafners etwas sehr Trauriges ereignet . . .«

»Das konnte nicht ausbleiben,« versetzte der Schriftsteller. »Fanny hat ja das Buch gekauft.«

»Sie hat das Buch gekauft!« rief Alba mit verstörten Zügen und am ganzen Körper zitternd. »Ach, die Unglückliche! Als ob das andre nicht ausgereicht hätte . . .«

»Was für ein andres?« fragte Julian.

»Sie erinnern sich, daß ich Ihnen von diesem zweideutigen Noë Ancona erzählt habe, von diesem verdächtigen Geschäftsagenten, der als Hafners Strohmann den Gant und durch den Gant die Verlobung herbeiführen mußte? Nun, dieser Ehrenmann scheint die Bezahlung für seine Mitschuld ungenügend gefunden zu haben. Er hat dem Freiherrn eine große Summe abverlangt, ein Kapital, um irgend ein fettes Schwindelunternehmen zu gründen, und Hafner hat ihm das rundweg abgeschlagen. Darauf hat er ihm gedroht, Ardea in ihren sauberen Handel einzuweihen, und hat wirklich aus der Schule geschwatzt.«

»Und Peppino war sittlich entrüstet?« sagte Julian, die Achseln zuckend. »Das ist doch sonst nicht seine Sache.«

»Sittlich oder nicht, jedenfalls ist er gestern im Palast Savorelli erschienen und hat seinem künftigen Schwiegervater eine schreckliche Scene gemacht.«

»Um eine Erhöhung der Mitgift herauszuschlagen,« ergänzte der Schriftsteller.

»Dann hätte er's sehr ungeschickt angegriffen!« sagte Alba, »denn selbst Fannys Gegenwart, die mitten in diese gräßliche Unterredung hineingeriet, vermochte ihm keine Zügel anzulegen. Vielleicht hatte er auch ein wenig zu viel getrunken, was ja neuerdings wieder seine Gewohnheit ist. Aber stellen Sie sich nur vor – dieses arme Kind in den abscheulichen Schacher um ihre Zukunft, ihr Glück eingeweiht, und nun noch im Besitz dieses Buches! Ob sie es gelesen hat? Es wäre zu gräßlich!«

»Was für ein Familienroman!« rief Dorsenne. »Die Verlobung ist also gelöst?«

»Förmlich gelöst nicht. Fanny liegt, von der Aufregung niedergeworfen, zu Bett. Ardea war heute früh bei meiner Mutter, die auch mit Hafner gesprochen hat. Sie hat die beiden versöhnt, indem sie ihnen vorstellte, daß sie gleiches Interesse daran hätten, Aufsehen zu vermeiden und sich zu vertragen. Das ist wirklich Mamas Ansicht, nun bleibt aber noch die arme Kleine. Meine Mutter wollte, ich sollte heute nachmittag zu ihr gehen und sie bestimmen, ihren Entschluß zurückzunehmen, denn sie hat ihrem Vater erklärt, sie wolle den Namen des Fürsten nicht mehr nennen hören. Ich habe mich geweigert; doch meine Mutter drängt mich. Hab' ich nicht recht?«

»Wer weiß? Das Leben an der Seite ihres Vaters wird unter diesen Umständen trostlos werden, besonders nachdem sie Aufklärung über ihn erhalten hat . . .«

Er hatte nicht Zeit, weiteres hinzuzusetzen. Das lebhafte Gespräch hatte die Aufmerksamkeit der Gräfin erregt, die nicht wünschen konnte, daß Alba dem Schriftsteller eine verfrühte Mitteilung von dem drohenden, aber noch nicht vollzogenen Bruch der Hafnerschen Verlobung mache. Sie trat zu den jungen Leuten, und Maitland folgte ihr, ein kleines Liqueurglas in der einen, eine starke Cigarre in der andern Hand.

»Sagen Sie einmal, Dorsenne,« redete sie Julian mit ihrer klangvollen Stimme an, »ich fange an, zu glauben, daß mein alter Freund richtig gesehen hat und daß Sie Studien an meinem Töchterchen machen.«

»An Lust dazu fehlt es nicht,« versetzte der Schriftsteller im nämlichen heiteren Plaudertone, »aber die Komtesse ist ein sehr schwieriger, sehr verwickelter Charakter. Man muß Vincis Pinsel gefunden haben, um eine Joconda zu malen.«

Dorsenne hatte sich nach Lincoln Maitland umgedreht, um dieses verbindliche Wort hinzuwerfen, das die Eigenliebe des amerikanischen Malers aufs angenehmste kitzelte. Nachdem er sein derbes Lachen eines glücklichen Athleten ausgestoßen hatte, erwiderte er, sich an die Geliebte wendend: »Ihn möcht' ich malen, und zwar nicht erst seit heute! Das wäre was Interessantes, nicht, den in einem gelblichen, fast grünlichen Ton 'rauszukriegen? Aber er wollte ja nie! Schleppen Sie ihn doch mit Gewalt nach unserm Piove!«

»Ein herrlicher Einfall!« rief die Gräfin entzückt. »Wollen Sie nicht, Dorsenne?« Dabei blitzte sie ihn mit ihren leuchtenden blauen Augen an, die von Verlangen strahlten, auch diese neue, so formlos ausgedrückte Laune des geliebten Mannes zu befriedigen. »Wir reisen in acht bis zehn Tagen, wenn Gott will . . . Ich überlasse Ihnen ein Gartenhaus, wo Sie ganz allein und ungestört arbeiten können, samt einer riesigen Bücherei, die von meinem Urgroßvater stammt, dem Freund Lord Byrons und Ihres Stendhals. Morgens und abends bekommen wir die frische Brise von der Adria her – es ist nie zu heiß. Linco hat mir versprochen, bis Ende Juli zu bleiben, dann siedeln wir nach Venedig über, um am Lido zu baden. Sie werden sehen, wie schön unser Landleben im Venetianischen ist!«

»Dieser Maler ist ein verblüffender Geselle,« sagte sich Dorsenne, als er eine Stunde später in einer unvergleichlichen römischen Mondnacht die Via Venti Settembre entlang ging. »Jetzt lädt er sich schon Gäste in ihr Landhaus – nächstens wird er bei Tisch den Platz des Hausherrn ihr gegenüber einnehmen. Eine nette Aussicht für meine arme kleine Freundin, dieser Sommeraufenthalt in Piove! Der Mutter wäre es thatsächlich lieb, wenn ich hinkäme. Sollte sie mich etwa für einen Freier halten? Schau, schau! Es ist an der Zeit, daß ich's den zehntausend Griechen nachthue und mich durch einen Rückzug berühmt mache – aber nicht, eh' ich weiß, wie die Unterredung der beiden armen Kinder abgelaufen ist. Was die für Worte und Blicke tauschen werden! Wer das Gespräch nachschreiben könnte, würde ein ergreifendes Kapitel liefern. Leider sind die interessantesten Unterredungen stets ohne Zeugen, man muß mit der Phantasie aushelfen, und deshalb bleibt die Kunst immer hinter der Wirklichkeit zurück.«

Er sollte wirklich schon am nächsten Tag stattfinden, dieser ergreifende Auftritt, dem der Schriftsteller zu seinem Leidwesen nicht beiwohnen konnte. Nur machte er sich die irrige Vorstellung eines »interessanten Gesprächs«, was wieder einmal beweist, wie wenig die allerfeinsten Fühler des Verstandes in die Einfalt des Herzens eindringen. Die allerschmerzlichsten Gemütskämpfe werden schweigend ausgefochten.

Nachmittags gegen sechs Uhr meldete ein Diener der Komtesse den Besuch des Fräuleins von Hafner. Alba hatte eben zum zehntenmal in der trügerischen »Weltlichen Idylle« gelesen, dieser weichmütigen, zarten Erzählung des gefühlsarmen Dorsenne. Als Fanny ins Zimmer trat, konnte Alba aus der auffallenden plötzlichen Veränderung in diesen ausdrucksvollen, edlen Zügen wohl schließen, was für Prüfungen ihr glückseliger Täufling der vorigen Woche überstanden hatte. Sie bot ihr die Hand und schwieg zuerst eine Weile, dann sagte sie, als ob sie die wahre Ursache ihrer Erkrankung nicht ahne: »Wie freue ich mich, dich zu sehen! Es geht dir also besser?«

»Ich war gar nicht krank,« erwiderte Fanny, die nicht zu lügen verstand. »Nur Kummer hatte ich, das ist alles.« Mit einem flehenden Blick, der deutlich die Bitte ausdrückte, keine Erklärung von ihr zu verlangen, setzte sie hinzu: »Ich komme, um Abschied zu nehmen.«

»Du willst abreisen?«

»Ja, ich werde den Sommer auf einer von unsern Besitzungen in den Alpen zubringen . . ., hat dir deine Mutter gesagt, daß meine Verlobung gelöst ist?« fragte sie flüsternd.

»Ja,« sagte Alba einfach, und beide schwiegen.

Fanny fragte dann nach mehreren Minuten ebenso einfach: »Und wie wirst du den Sommer verleben?«

»Wir gehen nach Piove wie immer,« versetzte Alba. »Vielleicht kommt Dorsenne hin, jedenfalls die Maitlands . . .«

Zum drittenmal trat ein Schweigen ein. Sie blickten einander in die Augen, und da geschah's, daß jede, ohne ein Wort zu sprechen, deutlich im Herzen der andern las. Das Martyrium, das beide erlitten, war das gleiche – sie wußten es ja, und im selben Augenblick fühlten sich beide von heißem Mitleid ergriffen. Sie waren verurteilt, unwiderruflich zu verdammen, die eine ihren Vater, die andre ihre Mutter, und ihre Herzen flogen sich in tiefem Erbarmen für das gleiche Unglück entgegen. Einander in die Arme sinkend, brachen beide Mädchen in Schluchzen aus.

Sie hatten Albas traurigem Herzen wohlgethan, diese Thränen der Freundin, wenigstens solange sie die von Schmerz und Mitleid bebende Gestalt in ihrem Arme gehalten hatte. Aber als sie dann gegangen war, als die Tochter der Gräfin Steno wieder mit ihren Gedanken allein war, da drückte sie der Jammer noch schwerer zu Boden als zuvor. War denn dies Mitleid, das ihr die Leidensschwester gezeigt hatte, nicht ein Beweis mehr dafür, daß sie Grund hatte, nicht mehr an ihre Mutter zu glauben? Weder die Mühsal der selbst angestellten Beobachtungen über das Wesen und Betragen der Gräfin, noch die Verdächtigungen des anonymen Briefes, weder Boleslavs Zweikampf, noch Mauds Zettelchen, nicht einmal diese überstürzte, vielsagende Abreise hatten sie zu der endgültigen Gewißheit geführt, die keine Möglichkeit eines Zweifels mehr übrig läßt. Zwischen diesem vollen Beweis und den Halbbeweisen auch der allerwahrscheinlichsten Vermutungen ist ja noch Raum für so viele Abtönungen. Alba hatte sie alle überschritten, diese Zwischenstufen, und jedes neue Begebnis hatte sie mit neuem Argwohn vergiftet . . . was sie jetzt aus Fanny Hafners Thränen erraten hatte, konnte die drückende Bangigkeit nur steigern. Was wußte diese Freundin, die sie erst kürzlich kennen gelernt und schon so lieb gewonnen hatte? Weshalb und in welchem Sinne beklagte sie selbst in einem so heftigen Anfall persönlichen Leids ihre Alba? Die Antwort auf diese Frage lag so nahe, sie drängte sich dem jungen Mädchen mit so deutlicher Grausamkeit auf, daß sie die Hände aufs Herz preßte, als ob sie den spitzen unsichtbaren Stachel, der sich immer tiefer hineinwühlte, aus ihrer Brust reißen wollte.

