Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In München, im Glasscherbenviertel, wo fast jedes Haus sein Maleratelier oder Atelierchen gen Himmel reckt, von Hitze und Kälte unbeschützt, da ist durch viele, viele Glasscheiben ein wunderliches Leben eingesperrt und abgesperrt von Regen und Schornsteinrauch und Stadtdunst. Da 115 könnte Gottes Engel, der über die Erde fliegt, gar wunderliche Dinge sehen und diese gelegentlich seinem Herrn und Meister unterbreiten. Unten in den Straßen, da gibt es viel tierische Hast und Not zu sehen, die gehetzt dahingeht, viel Gier auf den Gesichtern, viel, viel tote Dumpfheit, viel, unsäglich viel Mühsal. Alltägliches Treiben, Kaufen und Verkaufen. Aber ganz oben unter Gottes Himmel, da hat das menschliche Elend, das unten in schweren Wellen geht, Schaumkronen gebildet, Spritzwellen und Wellchen, eine große Lebhaftigkeit in der Erscheinung der Wellenbewegung.
Ein aufgeregtes Volk wohnt da oben hinter den dünnen Scheiben, Jünglinge mit großen Idealen, großem Glauben und kleinsten Mitteln, Malweibchen, die im Nordlicht verkümmern, sehnsüchtig ausschauen nach Kraft und Mut, die ihre müden Körperchen peinigen, ihre heißen Herzen wie Wunden tragen, unter Tränen und Hunger Liebe genießen.
Auch alte Leute wohnen im Glasscherbenviertel hinter den Scheiben, müde, von der Kunst verstoßene Menschen – und viel muntre Buben, denen's gelang, die sich einen Samovar kauften, türkische Teppiche und Urväter-Hausrat.
Ach, und Liebespärchen sonder Zahl, junges, 116 ungebundenes Volk in Liebesqualen, Ärgern und Wonnen, er, in frischer, kühner Arbeit, sie, in kühnem Leichtsinn, an ein paar bunten Fetzen sich genügend, bunten Kleiderfetzen, Lebens- und Liebesfetzen. Und auch ehrbare Ehepärchen; die munteren Buben, denen es gelang, wurden bald bedächtig, hausväterlich und wollten etwas vorstellen, heirateten ihr Schätzchen oder suchten etwas Ehrbareres, was ihnen zusagte.
So war da auch ein sehr braver, kleiner, rundlicher Herr mit ein paar gutmütigen Augen, einem hübschen Talent, das so ziemlich jedermann behagte. Er hatte Bestellungen für Panoramen und war außerdem bei Kunsthändlern gern gesehen; der war wie zum Ehemann geschaffen. Er hatte eine sehr anständige Wohnungseinrichtung, und sein Schlafzimmer hatte er sich im modernen Stil angeschafft, weil er sagte: Bett bleibt schließlich Bett. Sie können es, auch wenn sie wollen, nicht biegen und auf keine Weise verdrehen, so wenig wie einen Sarg. Es gibt Dinge, sagte er zu sich, an die sie nicht heran dürfen; aber als Mensch seiner Zeit wollte er wenigstens etwas im modernen Stil haben, den er eigentlich nicht mochte, denn der brave Maler war rundlich und konnte sich mit diesen zarten Linien und Linienwesen des modernen Kunstgewerbes nicht in Einklang bringen. 117 In seinem modernen Schlafzimmer kam er sich auch nie so recht geheuer vor, da er ein sehr einfacher, lieber Mensch war mit etwas Humor, ja, er hätte sich zu einem Mozartmenschen entwickeln können, wenn ihm mehr Grazie beigemischt worden wäre; auch fehlte es ihm an Leichtigkeit der Empfindung, aber Humor, den hatte er, und eine behagliche, sonnige Heiterkeit.
Humor aber hatte das Schlafzimmer absolut nicht, ja, es gab kein Eckchen und keinen Nagel darin, an dem er seinen Humor nachts hätte aufhängen können; und so dachte er daran, sein Schlafzimmer wieder zu verkaufen oder umzutauschen.
Da aber begegnete er einem lilienschlanken Wesen, das ihm außerordentlich gefiel, eben weil er selbst rundlich war. Und es ist ein anderes Verhältnis in der Beurteilung zwischen Mann und Weib, als in der zwischen Mann und Möbel.
Die Lilienschlanke gefiel ihm sehr und paßte dennoch zu seinem Schlafzimmer. Er verkaufte es nicht und erkundigte sich nach den Familienverhältnissen der Schlanken. Sie war Waise und hatte eine adlige Mutter gehabt, was ihn sehr ansprach. Ihr Vormund hatte sie nach München getan, damit sie sich auf dem Konservatorium in Musik ausbilden konnte. Das arme 118 Kind sollte Musiklehrerin werden. Sie selbst mochte andre Pläne haben und verwendete jeden armen Pfennig auf ihr Persönchen. Sie hatte den modernen Stil erfaßt, schien dafür geboren zu sein und beschäftigte sich hauptsächlich damit, ihr schmales, zierliches Wesen zu stilisieren.
