Helene Böhlau
Das Recht der Mutter
Helene Böhlau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

In dieser Nacht tobte der Sturm, über weite Länderstrecken hin, entwurzelte Bäume, kämpfte und rüttelte und hätte alles zerreißen und zerstäuben mögen, was ihm im Wege stand.

Es war ein Wintersturm, der von den Meeresküsten tief in die Binnenländer hineinwütete, ein Sturm, der hunderte von Meilen mit gleicher Wucht über die Erde fuhr.

Gesunde Leute lagen zufrieden in ihren Betten und hatten ein angenehmes Gefühl von Gesichertsein unter ihren warmen Decken.

Kranken that der harte Sturm weh, er rüttelte ihnen an den Nerven und ängstigte die Seelen; die diese Nacht die große Reise antraten, gelangten auf Sturmesflügeln in das unbekannte Land.

Und es traten ein guter Teil die Reise an, wie jede Nacht, und der Sturm machte ihnen das Sterben nicht leichter.

Er nahm auch gar manchen auf seinen schweren Flügeln mit sich, der vielleicht erst künftige Nacht oder künftigen Tag sich bereit gemacht hätte – und am Morgen hatten sich manche treue Pfleger in Trauernde verwandelt.

Am Morgen wurde Heinrich Ahrensee tot in seinem Bette gefunden. Auf die weiße Seite des Buches, 223 das vor ihm auf dem Deckbett lag, hatte er unleserlich mit fast erstorbenen Fingern noch etwas schreiben wollen und war nicht zu Ende damit gekommen. Der Tod hatte ihn plötzlich gepackt. Der erstarrte Ausdruck in des Verstorbenen Gesicht war ein unsäglich angstvoller.

Annuschka war es, die ihn zuerst so gesehen hatte; als sie, um zu heizen, in sein Zimmer geschlichen kam, fand sie die brennende Lampe vom Abend her und von der Lampe bestrahlt das erstarrte Gesicht ihres Herrn. Wie eine Nachtwandlerin war Annuschka aus dem Zimmer gestolpert, an der tief schlafenden Kristine vorüber, hinaus, die Treppe hinab und so zum Arzt, und hatte dort so wild und unsinnig geläutet, daß kein Zögern möglich gewesen war; wie ein Dämon war sie eingedrungen, ungezügelt, und hatte den berühmten Arzt so schnell mobil gemacht, wie es dem sein Lebtag noch nicht geschehen sein mochte.

Und wie er mit ihr auf der morgendämmernden Straße ging, durch die der Sturm noch ganz gewaltig brauste, da rief sie dem Arzte wie etwa einem Pferde zu: »Schneller! – Laufen! – Nicht so langsam! – Laufen! – Fort! – Schnell!« So kamen sie miteinander an das alte Giebelhaus und stiegen miteinander die Treppe hinauf. Und als sie vor Ahrensees Wohnung angelangt waren, da drohte Annuschka dem berühmten Arzte mit der Faust, um ihm wahrscheinlich ganz deutlich zu machen, was sie wollte: »Schleichen!« – sagte sie wie zu einem Blödsinnigen, den sie einschüchtern wollte – »Kind schlafen! – Kind nicht Schreck machen!« – und so schlichen sie miteinander an Kristinens Zimmer vorüber und schlichen miteinander hinein zu dem Toten. Und als der Arzt sich fachgemäß vom völligen Eintritt des Todes überzeugt 224 hatte, und seine Hand mit einem zustimmenden Nicken über die Magengegend des Toten mit leichtem Drucke gleiten ließ, und Annuschka breit und mißtrauisch dastand, jeder Bewegung des Arztes mit den Blicken folgend – da thut sich die Thüre auf, und Kristine tritt ein, um nach ihrem Vater zu sehen – und ihr Blick fällt auf die starren, entstellten Züge des Toten.

Kein Jammerton – wie hingestürzt ist sie beim Bett ihres Vaters in die Kniee gesunken und verbirgt ihr Gesicht in die herabhängende Bettdecke.

»Er ist sanft entschlafen!« sagt der Arzt, »es ist gekommen, wie ich ihm gesagt habe, ganz plötzlich – mußte so kommen. – Fassen Sie sich, Fräulein Kristine! –«

Kristine aber hört nichts, das Entsetzen ist über ihr zusammengeschlagen und stumpf, fühllos wie eine Ertrinkende, sinkt sie tiefer und tiefer und tiefer wie in schwarzes nächtliches Wasser hinab.

Annuschka tappt ihr leicht auf die Schultern und sagt unter heftigen Thränenströmen: »Kind – Kind – armes Kind! –«

Aber kein Laut, keine Thräne ringt sich von diesem furchtbar geschlagenen Herzen los.

Man läßt sie gewähren, man hat keine Zeit für sie. Der Tod bringt so viel düsteres Schaffen ins Haus und das Drama muß sich unaufhaltsam abspielen. Jeder muß sehen, wie er es trägt. Frau Ahrensee mußte vorbereitet werden und die Hennebergs. –

Und wie sie kamen, eine Flut von Jammer und Schrecken! – Frau Ahrensee schluchzend, schon über die Straße war sie schluchzend gelaufen. Professor Henneberg hatte in aller Eile und Hast anspannen lassen wollen, um mit Frau und Mutter an das Trauerhaus zu fahren; 225 aber den beiden Frauen war jede Verzögerung unmöglich zu ertragen, sie mußten dahin gelangen, so schnell wie möglich, dahin, wo sie nichts mehr helfen konnten – und so liefen sie, ganz aufgelöst vor Schreck und Trauer, vor Professor Henneberg her, und dieser hörte die Mutter seiner Frau auf der Straße laut schluchzen, was auf ihn einen fatal peinlichen Eindruck machte. Er dachte bei sich, daß man im höchsten Schmerze dennoch seine gesellschaftliche Stellung besser wahren sollte, als dies hier geschah.

