Helene Böhlau
In frischem Wasser
Helene Böhlau

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Erstes Kapitel.

Ein umständlicher Anfang. – Verkäufliche und unverkäufliche Bilder. – Personen werden genannt, und man ist mit ihnen wenig zufrieden.

Eine große Gemäldeausstellung in der Reichshauptstadt.

In einem schmucklosen Gebäude, auf ödem Platze, Saal an Saal, hängen dichtgedrängt die Werke von Künstlern aus aller Herren Ländern. Seit kurzer Zeit erst ist die Ausstellung eröffnet, und bei unerfreulich regnerischem Wetter strömt allerlei Volk ein und aus; Kunstkenner, Enthusiasten und harmlos Neugierige.

Lange Droschkenreihen stehen vor dem Tore, und lange Droschkenreihen fahren an und ab. Den trübseligen Pferden läuft das Wasser aus den Flanelldecken, die über sie gebreitet sind, und den Kutschern sickert es in die weiten blauen Mäntel ein. Alles ist regenglänzend und tropfend.

Die Besucher, die von draußen in das Reich der Kunst eintreten, schütteln die Nässe, so gut es geht, von Schirm und Kleidern, und die nach vollendetem Genuß wieder herauskommen, sehen verdutzt drein; in ihren Köpfen wirbelt es von Effekten von Mondlandschaften, Sonnenglut, Waldesinnern, traulichen Ecken, pathetischen, farbenstrahlenden Vorgängen, von allerlei Familienszenen unter Dach und Fach, als Mutterliebe, des Kindes erster Schritt, Hochzeitsmorgen, Hochzeitsgäste, der treue Freund, Zecher usw.

Es schwirren ihnen die Sinne vom Anblick historischer 6 Gemälde aus allen Zeiten und Zonen, von ägyptischen, orientalischen Bildern bei Sonnenaufgang und Untergang in Rotfeuer, vom Anblick von Schönheiten aller Art und jeden Geschmacks, es schwirren ihnen die Sinne von all dem, was das Meer der Künste alljährlich an den Strand wirft.

Diejenigen also, die aus den Sälen und abermals Sälen, die mit Bildern und Bildern gefüllt und überfüllt sind, heraustreten, erschrecken wahrhaft vor der einfachen grauen Wirklichkeit draußen, die ihnen unbarmherzig ins Gesicht fährt, sie kalt an der Nase packt, an den Kleidern zaust und womöglich den Schirm umstülpt.

Etliche, die obenauf sind, lassen nach ihren Equipagen pfeifen, wiederum etliche winken sich eine Droschke, wenn es ihnen zum besten geht, eine erster Klasse, und andere wieder rufen bescheiden eine zweiter Klasse, machen keinerlei Wesen beim Einsteigen und Öffnen der Tür, so wie es die Equipagenmenschen und die in erster Klasse fahren, tun. Diese Glücklichen steigen immer für den Beobachter auffallend ein und aus, so, als nähmen sie ihre ganze Vornehmheit oder Behäbigkeit oder elegante Gleichgültigkeit wie einen hübschen, weichen, federleichten Pelzmantel, von dem sie wissen, daß er die Blicke auf sich zieht, mit hinein in den Wagen und beim Aussteigen wieder mit heraus.

Diejenigen sind beim Verlassen der Ausstellung noch zu erwähnen und ganz besonders zu erwähnen, denn es sind die meisten, die zu ihrem Fortkommen keinerlei Hilfe in Anspruch nehmen, die ihren Schirm festfassen, die alles, was an ihnen Neigung zum Davonfliegen haben könnte, zum Schleppen und Schleifen und Flattern, energisch an sich drücken und dann vorwärtstappen durch Nässe, Wind und Regen.

7 Eine sonderbare Sache ist es mit solch einer Ausstellung! Die tausend und abertausend Bilder hängen da, hübsch geordnet in schönen, goldenen Rahmen. Jedes einzelne ist getragen von einer Welt von Hoffnung und Sorge, bis es an seinen Platz gelangt, und ist dann in der Masse verschwunden wie ein Tröpfchen Wasser im Meere, wie eine Schaumblase, in der sich ein Stück Himmel und Erde spiegelt; eine kurze Weile glänzt sie, dann zerstiebt sie, eine kleine Spanne Zeit, und der Wind ist über den Farben zurückstrahlenden Schaum hingegangen – und von der Herrlichkeit ist nichts zurückgeblieben.