»Ach, wenn ich es wenigstens wüßte, daß ich mich täusche!« stöhnte sie laut. »Und auch wenn ich mich nicht täusche, daß ich Gewißheit hätte! Ich glaube, ich würde weniger darunter leiden!«

Ach! Das unselige Kind ahnte nicht, daß, während sie diesen verzweifelten Aufschrei an das Schicksal richtete, in Rom, in ihrer nächsten Umgebung ein Geschöpf war, das an der Erfüllung dieses unsinnigen Wunsches arbeitete. Und dieses Geschöpf war dieselbe Frau, die vor der Ehrlosigkeit anonymer Briefe nicht zurückgeschreckt war, diese hübsche, unheimliche Lydia Maitland, die zarte, schweigsame junge Frau mit den ewig lächelnden, stets undurchdringlichen, großen braunen Augen und der glatten, farblosen Haut, die keine Gemütsbewegung je zum Welken gebracht hatte. Die Erfolglosigkeit ihres ersten Versuches hatte ihren Haß gegen den Gatten und die Gräfin bis zur Wut gesteigert, aber es war eine verhaltene, gesammelte, in sich gekehrte Wut, die seit Wochen geduldig und heimlich auf die Gelegenheit zu einem neuen Streich lauerte. Wie sicher hatte sie bei Gorkas toller Rückkehr ihre Rache in Händen zu halten geglaubt, und was hatte sie erreicht? Ihrem Mann hatte sie einen gefährlichen Nebenbuhler vom Hals geschafft und das Leben des einzigen Wesens, woran ihr Herz hing, in Gefahr gebracht! Sie hatte jetzt lange Stunden am Bett des Bruders gesessen, den sie mit solch wilder Eifersucht liebte, und ihre Aufopferung und Hingebung wären erhaben und edel gewesen, wenn sie nicht einer Seele, die vom Haß lebte, eine frische Weide geboten hätten. An diesem Krankenbett hatte sie zu jeder Stunde, fast zu jeder Minute aufs neue wahrnehmen können, mit welch tiefer, echter Freundschaft der Verwundete an dem Mann hing, für den er sich geschlagen hatte.

Florent dankte es dem Schwager, daß er sein Leben für ihn und an seiner Stelle hatte in die Schanze schlagen können! Als Lydia ihm die Nachricht von Gorkas Abreise gebracht hatte, welche Freude hatte sie da aus seinen Augen leuchten sehen! Welch ein Blitzschlag war es für sie gewesen, als die Gräfin mit ihrem Plan einer gemeinsamen Sommerfrische in Piove und eines Herbstaufenthaltes in Venedig herausgerückt war! Dieses Wohnen auf dem Landgut der Geliebten ihres Gatten brachte Lydias ängstlich verheimlichten Groll zum Ueberkochen. Sie hätte aufschreien mögen wie ein wildes Tier, das sich gegen die Eisenstangen seines Zwingers wirft, wenn ihre Phantasie sich wider ihren Willen an dem Bild des Glückes wund rieb, das die Liebenden im traulichen Verkehr der häuslichen Gemeinschaft, umgeben von aller Herrlichkeit der venetianischen Landschaft genießen würden. Lincoln führte ihr diese Scenerie schon im voraus lebendig vor Augen, wenn er sie in ihrer Gegenwart mit dem Gedächtnis des Malers nach den Bildern schilderte, worin Giorgione, Tizian und Bonifazio den Charakter dieser Landschaft, ihre Poesie, ihr üppiges Grün, die weichen Wellenlinien der Hügel und die duftig blauen Fernen festgehalten haben. Im Atelier hing eine alte Kopie, ein Bild eines ländlichen Festes, das wechselnd jedem dieser drei Künstler zugeschrieben worden war; am Ufer eines Teiches lag eine nackte Frauengestalt, die mit der herrlichen Büste, der lässigen Haltung, den mit Perlen durchflochtenen blonden Haaren, den feuchten sinnlichen Lippen Katharina Stenos Schwester hätte sein können, während einer von den Kavalieren, der an der Seite dieses zur Lust geschaffenen Weibes Viole spielte, den Wuchs, die viereckigen Schultern und die freche Sicherheit des Amerikaners besaß. So oft ihr Blick jetzt auf dieses Bild fiel, das ihr die Aussicht auf Freuden zeigte, die sie nicht mehr zu hintertreiben vermochte, hatte die nervöse magere Lydia das Gefühl, als ob die Bitterkeit ihr das Herz zersprengen müßte. Welche Waffe blieb ihr denn noch in diesen geschmeidigen Händen, die ohne Furcht vor Befleckung die schmähliche Arbeit geheimer Verdächtigungen verrichtet hatten? Noch einmal anonyme Briefe aufsetzen? Was nützte es? Sie hatte nach dem Zweikampf der Venetianerin einen zugeschickt, und diese hatte mit dem vermessenen Humor des keiner Furcht zugänglichen Kraftbewußtseins ganz laut über diese Niederträchtigkeit gewitzelt. Was hatte sie mit ihrer Warnung an Alba erreicht? Dem jungen Mädchen das Herz schwer gemacht, ohne selbst dabei zu gewinnen, denn die Komtesse kam nach wie vor zur Sitzung und deckte durch ihre unschuldige Gegenwart den Lebenswandel ihrer Mutter. Selbstverständlich hätte die verratene Gattin mit Leichtigkeit einen Skandal und einen Scheidungsprozeß herbeiführen können, denn die Beweise, die sie in Händen hielt, waren ebenso unbestreitbar wie die, womit sie Maud niedergeschmettert hatte. Wenn sie die Briefe, die in dem spanischen Schränkchen lagen, einem Rechtskundigen vorlegte, so würde die Sache ihren Lauf nehmen. Aber was würde es ihr nützen? Ihrem Mann, der jetzt Geld verdiente, soviel er wollte, würde die Scheidung sehr gleichgültig sein, somit keine befriedigende Rache bedeuten und sie nur den Bruder kosten. So in die Augen springend Lincolns Unrecht auch war, sie wußte nur zu genau, daß Florent sie dem Schwager nicht vorziehen würde, und diese Gewißheit trug nicht wenig zu ihrem verbissenen Groll bei. Sie ließ in Gedanken alle Beteiligten an sich vorüberziehen, und ihr Instinkt, gewissermaßen ein zweites Gesicht, das in seiner Bestialität an ein böses giftiges Reptil erinnerte, führte sie immer wieder auf Alba zurück. Während der endlosen Sitzungen, deren Zahl und Dauer von dem leidenschaftlich arbeitenden Maler immer vermehrt wurde, studierte auch sie das blasse, schmächtige Gesichtchen des jungen Mädchens. Sie las in den blauen Augen, deren Lider so nervös zuckten, einen unaussprechlichen geheimen Widerwillen; sie erforschte den halb geöffneten Mund, um dessen nach unten gezogene Winkel eine so bittere Falte lag; sie beobachtete das sichtliche Welken ihres Jugendreizes, an dem ein unausrottbarer Zweifel nagte. Nein, das war nicht die Haltung und nicht die Maske einer Mitschuldigen, aber ebensowenig der Ausdruck einer Mitwissenden. So oft sich Lydia auch wiederholte, daß Alba nach Empfang ihres Briefes unmöglich mehr an den Verirrungen ihrer Mutter zweifeln könne, so mußte sie sich doch durch unzählige kleine Einzelheiten überzeugen lassen, daß die Komtesse an ihrem Unglauben festhielt, und sie kam dadurch zu dem Ergebnis: »Das ist die Stelle, wo der Streich geführt werden muß . . . aber wie?«

Jawohl, wie? Dem Haß dieser zarten, scheinbar ganz in weltlichen Dingen aufgehenden Frau standen eine männliche Entschlossenheit und Thatkraft zu Gebot, wie man sie nur in Soldatenfamilien findet. Das Blut des Obersten Chapron floß in ihren Adern und verlangte nach Bethätigung. Was setzte sie übrigens dabei aufs Spiel, wenn sie Alba zum Ausgangspunkt ihrer Pläne machte? War das junge Mädchen schon aufgeklärt über die Mutter, so that ein weiterer Beweis nichts mehr zur Sache, und jedenfalls konnte man ihr diesen Beweis ohne Gefahr liefern. Hatte sich die Komtesse aber noch nicht überzeugen lassen, so mußte ja dieser neue entscheidende Beweis eine Wendung herbeiführen; denn so verwegen die Venetianerin auch war, sie konnte doch nicht wohl den Liebhaber und die Tochter zusammen in Piove beherbergen, wenn sie in den Augen dieser Tochter und vor Zeugen, ja fast vor aller Welt als dessen Geliebte dastand. Nachdem sie alle diese Erwägungen hin und her gewälzt hatte, arbeitete Lydia schließlich einen jener teuflisch einfachen Pläne aus, die man wohl eine Offenbarung des bösen Geistes nennen muß, weil die Scharfsinnigkeit des Entwurfes und die Ruchlosigkeit der Ausführung über Menschliches hinausgehen. Sie sagte sich, daß für den unwiderruflichen Auftritt, den sie herbeiführen wollte, kein andrer Schauplatz so geeignet sei als die Malerwerkstatt.