Wie wir in der Gotik einen Schauer mystischer Grausamkeit und Enge zu empfinden meinen, einen Duft von Blut, ringender Freiheit, leidenschaftlichen Lebens, leidenschaftlicher Lebensverneinung, süßer Zartheit und verworrener Inbrunst, etwas Unentrinnbares, Seelenbedrückendes, so bei dem Stil, der sich in unser gegenwärtiges Leben drängt, etwas Kaltes, nicht mystisch Grausames, aber spitzig Grausames, etwas Kühles, etwas, was gefällig und bestechend ist, weil es nicht warm und freudig sein kann, nicht naiv und vollblütig, der Stil für kühle, unschöpferische, etwas gefühlsdünne Menschen; ein Stil für eine frostige Spanne Zeit, die einem rundlichen Herrn mit Humor und Wärme nicht zusagen konnte. Wie fast allen Sterblichen des Menschengeschlechts war auch unserem Herrn der heilige Instinkt abhanden gekommen, und er war, wie alle seine Leidensgenossen, auf einen sehr mäßigen und unzulänglichen Verstand angewiesen, der weit mehr zum Irreführen als zum Zurechtfinden geeignet ist.
119 So kam es, daß Herr Karl Theodor Müller die schlanke Hortensie Spiegel heiratete; das heißt, sein Leben unlöslich mit dem Leben dieser ihm fremden Person verband.
Die junge Frau sah in dem modernen Schlafzimmer lieblich wie eine Blume aus, wie die kleine Porzellanperson, die sich um den Leuchter schlang, oder wie jene, die den Henkel der Waschkrüge bildete. Wenn das Weibchen in ihrem Batistnachthemd und ihrem blonden langen Haar in dem hübschen Raume sich bewegte, sagte Karl Theodor zu sich selbst: ›Nein, wie das alles stimmt.‹
Es kam eine Zärtlichkeit in sein Herz, wie robuste Menschen sie für etwas Gebrechliches, Hinfälliges, Überzartes empfinden, eine fast mütterliche Zärtlichkeit.
›Das Ganze ist etwas kitsch,‹ dachte er einmal nach einer zärtlichen Stunde zwischen Schlafen und Wachen; aber was hatte diese törichte Kritik seiner Verhältnisse mit der lieblichen Wahrheit zu tun?
Zwischen Schlaf und Wachen denkt man so unnützes Zeug.
Das war ihm schon manchmal so gegangen; aber er hatte diese Dämmerungsgedanken der Seele gottlob immer sofort wieder vergessen. Er lebte jetzt übrigens äußerlich ganz in der Linienkunst, Wohn- und 120 Eßzimmer wurden auch im modernen Stil eingerichtet. Sein geliebter Urväterhausrat hatte weichen müssen. Das heißt, er hatte seine liebliche Frau mit der modernen Einrichtung überrascht, weil er wußte, daß sie sich freuen würde, wenn das Gerümpel, wie sie sagte, verschwunden wäre.
Gottlob, in seinem Atelier war alles beim alten verblieben, nur etwas voller geworden, denn seine Lieblingsstücke aus der Wohnung hatte er, soweit als es möglich war, um sich versammelt.
Für robuste Leute ist es, wie gesagt, gefährlich, etwas allzu Zartes, Hilfloses um sich zu haben. Entweder werden sie ungeduldig, rücksichtslos, ja roh, oder geraten in übertriebene Besorgtheit, Weichheit und Hingebung, die an ihnen zehrt. So erging es dem Panoramenmaler. Die kleine, fremde Person, die er sich so nahe glaubte, die er sich mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, erkauft hatte, mit seiner persönlichen Freiheit, seinem Einkommen, seiner Arbeit, ja mit seinem Behagen, nahm mehr und mehr von 121 ihm Besitz. Nach Jahr und Tag wohnte sie gewissermaßen in ihm und vertrieb ihn selbst in das äußerste Winkelchen seines Wesens.
Die Ehe blieb kinderlos. Das stilisierte Weibchen erhielt sich kühl und zart wie eine Jungfrau. Karl Theodor aber hatte oft das Gefühl, als wären seine Zimmer ungeheizt, oder als hätte die Sonne gerade bei ihm in seiner Wohnung keine Kraft. Es war etwas Sonderbares, was er sich nicht erklären konnte. In seinem Atelier, trotzdem es nach Norden lag, spürte er behagliche Lebensluft, er rauchte viel, das trug für ihn natürlich auch dazu bei, sich in seiner eigenen Atmosphäre wohl zu befinden, und seine Ölfarben und die Firnisse halfen dazu – da war der Duft eines lebendigen, arbeitenden Menschen zu spüren. Wenn er in seine Klause trat, wurde es ihm ordentlich heimisch zumute.
Hortensie strahlte gar nichts aus. Er empfand sie gar nicht.
Wenn er zärtlich, besorgt und warm war, blieb sie immer gleichmäßig kühl und freundlich.
Auf einer sehr leise gehenden Nähmaschine nähte sie ihre zarten Reformkleider und stickte sie selbst. Sie schneiderte immer. Es nahm nie ein Ende, doch besuchte sie auch philosophische Vorlesungen in der Universität.
122 Wenn sie miteinander oft wochenlang aufs Land gingen, lief sie bloßfuß mit aufgelöstem Haar, und stundenlang las sie Kant.
›Das ist ja,« sagte Karl Theodor, ›ein furchtbares Gewürm, was du da liest.‹
›Mir ist das alles vollkommen klar,‹ sagte Hortensie.