Auf manches Gemüt mag eine solche moderne Massenausstellung einen wunderlichen Eindruck machen. Der ungeheuere Abstand zwischen Hoffnung und Erfüllung, zwischen Schätzung und Wert, zwischen Streben und Leistung, tritt hier grell entgegen, unerfreulich und nirgends so kräftig wie hier, denn wo Kunst die Hand im Spiele hat, scheint auf dieser Welt alles doppelt gesteigert, Hoffnung und Zweifel, Sieg und Niederlage. Die Kunst ist eine Welt für sich, die Menschen hervorbringt, denen es nicht genug ist, sich mit den gewöhnlichen Sterblichen vor Unglück, Tod und Krankheit zu fürchten, denen es nicht genug ist, nach einem ruhigen Einkommen, guter Nahrung, guten Freunden zu streben, sondern die mehr als Tod brauchen, um sich zu entsetzen, mehr als Glück und Gewinn, um sich zu erfreuen, mehr als den Glauben an ein ewiges Leben, um unsterblich zu werden, die mit einem Wort arme Narren sind, da ein mächtiges Verlangen wohl nie oder selten von Befriedigung gedeckt wird. – Daher ist die Kunst das wahre Reich der Enttäuschung, und eine moderne Kunstausstellung, so farbenstrahlend, vielgestaltet sie auch sein mag, so sehr jedes einzelne mit dem Streben nach Dauer und 8 Bestand geschaffen wurde, wird von jeder vorüberstreichenden Stunde aufgesogen wie der Meeresschaum von der Sonne.

In einer Gemäldesammlung alter Meister haben sich Wassertropfen, die die Schöpfung widerspiegeln, gleichsam zu Edelsteinen kristallisiert; es hat in diesen Werken das Höchste, wonach wir hier auf Erden streben, Dauer gewonnen. Nachdem Hunderte von Fluten ihren Schaum an den Strand gespritzt haben, funkelt vielleicht einmal zwischen Millionen vergänglicher Tropfen ein Edelstein, der weiterglänzt, wenn Schaummassen über Schaummassen verweht sind. Daher wirkt die Sammlung alter Meister in dem Maße beruhigend, wie die neuer Erscheinungen und wahrhaft durchströmt erscheint von Unruhe, Gleichmutslosigkeit, Furcht und Sorge, dem ganzen alltäglichen Jagen und Rennen, das dem gesamten Menschengeschlecht eigen ist.

Wenn das Auge an langen Bilderreihen hinschweift, bleibt es vielleicht an einem Werke haften, das anzieht, je mehr und mehr man darauf blickt. Es tritt mit einem Sprung in unsere Wahrnehmung ein, läßt sich nicht so ohne weiteres beurteilen und erfassen. Es stößt uns vielleicht in mancher Hinsicht ab, zieht darauf doppelt an, ist fremdartig und doch bekannt, ist einfach und doch geheimnisvoll, verrät Können und Wissen und prägt sich uns ein, sympathisch oder weniger sympathisch, je nachdem es unserer eigenen Natur nah oder fern steht.

Aber auch die viel versprechende Begabung eines noch im Emporstreben begriffenen Künstlers ist in dem Maße gefährdet, wie das Leben eines Menschen mitten in der Schlacht, wo in jeder Minute Verstümmelung und Tod droht.

So mögen ungefähr die Gedanken sein, die sich einem 9 oder dem anderen aufdrängen bei dem Besuch der neuen, großen Gemäldeausstellung, zu der es von allen Seiten durch Regen und Wind, durch schlüpfrige Straßen und Gassen gezogen kommt.

 

Jetzt eben tritt ein junger Mann aus dem Ausstellungsgelände. Er hebt den Kragen hoch, spannt den Schirm auf – und sogleich wieder zu, denn der Wind, der um die Ecke kommt, macht geradeswegs Anstalten, den Schirm gefährlich zu packen. Er drückt sich den Hut fest in die Stirn, geht vorwärts und schaut nicht nach rechts noch links.

Ehe er aber noch fest in Gang kommt, hält in seiner Nähe ein eleganter Wagen, und ein älterer, vornehm aussehender Mann beugt sich zum Fenster heraus, versucht die Tür selbst zu öffnen, ehe der Diener noch vom Wagensitz springen kann, und ruft mit lebhafter, frischer Stimme dem Vorübereilenden nach: »Schmidt, Schmidt! Hans Ludwig Schmidt, hören Sie nicht! Sehen Sie nicht! Halten Sie doch!«

Der wie aus Nachdenken erwachende junge Mann blickt erstaunt um sich und gewahrt den Herrn nicht sogleich, der ihm zuwinkt.

