Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Was der Maler auf seine Leinwand gezaubert hatte, war die Verkörperung einer Vision, wie sie nur dem Herzen eines Dichters entspringen kann. Nicht nur das Auge, auch die Seele des Beschauers wurde mächtig davon ergriffen. »Leben und Liebe« nannte sich das Kunstwerk und diese Bezeichnung war gut gewählt.
Auf der rechten Seite des großen Gemäldes kam ein Bach von der in Nebel gehüllten Bergspitze herabgestürzt, der immer breiter und tiefer wurde in seinem Lauf, bis er im Vordergrund als schöner, ruhiger Fluß mit kristallhellen Fluten unter dicht verschlungenem grünem Geäst dahinströmte. Vögel wiegten sich auf den Zweigen und wilde Blumen schmückten die Ufer. Mitten durch das glitzernde Wasser, auf dem Schatten und Lichter spielten, glitt ein Boot dahin, worin ein Mädchen mit ihrem Liebsten saß. Beider Blicke ruhten ineinander und seliger Glanz erhellte ihr Antlitz. Sie waren allein, ganz allein in der schönen Welt, wo nur die Liebe wohnt. Der goldene Sonnenschein, die sich kräuselnden Wellen, der Duft der Blumen und der Gesang der Vögel, das alles gehörte mit zu ihrem wonnigen Traum. Daß der Fluß den schönen Wald verließ und in einem rauheren Bette mit rascherem Lauf dem fernen Ozean zuströmte, wurden die Augen der Liebenden nicht gewahr.
So hatte denn Gottfried Morland endlich das Ziel erreicht, wonach er so lange in rastloser Arbeit gestrebt hatte. Dies Gemälde mußte die Blicke der Kunstverständigen fesseln und jedes Menschenherz ergreifen. Es war groß und kühn entworfen, denn Morlands Genie brauchte einen weiten Raum, aber dabei doch bis ins kleinste mit wunderbarer Treue ausgeführt; man sah die Flügel der Goldammer glänzen und die zarte Farbe im Kelch der Primel. Das Ganze war so voll Leben und Wirklichkeit, daß die Zweige in der klaren Luft zu hängen schienen und man unwillkürlich versucht war, sich vorzubeugen, um die Hand in das kühle fließende Wasser zu tauchen. Ein unbestimmtes Sehnen erfüllte das Herz beim Anblick der wunderlieblichen Landschaft.
Drei Jahre lang hatte der Künstler vor seiner großen Leinwand gesessen und alles im Traum geschaut. Und siehe da, nach dreijähriger geduldiger Arbeit nahm seine Vision Gestalt, Licht und Schönheit an und erschien sichtbar vor den Augen aller Welt. Wenn die ihm befreundeten Künstler in stummer Bewunderung vor seinem Bilde standen, oder wenn er selbst allein im Atelier war und sein Meisterwerk mit fast ehrfurchtsvoller Scheu betrachtete, dann beglückte ihn das Bewußtsein künstlerischer Schaffenskraft, durch die sich der Mensch der Gottheit am nächsten fühlt.
Der junge Maler erwartete von seinem Erfolg aber noch mehr als hohen Künstlerruhm. Auch Liebesglück sollte er ihm bringen. Das Gesicht des Mädchens auf dem Bilde mit den Rosenwangen und den vergißmeinnichtblauen Augen war kein bloßes Ideal. Alice Lyle hatte ihm ihr Herz geschenkt, als die Welt ihm den Rücken wandte; jetzt sollte sie auch seinen Triumph mit ihm teilen.
Kein kleinlicher Neid störte ihn im Vollgefühl seines Glückes. Alle seine Kunstgenossen freuten sich mit ihm über seinen Sieg, und am lautesten frohlockte Ernst Beauchamp, sein bester und liebster Freund. Und doch hätte man ihm etwas Eifersucht wohl zu gute halten können, denn Ernst und Gottfried hatten ihre Künstlerlaufbahn zusammen begonnen und anfänglich war es für Ernst ein Leichtes gewesen, den Freund zu überflügeln.
