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Sie glich einem bunten Schmetterling im Blumengarten, und es kribbelte sie bis in die Fingerspitzen vor Unruhe und Aufregung. In dem großen Zimmer des großen Hauses der obern Belgravestraße, das jetzt wirklich einem Garten voller Blumenbeete ähnelte, war nur ein kleiner freier Raum gelassen, wo sie auf einem zweisitzigen Sofa allein saß und ungeduldig mit den Füßchen auf dem weichen Teppich trappelte. Das ganze übrige Zimmer stand voll langer, runder und ovaler Tische, die mit lauter hübschem Schmuck und Tand, wie ihn junge Mädchen lieben, über und über bedeckt waren. Mindestens ein halbes Dutzend der vornehmsten Juwelier- und Galanterieläden von Regent-Street schienen ihre Schaufenster hier ausgeleert zu haben. Die Tische strahlten von Silber, Gold und Edelsteinen; schwere, bunte Seidenstoffe, gemalte Fächer, zierliche Vasen und kostbare Porzellanservice sah man, wohin das Auge blickte.
Lilian Ray und Sydney Harcourt sollten nämlich die nächste Woche Hochzeit halten; in ganz London gab es kein interessanteres Brautpaar. Mit ihrem hübschen Gesicht und ihrem liebenswürdigen Wesen hatte sich Lilian die Herzen im Sturm erobert, und daß der gutherzige, aber heißblütige Harcourt über Hals und Kopf in sein Verderben gerannt wäre, wenn sie ihn nicht noch rechtzeitig festgehalten hätte, wußte alle Welt. So fand denn die Verlobung jedermanns Beifall, und während der drei letzten Wochen waren die Hochzeitsgeschenke von allen Seiten herbeigeströmt und hatten das vordere Wohnzimmer förmlich überflutet.
Daß Lilian sich in großer Aufregung befand, war sehr begreiflich, denn sie erwartete ihren Bräutigam, der ihr die berühmten Harcourtschen Diamanten bringen sollte, die seit einem halben Jahrhundert in der vornehmen Welt Londons mit Entzücken und heimlichem Neide betrachtet wurden. Aus ihrem dunkeln, aber sichern Verließ in der Bank waren die funkelnden Edelsteine nach Herrn Ophirs Juwelierladen in Bond-Street geschafft worden; denn ihre Fassung war zu altmodisch, und es sollte zugleich untersucht werden, ob die zierlichen silbernen Klammern, die die kostbaren Steinchen umfaßten, auch noch ihre Pflicht und Schuldigkeit thäten. Um die glänzende Pracht in bestem Lichte zu zeigen, war obendrein ein funkelnagelneues Etui für den Schmuck bestellt worden.
An der Straßenthür klingelt es und Lilian fliegt ans Fenster; doch gleich wendet sie wieder ärgerlich den Kopf wie ein verwöhntes Kind. »Noch ein Reisesack – das ist der siebente – bei zweien ist Schloß und Bügel von Gold. Dort stehen sie alle in Reih und Glied und sperren die goldenen und silbernen Zähne auf. Wie können nur die Leute denken – –«
Sie vollendete den Satz nicht, denn eben kam eine Droschke rasch um die Ecke gefahren und sie erblickte ein junges strahlendes Gesicht und ein flaches Päckchen; dann sank sie wieder aufs Sofa zurück und holte tief Atem. Es klingelte wieder; jemand stürmte die Treppe herauf, immer vier Stufen auf einmal. Sie kannte den Schritt, saß aber mäuschenstill. Im nächsten Augenblick stand er im Zimmer. Ihre Augen hießen ihn willkommen, aber ihre Lippen schmollten: »Du kommst zehn Minuten zu früh, Sydney, und ich habe so viel zu thun. Was bringst du mir denn da?«
»O du kleine Heuchlerin! Und dabei sehnst du mich schon seit einer Stunde mit den Diamanten herbei. Ich habe nicht übel Lust, sie wieder fortzutragen.«
Er saß schon neben ihr, hatte den rechten Arm um sie geschlungen und hielt das Juwelenkästchen in seiner Linken weit weg von ihr. Errötend und lachend machte sie sich los, um die Diamanten zu erhaschen. Doch er kam ihr zuvor. Rasch sprang er auf und hielt das Etui acht Fuß hoch in die Luft. Lilian stellte sich auf die Fußspitzen; mit einer Hand konnte sie seinen Ellbogen erreichen, mit der andern griff sie ihm in die braunen Locken und machte sich zum Sprung bereit. Dabei kam sie seinem Gesicht zu nah und konnte sich nicht wehren. Die Folgen waren unvermeidlich.
»O, du böser Mensch!« rief sie unwillkürlich in ihrer Ueberraschung.
»Vorausbezahlung,« erwiderte er lachend und legte ihr das kostbare Etui in die Hand. »Es stimmt nicht ganz, das gestehe ich ein: doch bin ich bereit, dir herauszugeben, soviel du willst.«
Lilian war mit ihrem Schatz nach dem Sofa entflohen.
»Nun sei einmal einen Augenblick vernünftig und reiche mir die Schere, die dort in dem Arbeitskörbchen neben der eingerahmten Photographie auf dem Tisch liegt.«
Das Etui war in hellbraunes Papier gewickelt, mit Bindfaden verschnürt und fest zugesiegelt. Hastig zerschnitt sie die Schnur, ohne die großen roten Siegel zu verletzen, und ließ die Papierhülle auf den Teppich fallen.
Aus dem weichen weißen Seidenpapier kam das neue Etui von hellbraunem Saffian zum Vorschein, auf dem ein verschlungenes L. H. in goldenen Buchstaben prangte. Lilian stieß einen leisen Freudenschrei aus; die Diamanten waren nun wirklich ihr Eigentum. Der glückliche Bräutigam neben ihr sah sie liebevoll an, wie man ein hübsches spielendes Kind betrachtet, und that, als wolle er ihr den Schmuck entreißen. Doch sie hielt ihn fest, zögerte noch einen Augenblick, holte tief Atem, um sich auf den entzückenden Anblick vorzubereiten, und öffnete das Etui. – Es war leer!
Das Futter von violettem Samt mit dem erhöhten Mittelpunkt sah nur etwas zerknittert aus, wie ein Bett, in dem jemand gelegen hat. Das war alles. Lilian schaute ihren Bräutigam halb belustigt, halb vorwurfsvoll an; sie dachte, er habe ihr einen Streich gespielt. Doch er machte ein erschrecktes und überraschtes Gesicht.
»Was soll das heißen, Sydney? Treibst du Scherz mit mir?« fragte sie.