Bei der Liebeswut der Gräfin war es nicht zu bezweifeln, daß sie dem Maler in der ersten Minute des Alleinseins jene wahnsinnigen Küsse spenden werde, von denen ihre Briefe sprachen; folglich war es nicht schwierig, ihr eine Schlinge zu legen. Es genügte, daß Alba und Lydia, sobald die Liebenden sich, sei es auch nur auf eine Minute, allein glaubten, auf einem Beobachtungsposten stünden, und die Einteilung der Räume gab der furchtbaren Frau die Mittel an die Hand, sich diesen Beobachtungsposten in aller Sicherheit zu bereiten. Das in der Höhe durch zwei Stockwerke gehende Atelier nahm die halbe Tiefe des ganzen Hauses ein. Die Wand, die es gegen die Wohnräume abschloß, bestand in der oberen Hälfte aus einem Rahmen mit undurchsichtigen Butzenscheiben, die einen spärlichen Lichtschimmer in einen sonst dunklen, zu einer Schrankstube führenden Gang fallen ließen. Lydia verwendete mehrere Nachtstunden darauf, mit einem Diamant in eine dieser farbigen Scheiben ein Loch von der Größe eines halben Frankstücks zu schneiden, und zwar verrichtete sie diese Sträflingsarbeit auf einer Fußbank stehend, um bei der Entdeckung dieses Guckloches durch ihre kleine Gestalt von dem Verdacht frei zu bleiben, sie könnte das heikle und mühsame Werk ausgeführt haben. Auf den Zehen stehend gelang es ihr schließlich, selbst in den Raum hinabzublicken, was für ihre Zeugenrolle nötig und von ihr nicht übersehen worden war. Diese Vorbereitungen waren schon seit mehreren Tagen vollendet, aber trotzdem ihr Gewissen längst im Haß erstickt war, verzögerte sie die Ausführung ihrer Rache. Sogar sie mochte vor der teuflischen Grausamkeit, die Mutter durch ihr eigenes Kind ausspionieren zu lassen, erschrecken, bis Alba selbst durch ein harmloses Wort dies letzte flackernde Flämmchen der Menschlichkeit in ihrem finstern Herzen ausblasen mußte. Es war an dem Abend, nachdem sie so schmerzlichen Abschied von Fanny Hafner genommen hatte. Alba fühlte sich matter als je und suchte in der Salonecke der Villa Steno, die schon so viel derartige Plaudereien mit angehört hatte, in einem Gespräche mit Dorsenne ihren Jammer zu vergessen. Es waren nicht viele Gäste anwesend und die jungen Leute hatten sich anfangs flüsternd unterhalten, dann waren sie, wie es zu geschehen pflegt, unbewußt wieder in ihren natürlichen Ton verfallen. Ganz in Anspruch genommen von dem, was sie sich zu sagen hatten, bemerkten sie nicht, daß Lydia sich durch ein einfaches Wechseln des Stuhles in ihre Nähe geschlichen hatte und, während sie selbst mit einem beliebigen Bekannten weiter sprach, die Ohren spitzte, um einzelne Sätze von Alba aufzuschnappen. Derselbe Naturtrieb, der sie zwang, jeden zufällig in ihre Hand fallenden Brief zu lesen, Dienstboten auszuhorchen, in jeder Gestalt und unter allen Verhältnissen den Spion zu spielen, ließ sie auch seit Wochen das junge Mädchen umschleichen und heute dies Sondergespräch belauschen. Was sie zu hören bekam, waren Worte, worin Alba, die sonst ganz Großmut, ganz Gerechtigkeit war, ihren Gedanken einen übertriebenen Ausdruck gab, denn sie litt und glaubte ihre Schmerzen zu lindern, indem sie mit Bitterkeit über einen Menschen sprach, dessen Bild mit dem ihres schlimmsten Peinigers enge verbunden war. Es handelte sich um den wackeren Florent Chapron, und sie entgegnete Dorsenne, der sein Lob gesungen hatte: »Ich kann ja nichts dafür, daß er mir beinahe Abscheu einflößt . . . er ist für mich wie ein Geschöpf andrer Gattung . . . seine Liebe zu seinem Schwager? Ja wohl, die ist schön, sie ist rührend, aber, ehrlich gesagt, mich rührt sie nicht. Eine solche Hingebung ist nicht menschenwürdig, sie ist zu blind, zu instinktiv . . . ich weiß ja, daß es unrecht von mir ist, aber ich werde eben dieses Rassenvorurteil nie ganz überwinden.«

Unter dem Vorwand, ihren Fächer zu nehmen, hatte ihr Dorsenne in diesem Augenblick die Hand auf den Arm gelegt und ihr leise zugeflüstert: »Gehen wir anderswohin . . . Lydia Maitland sitzt in der Nähe.«

Er hatte bei einem zufälligen Blick Florents Schwester bemerkt und bei den unbedachten Worten der Komtesse ein Zittern an ihr wahrzunehmen geglaubt. Da aber im selben Augenblick Lydias silberhelles Lachen ertönt war, hatte die unvorsichtige Alba ihm erwidern können: »Ein Glück, daß sie nichts gehört hat! Wie man doch ahnungslos andern weh thun kann! Ich war recht bösartig,« hatte sie hinzugesetzt, »denn es ist ja weder ihre noch Florents Schuld, wenn sie ein paar Tropfen schwarzen Blutes, das obendrein noch durch Heldenblut geläutert ist, in den Adern haben. Sie haben beide eine vortreffliche Erziehung genossen und sind vortreffliche Menschen, und ich weiß ja auch, daß die größte That unsres Jahrhunderts die Verbrüderung aller Menschen ist. Allein ich bin heute abend so aufgeregt . . . Fannys Jammer hat mich furchtbar angegriffen, und wenn man leidet, wird man leicht böse . . . Sprechen wir von etwas anderm, wenn es Ihnen recht ist! Zum Beispiel von Ihrem Freund Montfanon, den ich so gern kennen lernen möchte. Kann er sich's jetzt verzeihen, einem Zweikampf beigewohnt zu haben? Verzeiht er jetzt, wo die Verlobung aufgelöst ist, auch der armen Fanny?«

Sie hatte noch leiser gesprochen als Dorsenne, aber es war zu spät, und auch wenn Florents Schwester diese milden Worte gehört hätte, würden sie die Wunde nicht geheilt haben, die ihr an der empfindlichsten Stelle ihrer Eigenliebe geschlagen worden war.

»Und ich konnte noch zaudern!« dachte sie. »Ich dachte sie zu schonen!«

Dieser Abschied an ihr Gewissen war das Zeichen zum Angriff für diese gewaltthätige Natur, die einige von den Eigenschaften der großen Staatsmänner besaß, nur daß sie ihr ausschließlich zur Befriedigung ruchloser Rachegelüste dienten. Sie ließ keine vierundzwanzig Stunden mehr vergehen, ehe sie den verhängnisvollen Plan ausführte, der ein wehrloses Kind vollends zu Grunde richten sollte. Am andern Morgen saß sie neben der Gräfin im Atelier, während Lincoln dem schließlich doch der Vollendung zuschreitenden Bildnis mit einem wählerischen Pinsel die letzten Lichter aufsetzte und Alba blaß und bekümmert wie gewöhnlich in ihrem großen Lehnstuhl ausharrte. Florent Chapron, der auch eine Zeitlang der Sitzung beigewohnt hatte, war eben, auf die vorsichtshalber beibehaltene Krücke gestützt, weggegangen. Seine Abwesenheit erschien Lydia so günstig, daß sie sofort beschloß, sich diese Gelegenheit nicht entgehen zu lassen, und das Verhängnis schien ihr das elende Rachewerk erleichtern zu wollen, denn die Gräfin selbst arbeitete ihr in die Hände. Der Maler hatte eine halbe Stunde schweigend und ununterbrochen fortgemalt und trocknete sich jetzt die Stirne, auf der helle Schweißtropfen von der gewaltigen Anspannung all seiner Kräfte zeugten.

»Jetzt müssen Sie aber eine Pause machen, mein kleiner Linco,« sagte die Gräfin, ihm mit der zärtlichen Fürsorge der älteren Geliebten Einhalt gebietend. »Seit zwei Stunden arbeiten Sie, ohne aufzuatmen, und zwar an den heikelsten Partieen – ich Faulenzerin bin vom bloßen Zusehen erschöpft.«

»Ich nicht im geringsten,« versetzte der Maler, indem er aber doch Palette und Pinsel weglegte, sich eine Cigarette drehte und sie in Brand steckte. »Wir haben nur ein Gutes, wir Amerikaner,« fuhr er mit selbstgefälligem Lächeln fort, »das aber haben wir wenigstens, eine Arbeitskraft, die der alten Welt abhanden gekommen ist, und deshalb gibt es Gebiete, wo keiner gegen uns aufkommt. Soll ich Ihnen etwa, um Sie noch mehr zu ermüden und zugleich zu belustigen, das Leben beschreiben, das der Zahnarzt in der Condottistraße, der Doktor Peyton, führt? Stellen Sie sich vor, daß er ein zweites Atelier in London hat, das regelmäßig am ersten Juni, Schlag zehn Uhr morgens, eröffnet und nicht minder pünktlich am einunddreißigsten Oktober, nachmittags vier Uhr, geschlossen wird. Und Sie wissen ja oder wissen es vielleicht nicht, daß er sein Atelier in Rom ebenso regelmäßig am achtundzwanzigsten Mai um vier Uhr schließt und am vierten November um zehn Uhr eröffnet. Seit zweiundzwanzig Jahren hat er Tag und Stunde nie versäumt, die Reisen zwischen Rom und London sind seine Ferien! Das will aber noch gar nichts heißen . . . Er läßt sich fünf Dollars für die Viertelstunde bezahlen und verdient sehr häufig seine fünfhundert Dollars im Tag – rechnen Sie einmal nach, wie viel Arbeitsstunden das ausmacht. Und was für eine Arbeit es ist, die eines Uhrmachers, der die empfindlichsten Werke herstellt! Und nun raten Sie einmal, was er mir zur Antwort gab, als ich ihn über die Mühsal, alle Kinnladen Großbritanniens und Italiens mit Gold zu pflastern, beklagte? I like my work – ich liebe meine Arbeit! Suchen Sie mir einmal den Europäer, der sich diese Nerven erhalten hätte!«

»Und mittlerweile scheinst du Alba auch für eine junge Dame aus Boston oder New York zu halten,« fiel ihm Lydia ins Wort, »und hast sie so lang sitzen lassen, daß sie ganz blaß ist. Sie muß sich erholen und zerstreuen – kommen Sie mit mir, mein Liebling! Ich werde Ihnen das Kleid zeigen, das aus Paris eingetroffen ist und das ich heute nachmittag bei dem Gartenfeste der englischen Botschafterin tragen werde; Sie müssen mir auch einen Rat geben, wie ich die Bandschleifen stecken soll . . .«

Sie hatte Alba Steno bei diesen Worten aus ihrem Lehnstuhl in die Höhe gezogen und schlang den Arm um die schlanke Mädchengestalt, die sie mit sich fortzog. Im Gehen drückte sie ihr einen Kuß auf die Wange. Wenn je eine Liebkosung mit dem Kuß des Ischariot verglichen zu werden verdiente, so war es diese, und das junge Mädchen hätte mit Fug und Recht das erhabene Wort nachsprechen dürfen: »Verrätst du mich mit einem Kuß?«

Aber ach! Sie glaubte ja an die Aufrichtigkeit dieses Liebeszeichens und erwiderte den Kuß der falschen Freundin mit einer dankbaren Innigkeit, die aber diese mit Haß getränkte Seele nicht erweichte, denn kaum fünf Minuten darauf brachte sie ihren abscheulichen Plan zur Ausführung. Unter dem Vorwand, daß es der kürzeste Weg zum Schrankzimmer sei, hatte sie Alba über eine Dienerschaftstreppe in den dunkeln Gang geführt.