Endlich treffen sich beider Augen und Hans Ludwig Schmidt grüßt höflich und tritt auf den Wagen zu.

»Nun, wie geht's, wie steht's? Man sieht Sie ja nie! Kommen Sie mit?« wurde ihm lebhaft entgegengerufen.

»Wohin?«

»In die Ausstellung.«

»Aus der komme ich eben.«

10 »Tut nichts, gehen Sie nur mit, ich halte mich nicht lange auf. Wir frühstücken dann miteinander!«

»Wenn es sein muß«, sagte Hans Schmidt. Damit folgte er dem Geheimrat in den Wagen, der die beiden noch die kleine Strecke Wegs bis vor das Ausstellungsgebäude rollte.

Beim Eintritt sagte der Geheimrat zu Hans Ludwig Schmidt gewendet: »Ich komme eigentlich, um mich umzusehen, was unser alter Freund Obrist endlich wieder zustande gebracht hat. Es sind ja wohl ihrer sechs, sieben Jahre, daß er fehlt. Ich bin recht begierig – Sie haben es gesehen – was halten Sie davon?«

Hans Schmidt schien die Frage überhört zu haben, ging wie wir ihn schon haben gehen sehen, ernst und gedankenvoll neben dem Geheimrat her.

»Schlecht aufgelegt!« sagte dieser und legte die Hand auf Hans Schmidts Schulter – »Sie alter Holsteiner aus echtem Schrot und Korn – was fällt Ihnen ein, kopfhängerisch zu werden – wohl gar nervös und übernächtig?«

Hans Schmidt blickte treuherzig aus den Augen; um seinen hübschen, geschwungenen Mund spielte ein Lächeln, wie es kräftigen, gutartigen Personen eigen ist. Er reckte seine feste, gedrungene Gestalt langsam, während er die Tür öffnete, und antwortete: »Das hat bei mir keine Not.«

»Wohl Ihnen«, sagte der Geheimrat scherzhaft; »aber schlecht aufgelegt sind Sie doch.«

Jetzt traten beide ein in den ersten Saal. Gerade vor den Eintretenden hingen Bilder in mächtigsten Dimensionen und hellster Beleuchtung und goldstrotzenden Rahmen und nahmen gleich die ersten Blicke gefangen.

11 Sie blieben vor diesem und jenem stehen, der Geheimrat blickte bei den Bildern, die von Beschauern am meisten umdrängt waren, den Leuten über die Achseln und sagte: »Zucker – Zucker« bei dem einen, oder »Ja – ja, ja, ja« bei dem anderen. »Merken Sie sich's, Hans Ludwig Schmidt, wo die vielen Leute stehen, da gibt es für Sie zu lernen!«

Sie gingen eine Weile miteinander, der Geheimrat umherschauend von einem zum anderen, nicht besonders wissensbegierig. Er hielt seinen ersten Spaziergang in der Ausstellung und sagte: »Den muß man leichtsinnig machen – das sind mir die Rechten, die das Gute suchen – und danach umherschnüffeln; das Gute muß uns suchen, muß einen Schlingel, der sich den Kuckuck danach schert, von unversehens packen und halten. – Wenn mich bei dem ersten Spaziergang nichts fesselt – bon dann mache ich einen zweiten, und wenn sich dann bei mir nichts bemerkbar macht, mag die ganze Ausstellung der Teufel holen. Sagen Sie mir nun aber, wo hängt Obrists Bild, Sie haben es doch gewiß schon aufgestöbert – ich habe schon vorhin gefragt, was Sie davon halten?«

»Ich weiß, wo es hängt«, sagte Hans Schmidt gleichmütig.

»Nun gut, also gehen wir – und das Ihrige, das kleine Flachlandbild, wo haben sie Ihnen das hingesteckt?«

»Das«, sagte Hans Schmidt, »haben wir gleich hier in nächster Nähe, da, hinter Ihnen hängt es –«

»Nun, wo denn, ich dächte nicht«, sagte der Geheimrat und überflog mit einem Blicke die Wand.

»Doch«, erwiderte der junge Mann; »aber das Flachlandbild ist es nicht – es ist ein anderes.«

Der Geheimrat trat näher hinzu und rief, während 12 auf seinem rötlichen, von grauem, kurzem Bart und Haar umrahmten Gesicht eine lebhafte Veränderung vorging – »Hol – dich dieser und jener! Der Viererzug ist's, der Viererzug im Nebel! Prachtkerl! Hans Ludwig Schmidt, das haben Sie gut gemacht!« Hier faßte der Geheimrat des jungen Künstlers beide Hände und schüttelte sie kräftig.