»Ich begreife es nicht, Lily,« versetzte er mit völlig veränderter Stimme. »Es ist mir unfaßlich. Ich bringe dir das Etui, wie Herr Ophir es mir übergeben hat. Er sagte, er habe die Diamanten hineingelegt und das Paket eigenhändig versiegelt. Sieh nur,« sagte er, das Papier vom Boden aufhebend, »die Siegel sind noch unverletzt. Seitdem hat es kein Mensch berührt außer dir und mir, aber die Diamanten sind fort! Dem alten Ophir würde es auch nicht im Traum einfallen, mir solchen Streich zu spielen. Und doch weiß ich keine andre Erklärung, als daß er ... Nein, das wäre zu abgeschmackt. Er ist ein ungeheuer reicher Mann und so zuverlässig wie die Bank von England. Noch als er mir das kostbare Paket einhändigte, hat er mich zur Vorsicht ermahnt: ›Das Etui hat einen Wert von zwanzigtausend Pfund, Herr Harcourt,‹ sagte er, ›geben Sie es nicht aus der Hand, damit es nicht Schaden leidet.‹ Natürlich folgte ich seinem Rat, und trotzdem sind die Diamanten aus dem Etui und dem versiegelten Papier spurlos verschwunden.«
Er starrte trübsinnig auf das violette Samtfutter: »Ich muß gleich mit Herrn Ophir sprechen.«
»O Sydney, laß mich nicht allein!«
»Nun, dann will ich ihm schreiben. Die Sache wird wohl auf einem lächerlichen Mißverständnis beruhen. Vielleicht hat er mir ein falsches Etui gegeben oder jemand hat ein leeres Etui untergeschoben, während Ophir einen Augenblick wegsah. Wir werden uns wohl an einen Geheimpolizisten wenden müssen. Das will ich ihm auf der Stelle vorschlagen. Wo kann ich ein paar Zeilen schreiben?«
»Dort auf dem Tisch steht eine ganze Reihe von Tintenfässern.«
Lilian schob ihm ein zierliches Schreibzeug aus Perlmutter und Schildkrot hin. Die in Silber gefaßten Behälter waren mit wohlriechender Tinte gefüllt. »Schaff mir doch ordentliche Tinte, Lily«, sagte Harcourt in so gereiztem Ton, wie sie ihn noch nicht an ihm kannte, und mit einer Ungeduld, die zu seinem stets sonnigheiteren Wesen durchaus nicht paßte, »mit diesem Zeug kann ich unmöglich an den alten Ophir schreiben.«
Sie glitt geräuschlos zum Zimmer hinaus, und als sie gleich darauf wieder eintrat, saß Harcourt auf dem Sofa und hatte die Papierhülle mit den Siegeln und den Bindfaden in der Hand. »Unbegreiflich!« murmelte er. »Es ist, als wären sie in der Luft verschwunden. Aber wenn uns irgend jemand helfen kann, so ist es der alte Ophir.«
Harcourt brummte erst ein wenig darüber, wie unbrauchbar Tinte und Papier der Damen sind, dann schrieb er:
»Geehrter Herr Ophir!
»Ich habe Ihnen etwas sehr Merkwürdiges mitzuteilen: Nachdem Sie mir das Etui übergeben hatten, bin ich damit geradeswegs nach der Belgravestraße zu Fräulein Ray gefahren, die in meiner Gegenwart die Schnur zerschnitten hat, ohne die Siegel zu erbrechen. Zu unsrer größten Ueberraschung fanden wir indes keine Diamanten darin. Es muß irgend ein Irrtum vorgefallen sein. Vielleicht sind Sie im stande, das Rätsel zu lösen. Falls Sie Unredlichkeit argwöhnen, bitte ich Sie herzlich, einen Geheimpolizisten anzunehmen. Der Kutscher soll auf Antwort warten.
In Eile
Ihr ergebener
Sydney Harcourt.«
Er lief selbst die Treppe hinunter und rief eine Droschke an, die langsam die Straße daherfuhr. Wie der Wind kam der Kutscher vorgefahren und warf fast einen Bettler um, der am Hause dicht neben dem Prellstein herumlungerte.
»Hier, Kutscher, bringen Sie dies Briefchen zu Herrn Ophir in der Bondstraße. Die Adresse steht auf dem Umschlag. Warten Sie auf Antwort. Ich zahle die doppelte Taxe, wenn Sie rasch wiederkommen.«
Der Kutscher nahm den Brief in Empfang, legte die Hand an den Hut und jagte fort wie der Pfeil vom Bogen.
Harcourt warf dem scheltenden Bettler einen Schilling hin und schlug die Thür zu. Hätte er noch eine Sekunde verweilt, so würde er gesehen haben, wie der Bettler in größter Schnelligkeit davonlief und um die Ecke verschwand.
»O Sydney, mach doch kein so trostloses Gesicht,« flehte Lilian, deren neckische Laune verflogen war. »Es wird sich ja alles aufklären. Geschieht es aber nicht, so macht mir das auch keinen Kummer. Dein Vater liebt uns beide viel zu sehr, um ernstlich böse zu werden. Du kannst ja auch überhaupt nichts dafür.«
»Ja, siehst du, Lily, die verteufelten Dinger – verzeih, aber ich bin ganz außer mir – sie sind nun doch einmal aus meinen Händen verschwunden. Wer sie in seinen Besitz bekommen hat, kann hohe Summen daraus lösen. Ich habe früher etwas toll gewirtschaftet, ehe ich dich kennen lernte, liebes Herz, und viele glauben, ich hätte über meine Mittel gelebt. Natürlich werde ich ins Gerede kommen, und mich soll's nicht wundern, wenn böse Zungen sagen – nein, das will ich lieber nicht aussprechen; mich kümmert's auch keinen Pfifferling. Du selbst wirst nur immer Gutes von mir denken und reden, und ich möchte um alle Diamanten von Golkonda keine Wolke auf deiner schönen Stirn und keine Thräne in deinen blauen Augen sehen. Mögen die kostbaren Steine zum Kuckuck fahren – hier ist ein stärkerer Magnet.«
Die Liebe ist eine allmächtige Zauberin. In fünf Minuten hatte das Brautpaar die Diamanten so gänzlich aus dem Sinne gelassen, wie sie aus dem Etui verschwunden waren. Erst als eine Droschke angerasselt kam und vor der Thür hielt, wurden sie wieder in die Alltagswelt zurückversetzt.
Ein Diener trat ein und brachte auf einem silbernen Teller eine nicht sehr saubere Visitenkarte. Harcourt nahm sie in Empfang und Lilian, die ihm über die Schulter sah, las den Namen
Paul Beck
Privatdetektiv.
»Wie sieht er aus, Tomlinson?«
»Ein starker Mann in grauem Anzug. Kommt mir nicht sehr gescheit vor.«
»Laß ihn heraufkommen.«
»Was soll das heißen? Wer kann es sein?« murmelte Harcourt unruhig, als der Diener fort war. »Der Mann kann unmöglich schon von Ophir zurückkommen, geschweige daß dieser in so kurzer Zeit hätte einen Geheimpolizisten auftreiben können. Daraus werde ein andrer klug.«
»Weißt du, er kam angefahren wie der Wind. Und wir wundern uns ja immer, wie schnell die Zeit vergeht, wenn wir von unserer Zukunft reden.«
Jetzt machte der Diener die Thüre weit auf, um Herrn Paul Beck anzumelden. Der Detektiv schien alles Aufsehen vermeiden zu wollen. Er kam ganz leise ins Zimmer geschlichen und stellte sich so viel wie möglich mit dem Rücken gegen das Licht, als sei ihm die Heimlichkeit zur Gewohnheit geworden. Der vierschrötige Mann im dunkelgrauen Anzug machte eher den Eindruck eines ehrbaren Milchhändlers, der sich zur Ruhe gesetzt hat, als eines Geheimpolizisten. Ein rötlicher Backenbart umrahmte sein blühendes Gesicht, und das hellbraune Haar kräuselte sich wie die Locken eines Pudels. Seine großen blauen Augen schauten verwundert drein und er lächelte so unschuldig wie ein Kind.
Lilian glaubte zu bemerken, daß er beim Eintreten einen raschen scharfen Blick nach dem Tisch hin warf, wo das leere Schmucketui lag, und auf die Papierhülle am Boden. Aber der lebhafte Ausdruck war gleich wieder aus seinem Gesicht verschwunden, wie der Schein eines erlöschenden Lichts.