Beauchamp gehörte einer Schule an, die oberflächliche Anmut mit einem Zug heiteren Humors zu verbinden weiß, und da er der vornehmen Welt gefiel, hatte er sich rasch einen Namen erworben.
Durch dieses Bild, das so unmittelbar zum Herzen sprach, mußte ihm Gottfried jedoch ein für allemal den Vorrang abgewinnen.
Aber nicht in der Kunst allein war Ernst sein Nebenbuhler, sondern auch in der Liebe. Er war es, der Alice Lyle zuerst unter den Rosen ihres ländlichen Pfarrgartens entdeckt und sich auf seine lustige Art, halb im Scherz, halb im Ernst, um sie beworben hatte – bis Gottfried kam, sie sah und ihr Herz gewann.
Doch Ernsts sonniges Gemüt ließ sich dadurch nicht verdüstern. Wie er dem großen Gemälde seinen wärmsten Beifall zollte, so bestand er auch darauf, die bevorstehende Hochzeit des Freundes als sein Brautführer mitzumachen.
»Ich will Alice nicht die Möglichkeit rauben, ihre Wahl selbst im letzten Augenblick zu ändern,« sagte er scherzend. »Sie könnte sich noch am Altar eines Besseren besinnen, und da will ich zur Stelle sein und mich in Bereitschaft halten.«
Das Bild stand noch im Atelier des Malers, doch sprach man schon davon in der gesamten Künstlerwelt Londons. Die Gemäldehändler kamen scharenweise herbeigeeilt, wie Bergleute nach einer neu entdeckten Goldgrube strömen. Am eifrigsten von allen war der bekannte Kunsthändler Jakob Goldmirk, ein Mann von würdigem, gesetztem Aussehen, dessen Leben jedoch reich an Abenteuern und Aufregungen aller Art war. Er stöberte mit wunderbar glücklicher Hand berühmte Gemälde auf und erwarb die Werke alter Meister um einen Spottpreis in allen Winkeln Europas. Auch hatte er ein paar Dutzend jungen Malern zu Glück und Ansehen verholfen und besaß selbst ein großes Vermögen, das noch von Tag zu Tag wuchs.
Alle Angebote für sein Meisterwerk wies Morland zurück, bis nach der Ausstellung; der Gedanke, es herzugeben, war ihm von Herzen zuwider. Goldmirk kaufte ihm jedoch ein Schlachtgemälde ab, das der Künstler kurz zuvor gemalt hatte. Es war eine großartige Komposition von nur wenig kleinerem Format als jenes Gemälde und stellte den »Angriff der irländischen Brigade bei Fontenoy« dar. Bisher war es unverkauft geblieben, da sich die Engländer durch den Gegenstand in ihrem Stolz gekränkt fühlten. Jetzt hatte Goldmirk jedoch einen guten Preis dafür bezahlt. »Ein beliebter Künstler,« sagte er, »kann malen, was er will und findet immer Abnehmer. Sie werden jetzt gleich in die Mode kommen, mein junger Freund, das steht fest.«
Der Verkauf des Bildes wurde im Atelier durch ein kleines Abendessen gefeiert, bei dem außer Gottfried nur noch Ernst Beauchamp und Jakob Goldmirk zugegen waren. Die drei blieben bis zu später Stunde beisammen und zündeten keine Lampe an, denn das Licht des Vollmonds drang zu den großen Fenstern herein und warf einen magischen Glanz auf die Bilder rings an den Wänden.
Goldmirk befand sich in bester Laune; er schäumte über, wie der Champagner, dem er fleißig zusprach. Ernst Beauchamp dagegen war in einer etwas schwärmerischen Stimmung und stand lange am offenen Fenster, um »seine Seele im Mondlicht zu baden«, wie er sagte. Doch als es anfing, im Zimmer kühl zu werden, rief ihm Goldmirk zu, er möge das Fenster schließen und verriegeln.