Darauf trat er wieder auf das kleine Bild zu und betrachtete es schmunzelnd, die Hände auf den Rücken gefaltet. –

»Hans Ludwig Schmidt«, sagte er bedächtig, »in Ihrem Bild ist Leben und Poesie und Dampf, es brodelt wahrhaft. Nebel, Vieh und Dungwagen lassen es sich angelegen sein, und der Wind tut sein Teil dazu – es ist eine köstliche Bewegung in dem Bildchen. – In der Tat, Hans Schmidt, Sie haben Ihre Sache gut gemacht. – Bleiben Sie ein so prächtiger, gesunder Junge wie Sie sind – und schlagen Sie ein – das Bildchen ist mein – wenn es Ihnen recht ist –«

Über Hans Ludwig Schmidts Gesicht zog ein zufriedenes Lächeln. Das war das Glück, was ihm zulief – ganz unvermutet.

Die beiden schauten noch miteinander das Bild an, der Geheimrat hob dies und jenes hervor und sagte immer wieder von neuem, daß es ein kleines, gutes Werk sei, an dem er nichts zu tadeln finde. –

»Ich finde nichts, ich bin ganz einverstanden. Ich stecke mit Ihnen und Ihrem Viererzug, wenn ich das Ding recht betrachte, mitten im nassen Ackerland auf der Hochebene im Oktober in Nebel und Wind. – Ich sehe, wie der Schimmel vorn im Brodel zu verschwinden scheint, wie sein Kopf seitwärts daraus auffährt, wie er aus den Nüstern bläst – 13 und ich vergnüge mich damit. Es ist ein naives, lebendiges Ding. Nun, und noch einmal die Hand darauf, es ist also mein Eigentum?«

»Das ist es, wenn Sie es wollen«, sagte Hans Ludwig Schmidt trocken aber befriedigt.

Hans Schmidt wußte sehr wohl, daß sein Viererzug nicht zu verachten war und daß er den glücklichen Verkauf nicht als eine Gnade aufzufassen brauchte. Er wiederholte noch einmal ruhig: »Das Bild ist Ihr Eigentum und ich danke Ihnen.«

»Ja, ja, mein Junge«, sagte der Geheimrat freundlich. »Ich will Ihnen eins sagen: Danken Sie mir, daß ich Sie damals vor neun Jahren, als Sie hier ankamen, zu Obrist gewiesen habe und zu keinem anderen. Damals schrieb ich Ihrem Vater, daß Obrist der Mann für Sie sei, er solle mir darin vertrauen, und Sie haben es nicht zu bereuen gehabt. – Er war ein herrlicher Mensch«, fuhr er fort, »und Sie haben seine besten Jahre mit ihm durchgemacht. – Schade – schade – jammerschade!«

Der zufriedene Ausdruck in Hans Schmidts ruhigen Zügen entwich und machte wieder dem Ernste von vordem Platz.

Sie gingen weiter.

»Hier – hier ist sein Bild«, sagte Hans Ludwig Schmidt.

»Ja, du allmächtiger Gott! – Was ist denn das?« rief der eifrige Mäzen. »Was fällt ihm denn ein!«

Der Geheimrat rückt sich das Augenglas zurecht, tritt ein paar Schritte vor, ein paar Schritte wieder zurück, schüttelt den Kopf, macht mit seinen beweglichen, schmalen Lippen ein Rüsselchen der Verwunderung und Befremdung, wie das bei überraschenden Gelegenheiten seine Art war, und 14 murmelt wieder und wieder, ganz in den Anblick versunken: »Was ist denn das? – Was ist denn das?« Ja, es war eine sonderbare Sache, die da vor den beiden Beschauern hing, eine Landschaft, unsicher, phantastisch, man glaubte über farbenbrennende, ausgedehnte Herbstwaldungen zu sehen. Felsen von schroffen, wilden Formen, ein düster blaues Meer schlug an die farbenreichen Gestade – aber wie schon gesagt –, man glaubte dies alles zu sehen; alles tauchte auf wie aus einem Nebel von Unbestimmtheit – alles war nur flüchtig, wenn auch reizvoll, angedeutet. Über dem Ganzen aber lag schwer ein düsteres Wolkengebilde wie eine dunkle, menschliche, ringende Gestalt, und der Schatten davon zog über die geheimnisvolle Landschaft. –

Das Bild hatte etwas Erschreckendes. In der Ausführung etwas Ungezügeltes, Unerfreuliches. – Man spürte dem Ganzen an, daß, nachdem sich genügt war, die Idee auszudrücken, die Ausführung gleichgültig, ohne Hingebung betrieben worden war.