Harcourt kannte den Mann seinem Rufe nach als einen der geschicktesten Geheimpolizisten Londons, von dem man wußte, daß er schon Rätsel gelöst hatte, an denen alle Künste der Polizei gescheitert waren. Nach seinem Aeußern zu urteilen, hätte man das kaum für möglich gehalten.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Beck«, sagte er. »Vermutlich kommen Sie wegen – – –«
»Wegen der Diamanten,« fiel ihm jener rasch ins Wort. »Ich war glücklicherweise gerade bei Herrn Ophir, als Ihr Zettel eintraf, und er forderte mich auf, den Fall zu übernehmen. Ihr Droschkenkutscher hat sich möglichst beeilt, und hier bin ich.«
»Die Thatsachen sind Ihnen bereits mitgeteilt.«
»In aller Kürze.«
»Und Sie glauben – – –«
»Ich glaube nicht, ich weiß, wie und wo ich der Diamanten habhaft werden kann.«
Er sprach sehr zuversichtlich, und es kam Lilian vor, als spiele ein Lächeln um seinen unschuldvollen Mund, während er ein Auge halb zukniff.
»Das freut mich ja von ganzem Herzen«, sagte Harcourt. »Die Sache macht mir große Sorge. Hat Herr Ophir vielleicht eine Vermutung geäußert – – –«
»Nein; daran lag mir auch nichts,« fiel Beck wieder ein. »Zum Reden ist keine Zeit. Es gilt der frischen Spur zu folgen. Ist dies hier das Diamantenetui?«
»Ja,« sagte Harcourt, während er es in die Hand nahm und öffnete, »ganz so leer, wie es herkam.«
Beck schloß das Etui rasch wieder und steckte es in die Tasche. »Dort liegt wohl das Papier und der Bindfaden der Verpackung?«
Harcourt nickte und jener hob beides sorgfältig auf und steckte es in seine andre Tasche.
»Wie Sie sehen, sind die Siegel noch unerbrochen,« bemerkte Harcourt. »Den Bindfaden hat Fräulein Ray entzweigeschnitten, aber als sie –«
»Ich empfehle mich Ihnen, Herr Harcourt,« unterbrach ihn der Geheimpolizist ohne weitere Förmlichkeit. »Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein.«
»Haben Sie denn alle nötigen Erkundigungen eingezogen?« fragte Harcourt erstaunt. »Unmöglich können sie doch schon den Schlüssel gefunden haben.«
»Ich habe alles gefunden, was ich suchte und wollte. Wie ich den Dieb fangen kann, ist mir ganz klar. Sobald ich Ihnen Neues zu berichten habe, werde ich schreiben. Einstweilen sage ich Ihnen lebewohl.«
Er hatte augenscheinlich große Eile, sein Werk in Angriff zu nehmen. Noch bevor Harcourt ein Wort erwidern konnte, war er zum Zimmer hinaus und die Treppe hinunter. Die Hausthür selber öffnend, sprang er in die Droschke, die er hatte warten lassen, und der Kutscher jagte davon, daß die Funken stoben.
Noch war er nicht fünf Minuten fort, als von der entgegengesetzten Seite der Straße her abermals eine Droschke angerasselt kam.
Lilian und Sydney hatten sich noch kaum von ihrer Verwunderung über den kurzen Abschied des Geheimpolizisten erholt, als Tomlinson wieder mit einer, diesmal makellosen, Visitenkarte erschien, auf der
Paul Beck
Privatdetektiv
stand.
Harcourt fuhr erstaunt in die Höhe und Lilian sah halb überrascht halb belustigt aus.
»Ist es derselbe Mann, Tomlinson?«
»Jawohl. Aber er scheint mir ein sehr zerstreuter Herr zu sein. ›Ist in der letzten Viertelstunde jemand hier gewesen?‹ fragte er wie atemlos, als ich ihm aufmachte. ›Sie selbst waren doch vor kaum fünf Minuten hier,‹ sagte ich. ›Wirklich?‹ rief er und lachte dabei ganz sonderbar. ›Sind Sie Ihrer Sache auch gewiß – und bin ich jetzt hier?‹ Ich sah ihn scharf an, aber er schien ganz nüchtern zu sein. ›Freilich sind Sie hier,‹ sagte ich, ›Sie stehen ja in ganzer Person vor mir.‹ – ›O, ich meine nur, ob ich überhaupt fortgegangen bin?‹ – ›Sie sind in einer Droschke weggefahren, was die Pferde laufen konnten,‹ antwortete ich, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen, denn er machte ein ganz ernsthaftes Gesicht und sah ordentlich betreten aus, als ich die Droschke erwähnte. ›Schade, schade,‹ murmelte er, ›ich bin zehn Minuten zu spät gekommen. Doch das läßt sich eben nicht ändern. Bringen Sie nur die Karte hinein, mein Lieber.‹ – Wollen Sie ihn empfangen, Herr Harcourt?«
»Natürlich.«
»Wie merkwürdig!« rief Lilian. »Er kann doch die Diamanten nicht in fünf Minuten gefunden haben.«
»Vielleicht hat er doch eine Spur entdeckt. Daß er draußen in der Vorhalle den braven Tomlinson zum besten gehabt, beweist, daß er über irgend etwas sehr guter Laune ist. Ich hätte dem alten Burschen solche Späße wahrhaftig nicht zugetraut.«
»Herr Paul Beck,« meldete der Diener.
In dem Wesen des Geheimpolizisten war eine gewisse unbeschreibliche Veränderung bemerkbar. Seine Bewegungen waren weniger plötzlich, sein Gang nicht so schleichend; auch stellte er sich nicht immer absichtlich mit dem Rücken gegen das Licht.
»Sie kommen rasch zurück, Herr Beck,« sagte Harcourt. »Haben Sie eine Spur gefunden?«
»Ich wäre gern fünf Minuten früher gekommen,« versetzte der Geheimpolizist mit völlig veränderter Stimme. »Leider habe ich die Fährte verloren und muß mich erst zurechtfinden. – Wo ist das Diamantenetui?«
»Das habe ich Ihnen ja selbst vor fünf Minuten gegeben.«
»Mir?« fragte Beck, besann sich aber und verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das fast aussah wie eine Grimasse. »Jawohl, Sie haben es mir gegeben. Und was habe ich denn damit gethan?«
»Ich verstehe Sie ganz und gar nicht.«
»Das ist auch unnötig! Sie brauchen mir nur zu antworten.«
»Entschuldigen Sie, Herr Beck, dies ist nicht der Augenblick für schlechte Späße, und ich bin auch durchaus nicht dazu aufgelegt.«
»Sie werden später schon noch einsehen, daß ich keinen Spaß mit Ihnen getrieben habe, Herr Harcourt. Dem Spaßmacher aber hoffe ich noch tüchtig heimzuleuchten. Uebrigens komme ich von Herrn Ophir.«
»Das haben Sie mir schon einmal gesagt.«
»So, dann wiederhole ich es eben. Herr Ophir hat mich beauftragt, die verlorenen Diamanten zu finden, und ich erlaube mir die höfliche Frage, was aus dem Etui geworden ist.«
»Genau das, was Sie selbst damit gemacht haben.« Harcourt wurde rot vor Aerger über diese kaltblütige Frechheit; aber Lilian schlug sich ins Mittel.