»Ja, tue das,« fügte Gottfried hinzu, »sonst könnten am Ende Einbrecher kommen und mir mein Bild stehlen!«
Am nächsten Morgen fuhr Gottfried gleich nach dem Frühstück aufs Land. Er hatte versprochen, Alice abzuholen, damit sie sein Werk noch einmal im Atelier betrachten könne, ehe er es zum Einrahmen schickte.
Um elf Uhr war er von Hause fortgegangen und gegen halb Eins kam Herr Goldmirk, ihn zu besuchen.
»Ich will im Atelier auf die Rückkehr Ihres Herrn warten,« sagte der Kunsthändler zu dem Diener, der ihm erzählte, daß Gottfried auf einem Ausflug sei. Er legte seinen Überzieher ab, setzte sich bequem auf einen Stuhl vor das von ihm erstandene Schlachtgemälde, steckte seine Zigarre an und rauchte mit Behagen.
Als Gottfried zwei Stunden später mit Alice das Atelier betrat, fand er den Kunsthändler noch dort, einen dicken Katalog in der Hand und beschäftigt, die Preise der Bilder mit Bleistift zu notieren.
»Holla, Morland!« rief er aufspringend und sah den Künstler mit seinem runden, gutmütigen Gesicht von der Seite an. »Also haben Sie Ihr Meisterwerk doch schon zum Einrahmen geschickt. Entschuldigen Sie, erst jetzt sehe ich, daß Sie in Damengesellschaft sind. Gehorsamer Diener, Fräulein Lyle!«
Aber Gottfried hatte die letzten Worte bereits nicht mehr gehört. Ein rascher Blick verriet ihm, daß die Staffelei am andern Ende des Zimmers leer stand.
Sein Bild war fort!
»Mein Gott, es ist gestohlen worden!« stieß er keuchend hervor. Dabei sah er geisterbleich aus und Alice schmiegte sich zitternd an seinen Arm. Doch der scharfsinnige Goldmirk verlor die Besonnenheit nicht.
»Larifari, Morland!« rief er. »Machen Sie nur kein so verzweifeltes Gesicht, Fräulein Lyle. Ein großes Bild läßt sich nicht so leicht stehlen wie eine Briefmarke. Vielleicht hat man es nur etwas beiseite geschoben; wir wollen uns erst einmal umsehen.«
Der zuversichtliche Ton, mit dem er sprach, und seine vertrauensvolle Miene beruhigten Gottfried einigermaßen. Alle drei durchsuchten nun das Zimmer, doch ihre Hoffnung schwand bald. Das Bild ließ sich nirgends entdecken. Nur der große Blendrahmen, auf dem die Leinwand befestigt gewesen, lehnte ganz offen an der Wand. Man hatte das Bild nicht herausgeschnitten, sondern die Reißnägel entfernt und es vom Rahmen abgenommen; keine Spur der Leinwand war mehr übrig. Dicht am Fenster lag auf dem Boden ein Hammer, ein Schraubenzieher und eine scharfe Schere.
Gottfried, der ans Fenster getreten war, stieß plötzlich einen Schreckensschrei aus. Der Riegel war zurückgeschoben und vom Balkon hing ein Seil bis zur Straße hinab. An dem Seil war ein Schleifknoten, der offenbar von unten um eine der Spitzen des Eisengitters heraufgeworfen worden war. Die Art, wie man den Diebstahl verübt hatte, ließ sich somit leicht erkennen! aber wer war der Dieb? –
Gleich darauf machte Alice eine Entdeckung, die noch weit mehr Bestürzung hervorrief. Sie fand einen schönen großen Perlmutterknopf, der augenscheinlich zu dem braunen Samtwams gehörte, das Ernst Beauchamp gewöhnlich trug. Gottfried erkannte den Knopf auf den ersten Blick und nahm ihn Alice so zögernd aus der Hand, als könne er ihm die Finger verbrennen.
»Ich glaube es nun und nimmermehr!« rief er so heftig, als gelte es, eine unausgesprochene Anklage zu entkräften.