›Nun, alle Achtung, sie muß ein Genie sein. Wieviel glücklicher aber würde sie mit weniger sein! Es ist wie mit einem Buckel. Von einem Zuviel wird niemand glücklich,‹ philosophierte der brave Panoramenmaler.
Daß sie Kant las und, wie sie sagte, verstand, erschien ihm wie eine Krankheit, die das arme Geschöpf befallen hatte.
Außerdem aber schoß sie auf dem Lande mit einer Pistole nach der Scheibe, die sie an irgend einem geduldigen Waldbaum befestigte. Stundenlang lief sie in dunkler Nacht in dem Wald umher. Am Tag photographierte sie und tat allerlei Dinge, wie sie eine Jungfrau tut, die nicht recht weiß, wohin mit sich selbst, die auf Freiersfüßen geht und das sonderbar anfängt. Es war in Hortensie keinerlei frauliche Befriedigung.
Karl Theodors angestammte Heiterkeit litt bis 123 jetzt nur insofern, als er sich klar über den großen Wert behaglicher Wärme wurde.
Wenn sie etwa abends ihr Kleid an einen bestimmten Haken von altem Messing, den er extra eingeschlagen hatte, hängen wollte, rief er jedesmal: ›Laß das, laß das! Da hängt schon was!‹
Nie aber sagte er, was da hinge, trotz ihres erstaunten Gesichtes.
Er aber wußte es. Das war eben der Nagel, an dem er abends seinen Humor und seine gute Laune aufzuhängen pflegte. Morgens versäumte er nie, sich an diesem Platz etwas zu schaffen zu machen, das darnach aussah, als bürstete er ein stattliches, unsichtbares Gewand aus. Dann schlüpfte er mit den deutlichsten Gesten in dasselbe und sagte: ›So,‹ besah sich im Spiegel und verließ das Schlafzimmer.
Hortensie ärgerte sich über diesen Unsinn.
Seine Freunde und Bekannten konnte er befriedigen, seine Besteller und Kunsthändler, seinen Hauswirt, seinen lieben Herrgott, seine alten Eltern hatte er durch sein Dasein und seine Bravheit hoch beglückt, und für seinen Pudel war er direkt ein göttliches Wesen – nur bei seiner Frau wollte es ihm nicht gelingen, die blieb gelangweilt und kühl gegen alle seine Vorzüge.
124 Er pflegte sie wie ein kleines Kind. Er diente ihr. Er tat, was er konnte. Ihm erschien die ganze Sache als eine böse, langwierige Krankheit – und er wurde Krankenpfleger. Es stellten sich auch wirklich nervöse Dinge ein. Herzaffektionen, viel Kopfschmerz und Gereiztheit.
›Gott,‹ dachte der gute Mensch, ›es ist doch nichts, wenn eine Frau keine Kinder hat. Sie ist dann wie eine Mühle, die leer mahlt.‹ Das dachte er wieder einmal im Halbschlaf – – und vergaß es.
Er wünschte sich gar nicht so besonders Kinder. Wozu? Gar nicht notwendig. Frühmorgens stand er vor ihr auf, damit sie ihr Frühstück behaglich vorfand, denn mehrmals die Woche war die philosophische Vorlesung schon um neun Uhr morgens, und die kleine Hortensie mußte sich gut nähren und möglichst lange schlafen. Dann brachte er sie in die Vorlesung und holte sie auch wieder ab, weil sie zu hübsch war, um unbeschützt gehen zu können.
Er war überzeugt, daß sie sich in keiner Lage helfen konnte. Einmal hatte er sie mit einem Paket im Arm weinend auf der Treppe gefunden. Sie hatte im Hinaufgehen auf ihr langes Kleid getreten und wäre wahrhaftig so stehen geblieben ohne Rat, wenn er sie nicht getroffen und erlöst hätte.
125 Sie lebte wie ein kleines, hübsches Haustier, sehr versorgt und behütet. Ärgerlich war es Karl Theodor, daß seine Freunde sich wenig aus ihr zu machen schienen.
Kein einziger hatte so eine reizende und gut gekleidete Frau. Sie mochte ihnen aber zu fein und zu klug sein. Er kannte seine Kumpanen: sehr bequeme Herren in punkto Weiblichkeit. Ein dummer, lustiger Witz aus einem nicht allzu hübschen Munde war ihnen lieber als Hortensiens Klugheiten, die sie mit ihrem Gemmenmäulchen sagte. Seine arme, kleine Tensie!
Ja, ohne daß er es sich klar machte, wäre er gern einmal ein wenig eifersüchtig geworden, nur um zu spüren, daß er etwas ganz Besonderes sein eigen nannte.
So begab es sich, daß er eines Tages seiner Frau entgegenging. Sie kam aus der Vorlesung in Begleitung eines jungen Mannes, der ihr das Kollegienheft trug. Beide waren im eifrigen Gespräch und bemerkten den braven Karl Theodor nicht, bis er vor ihnen stand.
›Da bist du ja,‹ sagte sie und stellte ihren Begleiter, einen Baron Renk, Karl Theodor vor. Der junge Mann war etwas rotwangig, sah aber 126 außerdem recht aristokratisch aus. Das Haar trug er gescheitelt, Kleidung first class, die Hände, das Ergebnis einer Reihe von Ahnen mir sehr gepflegten Händen. Die Grundidee seiner Erscheinung war aber trotz alledem nicht bester Rasse. Man hätte aus einem Hausburschen mit Zipfelmütze und Laterne, wie sie uns aus Abbildungen des achtzehnten Jahrhunderts bekannt sind, durch Generationen langer unausgesetzter Pflege etwas Ähnliches zustande bringen können.