»Sie haben es in die Tasche gesteckt und mit fortgenommen, Herr Beck.«
»Hatte ich große Eile?«
»Sie nahmen sich keinen Augenblick Zeit.«
»War ich genau so gekleidet wie jetzt?«
»Auf ein Haar.«
»Und auch mein ganzes Aeußeres war ebenso?«
»Vollkommen.«
»Sowohl die Gestalt wie das Gesicht?«
»Mir scheint, Sie haben jetzt weniger Kunst aufgewendet.«
»Kunst? Was wollen Sie damit sagen, Fräulein?«
»Nun, es kam mir so vor, als hätten Sie sich verschönern wollen. Ihre Wangen sahen aus wie geschminkt.«
»Und stellte ich mich immer mit dem Rücken gegen das Licht?«
»Wie gut Sie sich daran erinnern!«
Beck lachte; Harcourt aber brach zornig los: »Glauben Sie nicht, daß es jetzt genug ist mit der Narretei?«
»Mehr als genug,« gab Beck ruhig zur Antwort. »Ich habe die Ehre, Ihnen guten Morgen zu wünschen, Herr Harcourt; auch Ihnen, gnädiges Fräulein!« Und als er sich an Lilian wandte, lag offenbare Bewunderung im Ton seiner Stimme.
»O Sydney,« rief sie, sobald die Thüre sich hinter jenem geschlossen hatte, »ich bin noch durch und durch erschüttert. Ein so verworrenes Geheimnis ist noch nie dagewesen. Welcher von ihnen mag nur der richtige Herr Beck sein?«
»Welcher? Was in aller Welt meinst du denn? Mir ist schon so wie so ganz schwindelig zu Mute. Beide sind jedenfalls derselbe Herr Beck – der richtige oder falsche, wofür du ihn nun halten magst.«
Unterdessen fuhr Beck in schnellstem Trabe nach Herrn Ophirs Wohnung in der Bondstraße zurück. Er fand den angesehenen Juwelier in seinem kleinen Bureau hinter dem von Edelsteinen funkelnden Laden, doch schien ihn seine gewöhnlich so würdevolle Haltung verlassen zu haben.
»Nun, was bringen Sie?« fragte er in großer Aufregung, nachdem der Geheimpolizist die Thür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte.
»Ich glaube, ich bin dem Diebe auf der Spur, wenigstens kann ich mit ziemlicher Gewißheit sagen, in wessen Händen die Diamanten sind.«
»Herr Harcourt hat ein etwas ausschweifendes Leben geführt, ehe es zu dieser Verlobung kam,« sagte Ophir in unsicherem Ton und mit verlegenem Lächeln.
»Von wem haben Sie das neue Etui machen lassen?« fragte Beck, dem Gespräch ganz unvermittelt eine andre Wendung gebend.
»Hm – ja so – von Smithson, einem sehr geschickten und zuverlässigen Meister. Der schon seit zwanzig Jahren für mich arbeitet. Das Etui war ganz vorzüglich angefertigt.«
»Wer hat es Ihnen überbracht?«
»Einer von Smithsons Leuten.«
»Sagten Sie nicht, der Mann habe zugesehen, wie Sie die Diamanten in das Etui legten und das Paket zusiegelten?«
»Ja, er stand nur ein paar Schritte entfernt. Auch zwei von meinen eigenen Angestellten waren zugegen. Wenn Sie diese etwa befragen möchten, will ich Carton und Cuison gleich rufen lassen.«
»Nein, daran ist mir einstweilen nichts gelegen. Aber um Smithsons Adresse möchte ich Sie bitten, Herr Ophir. Vermutlich würde es uns von Nutzen sein, wenn wir seines Boten habhaft werden könnten.«
»Das bezweifle ich sehr, Herr Beck, denn es war ein ganz gewöhnlicher Arbeiter. Meine eigenen Leute wären weit zuverlässigere Zeugen. Vielleicht dürften Sie auch Mühe haben, ihn zu finden. Doch darüber kann ich Ihnen natürlich keine bestimmte Auskunft geben.«
Der alte Herr sah ganz erhitzt und aufgeregt aus, was den Detektiv sichtlich wunder nahm. »Besten Dank für Ihren Rat, Herr Ophir,« sagte er. »Ich ziehe es jedoch vor, auf meine Weise ans Werk zu gehen.«
Zwanzig Minuten später stand der unermüdliche Paul Beck schon in Smithsons Werkstatt, um den Meister auszufragen; allein es führte zu nichts. Der Mann, der Herrn Ophir das Etui überbracht hatte, war zugleich der Verfertiger. Einen geschickteren Arbeiter hatte Smithson noch nie gehabt: er hieß Mulligan und war erst vor zehn Tagen bei ihm eingetreten. Ob er aus Irland oder Holland stammte, wußte der Meister nicht; jedenfalls verstand er sein Gewerbe. Mulligan mochte sich wohl in bedrängter Lage befinden, denn er verlangte keinen hohen Lohn. Doch war er kaum eine halbe Stunde in der Werkstatt gewesen, da zeigte er schon, was er leisten konnte; deshalb hatte ihn auch Smithson das Etui zu den Harcourt-Diamanten anfertigen lassen, als die Bestellung kam. Den ganzen Tag über war er damit beschäftigt gewesen; abends nahm er dann das Etui mit nach Hause und brachte es am andern Morgen fertig zurück. »So schnell und gut hat mir noch niemand eine Arbeit geliefert,« schloß der Meister seinen Bericht.
»Aber wie hat er das angestellt? Sie haben ihn doch die Diamanten nicht nach Hause nehmen lassen?«
»Wo denken Sie hin!« rief Smithson eifrig und warf einen verwunderten Blick auf den großen Detektiv, der mit dem unschuldvollsten Ausdruck vor ihm stand, ohne eine Miene zu verziehen. »Die Diamanten hat er nicht zu Gesicht bekommen; davon war keine Rede.«
»Wie hat er denn aber ein passendes Etui machen können?«
»Nach unserm Modell – dem alten Etui.«
»Haben Sie das noch hier?« Bei dieser Frage verriet Herr Beck zum erstenmal ein lebhaftes Interesse.
»Ja, ich glaube, es muß noch irgendwo sein. Ich will gleich nachsehen.«
Gleich darauf kehrte er mit einem abgescheuerten und verschossenen Schmucketui aus vormals dunkelgrünem Saffianleder zurück, dessen inwendiger weißer Samtbezug vor Alter gelb geworden war.
»Hier ist das Modell, Herr Beck. Der erhöhte Mittelpunkt war für den großen Stern bestimmt und ringsum in die Vertiefung kam das Halsband zu liegen.«
»Ganz richtig!« versetzte Beck. Er legte für seine gewöhnlich sehr ruhige Art merkwürdig viel Ausdruck in diese Worte.
»Nicht wahr, Sie können mir das alte Etui überlassen?« fragte er nach einer Pause.
»Gewiß. Herr Ophir wird nichts dagegen haben.«
»Sagen Sie einmal, Smithson,« begann Beck wieder, »hat nicht jener Mulligan – so hieß er ja wohl? – sich auf Herrn Ophir berufen?«
»Freilich; das fällt mir erst jetzt wieder ein. Als er zu mir kam, erkundigte er sich, ob ich nicht für Herrn Ophir arbeite: es schien ihm sehr daran gelegen zu sein. Er wußte viel Gutes von Ophir zu sagen und meinte, wenn ich wollte, könnte er sich wohl eine Empfehlung von ihm geben lassen. Doch ich verlangte es nicht; Mulligans Arbeit war mir Empfehlung genug. So halte ich es in meinem Geschäft.«
Der Geheimpolizist steckte das Etui in die Rocktasche und näherte sich der Thüre. Auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen.