»Wie sonderbar!« rief sie, indem sie plötzlich stehen blieb und ihrer arglosen Begleiterin das runde Loch in der gemalten Scheibe zeigte, das in die gleichmäßige Dämmerung einen hellen Lichtschein fallen ließ. »Jedenfalls hat jemand von der Dienerschaft spionieren wollen . . . aber wozu? Thun Sie mir den Gefallen, den Ausschnitt in der Nähe zu untersuchen. Sie sind ja groß genug, um nachzusehen, wohin das Guckloch geht – wenn es absichtlich eingeschnitten wurde, werde ich den Schuldigen zu finden wissen, und müßte ich mein ganzes Personal wechseln.«

Alba beeilte sich, diesen boshaften Wunsch zu erfüllen, trat zerstreut an die Verglasung und drückte ihr Auge an den Ausschnitt. Die ränkesüchtige Frau hatte den Augenblick richtig gewählt. Kaum daß die Thür des Ateliers ins Schloß gefallen war, hatte sich Katharina Steno erhoben und war auf Lincoln zugetreten. Sie hatte die Arme, deren weiße Haut durch die Aermel des duftigen Sommerkleides schimmerte, um den Hals des jungen Mannes geschlungen und ihm Augen und Mund mit ihren wollüstigen Lippen förmlich zu verzehren begonnen. Lydia, die das junge Mädchen an der einen Hand festhielt, fühlte sofort, daß ein heftiges Zittern durch ihren Körper lief. Der Jäger auf dem Anstand fühlt keine größere Lust, wenn er das Laub des Dickichts rascheln hört! Der Streich war gelungen und sie fragte ihr Opfer zärtlich: »Was haben Sie, Alba? Sie zittern ja wie Espenlaub!«

Sie suchte die Komtesse beiseite zu drängen, um selbst durch das Guckloch zu sehen, aber Alba hatte trotz des namenlosen Grauens, das sie beim Anblick ihrer so leidenschaftlich küssenden Mutter erfaßte, Geistesgegenwart genug, um die Gefahr zu ermessen, die der Gräfin drohte. Wenn man sie überraschte, wie sie in sündiger Lust den Mann umfing, der kein andrer war als der Gatte der Frau, die zu ihr sprach, die sie fragte, weshalb sie zittere, die im nächsten Augenblick durch dasselbe verräterische Loch dasselbe Bild erblicken mußte . . . Um der, wie sie annahm, arglosen Lydia diese entsetzliche Enthüllung zu ersparen und ihre Mutter zu retten, griff das arme Kind zu einem jener verzweifelten Mittel, die uns in Augenblicken unmittelbarer Gefahr geoffenbart werden. Mit der freien Hand schlug sie so heftig gegen das Glas, daß die runde Scheibe klirrend zersprang. Die Scherben zerschnitten ihr die Hand und das Gelenk und sie stürzte mit einem wilden Schmerzensschrei in die Arme der Freundin. War es die blutende Hand, war es das blutende Herz, was ihr diesen Laut der Verzweiflung erpreßte?

»Sie haben es absichtlich gethan, Unglückliche!« herrschte Lydia sie zornbebend an.

Die Schlange hatte sich an das nun weit offen gähnende Loch gestürzt – zu spät! Lincoln stand mitten im Atelier und starrte nach der Oeffnung hinauf, während mehrere Schritte von ihm entfernt die erschrockene Gräfin stand und ängstlich rief: »Meine Tochter! Was ist meiner Tochter geschehen? Ich habe ihre Stimme erkannt! . . .«

»Beunruhigen Sie sich nicht,« versetzte Lydia mit grausamem Hohne. »Alba hat gegen die Scheibe geschlagen, um Ihnen ein Zeichen zu geben.«

»Und hat sich verletzt?« fragte die Mutter.

»Das ist nicht der Rede wert,« gab das unerbittliche Weib mit demselben Hohn zurück und drehte sich nach der Komtesse um.

Sie warf ihr einen so bösen, rachsüchtigen Blick zu, daß Alba selbst in ihrer halben Betäubung vor Entsetzen erstarrte. Jetzt lernte sie das eisige Grauen kennen, das ihre geliebte Maud in diesem selben Haus bei der Entdeckung der finsteren Abgründe in dieser Frauenseele ergriffen hatte. Sie hatte jedoch nicht Zeit, sich über diesen Eindruck Rechenschaft zu geben oder ein volles Bewußtsein davon zu erlangen, denn schon war die Mutter herbeigeeilt und umschlang sie mit denselben Armen, die eben den Geliebten umschlungen hatten, küßte sie mit denselben Lippen, die vorhin . . . Die Erschütterung war so groß, daß Alba ohnmächtig zusammenbrach.

Es war ihr nicht vergönnt, in diesem Schmerzenskrampf zu erlöschen, sie kam wieder zu sich, und zwar sehr rasch, und sah die Mutter ebensosehr von Sorge erfüllt, als sie vorhin vor Liebeslust und Leidenschaft gebebt hatte. Auch Lydia Maitlands Auge sah sie wieder auf sich geheftet und sie verstand jetzt den Blick, womit diese Mutter und Kind umfing. Wie sie durch ihre Geistesgegenwart die schuldige Mutter vor dem Aeußersten bewahrt hatte, so fand sie jetzt auch die Kraft, ihr zuzulächeln, ihr etwas vorzulügen und sie auf immer über den wahren Inhalt des entsetzlichen Auftritts zu täuschen, der sich vor und hinter der nun zerschmetterten Scheibe abgespielt hatte.

»Ich habe mich vor dem Anblick meines eigenen Bluts gefürchtet,« sagte sie mit ihrer befangenen Anmut, »und doch sind es wohl nur kleine Hautritze, wenigstens kann ich die Hand ohne Schmerzen bewegen – sieh nur.«

Sie hatte recht, und als der eilig herbeigerufene Arzt festgestellt hatte, daß kein Splitter in den Wunden steckte, fühlte sich die Gräfin so erleichtert, daß sie auf der Stelle ihre sonnige Heiterkeit wieder fand. Nie war sie Alba so hinreißend liebenswürdig erschienen, wie auf der Fahrt nach Hause und bei dem Frühstück, das sie unter vier Augen einnahmen. Als sie das Speisezimmer verließen, zog sie Albas Arm durch den ihrigen und sagte lustig und kameradschaftlich wie eine ältere Schwester: »Wie wirst du dich mit deiner verbundenen Hand heute bei dem Gartenfest interessant machen!«

»Ich werde nicht hingehen,« erklärte das junge Mädchen beinahe heftig, um dann ruhiger hinzuzusetzen: »Du weißt, der Schreck hat mich ein wenig angegriffen . . . es wäre mir peinlich, Menschen zu sehen.«

»Wie du willst, Kind,« versetzte die Gräfin, indem sie mit klangvollem Lachen ihre blonde Mähne schüttelte; »da reden sie immer von Vererbung. Wenn ich eine kleine Gefahr überstanden habe, bin ich noch einmal so lebenslustig! Nie habe ich so übermütig getanzt als an dem Tage, wo ich fast durch eine Eisenbahnentgleisung ums Leben gekommen wäre – ich hab' dir's ja oft erzählt, du erinnerst dich doch? Es war zwischen Padua und Mestre, und damals hatte ich dem Tod recht nah in die Augen gesehen. Aber ich will dich nicht überreden – jeder nach seiner Art! – Du kennst meinen Wahlspruch: Leben und leben lassen!«

Wenn ein Mensch durch den Augenschein gezwungen ist, einen andern zu verurteilen, ohne daß sein Herz von ihm lassen kann, so gibt es keine grimmigere Verschärfung dieser Pein, als die Beobachtung, daß dieser andre, ohne Ahnung davon, heiter und zuversichtlich in der Sünde beharrt. Handelt es sich aber um eine Mutter, also um ein Wesen, das wir, so schuldig es sein mag, nicht richten können, ohne einen geistigen Muttermord zu begehen, so steigert sich die Pein zur Todesqual. Von der unverwischbaren Vision verfolgt und gemartert, hätte Alba nur dann vor Verzweiflung bewahrt bleiben können, wenn sie bei der Mutter ähnliche Angst und Not, Gewissenspein und Reue wahrgenommen hätte. Sie so voll Seelenruhe, voll freudiger Erwartung eines oberflächlichen Vergnügens zu sehen, bildete einen zu krassen Gegensatz zu dem Jammer, den sie selbst zu verwinden hatte. Ihr Schmerz wurde noch dumpfer, noch drückender und steigerte sich ins Unerträgliche, als die Mutter ihr schon um halb drei Uhr Lebewohl sagte, obwohl die Einladung in den Garten der englischen Botschaft auf fünf Uhr lautete.

»Ich habe dem armen Hafner versprochen, ihn heute zu besuchen,« sagte sie. »Du weißt ja, er ist krank vor Kummer und ich möchte noch einen Versuch machen, die Geschichte einzurenken. Für den Fall, daß du ein wenig Luft schnappen möchtest, schicke ich dir den Wagen zurück. Ich habe Lydia telegraphiert, daß ich um vier Uhr bei ihr sein und mit ihr hinfahren werde.«

Um dieses harmlose Programm glaubhaft erscheinen zu lassen, leuchteten ihre Augen zu sehr, war ihr Lächeln zu strahlend, sah sie zu jugendlich aus in ihrem hellen Kleid, und zuckten ihre Füße zu ungeduldig in den blanken, kleinen Lackschuhen. Wie hätte Alba nicht fühlen sollen, daß sie getäuscht wurde? Das um alle Illusionen betrogene Kind wußte, daß dieser Besuch bei Fannys Vater nur ein Vorwand war; es geschah auch nicht zum erstenmal, daß die Gräfin sich unbequemer Ueberwachung entzog, indem sie den eigenen Wagen nach Hause schickte, was bei Frauen der großen Welt in Rom so gut als in Paris auf heimliche Abenteuer schließen läßt. Auch erregte das geheimnisvolle Verschwinden ihrer Mutter nicht zum erstenmal Albas Mißtrauen, aber sonst hatte sie jeden Verdacht mit einem erzwungenen Vertrauen verscheucht, das ihr nach den Offenbarungen des heutigen Morgens abhanden gekommen war.

Sie trat ans Fenster, um den Wagen abfahren zu sehen. Die beiden Pferde stampften und die Venetianerin erhob das anmutige Köpfchen, um ihrem Kinde unter dem rosenfarbigen Sonnenschirm zum Abschied zuzunicken. Ach! Wie erstaunt sie sein würde, wenn ihr jemand sagen wollte, was Albas Blick bedeutete! Welch ein inbrünstiges Flehen darin lag, daß sie bleiben, durch ihre Gegenwart das Fieber der Verzweiflung lindern, daß sie nicht dahin gehen möge, wohin sie ging. Denn es war ja richtig, daß sie mit Lincoln eine Zusammenkunft in der von ihnen gemieteten Wohnung verabredet hatte. Und während der Wagen sie rasch nach dem Palast Savorelli trug, wo sie nicht länger als fünf Minuten bleiben würde, gerade lang genug, um sich ein Alibi zu schaffen, schwelgte sie schon im voraus in der fieberischen Lust dieser Stunde. Von Hafners Haus würde sie den Wagen zurückschicken, eine Droschke nehmen und dann in eine Kirche eintreten, um in andächtigem Gebet Verzeihung der süßen Sünde zu erflehen, die sie trotzdem begehen wollte!