Frau Ahrensee hätte auch gewiß ihren Jammer zu bezähmen gesucht, wäre es ihr möglich gewesen.

* * *

Das alte Giebelhaus hatte so manchen Toten schon beherbergt. – Vor dreihundert Jahren war es erbaut worden – Zeit genug, daß Generationen darin geboren werden und aussterben konnten, von deren Dasein kein Mensch mehr etwas ahnt. – Die starken, festen Mauern hatten Todeskampf und Totenklage schon so oft umschlossen. Was waren da alles für Leute gestorben! Und das alte Haus hielt immer noch aus – machte bei jedem Toten dasselbe würdige, steinerne Gesicht. Immer war es von diesen Eintagsfliegen bewohnt gewesen, die sich so viel zu sein dünken, die sich so wichtig vorkommen, die keine Vernunft annehmen wollen. Und jeder Schub dieser Eintagsfliegen meint, er wäre der Alleinberechtigte und hätte vor ihm und nach ihm nichts gleiches.

Dem alten Hause war es nachgerade langweilig geworden, das trübselige Schauspiel wieder und immer wieder zu beherbergen. Die oberste Giebelspitze hatte es 226 längst sachte nach vorn geneigt, als wäre es schläfrig, und nun wurden seine alten morschen Rippen wieder einmal durchzittert von den Jammertönen und den Seufzern und dem Herzensschrei der armen Eintagsmenschen, und diese Seufzer, diese Jammertöne fuhren dem alten Hause jedesmal wie lebendiges Gift in die hölzernen Adern, zitterten die Wände hinauf und thaten dem alten Haus größeren Schaden, als der wildeste Sturmwind. Diese Töne hatten eine geheimnisvolle Kraft wie aus einer anderen Welt. Das alte Haus war wie eine viel gespielte Geige geworden. Die Töne hatten sich eingegraben bis in die feinste Faser.

Wie viel Tote hatten im alten Haus schon gelegen in steifen Staatskleidern mit Handschuhen an den starren Fingern? Die Toten hatten so und so gelegen und die Trauerfeierlichkeiten waren so und so vor sich gegangen. Leichenmahle und stundenlange, nächtelange Gebete und alle Arten ewiger Lichter und Aufstellungen von allerlei rührenden und düsteren Dingen. Der Schmerz aber, die Qual, wenn der Tod das Furchtbare gethan und die Leute, die zu einander gehörten, auseinander gerissen hatte, das war sich immer gleich geblieben. Das hatte keine Mode geändert.

Viele hatten geweint, wie Frau Ahrensee weinte, als sollten die Augen auslaufen, oder wie die Professorin auf eine gemäßigtere Weise. Manche waren vielleicht wie Professor Henneberg tief ernst im Zimmer gestanden und hatten über die Aufbahrung der Leiche nachgedacht: ob es besser sei in diesem Zimmer oder in jenem – und so weiter, und was alles zu thun sei.

Der Professor strich seiner Frau liebevoll über das Haar und küßte seiner Schwiegermutter ehrerbietig, wie 227 es bei dieser schmerzgebeugten Frau vollkommen das richtige war, die Hand.

Ein so mustergiltiges Benehmen war seit Jahrhunderten im alten Haus nicht gesehen worden.

Annuschka stand breitbeinig und weinte aus Leibeskräften. Und vor dem Bette, wo sie zuerst hingestürzt war, da lag Kristine noch, den Kopf in die herabhängende Bettdecke vergraben.

Sie hatte sich noch nicht geregt und nicht bemerkt, wie alle versuchten, sie aus ihrer Erstarrung zu reißen. Die Mutter war ihr mit der zitternden Hand über die Schultern gestrichen, aber sie lag starr, immer noch ohne Thränen.

Die Professorin hatte ihr mit weicher, von Thränen verschleierter Stimme zugeredet, Annuschka war zu ihr hingestolpert und hatte geschluchzt: »Weinen soll Kind! – Weinen Kind! Muß weinen jetzt, armes Kind!« und sie hatte sie etwas gerüttelt und auf den Rücken geklopft. Auch Professor Henneberg hatte sich um sie bemüht, ihre schlaff herabhängende Hand gefaßt und gesagt. »Du treues Kind – du warst des guten Vaters Stern dein Leben lang!«

Alle fühlten Scheu vor dem Schmerz dieses Kindes. Annuschka schaute unverwandt durch ihre dicken Thränen auf das Kind ihres guten Herrn, das ihr das allerliebste im Leben war – und daß es jetzt nicht weinen konnte, das schien dem thörichten treuen Weibsbild ungeheuerlich. Sie ließ sie nicht aus den Augen. Und als sie sah, wie der Kopf des armen Kindes sich immer tiefer neigte, da stolperte Annuschka wieder zu ihr, packte sie an den Schultern und zog sie in die Höhe – alles so flink wie im Umsehen – hob sie auf, stützte sie und 228 führte sie hinaus; Kristine ließ es ruhig mit sich geschehen.