»Besten Dank für die Auskunft, Smithson. Nicht wahr, am Nachmittag ist Mulligan nicht zur Arbeit gekommen?«
»Woher wissen Sie denn das, Herr Beck? Ich habe ihm eine Extravergütung für seinen Fleiß gegeben, und da wird er sich wohl einen vergnügten Nachmittag gemacht haben, fürchte ich. Einem Irländer sieht das ähnlich. Aber wie sind Sie nur darauf gekommen?«
»Herr Ophir äußerte etwas derart.«
»Morgen ist er aber sicher wieder da, denn ich habe ihm den doppelten Lohn versprochen. Zuerst nahm ich ihn sozusagen nur auf Probe an. Um acht Uhr morgens werden Sie ihn finden, doch kann ich Ihnen auch seine Adresse geben, falls Sie ihn früher zu sprechen wünschen.«
»Sie sind sehr freundlich, aber ich fürchte, es würde mir wenig nützen. Wenn ich ihn brauche, werde ich ihn schon zu finden wissen. Vielleicht bekomme ich ihn früher zu sehen als Sie. An Ihrer Stelle würde ich mich nicht zu fest darauf verlassen, daß Mulligan morgen wieder in die Werkstatt kommt.«
Beck hatte seine Droschke fortgeschickt, als er bei Smithson eintrat. Jetzt war er nur noch wenige Straßen vom »Strand« entfernt und schlenderte langsam nach dieser Richtung hin. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er an einer belebten Straßenkreuzung fast überfahren worden wäre. »Ja, der ist mein Mann,« murmelte er vor sich hin; »er muß mir helfen, mag er wollen oder nicht. Schon oft hat er mich auf die Sprünge gebracht, der Schlaufuchs; so viel stand freilich noch nie auf dem Spiel. Was könnte der nicht alles leisten, wenn er in unsern Verband träte; Satan selbst ist nur ein Dummkopf gegen ihn. Aber er will seine Freiheit nicht aufgeben, was übrigens nach meinem Dafürhalten ein Fehler von ihm ist. Jedenfalls wäre er der bedeutendste Geheimpolizist seines Jahrhunderts. Eifersucht kann mir wenigstens niemand vorwerfen; und wenn er mir beisteht, dieses Geheimnis zu enträtseln, werde ich schon dafür sorgen, daß seine Verdienste auch anerkannt werden.«
Beck schmunzelte wohlgefällig, als hätte er einen guten Witz gemacht; dann blieb er plötzlich stehen und sah auf eine Kirchenuhr.
»Wie rasch heute die Zeit vergeht. Schon vier Uhr! Da treffe ich ihn gerade am alten Ort.«
Mit doppelter Geschwindigkeit schritt er nun weiter, als hätte er Siebenmeilenstiefel an den Füßen, um Simpsons am »Strande« gelegenes Restaurant so rasch als möglich zu erreichen.
Wir müssen dem Mann, den Paul Beck aufsuchen wollte, zuvor noch einige Worte widmen. Monsieur Grabeau war damals eine sehr beliebte Persönlichkeit in London, wo man ihn häufig zu Gesellschaften einlud, um die Gäste zu unterhalten. Etwas schüchtern von Natur, konnte er weder singen noch öffentliche Reden halten; er vereinigte jedoch alle Künste einer Varietätenbühne in seiner Person. Als Mime, Bauchredner, Verkleidungskünstler leistete er Vorzügliches, aber vor allem war er Taschenspieler. Mit Kartenblättern führte er Manöver aus wie ein Hauptmann mit seinen Soldaten; sie gehorchten seinem Kommando gleich denkenden, lebenden Wesen.
Eine wahrhaft unglaubliche Geschicklichkeit und Erfindungskraft entfaltete er aber bei der Verfertigung mechanischer Spielzeuge und Attrappen. So hatte er zum Beispiel eine Puppe erdacht und ausgeführt, in deren Innerem sich ein Phonograph befand. Sie sang nicht nur: »O du mein Heimatland!« mit vollkommen natürlicher Betonung, sondern ahmte auch die Mienen und Gebärden einer damals allgemein beliebten Sängerin so täuschend nach, daß böse Zungen – meist Nebenbuhlerinnen – sogar behaupteten, das Original sei viel hölzerner als die Kopie.
Beck hatte Monsieur Grabeaus Vorstellungen bei Gelegenheit von Gesellschaften mit angesehen, wo man es für klug hielt, einen Geheimpolizisten entweder als Bedienten oder als Musiker verkleidet zur Stelle zu haben. Die Beiden hatten Bekanntschaft gemacht und waren mit der Zeit gute Kameraden, wenn nicht Freunde geworden. Der Franzose konnte Gaboriaus sämtliche Kriminalromane fast auswendig und empfand das brennendste Interesse für Paul Becks Beruf.
»Die Geschichten sind nur zu künstlich,« pflegte er zu sagen. »Die Art, wie der Knoten am Anfang geschürzt wird, ist unübertrefflich; aber die Lösung ist weniger gut. Man sollte sie so entwirren können!« Dabei hielt er einen ganz verknoteten Strick in die Höhe, den er im nächsten Augenblick vollkommen glatt vorzeigte. Das war eins von seinen Kunststücken. »Aber das Leben, das der Detektiv führt, hat großen Reiz. Es ist besser als eine Fuchsjagd – er kann Menschen jagen, schlaue Menschen, die fortlaufen, Kreuz- und Quersprünge machen, sich verstecken oder zur Wehr setzen. Ein herrliches Leben, meiner Treu!«
»Der Mann geht zu Grunde, er läßt seine Fähigkeiten brach liegen,« murmelte Beck oft unzufrieden, wenn der Franzose einmal wieder eine fast unsichtbare Fährte für ihn entdeckt hatte. »Eine Sünde und eine Schande ist es – den besten Detektiv im ganzen Stabe könnte er abgeben, statt dessen vertändelt er seine Zeit mit allerlei Possen und Taschenspielerkünsten und läßt sich nicht bekehren.«
Natürlich war es Becks erster Gedanke, seinen Freund zu Rate zu ziehen, als er das unerklärliche Rätsel lösen sollte, wie die Diamanten verschwunden waren.
»Hoffentlich treffe ich ihn hier,« dachte er und trat in Simpsons Restaurant. Grabeau saß wirklich auf seinem gewohnten Platz an einem Ecktisch vor einer Schüssel mit englischem Roastbeef, das ihm trefflich mundete. Er war ein breitschulteriger, gutmütiger Mann mit scharfen Augen, kurzgeschorenem schwarzem Haar und blassem Gesicht.
Als Beck eintrat, legte er das Zeitungsblatt hin, in dem er soeben aufmerksam gelesen hatte. »Oho, Sie sind's! Bon soir, Monsieur Beck. Wohl und munter, wie ich sehe!«
Der Detektiv hing seinen Hut auf, nickte Grabeau zu und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Kellner, Hammelbraten und ein Glas Porterbier.« Dann fuhr er in gelassenem Tone fort: »Ich bin gekommen, um ein paar Worte mit Ihnen zu reden, Monsieur.«
»Aha, ich weiß schon,« rief der Franzose lebhaft, »wegen der Harcourt-Diamanten, nicht wahr? In der letzten Gesellschaft bei Harcourts war ja der wundervolle Schmuck in aller Munde. Er ist verschwunden und der Lord hat den berühmten Detektiv Paul Beck beauftragt, ihn wieder zu finden. Ich dachte mir gleich, daß Sie zu mir kommen würden. Hier steht schon die ganze Geschichte.« Damit reichte er ihm die Westminster Gazette über den Tisch hin und deutete auf einen Artikel, der in großen schwarzen Buchstaben die Ueberschrift: »Verschwindende Diamanten« trug.