Als der Wagen nicht mehr zu sehen war, hafteten die starren Blicke des jungen Mädchens an dem sonnebeschienenen weißen Straßenpflaster, und mit einemmal entstand ein fast unwiderstehliches Verlangen in ihr, dem Schmerze, der ihr Inneres verzehrte, ein Ende zu machen. Es war ja so einfach! Sie bedurfte ja nur einer Bewegung, nur einer ganz leichten Bewegung, es genügte, wenn sie sich über die Brüstung beugte, worauf sie jetzt den Arm stützte – ja, so mußte sie es machen. Nur noch einen Ruck nach vorn, und alles Leiden wäre überstanden, nie mehr brauchte sie Lincolns verhaßtes Gesicht neben dem ihrer Mutter zu erblicken. Nie mehr würde sie Lydias Augen begegnen, diesen Augen, die um die Schande ihrer Mutter wußten. Sie brauchte nicht nach Piove abzureisen, nicht Wochen und Wochen in einer Gesellschaft verbringen, an die zu denken, ihr körperlichen Schmerz bereitete. Es durchzuckte sie bis in die Zehen- und Fingerspitzen. Diese Sehnsucht nach dem Tod, die bei Kindern von Selbstmördern aus den geheimsten Tiefen der Seele aufsteigt, war ihr nicht fremd. Ein weiser Arzt hat aufs entschiedenste ausgesprochen, daß solche Kinder nach der Gelegenheit suchen, ihrem Trieb zu folgen, und daß ihnen allen ein Zug gemeinsam ist: der Plan des freiwilligen Todes ist bei ihnen nicht das Ergebnis einer langen, mühseligen Gedankenarbeit, sondern tritt bei dem leisesten Anstoß zu Tage, sie sind sozusagen mit einer Wunde geboren, die bei der flüchtigsten Berührung aufs neue blutet. Aber zwischen der unwillkürlichen Begierde nach dem Tode und der Stillung dieses Verlangens liegt, um bei der wissenschaftlichen Bezeichnung zu bleiben, eine psychologische Kluft, eine mehr oder minder große Entfernung, die viele von ihnen nicht durchmessen, weshalb der unbewußte Hang zum Selbstmord zu den heilbaren Krankheiten gerechnet werden darf. Ist aber diese Entfernung einmal verringert, der Endpunkt näher gerückt, so wird der Trieb so mächtig, daß er den Charakter eines unvermeidlichen Verhängnisses annimmt und Entschluß und That aufeinander folgen wie Blitz und Schlag. So war es bei Alba, die beim Abschied von ihrer Mutter alle Qual empfunden hatte, die ein Menschenherz fassen kann, ohne jedoch an den Tod zu denken. Jetzt aber, als sie, auf die Brüstung gestützt, am offenen Fenster stand und diese Höhe der beiden Stockwerke maß, jetzt fühlte sie sich wie von einem fieberhaften, dämonischen und doch sanften Reiz ins Leere gezogen. Es war ja so einfach . . . sie sah sich mit zerschmetterten Gliedern, geborstenem Schädel auf dem weißen Pflaster liegen – tot, befreit! In dieser Sekunde überkam sie der wahnsinnige Jubel, der die Ausführung von Selbstmorden dieser Art zu begleiten pflegt. Sie brach in ein schrilles Gelächter aus, beugte sich vor und war im Begriff, ihren Halt los zu lassen, als ihr Blick auf eine Person fiel, die auf dem Fußsteig dem Hause zuschritt. Dieser Anblick zerriß den Nebelschleier, womit der seltsame Zauber ihre schwindelnden Sinne umstrickt hatte. Sie warf sich nach rückwärts, rieb ihre Augen klar, und so wenig sie sonst zu übersinnlichen Schwärmereien neigte, jetzt sagte sie ganz laut: »Mein Gott! Du bist's, der ihn mir sendet! Ich bin gerettet.«

Sie klingelte und befahl dem Diener, Herrn Dorsenne, falls er komme, in das kleine Wohnzimmer der Gräfin zu führen.

»Sonst bin ich für niemand zu Hause,« setzte sie hinzu.

Es war in der That Julian Dorsenne, der auf ihr Haus zugeschritten war in dem Augenblicke, wo nur noch die letzte Auflehnung des Körpers, die sich auch bei den im Wahnsinn begangenen Selbstmorden geltend macht, sie von dem finstern Abgrund geschieden hatte. Ein paar Minuten suchte sie, regungslos dastehend, ihre Gedanken zu sammeln. Die verborgensten Kräfte ihrer Natur spannten sich zu einem Entschluß an, der ihrem reizenden, eben noch von bitterem, finsterem Weh verzerrten Gesichtchen, wenn nicht die Heiterkeit, so doch einen Schimmer von Mut und Hoffnung zurückgab. Ihre Erwartung, daß der junge Mann ins Haus treten werde, hatte sie nicht getäuscht. Bei den etwas ungewöhnlichen Erziehungsgrundsätzen ihrer Mutter war es schon mehr als einmal geschehen, daß sie Julian Dorsenne allein empfangen hatte; daß sie aber heute so weit gegangen war, ihre Thür für jeden andern Besucher zu verschließen, bewies, daß sie eine Unterredung von außergewöhnlicher Wichtigkeit mit ihm herbeiführen wollte. Als ihr gemeldet wurde, daß er sie ihrer Anordnung gemäß in dem kleinen Salon erwarte, wurde sie jedoch unschlüssig.

»Nein,« sagte sie sich, schließlich ihr Zaudern überwindend. »Es ist das Heil, das einzige Heil. Ich werde erfahren, ob er mich wirklich liebt – und liebt er mich nicht, so . . .«

Sie warf noch einen Blick nach dem Fenster, um sich zu vergewissern, daß, falls diese Unterredung anders verlaufen sollte, als sie wünschte, das grausame und doch so einfache Mittel von vorhin zu ihrer Verfügung blieb, daß sie das entehrte Leben, das länger zu ertragen, unmöglich geworden war, jeden Augenblick von sich werfen konnte. In dieser Stunde, wo ihr ganzes Leben in einer entscheidenden Krisis begriffen war, bekämpften sich in ihrer Seele die beiden Naturen, die sich in ihr verschmolzen hatten. Die Seele ihres wirklichen Vaters, des unseligen Schwärmers Werekiew, hatte sie an die Brüstung des offenen Kreuzstockes gedrängt und in den Tod gelockt, die thatkräftige Seele der Mutter trieb sie jetzt zu dem verwegenen Schritt, den sie thun wollte, um ihrer Qual durch eine andre Pforte als die des Todes zu entrinnen. Der Einfluß dieser mütterlichen Erbschaft war in dem Augenblicke, als sie den Salon betrat, so überwiegend, daß Dorsenne zum erstenmale die Betrachtung anstellte, Alba habe doch Aehnlichkeit mit Katharina Steno, und wer weiß, ob diese entdeckte Aehnlichkeit nicht die Antwort bestimmte, die er dem jungen Mädchen gab, als sie endlich mit dem leidenschaftlichen Ernst einer verzweifelnden Seele zu ihm sprach. Wenn wir am Kreuzweg unsres Schicksals stehen, bestimmt oft ein Windhauch die Richtung unsrer zögernden Schritte. Wer weiß, ob die unwillkürliche Erinnerung an die Ausschweifungen der Venetianerin in seinen Augen nicht das erhabene, heilige Vertrauen dieses anbetungswürdigen unschuldigen Mädchens befleckte, das heute als Qualgespenst vor seinem reuigen Gewissen steht, während es die Wonne seiner zweiten Jugend, die zarte, erlesene Blüte am trostlos kahlen Baum des vierzigsten Lebensjahres hätte werden können.

Er hatte sich auf dem Wege zur Villa Steno wohl gesagt, daß er heute zum letztenmale unter vier Augen mit seiner hübschen, interessanten kleinen Freundin plaudern werde, denn er hatte sich endlich entschlossen abzureisen, und war unterwegs, um sich selbst zu binden, an die Verkaufsstelle der Schlafwagengesellschaft gegangen und hatte sich für heute nacht einen Platz gesichert. Ja, er war freilich gekommen, um ihr Lebewohl zu sagen, aber nicht dieses Lebewohl wollte er sagen, nicht diesen Abschied nehmen, dessen er gedenken wird, so lange er auf dieser Erde wandelt, wo man lachend und ahnungslos so viel Böses thun kann. Er hatte so oft mit dem Feuer gespielt, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, das berühmte Sprichwort könnte auch auf ihn Anwendung finden, und wieder rührte er heute scherzhaft an die Glut, indem er nach Albas Hand griff, um seine Lippen darauf zu drücken und, als er den Verband sah, lächelnd fragte: »Was ist Ihnen denn zugestoßen, Komteßchen? Haben Ihnen meine oder Florent Chaprons Lorbeeren den Schlaf geraubt, daß Sie auch mit der klassischen Binde des Duellanten prangen wollen? Allen Ernstes, wo haben Sie sich verletzt?«

»Ich habe mich gegen ein verglastes Gitter gestemmt, das nachgab, und die Scherben haben mir die Haut zerschunden. Es hat gar nichts auf sich,« erwiderte das junge Mädchen lächelnd.

»Was für ein unvorsichtiges Kind Sie sind!« sagte er mit freundschaftlichem Vorwurf. »Wissen Sie, daß Sie sich auf diese Weise ganz einfach eine Arterie zerschneiden und eine gefährliche, ja tödliche Blutung hätten zuziehen können?«

»Das wäre ja gar nicht so übel gewesen,« versetzte Alba, den hübschen Kopf mit einem so bitteren Schmerzensausdruck schüttelnd, daß der junge Mann das Lächeln verlernte.

»Reden Sie nicht in diesem Ton,« bemerkte er, »sonst könnte ich denken, Sie hätten es absichtlich gethan . . .«

»Absichtlich?« unterbrach sie ihn. »Absichtlich? Weshalb sollte ich's absichtlich gethan haben?«

Sie wurde rot und lachte wieder so schrill, wie sie vor einer Viertelstunde an der Fensterbrüstung vor sich hingelacht hatte. Dorsenne fühlte, wie unglücklich sie war, und das schnürte ihm die Brust zusammen. Die Unruhe, gegen die er in den letzten Tagen mit der ganzen Willenskraft des unabhängigen Künstlers angekämpft hatte, der sein Junggesellentum wie ein Allerheiligstes verteidigt, bemächtigte sich seiner mit erneuter Gewalt. Er sagte sich, daß es wahrhaftig an der Zeit sei, das Bollwerk eines unwiderruflichen Entschlusses zwischen sich und der »Dummheit« aufzurichten, und er erwiderte seiner kleinen Freundin mit gewohnter Sanftmut, aber in einem festen Ton, der ahnen ließ, daß er seine Wahl getroffen habe: »Nun habe ich Sie abermals verletzt, Komtesse! Sie haben mich eben mit den Augen angesehen, die Sie bei unsern Zwistigkeiten zu machen pflegen, und ich möchte die andern, die unsrer Freundschaft, sehen. Vielleicht würde es Sie später gereuen, gerade heute unfreundlich gegen mich gewesen zu sein . . .«

Alba sah bei diesen rätselhaften Worten, daß in seinen eigenen Augen ein Ausdruck lag, der anders war als sonst und den sie nicht enträtseln konnte. Ihre Liebe mußte wohl noch größer sein, als sie selbst annahm, denn sie vergaß für einen Augenblick das eigene Weh und den eigenen Vorsatz, um ängstlich zu fragen: »Sie haben Kummer? Sie leiden? Was ist geschehen?«