Annuschka führte sie in ihr Zimmer ließ sie sich niedersetzen, machte ihr das Bett, räumte wie ein Wirbelwind im Zimmer auf, damit das Kind es gut habe, und dann packte sie sie wieder und führte sie zum Bette.

Sie begann sie auszuziehen, da sah sie mit einemmal, wie eine Totenblässe ihrem Kinde über das Gesicht glitt und wie es bewußtlos umsank.

»Meine Taube! meine Taube! Kind, meine Taube!« schreit sie. »Kind nicht auch tot sein!«

Sie öffnet ihr das Kleid, hebt sie mit ihren sehnigen Armen und entkleidet sie – da mit einemmal fällt Annuschka wie ein Paket so schwer vor dem Bette in die Kniee; sie stöhnt wie ein verwundetes Tier, und springt auf, verriegelt die Thür und fällt wieder vor dem Bette nieder. Dann bricht sie in ein wütendes Schluchzen aus und legt ihre beiden festen Hände auf ihren Liebling, der totenbleich immer noch bewußtlos vor ihr liegt. –

»Annuschka nun weiß, was mit Kind ist!« flüstert sie leidenschaftlich. Die Thränen rollen ihr die knochigen Wangen herab.

»Wer hat Kind das gethan! Kleinem guten Kind!«

Mit den Händen fährt sie sich wie eine Wilde in das schwarze Haar und schluchzt laut und wütend. »Heilige Mutter von Kasan – du auch Kind gehabt haben! beten zu dir – Russen gut mit dir sind – auch mit mein Kind gut sein sollen! – Kind nichts thun sollen!« – Und da wirft sie sich auf die Erde und ruft einmal um das andere Mal: »Heilige Mutter von Kasan 229 – mach' das! Menschen gut mit Kind sein sollen! – wie mit dir auch gut sind!« Annuschka ist stolz auf ihr Deutsch und spricht mit ihrer Herrschaft, so lang sie denken kann, das, was sie »Deitsch« nennt, so auch mit der heiligen Mutter Gottes zu Kasan, trotzdem sie diese doch nichts angeht, da Annuschka Finnländerin und gut protestantisch ist. Jetzt steht sie auf und stolpert nach dem Waschtisch, wäscht ihrem Liebling das Gesicht und trocknet es ihm wieder wie einem ganz kleinen Kinde ab. Für sie war und blieb das arme Geschöpf ein ganz kleines Kindchen.

»Ich alles Frau sage – ich selbst sage,« murmelt sie vor sich hin; und als Kristine die Augen wieder aufschlägt und diese Augen so groß und unglückselig auf Annuschka richtet, da schluchzt Annuschka wieder so laut und wild, daß sie nichts hört und nichts sieht, dabei aber hüllt sie ihr Kind fest in die Decken ein und flüstert hastig: »Kind ruhig sein. – Weinen Kind. – Nun weinen! – Das muß! – Weinen!«

Und das flüstert sie so herzbrechend und unsinnig. Kristine starrt mit einem Schreckensausdruck auf Annuschka. Da fällt die vor ihr nieder und küßt die Hände ihres armen Pfleglings und kramt ihr die Füße aus den Decken. Sie küßt ihr wieder die Füße und schluchzt fort und fort. Und dabei hilft sie Kristine wieder in die Kleider – und schüttelt den Kopf, daß ihr die Thränen herabfliegen. Sie hat einen so großen Vorrat von Thränen, weit mehr als andere Leute.

Annuschka ist aus dem Zimmer gegangen.

Kristine bleibt starr und unbeweglich auf ihrem Bettrand sitzen.

Sie braucht nicht aufzustehen, um bei ihrem Vater 230 zu sein. Sie sieht ihn vor sich, sieht sein Antlitz, auf dem eine tiefe Angst erstarrt liegt.

Sie sieht nichts anderes als ihn. Und dieser Anblick ist zugleich ihr einziger Gedanke.

Alles andere steht still und sie sitzt und schaut, ohne sich zu regen, wie in schwarzen Nebel hinein.

Da thut sich die Thür auf und ihre Mutter tritt ein.

Kristine hebt die Augen.

Sie sieht ein Weib mit ganz entstellten Zügen. Die heißen Thränen, die sie an der Leiche ihres guten Mannes vergossen, sind vertrocknet. Das Gesicht sieht gefurcht aus und unsäglich gespannt im Ausdruck. Die volle Gestalt ist wie zusammengesunken, plötzlich alt geworden. Der Mund halb offen wie fragend, die Augen wie ganz verwirrt.

»Kristine!« ringt es sich heiser und schwer aus dem Mund dieser Frau und sie sinkt auf dem Stuhl vor Kristinens Bett nieder.

Und das unglückliche Mädchen sieht alles, versteht alles und starrt wie in einen Abgrund!

»Ist das – das Unmögliche wahr, Kristine?« Das war eine Frage, herausgestoßen in Todesangst, Hilflosigkeit und Verwirrung – und traf in das Herz derer, die auf diese Frage antworten sollte.

»Ja« – das klingt so fest und so verzweifelt!