Beck las wie folgt:
»In den vornehmen Kreisen Londons macht das plötzliche Verschwinden der bekannten Harcourt-Diamanten ungewöhnliches Aufsehen. Nächst den Kronjuwelen sind dies vielleicht die kostbarsten Edelsteine Londons. Ob ein Diebstahl vorliegt, läßt sich noch nicht entscheiden. Herr Ophir, der hochangesehene Juwelier, hat unserm Berichterstatter mitgeteilt, daß er heute früh die Diamanten mit eigener Hand in das Etui gelegt und das versiegelte Paket Herrn Sydney Harcourt übergeben habe. Als Herr Harcourt jedoch in Gegenwart seiner Verlobten, Fräulein Ray, die die Diamanten als Hochzeitsgeschenk erhalten sollte, das Etui öffnete, fand er es leer, wie er versichert. Wenn beide Herren die Wahrheit sagen – und wir haben keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln – so müssen die Diamanten während der Droschkenfahrt zwischen der Bondstraße und der oberen Belgravestraße aus dem Etui durch das braune Einwickelpapier hindurch verschwunden sein. Wir brauchen kaum zu erwähnen, daß Herr Ophir wegen seiner Stellung und bekannten Ehrenhaftigkeit die höchste Achtung genießt. Der junge Harcourt hat zwar früher auf dem Rennplatz öfter von sich reden gemacht, doch ist er, soviel man weiß, niemals in ernsterer Geldverlegenheit gewesen. Schon sein Rang und Charakter sollten dafür bürgen, daß auch nicht der Schatten eines Verdachts auf ihn fallen kann. Natürlich machen alle diese Umstände das Geheimnis nur noch rätselhafter. Auf Herrn Ophirs Antrieb begab sich der berühmte Detektiv Paul Beck sofort nach der oberen Belgravestraße und er soll, wie sich das ja bei jedem gut geschulten Geheimpolizisten von selbst versteht, bereits eine Fährte entdeckt haben.«
Während Beck den Artikel las, hatte Grabeau seinen Ausdruck gespannt beobachtet.
»Nun,« fragte er ungeduldig, »trifft denn alles zu?«
»Der Bericht ist ziemlich genau.«
»Und Sie, der berühmte Detektiv, haben die Fährte gefunden?« Es klang ein leiser Anflug von Spott aus Grabeaus Ton; aber Beck schien das nicht übel zu nehmen, ja, er beachtete es kaum.
»O ja, eine Spur meine ich wohl zu haben, Monsieur. Aber ich möchte gern Ihre Ansicht von der Sache hören. Vielleicht können Sie mir auf die Sprünge helfen – es wäre nicht das erste Mal.«
Grabeau fühlte sich sichtlich geschmeichelt. »Dann muß ich aber alles wissen, auch die geringste Kleinigkeit.«
Nun erzählte Beck mit großer Offenherzigkeit, was er wußte, und vergaß auch seinen Doppelgänger nicht, der ihm in der Belgravestraße zuvorgekommen war.
»Jetzt sagen Sie mir Ihre Meinung, Monsieur,« schloß er den Bericht.
»Monsieur Ophir,« sagte Grabeau kurz und schloß dann den Mund, wie wenn eine Mausefalle zuschnappt.
»Was!« rief Beck, ihn überrascht und bewundernd betrachtend. »Wahrhaftig? Sie legen also keinen Wert auf die versteckte Andeutung in der Zeitung, daß der junge Harcourt die Diamanten selbst entwendet haben möchte, um seine Spielschulden zu bezahlen?«
»Nein, mein Freund, glauben Sie mir, er hat nichts damit zu thun. Es lohnte für ihn nicht der Mühe. Sein Vater ist reich, die Braut ist schön. Der rechtschaffene Herr Ophir übergibt ihm die Juwelen. Da läuft er zu viel Gefahr, selbst wenn er Schulden hat, was nicht erwiesen ist.«
»Aber wie hat Ophir sie aus dem Etui genommen?«
»Er hat sie gar nicht hineingelegt.«
»Ich sagte Ihnen doch, daß drei Personen gesehen haben, wie er es that – zwei von seinen Leuten und ein gewisser Mulligan, der das neue Etui gebracht hatte.«
»Haben Sie den Boten gesehen?«
»Nein. Er war noch nicht wieder in die Werkstatt gekommen, als ich dort vorsprach.«
»Er wird für immer wegbleiben. Er ist verschwunden. Wohin? Das könnte Ophir Ihnen vielleicht sagen, aber er wird es wohl bleiben lassen.«
»Aber außer dem Boten waren doch noch zwei andre Leute zugegen, als die Diamanten eingepackt wurden.«
»Hélas, mein großer Detektiv, Sie sind heute ein klein wenig einfältig – nichts für ungut. Sie wollen nichts Böses von Monsieur Ophir denken, Très-bien. Aber Ihr Einwand ist nicht besonders geistreich. Leihen Sie mir einmal Ihre Uhr und Kette.« Damit lehnte er sich über den Tisch, und schon im nächsten Moment hielt er, wie durch einen Zauberschlag, Becks schwere goldene Uhr mit der Panzerkette in der Hand, die dieser an einem goldenen Riegel im Knopfloch der Weste befestigt trug.
»Nun, sehen Sie, dies stellt unser Etui vor.«
Im Nu hatte er mit geschickten Fingern das Zeitungsblatt zu einem Schmuckkästchen mit fest schließendem Deckel umgeformt. Er machte es weit auf, legte Uhr und Kette hinein, so daß Beck sie deutlich darin liegen sah, und schloß den Deckel mit zwei Fingern. Dann schob er das Kästchen über das Tischtuch hinüber zu Beck hin. Als dieser es öffnete, war es leer. Der Detektiv riß seine großen Augen verwundert auf.
»Aber wo ist meine Uhr?«
»Wo sonst als hier,« sagte Grabeau, auf Becks geräumige Weste klopfend.
Und siehe da, die Uhr lag wieder sicher in der ziemlich engen Westentasche, und der goldene Riegel war durch das Knopfloch gezogen.
»Ich hätte geschworen, daß ich gesehen habe, wie Sie die Uhr hineinlegten und darin ließen.«
»Eh bien, Monsieur Ophirs Leuten wird es gerade so gehen. Ich habe sie in Ihre Tasche gesteckt; er steckt die Diamanten in seine eigene Tasche. Das ist der ganze Unterschied. Und sein Kunststück war noch viel leichter.«
»Aber Ophir steht im Ruf eines höchst ehrenwerten, achtbaren Mannes.«
Grabeau schnippte verächtlich mit den Fingern. »Der Mensch! Den kenne ich, er ist kalt wie Eis, aber ein Schlaufuchs. Wir sind einmal aneinander geraten und er hat mich, Alphonse Grabeau, einen Betrüger genannt. Jetzt nenne ich, Alphonse Grabeau, Monsieur Ophir einen Dieb. Ich will beweisen, daß er die Diamanten gestohlen hat; ich will Ihnen helfen, Freund, ihn zu entlarven.«
»Besten Dank, Monsieur. Ich dachte mir's gleich, daß Sie mir unter die Arme greifen würden. Wo kann ich Sie morgen treffen, falls ich eine Mitteilung für Sie habe?«
»Bis zwei Uhr nachmittags bin ich daheim in meinem kleinen Laden; um Vier speise ich hier wie gewöhnlich und abends gebe ich eine Vorstellung im Salon des Herzogs von D. In der Angelegenheit des diebischen Ophir stehe ich Ihnen jederzeit zu Diensten. Aber Sie müssen pünktlich sein, damit wir uns nicht verfehlen.«
»Gut, ich komme in Ihre Wohnung oder suche Sie hier auf.«
Grabeau trank die letzten Tropfen seines Grogs aus, der inzwischen kalt geworden war, griff nach Hut, Stock und Handschuhen und nahm eine Cigarette aus seinem hübschen silbernen Etui.