»Nichts,« versetzte Dorsenne. »Aber die Stunde vergeht, die Minuten verfliegen und nicht nur die Minuten – es gibt ein reizendes französisches Liedchen, das Sie nicht kennen und das mit den Zeilen beginnt: ›Die Zeit geht hin, die Zeit geht hin, Madame!‹«

»Die Zeit geht hin? Ach nein, wir gehen . . .«

»In schlichte Prosa übertragen, bedeutet das nichts andres, Komteßchen, als daß heute ohne Zweifel unsre letzte Plauderstunde in diesem Frühling geschlagen hat und daß es nicht hübsch von Ihnen wäre, mir gerade diesen letzten Besuch zu verderben.«

»Versteh' ich Sie recht?« sagte Alba, die Dorsennes Plauderton hinreichend kannte, um zu wissen, daß diese etwas geschraubten, halb spöttischen, halb gefühlvollen Wendungen Ernsthafteres einleiten sollten. Aus Furcht, selbst gepackt zu werden, liebte er es, sich gegen jede Rührung zu verschanzen. Sie kreuzte die Hände über der Brust und fuhr nach längerem Schweigen mit ernster Stimme fort: »Sie reisen ab?«

»Ja,« erwiderte er, das Heftchen mit den Fahrscheinen halbwegs aus der Tasche ziehend; »und Sie sehen, daß ich's gemacht habe wie die Feiglinge, die sich mit einem Stein um den Hals ins Wasser stürzen. Meine Fahrkarte ist genommen, und ich werde mir nun nicht mehr die kleine Rede halten, die seit Monaten den Inhalt meiner Selbstgespräche bildet, das ›Nur noch einen Augenblick, Herr Scharfrichter‹ der Frau von Dubarry. Ich habe Ihnen die Geschichte schon öfters erzählt; es ist das einzige Wort, was mich an der blutigen Albernheit unsrer großen Revolution ein bißchen rührt . . . es ist so ehrlich!«

»Sie reisen ab,« wiederholte Alba, die den Scherz, worein Julian sein eigenes Erschrecken über die Wirkung der plötzlichen Mitteilung kleidete, offenbar überhören wollte. »Ich werde Sie nicht mehr sehen! Und wenn ich Sie nun doch bäte, noch nicht fortzugehen?« setzte sie nachdenklich hinzu. »Sie haben mir so oft von Freundschaft gesprochen . . . wenn ich Sie im Namen dieser Freundschaft bäte, beschwörte, mich in diesem Augenblick, wo ich keinen Menschen mehr habe, wo ich allein, so trostlos allein bin, mich Ihrer Nähe nicht zu berauben, würden Sie es mir abschlagen? Oft haben Sie mir gesagt, daß Sie mein Freund, mein wahrer Freund seien. Wenn dem so ist, o dann gehen Sie nicht. Ich wiederhole es Ihnen – ich bin so allein, und ich fürchte mich vor der Einsamkeit . . .«

»Aber, Komteßchen,« wendete Dorsenne ein, den die Erregung des jungen Mädchens zu ängstigen begann, »es ist doch wahrhaftig die helle Unvernunft, sich in derartige Stimmungen hineinzuarbeiten, nur weil Sie gestern eine schmerzliche Unterredung mit der armen Fanny auszuhalten hatten. Erstens ist es mir ganz einfach unmöglich, meine Abreise noch weiter hinauszuschieben. Sie zwingen mich, Ihnen mit recht plumpen Gründen zu kommen, fast mit denen eines Handelsmannes, aber mein Buch erscheint demnächst und ich muß an Ort und Stelle sein, um den Versand und alles Weitere in Gang zu bringen, womit ich Sie schon öfters gelangweilt habe. Ferner reisen Sie ja selbst bald und werden in Ihrem Landleben tausenderlei Zerstreuungen haben, Ihre venetianischen Freunde, irgend einen schmachtenden Verehrer, den Sie mir verheimlichen sollen, jedenfalls die angenehme Lydia Maitland . . .«

»Sprechen Sie diesen Namen nicht aus!« rief Alba, deren Züge seit der Erwähnung des Aufenthaltes in Piove förmlich verstört waren. »Sie wissen weder, was Sie mir damit anthun, noch wissen Sie, was diese Frau ist, dieses Ungeheuer an Grausamkeit und Hinterlist! Bitte, bitte . . . fragen Sie nicht . . . ich werde Ihnen nichts sagen. Aber, verstehen Sie denn nicht,« fuhr sie, die Hände ringend, fort, diese armen, abgemagerten Händchen, die in der Todesangst vor ihren eigenen Worten bebten, »verstehen Sie denn nicht, daß ich nur so zu Ihnen rede, weil Sie mir zum Leben nötig sind, weil . . .« ihre Stimme klang fremd und tief vor innerer Erregung – »weil ich Sie liebe!«

Alle Schamhaftigkeit eines Kindes von zwanzig Jahren färbte mit heißen Purpurwellen ihr blasses Gesichtchen, sobald das Geständnis heraus war.

»Ja, ich liebe Sie!« wiederholte sie, nicht minder erregt, aber bestimmter. »Es ist immerhin nichts so Alltägliches in dieser schnöden, gräßlichen Welt um eine echte Hingebung, um ein Wesen, das sich nur sehnt, Ihnen dienstbar, hilfreich zu sein, in Ihrem Schatten zu leben . . . Sie sehen, ich habe Ihnen gegenüber keine Zimperlichkeit, keinen Stolz . . . wenn Sie mich nicht lieben, so ist ohnehin alles aus. Und was liegt dann an meinem Stolze? Wenn Sie mich aber lieben – ach! Wenn Sie mich lieben« – sie drückte die Augen zu, als ob der helle Glanz dieser Hoffnung sie blendete –, »dann werden Sie es ja verstehen, daß ich für das Recht, Ihnen mein Leben zu schenken, Ihren Namen zu tragen, Ihre Frau zu sein, Ihnen zu folgen, im Augenblicke, wo ich Sie zu verlieren fürchtete, meine Empfindungen laut werden ließ, und Sie werden mir verzeihen, daß ich zum ersten- und zum letztenmal gegen die Sitte gefehlt habe . . . ich war zu unglücklich . . . habe zu viel gelitten . . .«

Sie verstummte. Nie hatte die unantastbare Reinheit dieses erlesenen Geschöpfes, das, im Dunstkreis der Fäulnis geboren und erzogen, so unberührt, so edel, so offen geblieben war, heller geleuchtet als in diesem Augenblick. Ihre ganze todestraurige jungfräuliche Seele lag in den Augen, die flehend an Julian hingen, auf diesen Lippen, die noch über die eigenen Laute zitterten, auf ihrer Stirne, die von den blonden Löckchen wie von einem Glorienschein umflossen war.

Alba hatte es vermocht, diesen fabelhaften Schritt, den verwegensten, den eine Frau, geschweige denn ein Mädchen wagen kann, mit einer so keuschen Einfalt zu thun, daß Dorsenne nicht den Mut gehabt hätte, auch nur die Fingerspitzen dieses Kindes zu berühren, das ihm so thöricht und so stolz vertraute. Und auch sie hatte, trotz der Röte, die ihre etwas eingesunkenen Wangen noch immer färbte, kein Gefühl der Beschämung. In ihrem Geständnis lag zu viel Rechtlichkeit, sie war, wie sie gesagt hatte, durch allzu große Schmerzen zu diesem Aeußersten getrieben worden. Was sie erhob, war die Hoffnung. Sie glaubte an Dorsennes Freundschaft, mehr als das, an seine Liebe. Manchmal hatte sie sich im Verlauf des Winters gesagt, daß der junge Mann nur darum nicht um sie werbe, weil sie reich war.

Ach, er hatte ja in ihrer Nähe die lebhaftesten Empfindungen kennen gelernt, deren seine Natur fähig war, ohne daß jedoch diese Herzensregungen auch die kühlen Verstandesregionen seines gegen jede Aufwallung rebellischen Wesens ergriffen hätten. Wohl war es richtig, daß ihre eigenartige Schönheit der italienisierten Slavin ihn entzückte, so sehr entzückte, daß er mit Wonne ihr Geliebter geworden wäre, wenn er nicht in gewissen Punkten ein sehr rechtschaffenes Gewissen gehabt hätte. Aber ihre rührenden Worte, worin ein so zärtlicher Jammer zitterte und die ihm später auch heiße Reuethränen entlocken sollten, riefen im Augenblick mehr das Gefühl der Furcht als des Mitleids bei ihm hervor. Ja, er fürchtete sich vor der Glut, die in den Augen des jungen Mädchens loderte; er erschrak vor der ungeahnten Kraft, die dieses Kind plötzlich entfaltete; er scheute sich, wider Willen mit hineingerissen zu werden in das Reich der ganzen, ausschließlichen, großen Leidenschaften, er, der sich nur im Helldunkel, im Gebiet der gebrochenen Töne, im Zwischenreich zwischen Glück und Unglück, in gedämpften künstlichen Empfindungen wohl fühlte.

Sie schwieg, und er antwortete nicht, doch als er endlich, endlich das grausame Schweigen brach, da offenbarte schon der Klang seiner Stimme dem unglücklichen Mädchen die Fruchtlosigkeit ihrer letzten gewaltigen Anklammerung ans Leben. Gegen den Dämon des Selbstmordes hatte sie keine Waffe mehr gehabt als ihre Hoffnung auf das Herz dieses Mannes, und dies Herz, dem sie mit verzweiflungsvoller Begeisterung entgegengeflogen war, wich ihr aus, statt sich ihr zu ergeben.

»Ich beschwöre Sie – werden Sie ruhiger,« begann er. »Sie müssen ja fühlen, wie verwirrt, wie bestürzt ich über das eben Gehörte bin. Es lag mir so fern. Mein Gott, mein Gott! Wie bewegt Sie sind! Und doch,« fuhr er etwas gefaßter fort, »müßte ich mich selbst verachten, wenn ich Sie täuschen, belügen wollte . . . Sie, die so wahr, so großmütig gegen mich waren. Ich kann Ihr Vertrauen nur dadurch erwidern und verdienen, daß ich wie Sie laut denke. Sie meine Frau? Ach! Es wäre das entzückendste Traumbild, wenn die Redlichkeit mich nicht hinderte, diesem Traum nachzuhängen. Wer das Leben eines Mädchens wie Sie annimmt, muß ihr aufrichtig und ehrlich sein eigenes dafür schenken, und Ihnen das zu versprechen, ist mir versagt, weil ich weiß, daß ich mein Wort brechen würde. Armes, armes Kind!« – seine Stimme klang beinahe hart und bitter. – »Sie kennen mich nicht. Sie wissen nicht, was ein Schriftsteller meines Schlages ist und daß ich, wenn ich Sie an mein Geschick ketten wollte, Ihnen ein viel grausameres Martyrium auferlegen würde als Ihre jetzige gemütliche Vereinsamung! Sehen Sie, ich kam so gern, mit so viel Freude zu Ihnen, weil ich frei war, weil ich mir bei jedem Wiedersehen sagen konnte, daß ich meinen Besuch nicht zu wiederholen brauchte. Dies Geständnis ist sehr wenig romanhaft, aber es ist ehrlich. Sobald dieser Verkehr zu einem Zwang, einer Pflicht würde, sobald ich mich in einem bestimmten Rahmen bewegen, bestimmten Gewohnheiten unterwerfen müßte, hätte ich keinen andern Wunsch mehr, als diesen Banden zu entfliehen. Eine Verpflichtung fürs ganze Leben eingehen? Nein! Nein! Ich würde es nicht ertragen . . . es gibt Wanderseelen, wie es Zugvögel gibt; die meinige gehört zu dieser Gattung. Sie selbst werden das in der nächsten Stunde begreifen und sich erinnern, daß ich als Mann von Ehre zu Ihnen gesprochen habe, als ein Mann, der verzweifeln müßte, wenn er sich sagen würde, daß er unfreiwillig Ihr Geschick, das er so gern lindern und verschönen möchte, verdüstert hätte. O, mein Gott, was soll ich denn thun?« rief er leidenschaftlich, als er große Thränen aus den Augen des jungen Mädchens hervorbrechen und über ihre Wangen rollen sah, ohne daß sie die Hand rührte.