Da fährt ein Schrei durch das Zimmer, durch das ganze Haus, so wild und laut und schrill, als stieße ihn ein Raubtier aus. Und nach dem Schrei tauchen die entsetzten fragenden Gesichter von Professor Henneberg und seiner Frau auf, und noch zwei weitere Gesichter, die sich inzwischen eingefunden haben.

231 »Gott im Himmel!« ruft Professor Henneberg, »was ist geschehen?«

»Mutter! Mutter! Mutter!« ruft die Professorin entsetzt, als sie Frau Ahrensee so sieht.

Und sie fragen und blicken gespannt auf Frau Ahrensee. Die preßt die Hände vors Gesicht und streckt mit einemmal beide Arme straff von sich, weist auf Kristine und sagt etwas – etwas so Unwahrscheinliches.

Dann fängt sie an zu lachen – zu lachen – zu lachen – und sinkt von dem Stuhl herab und birgt das Gesicht auf den Kissen des Stuhles – und lacht, und lacht, und windet sich vor Lachen. – Und alle Gesichter in der Thür bleiben starr auf Kristine und Frau Ahrensee gerichtet und es spricht sich in einigen dieser Gesichter ganz deutlich die Befürchtung aus, als hielten sie Frau Ahrensee für irre.

»Der Schreck – das hat der Schreck gemacht!« sagt Frau Majunke, die hinter der Professorin sich in die Höhe reckt.

Kristine aber steht jetzt aufrecht da und hält die Hände erhoben und gefaltet.

So vergehen Augenblicke.

Die Thür zu dem Sterbezimmer steht weit offen; dort liegt der Tote noch mit dem angstvollen Zug im Gesicht, der jedoch mehr und mehr schwindet und jenem tiefen Frieden Platz macht, der mit dem Leben nichts mehr gemein hat.

Da liegt der, der sein Kind hatte schützen wollen. Sein Kind steht wie ein gejagtes Tier, zitternd, hoffnungslos, vor Grauen sinnlos.

Die so wild lachte – das war ihr liebes, gutes Mütterchen, und die starren Gesichter in 232 der Thür, die auf sie blicken wie auf einen tollen Hund, mit einem Entsetzen im Ausdruck, das sie stumm und steif macht, das sind Gesichter, die sich das unglückliche Geschöpf nicht im Fieber so hätte vorstellen können, wie sie sie jetzt in Wirklichkeit sieht – ganz erbarmungslose, wild verwirrte Gesichter!

Und als es losbricht, das Entsetzliche, sich zu Worten und Gebärden gestaltet, da ist es, als läuteten große, tiefklingende Glocken vor Kristinens Ohren, ganz nah – sie verliert die Sinne nicht; aber es läutet und läutet und läutet so schwer und hart und fürchterlich ihr in den Ohren, im Kopf, erfüllt das ganze Zimmer und läutet und läutet. Dazwischen hört sie Worte, die ihr das Herz still stehen lassen, und sieht, wie ihre arme Mutter sich nun in Thränenströmen auf der Erde windet.

Es hat sich das jüngste Gericht jetzt vor ihr aufgethan, wie es in den Köpfen der Menschen spukt, wie es die Kinder ihr düster vorgespielt – sie ist die Verdammte, die Zertretene, die Verfluchte, die mit Worten statt mit Feuersflammen und Zangen zerrissen werden soll.

Und diese Worte, diese Beschuldigungen, wie sie von den Lippen stürzen, so drohend, so vernichtend, – wie Tropfen Gift fallen sie auf das unglückselige Herz, das sich selbst hätte auslöschen mögen, um die Andern von dem Jammer und der Verwirrung, in die sie durch sie gestürzt sind, zu befreien.

»Mein Gott, wär' ich aus dem Leben gegangen, wie ich wollte!« sagte Kristine leise mit gebrochener Stimme, im Übermaß allen Jammers.

»So!« rief Frau Majunke und stand vor ihr wie ein Engel des Gerichts, der sich mit voller Selbstlosigkeit auch in die fremdesten Angelegenheiten mischt.

233 »Auch Selbstmörderin!« schrie die kleine Frau. – »Das ist ja alles, was man haben kann!« Frau Majunke blickte nach dem Sterbezimmer. – »Was mögen da für Dinge vorgekommen sein? Wer weiß es denn, ob dieser unglückliche Mann nicht den Tod fand, weil er das erfuhr, was wir soeben erfahren haben.«

Da hält Kristine totenbleich wie schützend die Hände vor sich.

»Ja, ja, stehen Sie nur wie eine Heilige da! – Die Ihrigen werden Ihnen ewig danken für die Wohlthat, die Sie ihnen gethan. Diese Hennebergs, diese lilienreinen Menschen sind nun gehörig in den Schmutz getreten für immer und ewig!« Da zittert Frau Majunkes Stimme vor Schmerz und Rührung und sie blickt mit Thränen in den Augen auf den verehrten Professor. Kristine sieht die Gestalt ihres Schwagers sich auf sich zu bewegen. Da fühlt sie den Atem ihres Schwagers vor ihrem Gesicht – und hört wieder Worte – Worte – Worte – so scharf – so glühend vor Haß – so tötlich, – und dazwischen läutet es ihr wieder vor den Ohren, schwer und dumpf und dröhnend, und draußen tobt der Sturm und rüttelt am Fenster.