»Und daran«, sagte der Geheimrat, »hat er volle fünf Jahre gemalt – der Unglücksmensch!«

Der Geheimrat betrachtete von neuem kopfschüttelnd das Bild.

»Man sollte meinen, das Machwerk stamme von einem alten, abgelebten Menschen, und nicht von einem, der in vollster Lebenskraft stehen müßte und der ein so geschüttelt und gerütteltes Maß von Begabung mitbekommen hat wie Obrist. Aber es ist kein Verlaß auf euch Künstler! Davon kann einer reden, der wie ich hin und wieder ein warmes Interesse für einen von euch gefaßt hat. Für Obrist hätte ich die Hand ins Feuer gelegt, daß etwas Großes aus ihm würde.« Indem er dies aussprach, trat noch ein Maler zu den beiden vor das Bild. Er trug 15 einen erbsgelben, hellen Überzieher und hielt sich steif und wichtig. Man sah ihm den Künstler nicht an. Er war Tiermaler und hauptsächlich hatte er sich den Schönheiten und Vorzügen des Rindviehs zugewendet. Er begrüßte äußerst ehrerbietig den Geheimrat, in dessen Person er den Besitzer eines sehr ansehnlichen Vermögens und die seltene Eigenschaft eines Menschen, Bilder hin und wieder zu kaufen, kannte. Er allerdings war durch die eigentümliche Beanlagung des Geheimrats noch nicht beglückt worden; aber was nicht war, konnte noch werden.

»Nun, dacht ich's doch, Sie stehen auch davor!« sagte der Angekommene ehrbar. – »Ein tolles Ding – eine sonderbare Lufterscheinung. – He! – Was sagen Sie? Wenn die Leute doch das Sinnreiche in der Malerei lassen wollten.«

»Ja so«, sagte Hans Schmidt in einem Ton, dem man die geringe Sympathie für den Erbsgelben anhörte.

»Ich bin der Ansicht«, fuhr jener fort, »daß die Idee nicht zur Malerei gehört, sie ist zur Not mit hinzunehmen, meinetwegen als Zugabe, wenn es durchaus sein soll und die Sache danach ist. Hier aber kann man doch schwerlich sagen, daß dies der Fall sei.«

Es traten noch mehrere hinzu, die das vordem unbeachtete Bild jetzt dem Geheimrat zuliebe einer gründlichen Kritik und Betrachtung unterwarfen.

Man wußte allgemein, daß dieser einige frühere Gemälde dieses Künstlers besaß und daß Obrist vor Jahren des Geheimrats Schützling war.

Sie sprachen lebhaft weiter über den Künstler und das Gemälde, einige mit Bedauern, andere mit Gleichgültigkeit.

Der gelbe Tiermaler sagte: »Obrist ist mein guter 16 Freund; er ist mein intimer Freund, aber ich muß bemerken, daß es schwerhält für einen Menschen, der die Kunst nicht, wie Obrist es tut, als eine Laune behandelt, der man sich hingibt, um sie ein anderes Mal beiseitezulassen, noch freundliche Gesinnung und Interesse übrigzubehalten, wenn man seine Haltlosigkeit und Lässigkeit mit ansieht.«

Der Erbsgelbe schien von außerordentlicher Pflichttreue beseelt zu sein.

»Er ist krank«, erwiderte Hans Schmidt kurz, der sich bis dahin vollkommen schweigend verhalten hatte.

»Ah was, krank! Ein tüchtiger Kerl ist nicht krank«, sagte der Tiermaler wegwerfend.

»Das ist eine ganz gute Bemerkung«, meinte Hans Schmidt. »Eine Bemerkung kann man sehr leicht aufstellen, wie zum Beispiel: ein Ochse lacht nie. Das ist auch eine Bemerkung.«

»Wie ist das zu verstehen, Herr Schmidt?« fragte der Erbsgelbe irritiert, der diesen Ausspruch in einem dunkeln Drange und im Bewußtsein seiner Spezialität auf sich bezog.