Der junge Mann war ein Mithörer Hortensiens und war paff von der eminenten Fähigkeit dieses zarten Weibchens. Er hatte seiner Platznachbarin angeboten, sie zu begleiten, da sie ihren Mann vergeblich erwartete. Alles war in schönster Ordnung.
Karl Theodor dachte: ›Wie sich doch so ein Barönchen zu benehmen weiß. Dagegen ist doch unsereins der reinste Bleisoldat.‹
Der Baron kam von da an öfter die vier Treppen in Karl Theodors modern eingerichtete Wohnung hinaufgestiegen und stand sich bald mit Mann und Frau sehr gut.
Karl Theodor war etwas bequemer Natur, und es war ihm daher nicht unangenehm, daß der junge Baron Hortensie öfter von der Universität nach Hause begleitete. Die Unterbrechung in seiner Arbeit war 127 Karl Theodor immer peinlich genug gewesen, so gönnte er seiner Frau die kleine Zerstreuung und sich die liebe Ruhe, denn er hatte mit dem zarten Wesen im Grund nicht wenig Mühe und fühlte unbewußt als Erleichterung, daß die ganze Schwere nicht mehr auf ihm allein lastete. Sie verstand es ja nicht recht, daß ihre Arbeit nicht denselben Wert haben sollte, wie die ihres Mannes. ›Es ist doch nicht die Hauptsache, daß Arbeit Geld einbringt,‹ sagte sie.
›Nein,‹ meinte er, ›es ist auch hübsch, daß sie meine kleine Tensie zerstreut.‹
›Zerstreut?‹ Sie reckte ihr Näschen hoch in die Luft. ›Die Hauptsache ist, daß man sich entwickelt.‹
›Nun ja, weshalb nicht,‹ meinte Karl Theodor. ›Zu was sie sich wohl entwickeln will?‹
Er hatte über Frauen höchst einfache Begriffe.
Hortensie aber entwickelte sich jetzt in der Tat und zwar ganz überraschend.
Wer weiß was für Gedanken den blonden Kopf beschäftigten, wenn der über die leise gehende Nähmaschine stundenlang stumm sich hingebeugt hatte. Kurzum der kleine Baron, der sich mit dem Weibchen zusammen in den philosophischen Vorlesungen philosophisch anhauchen ließ, fand erstaunt eine 128 unverstandene Frau in dem zarten Persönchen, und zwar eine vom reinsten Wasser und vom durchglühtesten Eisen.
In Karl Theodors modernen Zimmern begann sich nun ein dazugehöriges Leben zu regen. Bisher hatte es nur leblos darin etwas vorgespukt, denn Hortensie, das Weibchen, die passive Kraft, hatte tatenlos träumend hingedämmert.
Eine unklare Sehnsucht war die einzige Lebensäußerung gewesen; dann war der männliche Erwecker gekommen, und wie nach langem Winterschlafe, durch kurze Sonnenwärme belebt, war das kleine, stumme Erdreich mit einem Mal in Blüten aufgegangen.
Es kamen wunderliche Dinge zur Entfaltung, eine ganz sonderbare Selbstüberschätzung, eine kühle Spitzigkeit nervöser Empfindung, Schönheitsgefühle, die aus Schwäche und Müdigkeit stammten. Der Stil, dem das Weibchen in ihrer Kleidung schon diente, begann zu leben. Hier gewann er in Verbindung mit Menschen, denen er glich, Daseinskraft, und es war ein kleines Stück ganz intime Naturgeschichte zu beobachten.
Gotische Menschen unter Spitzbogen, bei irgend einer mystischen, verworrenen, flammenden Grausamkeit – und hier zwischen kühler Linienführung der 129 Gegenstände zwei unproduktive, nervöse Leute, die sich etwas sein möchten, die sich voreinander zeigen möchten als etwas Unverstandenes.
Sie tun, was sie können. Sie rauchen Zigaretten aus Rosenblättern, die einen ganz eigentümlich parfümierten Geruch verbreiten, einen welken Duft. Die Kleine erzählt, wie ästhetisch sie ist, und verrät den guten Karl Theodor mit kleinen, scharfen Bemerkungen. Es ist nichts Gutmütiges in ihrem Lächeln über ihn. Sie gibt ihn so kleinweis preis, fast etwas schamlos, aber sehr zierlich, und der Baron gesteht ihr, daß es für ihn Dinge gibt, die ihm unerträglich sind, und daß es meist Kleinigkeiten sind.
Sie fanden sich in der Ästhetik. Sein Taschentuch ist ein Kunstwerk von Batist und Spitze. Er pflegt und trainiert sich wie ein edles Rennpferd, mit dem ein Vermögen gewonnen werden soll. Sie wird ganz Blume in seiner Nähe. Sie gesteht ihm, daß ihr innigstes Suchen auf Erden ist, Gewänder zu erfinden, die Blumenblättern gleichen, und daß sie darin ein Stück Erlösung der Menschheit sieht, ein Verdecken, Verhüllen des Menschlichen. Sie träumt davon, daß eine Zeit kommt, in der die Frauen wie große wandelnde Blumen durch Straßen und Gärten 130 wehen werden, von jeder Luft bewegt, und sie gesteht ihm, daß ihre süßeste, menschlichste Seligkeit ihre Schlankheit ist. Sie hat sich außerordentlich vor einem Kinde gefürchtet in den ersten Jahren ihrer Ehe.