Und vor Kristinens verwirrten Augen blitzt die wohlgepflegte Hand, die schneeweiße Manschette ihres Schwagers auf und sie fühlt einen Schlag im Gesicht. – Diese höfliche, wohlgepflegte Hand, die sie vorhin so würdig und liebevoll gestreichelt, hat sie ins Gesicht geschlagen – und sie hört und sieht, wie ihre Mutter sich auf die Knie aufrichtet und jammernd ruft: »Nicht schlagen!«

Wie Wahnsinn packt es Kristine. Sie stürzt vorwärts – –

»Vater! Vater!« schreit sie laut und 234 jammervoll, und mit ausgestreckten Armen will sie hinein zu dem Toten stürzen. Aber in der Thür wird sie prall aufgehalten. Mathilde Swensen steht da und vertritt ihr den Weg.

»Nein – da hinein nicht!« ruft Mathilde. »Zu diesem Heiligen wahrlich nicht! Die Lebenden können wir vor dir nicht mehr schützen – – – aber die Toten!«

Das ruft Mathilde Swensen mit solcher Wucht, lädt ihren ganzen Abscheu in diese Worte und denkt dabei, daß dies ein vorzüglicher Aphorismus sei, den sie zur Erinnerung an diese schwere Stunde niederschreiben werde.

Mathilde hält ein Buch in der Hand – das Buch, auf dessen erste weiße Seite Heinrich Ahrensee mit sterbender Hand sein Kind der Barmherzigkeit und Weisheit hatte empfehlen wollen, aber nur noch unleserlich hatte kritzeln können. Mathilde Swensen aber hat herausgelesen, daß er Kristine ihrer Mutter und ihren Verwandten ans Herz legte. Sie hält das Buch aufgeschlagen in die Höhe und sagt mit bewegter, von Thränen erstickter Stimme:

»Ich ersehe daraus, daß mein geliebter Onkel zur rechten Zeit durch Gottes Güte starb. Er sollte nichts von dem erfahren, was uns die ehrenvolle Stellung nun für immer untergraben hat. Er ist noch in Frieden dahingegangen – der Glückliche!«

Mathilde Swensen wie Frau Majunke verstanden es, wie gesagt, musterhaft, fremder Leute Schmerz christlich zu tragen. Mathilde Swensen hält das Buch Professor Henneberg hin: »Hier,« sagt sie laut, »Kristine zur Seite stehen – das steht deutlich da – und hier – behüten – das 235 kann man lesen – mein Kind schützen! – Was er noch schreiben wollte, ist nicht zu lesen –!«

Kristinens Hände aber haben sich zusammengefaltet, als Mathilde Swensen die letzten Schriftzüge des Toten laut entziffert.

Sie hat die Arme nicht umsonst in ihrer jämmerlichen Lage nach ihres guten Vaters Hilfe ausgebreitet. Ein fester klarer Zug tritt in diesem Augenblick in Kristinens entsetzte Züge.

Sie bleibt mit gefalteten Händen stehen; dann sinkt sie auf die Kniee vor ihrer Mutter nieder, die immer noch hilflos auf der Erde weint und jetzt das Gesicht fest in die Hände preßt, als sie Kristine neben sich kauern sieht.

Jetzt aber treten auch Kristine die ersten heißen Thränen in die schreckensstarren Augen.

Sie faßt mit beiden Händen das Kleid ihrer Mutter so, als fasse sie ihre Hände, mit solch unsäglich liebevoll rührender Gebärde. Ihre Mama selbst zu berühren, würde sie jetzt nicht gewagt haben – sie hätte geglaubt, ihr damit wehe zu thun – aber wie sie dies Kleid hält! Einen Stein hätte es erweichen können! Frau Ahrensee sieht die Bewegung ihrer unglücklichen Tochter nicht. Sie hat in ihrer Ratlosigkeit die Augen fest geschlossen.

»Mama!« schluchzt Kristine, »nur einzig deinetwegen! Glaub' nicht, daß ich so viel schlechter bin als früher – glaub' das nicht, ich bitte dich, glaub' das nicht!«

Frau Ahrensee hört die Worte ihres Kindes, sie sind ihr bedeutungslos. Ja, was sollten diese Worte wohl bedeuten, der entsetzlichen Thatsache gegenüber, den vernichtenden, verzweifelnden, richtenden Gesichtern gegenüber?

236 Die Worte ihres Kindes aber dringen ihr dennoch wie eine dunkle unbestimmte Offenbarung, die sie erhalten, die sie aus Furcht, verhöhnt zu werden, nie darf laut werden lassen, tief ins Herz, als wollten sie sich dort eingraben.

Um Kristine aber beginnt von dieser Stunde an die Vereinsamung ihre Kreise zu ziehen.

Als alle Schreckensworte, die gesagt werden mußten, gesagt sind, als alles an Zorn, Verzweiflung, Haß und Wut, Strafe und Vernichtung über die arme Kreatur hingestürmt ist, ohne irgend etwas an der Sache zu ändern, tritt eine große Stille und Abspannung ein.

Mathilde Swensen und Frau Professor Majunke weichen ihrer teueren Freundin nicht von der Seite. Mathilde Swensen liegt der armen Frau zu Füßen. »Solchen Schmerz,« sagt sie und küßt der Unglücklichen die Hände, »solchen Schmerz soll man anbeten.«

Das ist Frau Professor Majunke wie aus der Seele gesprochen, und sie drängt sich so nah und fest an Frau Ahrensee, umfaßt sie so fest, als müßten dieser armen Frau Reifen ums Herz gelegt werden.