Beck hatte sich gleichfalls erhoben. »Lassen Sie mich Ihnen noch einmal die Hand schütteln, Monsieur,« sagte er, ihn voll Bewunderung anblickend; »ich habe immer viel von Ihnen gehalten, aber jetzt weiß ich erst, was für ein Ausbund von Klugheit Sie sind. Es ist wirklich jammerschade, daß Sie nicht zu uns gehören. Dann erst würden Sie den richtigen Spielraum finden können, um Ihre Talente zu entfalten.«
Die Anerkennung schmeichelte Grabeau offenbar sehr, er strahlte über das ganze Gesicht, als er das Lokal verließ.
Beck bestellte noch eine Portion Hammelbraten, und während er sie langsam verzehrte, starrte er häufiger als sonst ins Leere.
Der Detektiv mußte wohl eine wichtige Abhaltung gehabt haben, denn es war schon ein Viertel auf drei Uhr, als er am nächsten Tage mit raschen, elastischen Schritten nach Monsieur Grabeaus kleinem Laden in der Wardourstraße eilte. Einen Augenblick blieb er außen vor dem Fenster stehen, wo allerlei mechanisches Spielzeug und kostbare Nippsachen in hübscher Anordnung ausgestellt waren, um Käufer herbeizulocken; dann trat er ein.
Hinter dem Ladentisch stand ein etwa neunzehnjähriger junger Mann mit langer gebogener Nase, gesunder Gesichtsfarbe und kleinen, funkelnden schwarzen Augen.
»Guten Tag, Jakob,« sagte Beck. »Ist Ihr Herr ausgegangen?«
»Erst vor einer Viertelstunde.«
»Wann kommt er zurück?«
»Heute abend gar nicht mehr.«
»Dann muß ich ihn ein andermal sprechen. – Sagen Sie, Jakob, da haben Sie ja etwas Neues im Schaufenster. Das Korallenhalsband mit der Brosche meine ich. Könnte ich das wohl einmal zu sehen bekommen?«
Jakob holte das Gewünschte herbei. Es war ein altertümlicher Korallenschmuck mit seiner Goldgliederung in einem abgeschabten, vormals dunkelgrünen Etui von Saffianleder mit schmutzig weißem Futter, das so altertümlich aussah wie der Schmuck selbst. Volle fünf Minuten lang betrachtete Beck das Geschmeide mit sichtlicher Bewunderung. Er wandte das Etui mehrmals hin und her, um es in besserem Lichte zu sehen; dabei fesselte ein Fleck am Rande des Leders, der von feuchtem Gummi herzurühren schien, seine Aufmerksamkeit ganz besonders.
»Wie hoch ist der Preis, Jakob?« fragte er endlich.
»Es steht nicht zum Verkauf. Der Herr hat mir zu vier verschiedenen Malen verboten, es herzugeben, selbst wenn man mir die größten Summen dafür bieten sollte. Mir scheint, die Gefahr ist nicht groß; das bißchen Gold daran ist keinen halben Sovereign wert.«
»So!« sagte Beck nachdenklich. »Die roten Dinger brauch' ich auch nicht gerade; ich möchte nur das Etui haben. Meine Tante hat mich gebeten, ihr eins zu besorgen, um ein Halsband nebst Brosche hineinzuthun, das sie billig in einem Ausverkauf erstanden hat. Dies wäre gerade recht. Mir scheint, die Korallen passen so wie so schlecht hinein, als ob es nicht für diesen Schmuck gemacht wäre.«
»Doch, Herr Beck, sie passen ganz wunderschön. Aber warten Sie einen Augenblick. Um einem Freund meines Herrn einen Gefallen zu thun, würde ich es ja wohl für einen annehmbaren Preis verkaufen.«
»Was nennen Sie einen annehmbaren Preis?«
»Wäre Ihnen ein Sovereign zu viel?«
Herr Beck äußerte nichts darüber. Er holte das Goldstück aus seiner Westentasche, legte es auf den Tisch, schüttete die Korallen ohne weiteres auf einen Haufen, steckte das Etui in die Tasche und ging zur Ladenthür hinaus.
Der pfiffige Gehilfe sah verwundert, wie rasch der breitschulterige Mann die Straße hinuntereilte. »Heiliger Moses,« rief er mit enttäuschter Miene, »warum habe ich nicht mehr verlangt? Er hätte mir gewiß noch einen oder zwei Schillinge für das alte Etui gegeben. So eines kann der Meister in einer Stunde wieder machen; der Handel wird ihm schon recht sein.«
Ob es dem Meister wirklich recht war, lassen wir dahingestellt. Daß aber Paul Beck sich sehr über den Handel freute, ist keine Frage. Er sah so recht innerlich vergnügt aus, während er seines Weges ging und leise vor sich hinpfiff. Man hätte ihn für einen ehrbaren Handwerker halten können, dessen Wochenlohn reichlicher ausgefallen ist als gewöhnlich.
Beck öffnete das Haus mit seinem Drücker, stieg geräuschlos die Treppe hinauf und betrat sein hübsches Wohnzimmer im ersten Stock. Auf dem Tisch in der Mitte stellte er das alte Schmuckkästchen neben das andre alte Etui, das er von Smithson erhalten hatte. Es standen Blumen auf dem Tisch, deren Wohlgeruch Beck mit Vergnügen einsog. An jenem Nachmittag schien ihm alles Freude zu machen.
Die beiden Etuis sahen einander gleich, nur die Form war etwas abweichend, das heißt äußerlich; im Innern sah man keinen Unterschied. Beck nickte beifällig, als finde er eine gewisse Vermutung bestätigt; dann schritt er nach der Thür und drehte leise den Schlüssel um. Wer ihn heimlich hätte beobachten können, würde gesehen haben, wie er im Lehnstuhl saß und das eine Etui in der Hand langsam hin und her drehte, wobei sein Gesicht den gespannten und doch zuversichtlichen Ausdruck eines Menschen trug, der im Begriff ist, ein schwieriges Rätsel zu lösen.
Später hätte jemand, der sein Ohr ans Schlüsselloch legte, hören können, wie Beck erleichtert aufseufzte und dann vergnügt in sich hineinlachte, während er den mit Mahagoniholz verkleideten eisernen Geldschrank, der in der Ecke des Zimmers stand, öffnete und sorgfältig etwas darin verschloß.
*
»O, wie können die Leute nur so erbärmlich sein!« rief Lilian Ray in hellster Entrüstung. Sie stand mitten in ihrem Wohnzimmer und um sie her flog ein wahres Schneegestöber von Fetzen der zerrissenen »Kleinen Abendzeitung«. Auf die Stücke, die schon am Boden lagen, stampfte sie zornig mit den Füßen.