Ein Heiligtum ist ihre Schlankheit für sie – ihr Lebensrecht!
Sie verständigen sich miteinander, daß sie eine ästhetische Lebensführung für das Höchste halten. Sie sind überhaupt sehr verständnisinnig, denn sie fühlen sich vereinzelt. Sklaven und Arbeiter, wohin sie blicken.
Sie aber sind Könige und leben wie Könige im Exil.
So sind sie, ganz natürlich, zu Nietzsche geraten. Sie schwärmen beide für ihn, schlängeln sich in Nietzsches großem, verworrenem Urwald wie zwei verliebte Blindschleichen und sagen: das ist unser Urwald – das ist unsre große Verworrenheit der Schlinggewächse! Das ist unsre große Überwucherung alles Einfachen, das sind unsre Riesenbäume, die mit dem Gipfel in der Erde stecken und die Wurzeln grünend und blühend in den Himmel recken. Das alles haben wir so ganz begriffen, so ist es uns zu eigen geworden, von uns im Verstehen geschaffen. Diese grausamen Ungeheuer sind uns Brüder, sind uns gleich.
131 Die beiden verliebten Blindschleichen bedauern, daß ihnen kein Giftzahn wuchs. Sie spüren sonst eine ungeheure Macht in ihren zarten Schlangenleibern und spüren sich als Riesenschlangen in ihrer versteckten Ecke.
Sie haben wunderschöne große Stunden miteinander, Stunden der Anbetung ihrer Eigenart.
Was ist ihnen Karl Theodor! – Ein, aus seiner Zeit gefallener Plebejer.
Aber sie beschließen wie Könige zu handeln, sie wollen rücksichtslos ehrlich sein und wie Könige sündigen. – Sie wollen alles, ihr Verstehen, ihre Liebe und was sie von Karl Theodor halten, ihm offen sagen. Denn unversehens sind sie in die Rollen der Riesenschlangen geraten. Das ist schon vielen Blindschleichen so ergangen, die in Nietzsches undurchdringlichem Urwald lustwandelten.
So war der arme Karl Theodor nicht übel erschrocken, als nach einem ganz gemütlichen Abendessen Hortensie einen Strauß stark duftender Tuberosen auf den Tisch stellte und sich danach alles mögliche entwickelte.
132 Sie trug ein Reformkleid aus elfenbeinweißem Chiffon, in dem sie wie ein Hauch erschien, so daß man hätte meinen können, der starke Tuberosenduft ströme von ihr aus.
Ganz unvermittelt und eigentümlich hart sagte sie und erhob sich. ›Wir lieben einander.‹
Karl Theodor aber war ihrem Blick nicht gefolgt und sagte. ›Das ist ja gottlob so.‹
Der Baron errötete.
Hortensie aber bewahrte die Fassung und sagte. ›Du mißverstehst mich: Wir lieben einander, Baron Alexander von Renk und ich, und bitten um dein Einverständnis. Wir sind beide zu vornehm gesinnt, um hinter deinem Rücken . . .‹
Karl Theodor stand dunkelrot vor dem königlichen Paare, das Deckung in einer gangbaren Rolle suchte, um Haltung zu bewahren.
›Verehrter Freund,‹ sagte der junge Baron, ›ich trat Ihrer Ehre in keiner Weise zu nahe. Ein Wort genügt, um . . .‹
›Nein,‹ sagte Hortensie und fiel ihrem Mann um den Hals, ›Karl Theodor!‹ Tränen stürzten ihr aus den Augen –. ›Ich lebe nur durch ihn. Laß mir ihn wenige, wenige Wochen, bis wir uns ausgesprochen haben. Ich will dir dann treu und ergeben sein, wie 133 ich es immer war! Wir hängen von deiner Großmut ab, Karl Theodor!‹
Sie sprach weinend, aber wie ein ›schönes‹ Buch.
Karl Theodor verwunderte sich, daß er fürs erste nichts als eine große Verlegenheit spürte.
›Fades Frauenzimmer,‹ dachte er in seiner Betäubung, die den Zustand zwischen Schlafen und Wachen vertrat, und vergaß auch dies sofort wieder, wie ihm das eigen war.
Statt dessen stieg aus seiner Seele ein ungeheurer Schmerz auf aus einer Tiefe, die ihm noch nie vom Leben berührt worden war. Seine Knochen schienen nicht stark genug, das derbe Fleisch zu tragen. Er hielt mit beiden Händen ganz in sich zusammengesunken, seine Stuhllehne fest und war vollkommen verstummt.
Er sah gealtert und schwammig aus.
Das junge Paar, das zu Karl Theodors moderner Einrichtung, die ihm nie zugesagt hatte, so gut paßte, war verblüfft. Sie wußten selbst nicht, was sie sich eigentlich erwartet hatten. Denn es fehlte ihnen beiden an Phantasie.