* * *

Sie aßen miteinander zu Mittag, der Form wegen, denn niemand hatte den Mut, einen Bissen anzurühren. Kristine, die Unglückselige, mit in dieses Schutz- und Trutzbündnis aufzunehmen, fiel keinem ein – sie war es ja, die alle so in Entsetzen zusammengetrieben hatte.

Sie stand einsam – ganz einsam.

Professor Henneberg lag es ob, die notwendigen Schritte zu thun, die unerbittlich gethan werden mußten, und ebenso lag es ihm ob, den Weg zu finden, den er seiner Schwägerin zu gehen vorschreiben wollte.

Kristine aber saß in ihrem Zimmer und schrieb mit fliegender Hand an ihre Mutter. Und als alle in der Dämmerung im Wohnzimmer versammelt waren und Mathilde Swensen den Thee bereitete, da ging Kristine ruhig und fest zu ihrem Vater, sank vor ihm auf die Kniee und sah ihn durch flimmernde Thränen an.

In ihrem Zimmer riegelte sie sich ein, suchte unter ihren Sachen und legte dies und jenes, eine kleine grüne Saffianmappe, ihren Schmuck, alles, was leicht zu tragen war und wenig Raum einnahm, zusammen; sie that dies unter heißen Thränen, aber nicht hastig. In ihrer Seele lebte der Gedanke: »Wie mich mein Vater nicht verlassen hat, werd' ich das Kindchen nicht verlassen.« Das allein stand fest, sonst wogte alles in Schmerz, Qual und Verwirrung. Das Bild ihrer verzweifelten Mutter war wie eingebrannt in ihr.

Es wurde leise versucht, die geschlossene Thür zu öffnen. Kristine fuhr zusammen, verbarg mit zitternder Hand die zusammengesuchten Sachen in ihrem Bett und öffnete. Annuschka war es, die ihrem Kinde, an dessen Wohl niemand mehr dachte, Thee brachte.

Annuschkas Augen waren dick verschwollen. »Armes Mütterchen muß trinken,« sagte sie mit verweinter rauher Stimme. »Armes Mütterchen geschlagen worden ist! Niemand helfen!« Annuschka sagte das wild und zitternd und strich Kristine mit ihren flinken Händen über die geschlagene Wange. »Ach – ach – gut' Menschen auch bös' Menschen gewesen sind!« schluchzte Annuschka und hielt den Atem jetzt an, als »das Kind« ihr an die Brust sank und das arme geschlagene Gesicht in ihrem Kleid barg. 238 Ja, da hielt Annuschka mäuschenstille – »Gute arme Herr das nicht hätte leiden gethan. Nie – nein!«

»Annuschka! Annuschka!« schluchzte Kristine und klammerte sich an sie an in ihrer Angst. Und indessen sie einsam und verlassen den ganzen langen Tag, von niemandem als Annuschka aufgesucht, in ihrem Zimmer saß, das Annuschka ihr warm und behaglich geheizt hatte, da mußte ihre arme Mutter es lernen, sich strengen Blicken zu fügen. Als sie sich erhoben hatte, um zaghaft zu ihrer unglücklichen Kristine zu gehen, da war es das erstemal gewesen, daß diese strengen Blicke sie getroffen hatten.

»Nicht doch, beste Mutter,« hatte Professor Henneberg scharf gesagt, »wohin soll das führen? Ich bitte dich: bleib'. Ich werde dich den Weg leiten, den du zu gehen hast.«

Professor Henneberg ließ sich durch das jämmerliche Aufschluchzen der armen Frau nicht beirren. »Liebste Mutter,« sagte er ruhig, »ich bin jetzt derjenige, der im Namen unseres teuern unantastbaren Verstorbenen zu handeln hat, und ich denke in seinem Sinne zu handeln. Wie würde er, dieser reine, edle Mann einen Fleck auf seiner Ehre ertragen haben?« frug der Professor mir ernster, fester Stimme. »Ich frage dich, teuere Mutter, wie würde er es ertragen haben?«

Statt dem Professor zu antworten, sanken Frau Professor Majunke und Mathilde wieder über Frau Ahrensee her, um sie mit Trost und Liebe und heiliger Überzeugungstreue zu decken.

Als es dunkel wurde, schwankten große Lorbeerbäume und dicht verhüllte Palmen, dieselben, die Professor Henneberg zur Taufe geschickt worden waren, von polternden Leuten getragen, die Treppen des alten Hauses herauf, und die Majunkeschen Kinder standen unten an 239 der Thür und schauten und suchten von den Bäumen im Vorüberstreifen Zweige zu stibitzen; und bei Ahrensees oben begann ein geräuschvoll gedämpftes Treiben; Menschen liefen flüsternd hin und her. Ein düsteres, herzbewegtes Heimlichthun breitete sich wieder einmal im alten Hause aus.