»Wie das zu verstehen ist?« fragte Hans Ludwig Schmidt, »als einfacher Satz genau wie der: ein rechter Kerl ist nie krank. Oder haben Sie schon einmal einen Ochsen lachen sehen?«

Der Tiermaler im gelben Überrock lächelte hoheitsvoll – aber der gute Hans Ludwig Schmidt hatte eine sonderbare Art, die Leute mit vollkommen bedeutungslosen Aussprüchen aus der Fassung zu bringen. Ein junger, neugebackener Kunstschüler, der sich bei der Gruppe mit eingefunden hatte und sich das Bild mit Kennermiene beschaute, sagte im männlichsten Erstaunen: »Daran also hat der Mensch sechs volle Jahre gearbeitet.«

17 »Ja, mein Sohn«, erwiderte der Geheimrat. – »Wenn es Ihnen gefällt, sehen Sie sich bei mir einmal seine Bilder an, die er vor diesem gemalt hat. Mit diesen Bildern hat er meines Erachtens mehr getan, als hier alle zusammen. Es ist keiner darunter, der sich mit ihm messen könnte. – Keiner. – In einer stillen Stunde sehen Sie sich das Bild hier aufmerksam an, und Sie werden manches daran finden, was Ihnen zu denken geben könnte.«

»Nun sagen Sie mir aber, bester Freund«, begann ein würdiger Bekannter des Geheimrats, ein Oberst a. D., »was fehlt dem Menschen eigentlich? Er hat im Anfang brillant reüssiert, außerdem hat er Glück gehabt: gut verkauft.« Der Sprecher wies mit einer höflichen Handbewegung auf den Geheimrat. »Außerdem hat er geheiratet, eine vorzügliche Person, eine talentvolle Künstlerin, mir sehr sympathisch, resolut, geschickt, amüsant. Sie haben auch Kinder, ich dächte hübsche Kinder. Und bei alledem sagen Sie, bester Freund, geht der Mensch zugrunde, oder besser gesagt, ist zugrunde gegangen. Wenn ich denke – diese prächtige Frau!«

»Eine gute, vortreffliche Frau«, sagte der Geheimrat. »Was geschehen ist, läßt sich nicht ändern. – Weshalb hat der Mensch geheiratet? – Feuer im Herzen, Rauch im Kopf.«

»Stellen Sie sich vor, wenn ich Ihnen eine kleine Anekdote erzähle, wie wohl Obrist getan hätte, hübsch allein zu bleiben, wenigstens noch Jahr und Tag.

Er ist mit Arbeit beschäftigt, steckt in seinem Atelier von früh bis abends, ein paar Tage lang treibt er es so, sagt mir, daß er glücklich sei über zusammenhängend gute Stimmung, so nannte er's. Er ist ein Mensch, nebenbei gesagt, aus lauter Stimmung zusammengesetzt. Also, er hat eine 18 Zeitlang gute Stimmung – da kommt er eines Tages, am Vormittag ganz verzweifelt bei mir an, und ich frage: ›Nun, Obrist, was ist Ihnen?‹

›Mir? – Nichts‹, erhalte ich zur Antwort.

Darauf Schweigen.

Ich bin in Wahrheit besorgt, was dem armen Teufel fehlt, und frage noch einmal.

Darauf sagt er mir, daß er in der Arbeit gestört worden sei, er habe eine neue Wirtschafterin und diese entsetzliche Person hatte ihn zur ungelegenen Stunde zweimal danach gefragt, was er zu essen wünsche – und weg war die gerühmte Stimmung und er geärgert und mißlaunig.

Dergleichen habe ich nicht einmal, sondern zwanzigmal mit ihm erlebt. Nun frage ich Sie, wie kann ein solcher Mensch, der sein Talent behüten muß wie ein Ei ohne Schale, sich in das Durcheinander der Ehe stürzen? – Ein Mensch mit Vernunft!

Und zudem kam er noch auf die Idee, gerade die Anna Howart zu heiraten. – Er lernte sie sogar bei uns kennen. Hier drüben, gleich uns gegenüber, hängt auch ein Bild von ihr. – Sehen Sie: verkauft.«

Man trat näher. Es war eine Art Stilleben, ein roter Samtvorhang, ein Korb mit Eiern in Stroh, ein Bauer mit Rotkehlchen und zerbrochene Resedatöpfe, ein tolles Durcheinander, plastisch und reizvoll in den Farben, durchaus nicht ohne Begabung gemacht, als Bild – oder Ofenschirm – und verkauft.