»Was glauben Sie nicht?« fragte Goldmirk, der rasch hinzutrat. Er sah den Knopf in Gottfrieds Hand mit argwöhnischen Blicken an. »Den hat wohl Herr Beauchamp von seinem Jackett verloren?«
»O nein,« rief Alice, »er hat es nicht getan! Ich kann es ihm nun und nimmermehr zutrauen.«
»Das werden wir bald sehen,« sagte Gottfried, an seinem Schreibtisch Platz nehmend.
»Was schreiben Sie da?« fragte Goldmirk.
»Ich teile Ernst mit, daß man mir das Bild gestohlen hat.«
»Halten Sie es denn aber für klug, ihn zu warnen?«
»Gewiß. Ich würde mein Leben dafür verbürgen, daß er kommt. Zugleich will ich aber auch ans Polizeiamt schreiben.«
»Warte noch einen Augenblick,« sagte Alice, ihm über die Schulter blickend. »Man hat mir so wunderbare Geschichten von der Geheimpolizistin Dora Myrl erzählt. Willst du dich nicht auch an sie wenden?«
So schrieb Gottfried denn noch einen dritten Brief, und Alice fügte die Adresse bei. Alle drei Botschaften wurden dann dem Diener übergeben, dem man befahl, eine Droschke zu nehmen, damit keine Zeit verloren gehe. Unterdessen suchte Alice weiter und fand auf dem Grund eines alten Schrankes eine Menge Streifen und Schnitzel von farbenbekleckster Leinwand, die mit einer scharfen Schere durchschnitten worden war. Einen Augenblick überlief es Gottfried kalt bei dem Gedanken, daß sein großes Gemälde in Stücke geschnitten worden sei. Aber bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, daß die Schnitzel kaum den zwanzigsten Teil des Bildes ausmachen würden, und man ließ sie ruhig liegen, wo sie waren.
Ernst Beauchamp kam zuerst hereingestürzt, bleich und ganz außer sich vor Erregung.
»Gestohlen!« rief er atemlos. »Wie ist denn das möglich? Es war ja noch da, als wir gestern hier zu Abend aßen. Wer ist denn seitdem im Atelier gewesen?«
»Ich,« sagte Goldmirk, sich zornig zu ihm wendend. »Zwei Stunden lang war ich hier, von zwölf Uhr an, bis Morland um zwei Uhr wiederkam. Ich habe das Zimmer keinen Augenblick verlassen. Der Diener kann es mir bezeugen.«
»Wozu das?« rief Ernst. »Niemand beschuldigt Sie, das Bild gestohlen zu haben.«
»Aber jemand hat es doch gestohlen,« sagte Goldmirk in anzüglichem Ton.
»Was wollen Sie damit sagen?«
Statt der Antwort deutete Goldmirk nach dem Perlmutterknopf, der auf dem Tisch lag. »Dies hier hat sich auf dem Fußboden im Atelier gefunden.«
Ernst wurde bleich und fuhr zusammen: »Mein Knopf!« stieß er keuchend heraus.
»Das Fenster war offen und ein Seil hing vom Balkon herab,« fuhr der Kunsthändler erbarmungslos fort.
»Gottfried – Alice – ihr werdet doch das nicht glauben?« rief Ernst entrüstet, und es klang wie ein Schluchzen aus seiner Stimme.
Bevor er noch eine Antwort erhielt, ging die Tür auf und der Polizeiinspektor Worral trat ein. Er schüttelte Goldmirk die Hand wie einem alten Bekannten; alle Welt kannte ja den Kunsthändler Goldmirk – und verbeugte sich vor den andern.
»Wir wollen sogleich an unser Geschäft gehen, wenn Sie nichts dagegen haben,« sagte der Inspektor lebhaft.