In Karl Theodors armem Gemüte aber bewegten sich die schwersten Dinge ungeschickt und zutappend.
134 Er hat sich seine Frau so mühselig erhätschelt. Er hat um sie gedient. Er hat sie für sein geliebtestes Eigentum gehalten. Für den Schmuck seines Lebens. Sie war ihm so sicher gewesen, wie sein dicker Kopf es ihm war. Ja, er wäre nicht erstaunter gewesen, wenn der ihm die Eröffnung gemacht hätte, von seiner Schulter herunter zu wollen. – Was sollte er tun? Was sollte er fühlen? Die kalten, brausenden Wasser der Überraschung hatten ihn ganz verwirrt, es sauste ihm in den Ohren.
Und daß sie so wahrhaftig sind! Pfui! – dachte er. Sie wollen gewissermaßen seine Einwilligung. Die tun sich leicht, edel sein, das Liebesglück haben und ihn peinigen. Ein schöner Edelmut!
All das aber ging unter in dem großen Schmerz verlorner Liebe, der Herz und Kehle würgt, der die Sinne verdunkelt, der auch im einfachsten Menschen alles, was Freude und Lebenskraft ist, zertritt.
Wie fremd war Karl Theodor seine Einrichtung geblieben und seine moderne Frau, die er so liebte! Wie zufällig war er zu beiden gekommen! Wie unbehaglich waren sie ihm im tiefsten Grunde geblieben.
›Du hast mich ja nie verstanden,‹ damit störte Hortensie sein Schweigen.
135 ›Prügeln hätte ich dich sollen, mit deinem Getue, du Gans,‹ dachte er, sagte aber: ›Ach was! Verstanden!‹ –
Und so kam es: Karl Theodor ließ seine Frau nicht gehen, hielt sie aus Leibeskräften.
Wir handeln alle in Blindheit, halten, was wir gehen lassen sollten, und lassen gehen, was wir halten sollten. Wir machen's alle ähnlich, wir, die wir wie Karl Theodor sind.
In seiner Güte und in seinem Schmerz wurde er ein rechter Teufel für das verliebte Paar und ein rechter Teufel gegen sich selbst. Er war nicht gütig und nicht kühl genug, um ihnen Freiheit zu geben, und nicht hartherzig und nicht fest genug, um sie ganz voneinander zu trennen. So entstand etwas Halbes, Qualvolles für sie alle.
Sie sahen sich verstohlen, und er fragte und brummte darüber mit seiner Frau, ja, er spionierte ihnen aufgeregt nach. Er lauschte in seiner Qual, ein andermal begünstigte er ein Zusammensein der beiden. Er tat 136 die sich widersprechendsten Dinge, denn er war ein Mensch, der ehrlich mit sich kämpfte und bald auf diese, bald auf jene Seite geworfen wurde. Alle seine Taten aber waren erregt und gequält, es war kein Segen dabei.
Hortensie fand ihn unausstehlich und unvornehm. Er kam ihr vor wie Harz, das man an den Fingern hat und nicht los wird.
Für seine kindliche Güte, die immer wieder in Verwirrung und Verzweiflung umschlug, hatte sie nicht das geringste Verständnis.
Er wurde während dieses Konfliktes fett, seine Augen wässerig, sein ganzer Organismus litt an dem trägen Wissen und Doch-nicht-Wissen, was zu tun. Die beiden andern wußten es ganz genau. Sie wollten sich so oft als möglich sehen und ihre Liebe genießen, denn sie fühlten sich jetzt nicht im geringsten mehr durch Karl Theodor bedrückt.
Sie verachteten ihn etwas. Ja, sie lächelten über ihn, und sie hatten von ihrem Standpunkte aus nicht unrecht; aber sie hatten es auch unbehaglich, denn ihre Liebe war so ziemlich ohne Obdach. Er begleitete sie in Konzerte, holte sie vom Theater, denn das hatte Karl Theodor in seinem Unglück, das ihn träge und indolent machte, aufgegeben.
137 Hortensie faßte einige Male den Mut, zu ihrem Geliebten zu kommen, und er schlich in höchstem Unbehagen hinauf zu ihr, wenn sie wußten, daß Karl Theodor nicht daheim war. Doch fühlten sie sich beide zu einer solchen Art Liebesgenuß zu nervös. Die königliche Art, wahr und frei zu sündigen, die sie sich zu erringen versucht hatten und die an Karl Theodors Unentwickeltheit gescheitert war, wäre auch bei weitem bequemer gewesen.
Wahrhaftig, Hortensie hat recht. Karl Theodor war wie Harz an den Fingern. Er konnte mitunter so gut sein wie ein Kind, daß sie beide ganz gerührt und gelähmt wurden.
Sie wurden schließlich beide außerordentlich nervös, konnten ihrer Liebe kein Opfer mehr bringen. Es war ihnen alles zu aufregend. – Und der Baron kam wieder ganz bürgerlich zur Kaffeestunde des Ehepaars.
Karl Theodor begrüßte ihn freudig, denn er sah darin die Bestätigung, daß beide zu Vernunft gekommen waren und sich mit einem ruhigen, freundschaftlichen Verhältnis begnügen wollten. Er selbst besorgte ihnen für die nächste Kaffeestunde Zigaretten aus Rosenblättern, und als er sie ihnen übergab, war er fast gerührt, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte 138 er etwas taktlos seiner Freude Luft gemacht. Dazu kam es aber nicht, denn Hortensie fühlte sich durch die Zufriedenheit und das Behagen ihres Gatten so jämmerlich, daß sie den Kopf in die Sofakissen verbarg.