»Natürlich«, sagte Hans Schmidt. »Weshalb nicht gleich auf Flanell gemalt als Bettdecke oder Unterrock!«

»Sie hat von ihm gelernt, gewiß; sie hat unter seiner Leitung Fortschritte gemacht; ihre Sachen sind nicht übel«, 19 sagte der Geheimrat – »trotzdem wäre es mir fast lieber, sie hätte sich darin mehr zurückgehalten. Der Mann kommt zu kurz, wenn die Frau Gott weiß was für Dinge im Kopfe hat. Es gibt Unruhe und Versäumnis im Haus, und es ist immer bedenklich.«

»Gehen Sie«, sagte der Oberst, »soll so eine hübsche, frische Frau, wie die Anna Howart, darum, weil sie das Unglück hatte, einen schwachen Charakter zu heiraten, dessen Fähigkeiten ein Windhauch umbläst, ihr Licht unter den Scheffel stellen und verkümmern, so ein Mädel wie die Anna Howart war! Nimmermehr! Es ist auch noch die Frage, um wen es am meisten schade ist, um den Monsieur Künstler, der mit Müh und Not ein paar Bilder zustande bringt, für einige besonders Auserwählte, die ihn zu schätzen wissen, oder um die lebenslustige, kräftige Frau, die ihren Kindern eine gute Mutter ist, die nebenbei durch ihre Kunst kein geringes Stück Geld verdient – was sag' ich, die nicht nur ihren Kindern eine gute Mutter ist, auch noch den fremden Kindern, die sie bei sich aufgenommen hat. Wenn ich nicht irre, die drei Rangen ihres verstorbenen Bruders.«

»Jawohl«, sagte Hans Schmidt, »drei Rangen.«

»Kommen Sie einmal in das Haus«, fuhr der Oberst fort, »eine Glückseligkeit in allen Ecken; alle Augenblicke ein Familienfest, ein Geburtstag, ein Ausflug, da führen sie auf, Gott weiß was! Es ist immer etwas los. Sie haben auch Landwirtschaft im Hause.«

»Jawohl«, unterbrach der Geheimrat und fuhr in dem loberfüllten Ton des Oberst a. D. fort: »Sie malt in seinem Atelier und pfeift dazu und gibt Haushaltungsbefehle durch die Tür, ruft von der Staffelei aus, oder läßt sich fünfundachtzigmal von diesem und jenem etwas fragen – ist immer obenauf und arbeitslustig. Alles singt und lärmt 20 und freut sich im Hause. – Nur schade, daß die ganze singende, lärmende Wirtschaft über einen armen Teufel hingeht.«

»Bravo«, rief der Oberst a. D. »Ich erkenne meine Anna Howart wieder! Die ist sich treu geblieben. So eine Natur läßt sich nicht unterdrücken!«

»Ja, ja, ja«, sagte der Geheimrat. »Weshalb hat er übrigens nur so kurze Zeit das Atelier außer dem Hause behalten? Das war doch das einzig Richtige.«

»Muß doch nicht gewesen sein«, erwiderte Hans Schmidt. »Er war viel leidend, konnte wochenlang nicht ausgehen – und dann diese unpraktischen Leute! – Er kam nie zu einem vernünftigen Essen – die zu Hause machten es, wie sie konnten, und er, wie er es konnte, und so kamen sie in nichts zusammen. – Es war eine ewige Wirtschaft – eine ewige Einrichterei – ein Versäumen und Hetzen und eine Unruhe, daß einem selbst angst und bang dabei wurde – – – eine ganz tolle Gesellschaft!«

Jetzt hatte der Geheimrat sich wieder zu Obrists Bild gewendet. – »Um den ist's ewig schade!«

Und während er dies noch sprach oder kaum ausgesprochen hatte und ein eigentümlich weicher Zug seinen Mund umspielte, stand Hans Schmidt an seiner Seite und sagte murmelnd, flüsternd, so daß es niemand außer ihm hören konnte, auf eine befangene, fast ungeschickte Weise seine Hand auf die des Geheimrats legend: »Herr Geheimrat, helfen Sie ihm doch – helfen Sie!«

»Das ist leicht gesagt! Aber wie hier helfen, mein Junge?« Die beiden traten abseits von der Gruppe zu einem anderen Bilde.