Mit methodischer Genauigkeit merkte er sich die verschiedenen Anhaltspunkte und Tatsachen, die ihm Goldmirk berichtete: alle einzelnen Vorkommnisse während des Abendessens, seinen eigenen Besuch im Atelier, das Verschwinden des Bildes und die verschiedenen Entdeckungen, die gemacht worden waren. Nur die zerschnittenen Leinwandstreifen erwähnte er nicht, weil niemand ihnen irgend welche Bedeutung beilegte.
Der Inspektor trat mit dem Perlmutterknopf in der Hand ans Fenster und untersuchte die Riegel.
»Von außen hat man es unmöglich aufmachen können, das ist klar,« sagte er; »stand es denn gestern abend offen?«
Gottfried mußte plötzlich an Ernsts »Bad im Mondlicht« denken, schwieg aber.
Beauchamp indes sagte ohne Zögern: »Ich war selber eine Weile am offenen Fenster; dann aber habe ich es zugemacht und verriegelt. Sie müssen sich doch noch daran erinnern, Goldmirk, und auch du, Gottfried?«
»Ich entsinne mich wohl, daß Gottfried Sie bat, die Riegel gut zuzumachen,« sagte Goldmirk bedächtig.
Der Inspektor trat von einem Fuß auf den andern und hustete verlegen. »Hoffentlich wird sich alles in befriedigender Weise aufklären,« sagte er, »daran zweifle ich gar nicht. Aber so wie die Sachen stehen, ist es meine Pflicht, Herr Beauchamp, Sie in Haft zu nehmen.« Und er legte dem jungen Maler seine Hand auf die Schulter. »Sie brauchen keinerlei Aussagen zu machen,« fuhr er in einförmigem Geschäftston fort, »denn was Sie äußern, könnte möglicherweise zu Ihrem Nachteil –«
»Erlauben Sie einen Augenblick, Herr Inspektor,« ließ sich hier eine klare, wohllautende Stimme vernehmen, und eine zierliche junge Dame trat am andern Ende des Zimmers hinter den Bildern hervor. Sie trug einen einfachen, aber kleidsamen Anzug aus dunklem Tartan, den eine leichte Spitzenrüsche am Halse abschloß, und ein Matrosenhütchen mit buntem Band.
»Fräulein Myrl!« rief Worral in höflichem, fast ehrerbietigem Ton, obgleich ihr plötzliches Erscheinen ihn nicht gerade angenehm zu überraschen schien.
»So heiße ich,« sagte sie freundlich, doch zuckte es dabei etwas spöttisch um ihre Lippen. »Ich konnte nicht gleich abkommen, da ich erst noch ein paar dringende Briefe zu schreiben hatte; doch bin ich dem Diener auf meinem Fahrrad gefolgt. Als ich eintrat, waren Sie alle so beschäftigt, daß Sie mich nicht kommen hörten; ich wollte die Unterredung nicht stören und habe nur Augen und Ohren offen gehalten.«
»Und was ist Ihre Ansicht, Fräulein Myrl?« fragte Worral zögernd.
»Ich bin noch nicht ganz entschieden, erst muß ich mich selber umsehen.« Sie warf einen Blick auf Hammer, Schere und Schraubenzieher, die auf dem Tische lagen, nahm den Perlmutterknopf in die Hand und lehnte sich über den Balkon hinaus, um das Seil zu untersuchen. Das alles geschah nur wie im Fluge. Dann schritt sie nach dem Kamin hin, betrachtete die Asche und zog ein paar halbverkohlte Leinwandstückchen heraus, auf denen Farbenkleckse waren. Diesen widmete sie eine so große Aufmerksamkeit, daß Alice schüchtern bemerkte: »Dort unten im Schrank habe ich noch eine ganze Menge ähnlicher Stücke gefunden.«
»So!« sagte Dora rasch. »Davon weiß ich ja gar nichts!«
Mit großem Eifer wühlte sie nun unter dem Häufchen von Leinwandschnitzeln, das ihr Alice zeigte. Schließlich warf sie alles heraus auf den Fußboden des Ateliers und fing an, die Stückchen zusammenzusetzen. Unter ihren geschickten Fingern nahmen sie rasch eine bestimmte Form an, und bald kniete Alice neben ihr auf dem Boden und half ihr, ohne ein Wort zu sagen, während die vier Männer als stumme Zeugen dabeistanden. Die Leinwandstreifen schienen ganz absichtlich kurz und klein geschnitten zu sein, aber die Ränder und Ecken dienten den Mädchen als Fingerzeig bei der Arbeit. Allmählich bildete sich aus den aneinandergepaßten Stücken die auf dem Fußboden ausgebreitete Form eines großen, etwa drei Zoll breiten Bilderrahmens, der nur an den Stellen, wo die Leinwand halb verbrannt war, Lücken zeigte.