Eine große Verstimmung lag wieder über den dreien. Karl Theodor erzählte an diesem Versöhnungstag Anekdoten, die Hortensie schon unendliche Male bis zum Überdruß gehört hatte. Karl Theodor bemühte sich ehrlich, eine gute Stimmung zu schaffen, traf aber auf eine kühle Müdigkeit, die sich nicht beleben konnte.
Niemand war ihm dankbar. Er fühlte sich vereinsamt und zurückgestoßen. Der augenblickliche Frieden verschwand wieder aus seinem Herzen, und er litt mehr als je. Er nahm kurzen Abschied, schickte sich zu einem Spaziergang an und ließ das junge Paar allein.
›Eine Pein ist das!‹ Der Baron versuchte sich während dieses Stoßseufzers eine Zigarette anzuzünden, kam aber ins Stöhnen. ›Eine Liebe ohne Unterkunft, ohne Hütte und Herd ist ein Unding! Ich bin auch kein solcher Teufel, daß der arme Mensch in seiner Qual mir nicht schließlich leid täte. – Eine Kugel vor den Kopf, und die Sache wäre abgemacht.‹ Da fing die Zigarette Feuer. ›Es ist unästhetisch dieses . . .‹
139 Hortensie sah ihn mit großen Augen an. Ein heftiges Schluchzen erlöste sie. – ›Ich bin bereit zu sterben. – Ich bin müde. – Ich leide. – Ich habe alles genossen; was noch kommt, ist fad. – Karl Theodor ist mir unmöglich! – Ein Zigeunerleben ist mir unerträglich. – Was haben wir davon, wenn wir eine Stunde im Café sitzen. – Ich kann auch nicht mehr wie ein gehetztes Wild zu dir hinaufkommen. – Und hier?‹
Der Todesgedanke flammte auf.
Sie wurden beide warm, sie rückten zusammen, sie hielten sich innig umschlungen. Sie flüsterten. Ihr Köpfchen lag an seiner Brust. Sie sprachen vom Tode, und ihren armen Nerven tat das wohl. Sensationsfroh, wie alle Nervösen, zogen sie aus der lebendig gewordenen Todesidee Kraft und Leben.
Ja, sie wurde ihnen zu einer neuen Art Liebesgenuß. Ihre Zuneigung erglühte. Ihre Zärtlichkeit wuchs. Die Lämpchen hatten frisches Öl bekommen. – Sie litten wieder. Sehnsucht trieb sie zueinander.
Karl Theodor und seine Qual rührte sie nicht mehr. Sie versanken vollkommen in den Egoismus der Liebe.
Eine wundervolle Ekstase hatte sie ergriffen. Sie lasen über den Tod von diesem und jenem.
140 Der Baron kaufte Rethels Totentanz. Er dichtete vom dunkelen, schweigsamen Garten, in den sie beide eintreten wollten, Hand in Hand.
Sie trug sich fast immer weiß.
Sie aßen nur bestimmte, sehr zarte Gerichte und sprachen, wenn sie sich trafen, endlos vom Tode – und wie alles geschehen sollte.
Er kaufte Pistolen.
Sie verschloß dieselben in ihrem Schreibtisch.
Sie streichelte sie nachts.
Es war eine schöne, innige, schwermutsvolle Zeit für diese beiden Menschen hereingebrochen. Sie wandelten mit königlichen Gefühlen unter den gewöhnlichen robusten Menschen. Ihre Gewohnheiten wurden immer zarter, immer lebensabgewandter. Sie wuchsen in etwas Fremdes, Großes hinein. Bisher hatten sie sich einer ziemlich unfruchtbaren Ästhetik hingegeben, die mit dem derben Leben wenig gemein hatte, aus der nichts wuchs und kam. Man war bald fertig damit, und das Ergebnis mochte Langeweile gewesen sein. Nun war das anders. Sie fühlten sich in sich selbst heimisch, denn es stand der Tod auf ihrer Eigenart, wie auf jeder Natürlichkeit.
Sie konnten wahrhaft erschauern, wenn sie einer robusten Gestalt begegneten.
141 Karl Theodor essen zu sehen, war Hortensien qualvoll, denn, wie es auch um ihn stand, seinen Appetit hatte er nicht verloren.
Was er aber mit seiner überzarten Hortensie machen sollte, das wußte er auch jetzt noch nicht.
Womit die beiden Lebensabgewandten sich manche Stunde beschäftigten, war, festzustellen, was sie Schriftliches hinterlassen wollten. Sie schrieben und dachten miteinander, bis sie nach Wochen zu dem etwas magern Wortlaut kamen, den Jonathan Baumgarten auf jenem Zettel an einen Nußbaum angeheftet gefunden hatte.
›Wie zwei tiefe Glockenschläge wollen wir verhallen,‹ sagte der Baron einmal.
Hortensie bestand darauf, daß sie von einer Höhe in Südtirol, die sie von früher kannte, die Erde verlassen wollten.
Und so trafen sich Baron Renk, Hortensie geborne Spiegel, Jonathan Baumgarten, Marianne Gamander, Hermann, Geheimrat Bernus und der Doktor im Berghause.