Das war nicht mehr das lange, gerührte Schluchzen, womit sie gestern abend in Fannys Arme gesunken war und im vereinten Schmerz mit der Leidensschwester die Süßigkeit gewährten und empfangenen Mitleids gekostet hatte. Nein, diese großen, schweren Thränen, die jetzt über ihre glühenden Wangen rollten, ohne daß sich ein Laut, ein Seufzer ihrer Brust entrungen hätte, waren Tropfen des Todesschweißes, den die unheilbare, vollständige, hilflose Verzweiflung ihr erpreßte. Sie galten dem Abschied vom Leben einer doch noch so jungen Seele, deren letzter Hilferuf ohne Widerhall verklungen ist und die ein letztes Mal ihre zum Tod verurteilte Jugend, sich selbst beweint.

Als Julian, tief erschüttert, seine Frage wiederholte: »Was soll ich thun?« – erwiderte sie ihm: »Gehen . . . mich verlassen. Ich zürne Ihnen nicht, bin Ihnen eher dankbar, daß Sie mich nicht getäuscht haben, aber Ihre Gegenwart ist mir zur Qual geworden. Jetzt, da ich weiß, daß Sie mich nicht lieben, schäme ich mich meiner Worte . . . Sie thun recht, Rom zu verlassen . . . Nur hätten Sie es schon früher thun sollen. Verteidigen Sie sich nicht« – setzte sie, seine Einsprache abwehrend, hinzu – »ich klage Sie ja nicht an. Sie haben mich nie getäuscht, haben mir nie das Recht gegeben, andres bei Ihnen vorauszusetzen als diese flüchtige Freundschaft . . . Ich war eine Wahnsinnige . . . strafen Sie mich nicht, indem Sie noch länger bleiben. Nach dem, was wir uns gesagt haben, fordert meine Ehre, daß wir uns nie wieder sehen . . .«

»Sie haben recht,« versetzte Julian nach abermaligem Schweigen.

Er suchte nach seinem Hut, den er vor Beginn dieser Unterredung, die so rasch einen so ungeahnten Ausbruch von Gefühlen herbeigeführt hatte, irgendwo hingelegt haben mußte. Noch einmal sahen sich die zwei Menschen an – ach! wie oft er ihr Bild noch so vor sich sehen sollte, blaß wie eine Tote, den Mund schmerzlich verzogen, die Wangen noch feucht von den Thränen, die zu fließen aufgehört hatten, starr und ernst in dem hellen Frühjahrskleidchen, die Arme wie vorhin über der schmächtigen Brust gekreuzt, um ihm nicht die Hand geben zu müssen!

Er streckte die seinige nicht aus, er fühlte, daß dies unselige Kind wahr gesprochen hatte, daß sie ihre Gefühle ohne Scham hatte gestehen können, solang sie an die Erwiderung glaubte, daß ihr Geständnis ihr aber jetzt als tiefste Selbsterniedrigung erscheinen mußte.

»Leben Sie wohl,« sagte er, und sie neigte wortlos das blonde Köpfchen.

Die Thür hatte sich geschlossen; Alba Steno war wieder allein. Als der Diener eine halbe Stunde später hereinkam, um ihre Befehle für den von der Gräfin zurückgeschickten Wagen einzuholen, sah er sie unbeweglich am Fenster stehen. Sie hatte sich hinausgebeugt, um Dorsenne gehen zu sehen, und die Versuchung war wieder an sie herangetreten. Von neuem war ihr das Leben zu häßlich, zu zwecklos, zu unerträglich erschienen, um es sich länger auferlegen zu lassen. Sie konnte ja ihre Mutter nicht mehr ohne Grauen und Schauder küssen. Von ihren beiden Freundinnen war die eine so elend wie sie, die andre auf ewig von ihr getrennt.

Jetzt hatte sie auch die bittere Erfahrung gemacht, daß der Mann, auf den sie ihre letzte, thörichte Hoffnung gesetzt hatte, herzlos war oder doch kein Herz für sie hatte. Der Einblick, den sie in Lydias teuflische Seele gethan hatte, machte ihr die Aussicht auf den Aufenthalt in Piove vollends so verhaßt, daß sie beim bloßen Gedanken daran von Grauen gelähmt wurde. Der vererbte Hang, der sich vorhin in dem mächtigen Antrieb geoffenbart hatte, hatte sich in diesem unheilbar verwundeten, blutenden Herzen schon in Gestalt eines überlegten Vorsatzes festgesetzt. Das ist die zweite und gefährlichste Station im Verlauf der Gemütskrankheit, als die der Selbstmord anzusehen ist; wenn äußere Umstände sich mit der angebornen Anlage verbinden, so schreitet sie rasch fort. Alba sagte sich nun nicht mehr wie vor einer Stunde: »Wie süß der Tod wäre!« sondern sie sagte: »Ich will sterben!«

Ueber die Fensterbrüstung gebeugt, hing sie zwei Erinnerungen nach. Die eine galt einem jungen Mädchen aus Neapel, mit der sie oft Tennis gespielt und die Dorsenne immer Herodias genannt hatte, weil sie ihn so sehr an die Gestalten Lucinos erinnerte. In einem Fieberanfall hatte sich die Kleine diesen Winter aus dem Fenster gestürzt. Es war um fünf Uhr morgens gewesen. Ein Gärtner hatte den armen zerschmetterten Körper erkannt. Man hatte, um ihn nicht auf der Straße liegen zu lassen, an einer benachbarten Speisewirtschaft geklingelt, und so war das erste Bahrtuch, das die edlen, reizenden, schlanken Formen umhüllte, ein schmieriges Tischtuch des Schankwirtes gewesen. Alba, die das achtzehnjährige Kind sehr lieb gehabt hatte, erinnerte sich der Thränen der unglücklichen Mutter – ach, einer fleckenlosen, edlen Mutter! – und erinnerte sich, wie ihr dies Sterben auf der Straße mit all seinen verletzenden Einzelheiten den ohnehin entsetzlichen Vorgang doppelt gräßlich gemacht hatte.

Dann tauchte das Bild einer andern Freundin vor Alba auf, einer in Italien wohnenden deutschen Baronin, die sich auch vor zwei Jahren das Leben genommen hatte, indem sie aus einem Boot ins Wasser gesprungen war. Es war auf einem kleinen See der römischen Campagna geschehen, dem See von Porto, und man hatte sie auf dem Wasser treibend wie eine Ophelia aufgefunden. Ohne jede Entstellung hatte sie wie schlafend im weichen Bett der Wogen gelegen, liebevolle Hände hatten sie heimgebracht, nichts Rohes, keine Entweihung hatte dieser Verzweifelten den süßen Reiz des Todes gestört. Wenn der Wahnsinn des Selbstmordes den Menschen erfaßt hat, genügt ein solches Bild, um die Entscheidung über die Wahl des Mittels herbeizuführen, besonders wenn sogar die Form der That durch das Geheimnis der Vererbung vorgezeichnet ist. So erklärt sich der ansteckende, seltsame Nachahmungstrieb der Selbstmörder, wodurch gewisse Orte eine unheimliche Berühmtheit erlangt haben, wie zum Beispiel das Schilderhaus im Boulogner Lager, das der Kaiser zuletzt verbrennen lassen mußte, weil ein Soldat nach dem andern sich dort erschoß.

Eine ähnliche Bezauberung umstrickte das junge Mädchen. Der Wagen stand ihr zur Verfügung, durch die Porta Portese und längs des Tibers konnte sie mit den lebhaften Pferden der Gräfin in anderthalb Stunden am See von Porto sein. Um die Neugier der Dienerschaft zu befriedigen, konnte sie leicht einen Vorwand für diese Fahrt finden, denn eine der großen Damen ihrer Bekanntschaft, die Fürstin Torlonia, besitzt ein einsames Landhaus am Rande dieses Teiches.

Hastig ging sie die Treppe hinauf, um ihren Hut aufzusetzen. Ohne ein Abschiedswort an irgend jemand zu schreiben, ohne auch nur einen letzten Blick auf die Dinge zu werfen, die sie im Leben und Leiden umgeben hatten – so ganz war sie schon dem Schwindel des Grabes zum Raub geworden – lief sie eilends die Treppe hinunter und nannte dem Kutscher ihr Ziel, die Torloniasche Villa am See von Porto.

»Schnell fahren!« befahl sie dringend. »Ich habe mich ohnehin schon verspätet.«

* * *

Der See von Porto ist nichts andres als der alte Tiberhafen, durch den Kaiser Trajan den schon zur Zeit des Augustus durch Anschwemmungen fast ausgefüllten Hafen von Ostia ersetzen wollte. Die Straße führt von Trastevere längs des Flusses hin, der seine vom Sand und Schmutz der Apenninen gelb gefärbten Fluten langsam durch die mit Trümmern besäete, von kahlen Hügeln überragte Ebene wälzt. Sobald der Prachtbau von San Paolo außer Sicht ist, fängt die Wüste an, eine noch trostlosere Einöde als die, worin der Zweikampf zwischen Gorka und Florent Chapron stattgefunden hatte, denn hier fehlt die schön geschwungene, bläuliche Linie der Albaner Berge, die der unendlichen Eintönigkeit der Campagna Reiz verleiht.