Mit triumphierendem Blick sprang Dora in die Höhe.
»Nun,« scherzte Inspektor Worral, »haben Sie das Bild gefunden?«
»Freilich habe ich es gefunden,« erwiderte sie lächelnd.
Alle sahen sich mit unverhohlener Verwunderung in dem Atelier um.
»Gedulden Sie sich nur einen Moment!« sagte Dora. »Zuerst wollen wir uns mit diesen Dingen hier, dem Hammer, der Schere und dem Schraubenzieher beschäftigen. Weshalb sollte der Dieb die Instrumente wohl liegen gelassen haben, wenn er das Bild fortgeschafft hätte?«
»Sie meinen wohl, als er das Bild fortschaffte, Fräulein Myrl?«
»Auf die Worte kommt es so genau nicht an. Aber betrachten Sie einmal das Seil, Herr Inspektor. Sehen Sie, wie weich der Schleifknoten ist. Hätte sich ein Mann daran hinuntergelassen, so würde der Knoten steinhart sein.«
»Also glauben Sie wirklich –«
»Bitte, warten Sie. Zunächst kommt der Knopf an die Reihe. Dieser Punkt wird Ihnen am meisten einleuchten,« sagte sie, Alice zulächelnd. »Der Knopf ist nicht von selbst abgefallen, sondern abgeschnitten worden. Die Fäden stecken noch fest in den Löchern. Es läßt sich aber doch kaum annehmen, daß Herr Beauchamp seine eigenen Knöpfe abgeschnitten haben sollte, um sie im Atelier seines Freundes umherzustreuen, aus dem ein Bild gestohlen worden ist. Nun komme ich zu der Leinwand. Es wird ›heiß‹, wie die Kinder beim Versteckspiel sagen. Wären die zerschnittenen Streifen ganz bedeutungslos, so würde sich ein gewisser jemand nicht vergeblich bemüht haben, sie zu verbrennen, ehe er sie in den Schrank warf. Bitte, Herr Morland, sehen Sie einmal diesen Leinwandrahmen an und sagen Sie mir, ob er nicht ungefähr so groß ist wie das verlorene Bild? Ich habe Ihr Kunstwerk nie gesehen, wie Sie wissen; doch hoffe ich jetzt, bald dies Vergnügen zu haben. Der äußere Umfang muß, glaube ich, genau damit übereinstimmen. Aber ich will Sie nicht länger im unklaren lassen. Reichen Sie mir gefälligst den Schraubenzieher und den Hammer, die heute zum zweiten Male Dienste tun müssen.«
Mit den Instrumenten in der Hand trat Dora an das große Schlachtgemälde, welches Herr Goldmirk gekauft hatte, setzte sich auf den Stuhl, der noch davor stand, nahm die Reißnägel heraus und löste die Leinwand ab. Dahinter erschien auf dem Blendrahmen das gestohlene Bild sauber aufgezogen und an den Ecken abgerundet, damit diese nicht hervorsehen sollten.
»Aber,« rief Morland in maßlosem Erstaunen, »das Bild gehörte ja Goldmirk und sollte ihm zugeschickt werden. Da wäre mein Gemälde einfach mitgewandert. Also muß es doch Goldmirk gewesen sein –«
Er sah sich nach dem Kunsthändler um, aber der war inzwischen wohlweislich »verduftet«.