Und als es ganz dunkel und still auf der Treppe geworden war, und alles Leben sich ins Sterbezimmer gezogen hatte, da schlüpfte über diese Treppe eine ängstliche Gestalt, in dichten Pelz gehüllt, hinaus in die dunkle Winternacht, in den dichten Schneefall und ging durch die dunkelsten engsten Gäßchen und dann unten an der Saale entlang, wo der Schnee weiß und unberührt lag. Da schaute diese Gestalt wie eine arme verstoßene Seele nach dem hellen Licht, das sie gestern behütet hatte, nach dem erleuchteten Zimmer, dessen Fenster über die Gärten blickten, in dem jetzt fremde Menschen ihren Vater unter grüne Lorbeerbäume betteten.

Auf den wenig betretenen, noch schneefrischen Wegen, die an Hinterhäusern und ärmlichen Hütten vorüberführten, traf sie vor einem der letzten Häuschen einen kleinen Buben, der im tiefen Schnee vor einem hellen Fensterchen stand und weinte. Auf seine Wollmütze mit Ohrenklappen hatte sich der Schnee wie ein weißes Pelzchen gelegt. Das Bübchen weinte ganz herzbrechend und schien völlig einsam zu sein, keine Seele außer ihm auf der ländlichen Straße, so weit man sehen konnte.

Kristine blieb vor dem Bübchen stehen und fragte: »Weshalb weinst du denn?« – Und es that ihr wunderlich wohl, ihre eigene Stimme zu hören, ganz so, wie früher – so ruhig, ganz so, als wäre nichts geschehen, als sollte nichts geschehen. Und das Bübchen schaute sie groß und erstaunt an, schnappte nach Luft, ganz wie 240 Bimm Bimm es that, wenn er besonders heftig geheult und geschrieen hatte.

»Därf nich ham,« schluchzte es und die Stimme blieb ihm aus, »hab mei Vatter das Bier verschütt.« Und wieder weinte das Bübchen nach Herzenskräften. »Därf nich ham.«

»Du darfst nicht heim,« wiederholte Kristine und hätte sich neben dem Bübchen hinknieen und ihren Kopf an des Bübchens Kopf legen mögen, um mit ihm zusammen zu weinen.

Und schon wogte es in ihrer Brust und schnürte ihr den Hals zu, als wollten Thränenströme aus ihrer starren Verzweiflung hervorbrechen – aber sie ließ es nicht zu, sie bezwang sich; hätte sie ihren Thränen freien Lauf gelassen, so hätten sie ihr die ganze Welt und alles, was sie jetzt zu thun hatte, verschleiert und verdunkelt.

»Geh,« sagte Kristine zu dem Bübchen und gab ihm ein kleines Geldstück, das sie prüfend aus ihrem Portemonnaie genommen hatte, »hol's dafür deinem Vater neu. – Und wie heißt du denn?« frug Kristine.

»Peregrin,« sagte das Bübchen.

»Peregrin?« wiederholte Kristine und setzte ihren schweren Weg fort und hörte, wie das Bübchen ganz munter durch den Schnee stapfte. »Peregrin,« sagte sie leise wie träumend vor sich hin, »Peregrin.« Der Name klang ihr so rührend-schmerzlich, er drängte sich ihr ins Herz und stimmte wie eine wehmütige Melodie dies arme Herz noch banger und weicher. Als sie aber auf den Bahnhof kam, fuhr ihr ein Schreck in die Glieder; sie wagte nicht, in das Licht zu treten, daran hatte sie nicht gedacht. – Sie wollte ein Billet lösen – wohin? Nur fort – fort – und so stand sie in einer 241 dunkeln Ecke und überlegte und sann in ihrer Herzensangst – und wie schwer wurde es ihr, zu denken! Wie hatte der Weg sie ermattet und aller Jammer, der sie getroffen. – Wann mochte denn ein Zug kommen?

Und wie krank, wie todesmatt fühlte sie sich! Beschwerden, die sie bisher nicht zu fühlen, nicht zu beachten gewagt hatte, traten nun, nachdem alles verloren, in ihr Recht, quälten und ängstigten sie und brachten ihr erschreckend in das Bewußtsein, was ihr bevorstand.

Und da trat in dieser eisigen Ecke, in die der dichte Schneewirbel hereinwehte, in die der Wind den losen Schnee ihr über die Füße fegte, das Bild ihrer Schwester. Sie sah sie vor sich, ehe das Kind geboren war. Mit welcher Sorge wurde jeder Schritt, jeder Wunsch, jede Bewegung von ihr beobachtet. Wie stand alles ihr zu Diensten! Ach – ein einzig hartes Wort wäre allen als Verbrechen erschienen! Und ihr – und ihr! Sie fühlte den schmachvollen Schlag wieder auf ihrer Wange brennen – sank wieder in die entsetzliche Stunde zurück, die eisern schwer ihr übers Herz gegangen.

Die Nacht war lang, sie wollte warten – warten – warten, bis ihr ein Gedanke käme, dem sie folgen konnte. Und so weinte sie leise vor sich hin, weinte, bis sie müder und immer müder wurde.

So verstrich eine geraume Zeit, ohne daß sich Leben auf dem Bahnhof geregt hätte; ein Gepäckträger war langsam und schwerfällig in ihrer Nähe vorübergeschlurft, langweilige Stimmen drangen durch das Schneegestöber bis zu ihr, und ein Bauersmann kam mit einem Wägelchen angefahren. Kristine hörte, wie das Pferdchen sich den Schnee hin und wieder von den Ohren 242 schüttelte und wie die Glocken beim Schütteln hell klangen. Der Bauer war in den Bahnhof hineingetreten.