Um diese Zeit des Jahres sind die Herden schon auf die Berge getrieben, um dem Fieber zu entgehen, das bald Alleinherrscher ist über diesen Boden, der durchsickert ist von Meerwasser und von Sümpfen vergiftet, denen die angestrengteste Arbeit erst halbwegs beizukommen vermochte. Hie und da ein kleines Gehölz von Eukalyptus-Bäumen, da oder dort der Schirm einer Pinie, die über zerfallenen Mauern aufragt, das war alles, was Albas Blick an Pflanzenwuchs gewahrte, aber der Anblick stimmte zu sehr mit der Verwüstung in ihrer Seele überein, um ihr nicht den landschaftlichen Rahmen ihrer letzten Spazierfahrt wohlthuend erscheinen zu lassen. Ueberdies empfand sie, seit der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte, jene befremdliche Ruhe, wo nicht Heiterkeit, die den Selbstmord so häufig begleiten. Es scheint, daß die Seele so gut als der Körper nur ein bestimmtes Maß von Schmerz empfinden kann, und ist diese Grenze einmal überschritten, so tritt eine vorübergehende Unempfindlichkeit ein, worin die Kümmernisse, die doch den Entschluß zu sterben hervorbringen, nicht einmal mehr als Wirklichkeit erscheinen. Die verschiedenen Personen, die im Drama ihres Lebens die Bühne betreten hatten, um sie von Auftritt zu Auftritt immer mehr zur tragischen Lösung hinzudrängen, erschienen der Sterbenden in weite Ferne entrückt zu sein. Wie undeutlich sie den rohen Lincoln und die verräterische Lydia sah, wie fern die vornehme Maud Gorka und die fromme Fanny Hafner ihr waren! Selbst ihre Mutter und Dorsenne waren ihr keine Wirklichkeit mehr, obwohl wenige Stunden, fast nur Minuten sie von dem Augenblick trennten, wo die Hände dieser beiden den tödlichen Streich auf sie geführt hatten. Es war nicht der Zustand des sehenden Nachtwandlers, wovon manche Verbrecher gesprochen haben, nein, sondern ein weiches Nachlassen der Seelenthätigkeit, das mitunter auf die vor kurzem noch zuckenden Lippen ein friedliches Lächeln zauberte. Das Gefühl, daß sie dem unzerstörbaren Frieden, dem schmerzlosen, ewigen Schlaf entgegenging, steigerte sich, als sie den Wagen verlassen und die Villa Torlonia umgangen hatte und nun an den kleinen See kam, der durch die Wildheit der umgebenden Landschaft in seiner Kleinheit so großartig wirkt. Regungslos, selbst in diesem feierlichen Augenblick überrascht von dem Zauber dieses traumhaft schönen Bildes, stand sie zwischen dem hohen Schilf mit seinen rosigen, federartigen Blüten unter den krausen Klingen einer gewaltigen Aloe und blickte auf die Wasserfläche, die ihr Grab werden sollte.

»Wie schön!« flüsterte sie leise.

Die schwärzliche Flut dehnte sich glatt und glänzend, kaum hie und da von einer langsam gekräuselten Falte bewegt, sie schien dicht und schwer zu sein; die Binsen drangen weit hinein und dunkelgrüne Wasserpflanzen breiteten ihre länglichen Blätter darüber hin. Eine phantastische, riesige Pflanzenwelt umringte das einsame Kind; wie ein Wald ragten die rosig blühenden Schilfgräser um sie her, während am jenseitigen Ufer die südlichen Pinien sich scharf und in verschiedenen Abstufungen von dem meerblauen Horizont abhoben, an dem die Sonne schon nicht mehr hoch stand, denn es war fünf Uhr vorüber. Schon stiegen leichte Flocken aus dem See auf, kein eigentlicher Nebel, ein Dunst und Dampf, der den allzu metallischen Glanz des toten Gewässers ausglich und abtönte. Kein Windhauch rührte die schlanken Stiele des Rohres, zwischen denen das endlose Quaken unzähliger, im Schilfe verborgener Frösche erklang. Mitunter tauchte eines von diesen Tieren in die dunkle Flut, dann klatschte es, wie wenn ein Stein ins Wasser fällt, weit und weiter dehnten sich die Ringe und der Wasserspiegel lag wieder faltenlos, unheimlich und doch unwiderstehlich lockend wie vorher. Hin und wieder flog eine Schar von Raben krächzend empor, einer Wiese zur Linken zu, durch die sich der mit Rosenhecken eingefaßte Weg schlängelte, auf dem Alba hergekommen war. Sie hatte im Gehen halb unbewußt ein paar Blüten gepflückt und an ihr Kleid gesteckt – eine letzte Regung von Jugendlust und Eitelkeit im Angesicht des Todes!

Dieser wolkenlose Spätnachmittag, dieser in seiner Regungslosigkeit so phantastische See, dieser Himmel, der über alle Dinge einen unsagbar tragischen Schimmer goß, dieser ganze schwermütige Schauplatz ihrer letzten Stunde stand so im Einklang mit den Gedanken des jungen Mädchens, daß eine Verzückung sie ergriff. In der feuchten, dunstigen Luft, die sie einatmete, lag ein einschläfernder, betäubender Reiz, dem sie sich träumerisch, fast mit einem Gefühl körperlicher Wonne hingab; willenlos sog sie die fieberschwangeren Ausdünstungen des Ortes ein, der zu dieser Jahreszeit und um diese Stunde für den gefährlichsten an dieser verhängnisvollen Küste gilt, bis sie mit einemmal in ihrem dünnen Sommerkleidchen vor Frost schauderte. Ihre Schultern zogen sich zusammen, ihre Zähne schlugen gegeneinander, und dieses plötzliche Krankheitsgefühl schien ihr das Zeichen zum Handeln zu sein. Auf einem anderen Weg, auch zwischen blühenden Rosenhecken, gelangte sie auf eine kleine, vom Schilf befreite Landzunge, wo ein Nachen angebunden war. Bald hatte sie die Kette gelöst, und die schweren Ruder mit ihren zarten Händen regierend, lenkte sie ihn in die Mitte des Sees.

Als sie die, wie sie glaubte, tiefste und für ihren Plan günstigste Stelle erreicht hatte, stellte sie das Rudern ein. Mit einer kindlichen Sorgfalt, über die sie selbst lächeln mußte, so viel angeborne Ordnungsliebe verriet sich darin, legte sie ihren Hut, ihren Sonnenschirm und ihre Handschuhe auf eine der Sitzbänke. Sie hatte sich sehr anstrengen müssen, um die schweren Ruder zu heben, und ihre Haut war ganz naß. Während sie ihre Sachen ordnete, schüttelte sie wieder ein Frost, diesmal so eisig, so stark, daß sie innehalten mußte. Unbeweglich träumte sie vor sich hin und starrte auf die Wellen, die immer leiser und schwächer um die Barke zitterten. Im letzten Augenblick erbebte ihr Herz wieder in Liebe, nicht zum Leben, aber zur Mutter. Sie malte sich alle Einzelheiten aus, die ihr Selbstmord zur Folge haben mußte. Wenn sich das dunkle Wasser über ihrem Haupte schloß, hatte sie ausgelitten, aber die Gräfin?

Sie sah im Geist, wie der Kutscher in Sorge geriet über ihr Ausbleiben, wie er an der Villa Torlonia klingelte, wie die ganze Dienerschaft sie suchte. Das fehlende Boot mußte rasch auf ihre Spur führen. Wenn die Gräfin erfuhr, daß sie sich das Leben genommen hatte, dann mußte sie auch nach der Ursache dieser verzweifelten That fragen. Lydia Maitlands entsetzliches Gesicht erschien ihr neben dem Bild ihrer Mutter. Sie begriff, daß diese Frau ihre Feindin viel zu sehr haßte, um sie nicht über die abscheulichen Vorgänge aufzuklären, die dem Selbstmord vorangegangen waren. Der kurze Ruf: »Sie haben es absichtlich gethan!«, der durch die kreischende, wutbebende Stimme eine so erschreckende Bedeutung erhalten hatte, kam ihr wieder ins Gedächtnis. Sie glaubte, ihre Mutter zu sehen, nachdem man ihr gesagt hatte, daß ihr Kind alles erraten, gesehen habe. Wie hatte sie diese Mutter bewundert, wie war sie von ihr verwöhnt, verhätschelt worden! Ach! Ihr Herz hing noch an ihr! So unerträglich ihr der Gedanke an einen ferneren Verkehr mit den Maitlands war, nach dem, was sie durch das Guckloch in der Scheibe mit eigenen Augen gesehen hatte, so unerträglich war ihr auch die Vorstellung der Gewissenspein, die ihr auf diese Weise erklärter Selbstmord der Seele ihrer angebeteten Mutter aufbürden mußte. Nun kehrte ihr auch die Erinnerung an Dorsenne zurück – er müßte sich die ganze Schuld zuschreiben an dieser That, die so unmittelbar auf ihre Unterredung gefolgt war, und das wäre ungerecht!

Als abermals ein Frösteln sie vom Kopf bis zu den Füßen durchlief, begann Alba sich zu sagen, daß sie vielleicht eine nicht minder zuverlässige Todesursache gefunden habe, und eine, die jeden Verdacht freiwilligen Sterbens ausschloß. Sie besann sich jetzt darauf, daß sie in dem gefürchtetsten Teile der Campagna war, daß sie selbst mehrere gekannt hatte, die in wenigen Tagen von einem der tückischen Sumpffieber, die man sich an solchen Orten holt, hinweggerafft worden waren. Besonders ein Bekannter fiel ihr ein, den sie gern gesehen hatte, ein in Rom lebender Bonaparte, der rasch weggestorben war, weil er sich bei der Jagd erhitzt und erkältet hatte. Wenn sie die Unvorsichtigkeit absichtlich beginge? Sie griff wieder nach den Rudern, um sich zu erhitzen. Als sie fühlte, daß ihre Stirn feucht war, knüpfte sie ihr Jäckchen und ihre Bluse auf; sie entblößte den Hals, ihre junge Brust, den jungfräulichen Busen und streckte sich im Boot aus, um sich ganz von dem Wasserdunst umhüllen zu lassen. Die Luft umströmte sie wie ein laues Bad, und doch fühlte sie sich erkalten; sie flehte, daß der verhängnisvolle Keim, ihr Befreier, den Eingang in ihr Blut finden möge; sie lag wie berauscht und wurde immer matter und widerstandsloser. Wie lange sie so in halber Ohnmacht gelegen haben mochte, förmlich betäubt von dem Dunst, der, je mehr die Sonne sich neigte, dichter und mehr mit Miasmen beladen war? Die Flucht der Minuten hätte sie höchstens nach den Frostschauern berechnen können, die sich immer rascher wiederholten und sich endlich zum Gefühl des stärksten Frierens steigerten, wobei sie in ihrem peinvollen Halbschlaf dachte, daß ihr Wunsch erfüllt sei und das Fieber sich anzeige. Endlich schreckte sie ein Ruf; steif und starr richtete sie sich mit Mühe auf und griff nach den Rudern. Der Kutscher, den ihr Ausbleiben beunruhigte, hatte den Wagen verlassen und aufs Geratewohl den Nachen angerufen. Als er sie todesblaß an der Lände anlegen und aussteigen sah, konnte sich der Mann, der schon viele Jahre im Dienst der Gräfin stand, nicht enthalten, ihr mit der Vertraulichkeit italienischer Dienstboten vorwurfsvoll zu sagen: »Sie frieren, gnädige Komtesse, und der Ort ist so ungesund! Wie konnten Sie nur . . .«

»Ja, ich habe ein wenig gefröstelt, aber das schadet nichts,« versetzte sie rasch. »Mach, daß wir nach Hause kommen und erzähle niemand, daß ich Boot gefahren bin. Ich bekäme sonst Schelte.«



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