»Mit Geld ist hier nichts getan, mein guter Freund!«

»Nicht mit Geld, nicht mit Geld«, flüsterte Hans 21 Ludwig Schmidt. »Es steht in Wahrheit schlimm um ihn, schlimmer als ich es je jemand außer Ihnen zugeben würde. Es ist so eine Willenslosigkeit in den Menschen gekommen, so eine Gleichgültigkeit – dazu treibt er Philosophie – es ist nicht mit ihm zu reden. Ich kann es Ihnen nicht beschreiben, was es ist. Ich weiß es selbst nicht. Ich bin eine andere Natur als er. – Ich habe ihn auch lange nicht oder nur hin und wieder gesehen. Er hat nicht nach mir verlangt – und ich fühle mich von ihm zurückgestoßen, so sind es jetzt an die zwei Jahre, daß wir außer Verkehr stehen. Ich kann sagen: er hat sich verloren. – Seine Arbeiten sind nicht mehr seine Arbeiten. – Und nun trete ich heute morgen vor das Bild – zum ersten Male. – An seine Staffelei läßt er keine Menschenseele. – – Sagen Sie selbst – welche Unsicherheit in allem und jedem, welche Überreizung! – Das ist Obrist nicht mehr! – Und er ist es schon lange nicht mehr! Es handelt sich hier nicht um eine schlechte Stimmung –«

»Das, was helfen kann, bester Junge, muß aus ihm selbst kommen!«

»Denken Sie doch, Herr Geheimrat! Wie soll aus einem kranken, willenlosen Menschen der Entschluß, energisch zu sein, kommen? Wie kann ohne Energie Energie erworben werden?«

»Ja, was ist aber zu tun?«

»Laden Sie ihn ein, Geheimrat, fürs erste nur das.«

»Einladen? Was soll das helfen? Zudem kommt er doch nicht.«

»Er kommt, dafür lassen Sie mich sorgen.«

»Nun und dann?«

»Dann wollen wir einen Abend aus alter Zeit zusammen verleben. Laden Sie doch noch die Gwendolen ein. – 22 Er kann sich dann seine alten Bilder bei Ihnen ansehen. Er soll sie sich ansehen.«

»Sie sagten mir, daß Obrist seit Jahren draußen in Schöneberg sitze«, begann der Geheimrat, »und außer seiner Familie niemand sehe. Sie sagten auch, daß er schwer nervenkrank sei, also wenn Sie ihn auch durch Ihre Mittel bestimmen, den Abend zu uns zu kommen – wir sind uns, nebenbei gesagt, vollkommen fremd geworden –, wie stellen Sie sich vor, daß es auf ihn wirken soll? Ein Mensch, der sich verloren hat, der zurückgegangen ist wie Obrist, der schwer nervenkrank und ohne Glauben an sich selbst ist, was denken Sie, welchen Eindruck auf ihn ein solcher Abend machen würde, wie der, den Sie beabsichtigen? Meines Erachtens, wenn Obrist mit klaren Blicken wieder vor seinen Bildern sitzt, sieht, was er war und was er jetzt ist – ich möchte die Verantwortung nicht auf mich nehmen. Ich möchte es mir noch einmal überlegen – und hätte beinahe Lust, einen Arzt darum zu fragen, der ungefähr die Wirkung berechnen kann.«

»Ach was«, sagte Hans Ludwig Schmidt, »lassen Sie den Arzt beiseite, das hilft unsereinen nichts, bei einem Beinbruch wohl, aber sonst nicht. Hier kann vielleicht ein Freund dem anderen beistehen.«

»Menschen, die sich verstehen, können überhaupt allein nur einander helfen.«

»Und glauben Sie mir, so verschieden wir sind, der Obrist und ich, ich kenne ihn und weiß ihn zu beurteilen. Glauben Sie mir, wenn Obrist in seinem letzten Augenblick erführe, ich hätte ihm dazu verholfen, ich meine, wie die Sachen jetzt stehen, glauben Sie mir, er würde es mir danken.«

23 »Was für ein rabiater Mensch Sie sind, Sie alter, würdiger Holsteiner«, erwiderte lächelnd der Geheimrat.

»Meine Ansicht ist«, sagte Hans Schmidt ruhig, »daß ein Mensch, der Künstler ist, nur noch mit dem Schicksal, das auf seine Kunst sich bezieht, zu rechnen hat. Ein anderes gibt es für ihn nicht mehr. Geht der Künstler zugrunde, mag es der Mensch auch tun.«

Der Geheimrat erwiderte nichts – ging im Saale auf und nieder, beschaute dies und jenes Bild und trat nach einiger Zeit wieder auf Hans Schmidt zu. »Sagen Sie's ihm nur. Welchen Tag denken Sie?«

»Ja, welchen Tag! Wenn ich ihn losgeeist habe, werde ich Ihnen den Tag sagen.«

»Gut, versuchen Sie es – und jetzt machen wir uns auf – unser Frühstück verlangt nach uns.«

 


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