Es mochte wieder ein gut Teil Zeit vergangen sein, da kamen eilige Schritte, die elastischen Schritte eines vornehmen, intelligenten Menschen; sie kamen näher und näher; der Schnee fiel jetzt weniger dicht und der gefallene Schnee leuchtete fahl. – Jetzt erkannte sie eine schlanke Männergestalt, die dem Bahnhof hastig zuschritt – und diese Gestalt näherte sich ihr mehr und mehr. Sie fühlte, sie wußte, wer es war!

Ihr Schwager war es.

Das Herz stand ihr vor Todesangst still, fest drückte sie sich in ihre Ecke hinein, preßte sich an die eisige Mauer. Da blieb er stehen, dessen Bewegungen sie mit Verzweiflung verfolgte – wenige Schritte von ihr blieb er stehen. – Sie hielt den Atem an. – Sie preßte die Hände auf ihr Herz.

Ihr Schwager fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn; er schien gelaufen zu sein.

Welches Entsetzen sie vor diesem Manne fühlte! Er schien unschlüssig zu sein, was er thun sollte, ging ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Auf dem Bahnhof regte sich jetzt mehr Leben. Ein paar Hotelwagen fuhren an, der Gepäckträger schlurfte schneller, ein paar Leute kamen gegangen; der Bauer sah nach seinem Pferdchen. Einige Gasflammen wurden heller gedreht. Professor Henneberg schritt jetzt zielbewußt der Treppe zu, die in das Bahnhofgebäude führte. – Jetzt wurde das erste Signal geläutet – der Gepäckwagen setzte sich in Bewegung und polterte auf den Perron hinaus.

Kristine wußte nun, daß ihr Schwager sie hier zu finden glaubte. Man hatte sie vermißt; der Gedanke an 243 ihre arme Mutter schmerzte sie körperlich, grub sich ihr scharf ins Herz, und ihre arme Mutter hatte wohl auch schon den Brief gelesen, den sie ihr geschrieben. Ihre arme, arme Mama! – Man hörte den Zug heranbrausen, immer näher und näher kam es – und mit einemmal wie unvermittelt mächtig und rollend. Jetzt gellte der Pfiff – ein eiliges Treiben – Kristine konnte nur nach den Geräuschen, den Rufen, dem Laufen und Poltern den Gang der Dinge verfolgen. – Aber jetzt ging der Zug schon wieder – – und nun mußte sie erwarten, daß ihr Schwager an ihr vorüberkommen würde.

Sie wagte nicht zu fliehen. Sie stand totenstill, sie sah nichts, sie empfand seine Nähe, er ging ganz dicht an ihr vorüber, er ging zur Stadt zurück. Die leisen Schritte verhallten – sie öffnete die Augen; sie atmete wieder. – –

Nun aber wußte sie, daß sie sich nimmermehr zu dem Billetschalter wagen würde – aber was sollte sie thun, wohin sich wenden?

Der Gedanke, daß ihr Schwager sie entdecken und über sie verfügen würde, erstarrte ihr das Herz. Und wollte sie sich jetzt aufmachen und gehen, soweit sie die Füße trügen, wie weit würde sie kommen in dem hohen Schnee, so unsäglich matt, wie sie sich fühlte? – Da kam der Bauer aus dem Bahnhofgebäude und lud ein Fäßchen auf seinen Wagen. Die Gasflammen wurden wieder klein geschraubt, der Gepäckträger und die Bahnbediensteten fielen wieder in ihren schlurfenden Schritt zurück, eine Art, sich vorwärts zu bewegen, so zwecklos und gelangweilt, wie sie einzig auf den öden Bahnhöfen kleiner Städte und Nester im Gebrauch ist.

Der Gepäckträger schlurfte an den Wagen, unterhielt sich mit dem Bauer, half ihm das Fäßchen auf den 244 Korbwagen binden, und klopfte dem Pferd auf die Nase. – »Also nach Rode?« sagte er, »was is en lus?« –

»Nischt das ich wüßte.«

Und ohne sich zu besinnen, wie im Traume, trat Kristine zu dem Bauer an den Wagen und sagte:

»Wollen Sie mich mitnehmen? Ich will auch nach Roda.«

Kristine sagte das alles standhaft und ruhig. Sie hatte nach allem Jammer, der über sie hereingebrochen war, den festen Entschluß jetzt vor Augen, zu leben – für ihr und sein Kind zu leben; und wollte sie das, so mußte sie fest und ruhig sein.

»Mir wärsch recht, wenn Se mersch zahlen. Zwei Mark kost's,« sagte der Bauer.

»Ja,« antwortete Kristine.

»Haben Se Gepäck?« frug er.

»Nur das,« und Kristine hob ihre Reisetasche in die Höhe.

Der Mann nahm sie ihr ab, legte sie in den Wagen, rückte auf dem Sitz die Decke zurecht, schob das Bündel Stroh besser vor, daß es seinem Fahrgast die Füße wärmen konnte, half Kristinen in den Wagen, nahm vom Pferdchen die wollene Decke, schüttelte sie, schwang sich in den Wagen, und breitete die Decke über sich und seine Nachbarin. Das Pferdchen zog an. Die Schellen erklangen, und unter dichtem Schneefall ging es in die Nacht hinaus. 245

 


 


 << zurück weiter >>