Und wie Frau Marianne sagte: die Welt ist eine ganz kleine Stube. 142
Bernus meinte am anderen Morgen, nachdem man das Pärchen unter den Nußbäumen aufgefunden hatte, zu seiner Freundin Marianne, als sie im blühenden Garten auf und nieder wandelten:
›So laß ich mir's noch gefallen, die Ankunft lieber Gäste, die danebenschießen und die dann ins Bett gebracht werden, hübsch drin bleiben müssen, nicht herumquirlen dürfen. So oder ähnlich möge es meinetwegen allen ergehen. Hermann!‹ rief er, als er den jungen Gamander vom Hause herkommen sah. ›Wie heißt doch unsere Fremdenhymne? He?‹ fragte er, als Hermann ihm die Hand schüttelte, und begann selbst zu deklamieren: ›Sind die L . . . . . s wieder da! – Wieder da! – Erschlagt sie miteinander! Hu, heissa, hurra!
›Und dazu der Fremdenhammer. Das ist mein Lied! Das ist Gästeliebe! Menschenliebe! Da liegt was drin! Singt der Doktor: Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus . . . ., setz ich mich hin und sing meine Welthymne!
›Du wirst sagen, ich hör's schon, da liegt drin, daß ihr bequeme, faule Egoisten seid! Egoisten! Daß i net lach! Aber dir, meine Gnädige, trotzdem es ganz gegen meinen Vorteil geht, wollt' ich doch einmal eine 143 Liebe wünschen, daß dir alle Menschenliebe und Duldsamkeit gründlich vergehen sollte, daß du nach Einsamkeit, nach Zweisamkeit lechzen solltest wie der Hirsch nach frischem Wasser.
›Übrigens bitte ich dich eins, schicke dein Hausfräulein fort, die Stütze oder wie das Wesen heißt, das nachts umherschleicht und Herzen in deine Bäume schneidet. So etwas könnte ich nicht um mich haben. Nimm dir nie eine bessere höhere Jungfrau; das sind, um sie nützlich zu verwenden, die schrecklichsten Wesen auf Gottes Erdboden. Immer im Zwischenreich. – Himmel! ich würde verrückt! Ich sah sie den Frühstückstisch gestern abräumen, wie eine Stigmatisierte. Ich sah sie schon überall von Träumen befallen, erstarrt stehen. Nein, tausendmal lieber deine Köchin, die der nette Herr Kleopatra nennt. Schaff die Jungfrau ab, so wenig sie tut, weiß sie alles, erschnüffelt alles. Ich schwöre, sie weiß, wie alt du bist! – Tu sie weg, eh was geschieht! Sie wird zum Beispiel Abgötterei mit den Angeschossenen treiben, oder macht dich um zehn Jahre älter, das tun sie immer!‹
Marianne lachte.
›Ist aber ganz unnötig, natürliche Feinde im Hause zu haben.
144 ›Ich möchte, da meine Liebe und Sorge dich nicht umgeben darf, von Leuten dich bedient wissen, die dir ganz ergeben sind, die deine Schönheit und Gesundheit pflegen, die dir wie einer Göttin dienen; aber nicht solch Zwischenreichsvolk, das alles so wurschtlig-herzlos, kühl-schlampig tut, und dem du ganz egal bist. Punktum! Das ist meine Meinung über diesen Fall.‹
›Recht hast du, und ich danke dir von ganzem Herzen. Ich fühle, wie du zu mir gehörst. Wie einsam wäre ich ohne meinen lieben Bruder. Alles, was man noch so warm berührt, fliegt fort, kühlt ab – aber wir beide –‹
›Wir drei,‹ sagte Hermann.
›Ja,‹ sagte Marianne, ›wir drei gehören zueinander. Es freut mich viel mehr als ich sage, daß du dich so um mich kümmerst. Die meisten wissen gar nichts von mir. Niemand frägt: auf welchem Boden bist du gewachsen? Wie bist du geworden, wie du bist? Sie lassen sich fragen und trösten und helfen. Woher das Gute kommt, ist ihnen immer geheimnisvoll und gleichgiltig. Täte ich ihnen Böses, hätten sie mich schon längst ausgekundschaftet. Aber sag mir nur, was machen wir mit unsern beiden oben? Die schwärmen von ihrer gegenseitigen Herrlichkeit, 145 daß es einem angst und bange werden könnte darüber, was jeder im andern sieht und in ihn hineingeheimnißt. Wir leben doch in einer unsäglich trügerischen Welt. Alles ist in uns selbst. Wir schaffen uns alles selbst.
›Gott erhalt euch eure Träume. Im ersten Stock liegt ein kleiner neurasthenischer Baron, – mag er sein, wie er will. Sie schwärmt von einem Genie, einem Auserwählten – und er spricht von einer Frau, daß man ihn fragen möchte: Sagen Sie, lieber Baron, haben Sie sich in der Dunkelheit vielleicht mit einer andern erschossen?‹
›Daß Liebe blind macht – kennst du die alte Geschichte denn gar nicht?‹ fragte Bernus.
›Gottlob,‹ meinte Marianne, ›so hat doch jeder einmal Gelegenheit, sich als Gottheit zu fühlen Was für gnädige Dinge gibt es auf dieser Erde.‹