»Nur ruhig, Lily, ruhig!« rief ihr Harcourt vom Sofa aus zu, wo er mit finsterer Miene Platz genommen hatte. »Nimm dir's nicht so zu Herzen, Liebchen. Von dem Gesindel war nichts Besseres zu erwarten. Es ist auch keineswegs alles erlogen. Ein etwas lockerer Zeisig bin ich wirklich gewesen und niemand weiß, wie hoch sich meine Schulden belaufen – weil ich gar keine habe. ›Herr Ophir ist ein Ehrenmann durch und durch.‹ – ›Der rätselhafte Vorgang ist für den ehrenwerten Sydney Harcourt in hohem Grade peinlich.‹ – Dagegen läßt sich doch nichts einwenden.«
»Ich begreife nicht, Sydney, daß ein großer, starker Mann, wie du, so ruhig dasitzen und solche Dinge mit anhören kann.« Sie wandte ihm ihre blauen Augen zu, an deren Wimpern Thränen hingen.
»Gehört habe ich nichts davon, Lilian.«
»Ach, du weißt schon, wie ich's meine. Warum brichst du der Sache nicht die Spitze ab und zeigst den abscheulichen Verleumdern, mit wem sie es zu thun haben? Weshalb gehst du nicht stehenden Fußes in ihre Spelunke, mag sie sein, wo sie will, und – und – o, wenn ich doch ein Mann wäre, ich wollte ihnen schon die Wege weisen.«
»Um meinetwillen ist's mir lieb, daß du keiner bist,« sagte er in einem Ton, der ihr alles Blut in die Wangen trieb. »Du würdest nicht so aufbrausen, wärest du nicht das süßeste kleine Weibchen der Welt. Glaube nur ja nicht, daß mir die Zeitung gleichgültig ist, obgleich ich darüber zu lachen versuche. Es gibt Leute genug, die alle die Lügen für lautere Wahrheit halten werden. Ich bin nur froh und dankbar, daß du –«
»Was – ich? – So etwas kann dir doch gar nicht einfallen. Der Gedanke, daß ich –« Sie lief ungestüm zu ihm hin, beugte sich zärtlich nieder und streichelte seine Locken. »Mein armer Junge, es thut mir so leid, zu sehen, wie man dich quält. Könnte ich nur irgend etwas für dich thun! – Nein, nein, so war das nicht gemeint. Bitte, mache mir Platz auf dem Sofa.« Ein Klopfen an der Thür unterbrach sie, und als der Diener eintrat, um Herrn Beck zu melden, saß Lilian richtig am äußersten Ende des Sofas und holte tief Atem.
»Führen Sie ihn herein!« rief Harcourt. »Was kann der Mensch denn schon wieder wollen!«
»Entschuldigen Sie, wenn ich störe,« sagte der Detektiv, der unbemerkt ins Zimmer getreten war, mit unerschütterlicher Ruhe, »ich werde Sie nicht lange aufzuhalten brauchen.«
»Haben Sie denn eine Spur gefunden?« stammelte Harcourt verlegen.
»O ja, das darf ich wohl behaupten,« erwiderte er und zog das alte Etui aus der Rocktasche, das er für ein Goldstück erstanden hatte. Er schob verschiedene Gegenstände aus dem Wege und legte es gerade unter die elektrische Lampe auf den Tisch.
»Bitte, sehen Sie her, gnädiges Fräulein. Gleicht dies dem Etui mit den Diamanten?«
»Dem Etui ohne Diamanten, meinen Sie wohl, Herr Beck?« sagte Lilian lächelnd. »Der Form nach, ja; aber das andre war funkelnagelneu.«
»Darauf kommt wenig an. Eine geschickte Hand kann in Zeit von einer halben Stunde etwas Neues alt machen. Haben Sie die Güte, es zu öffnen.«
Einen Augenblick durchzuckte Lilian die thörichte Hoffnung, daß sie die Diamanten darin finden werde. Aber das Etui war ganz leer und der Samt verschossen.
»Bitte, fassen Sie es einmal mit beiden Händen an, aber ohne es zu schließen. Einen Daumen hier und den andern dort.«
Beck legte Lilians schlanke Finger selbst an die bezeichnete Stelle, während Harcourt erstaunt zusah.
»So, jetzt drücken Sie mit beiden Daumen zugleich darauf.«
Wie auf einen Zauberschlag erstrahlte plötzlich auf dem verblichenen Samt eine Halskette von funkelnden Diamanten, in deren Mitte sich der herrlich glänzende Stern erhob.
Lilian stieß einen Schrei des Entzückens aus: »O wie wunderschön!« rief sie in atemlosem Erstaunen. »Sydney, hast du je solche Pracht gesehen! Sie blendet und überwältigt mich förmlich. Ich kann den Glanz kaum ertragen.« Sie schloß das Etui; die Feder knipste ein.
»Herr Beck, Sie sind ein Tausendkünstler, daß Sie die Diamanten gefunden haben. Nicht wahr, Sydney, das ist eine Ueberraschung! Bitte, sagen Sie uns nur, wie Sie es angefangen haben.« – Lilian war so überglücklich, so voller Dankbarkeit, Entzücken und Bewunderung, daß sie den Detektiv völlig bezauberte. Er strahlte wie der Vollmond und machte eine linkische Verbeugung nach der andern.
»Bitte, gnädiges Fräulein, machen Sie das Etui noch einmal auf,« sagte er endlich. Als sie hierauf den Deckel zurückschlug, stand sie starr vor Staunen – das Innere war leer.
»Ein Vexierkästchen,« sagte Harcourt nach einer Pause.
»Jawohl, gnädiger Herr, damit ist es kurz und bündig erklärt. Das Ding ist so sauber gearbeitet, als nur möglich. Kein Wunder. Der Verfertiger wollte zwanzigtausend Pfund damit verdienen. Beim Schließen des Etuis drückt man zugleich auf die Feder. Das war gar kein so übler Einfall.«
»Und die Diamanten sind wirklich darin,« rief Lilian. »Sie haben die ganze Zeit ruhig dagelegen und ich brauche bloß mit den Daumen zu drücken, damit sie wieder zum Vorschein kommen! Das ist ja ganz wunderbar. Ich möchte fast sagen, das Etui gefällt mir so gut, wie die Diamanten. Hoffentlich wird der Mann, der es gemacht hat, auch anständig dafür bezahlt werden, Herr Beck.«
»Er wird seinen Lohn erhalten, gnädiges Fräulein, seien Sie ohne Sorge,« versetzte der Detektiv, »wenn auch vielleicht in andrer Münze, als er erwartet hat.«
»Aber, wie haben Sie es nur entdeckt, Sie merkwürdiger Mann? Sie verfolgen gewiß ein ganz besonderes System, das außer Ihnen niemand begreift.«
Das schmeichelhafte Lob schien Beck ordentlich zu beschämen. »Ich habe gar kein System, gnädiges Fräulein, nur ein wenig gesunden Menschenverstand. Wie der Hund die Fährte des Fuchses findet und sie nicht wieder aufgibt, so treibt auch mich der Instinkt, meine Fälle aufzuspüren und auszuklügeln, so gut ich kann.«
»Wann haben Sie erraten, daß die Diamanten in dem Etui waren?« fragte Harcourt.
»Als ich Herrn Ophir sah, kam ich auf den Gedanken, und er wurde mir zur Gewißheit, nachdem ich bei Ihnen gewesen war. Sehen Sie, wenn Ophir die Diamanten wirklich hineingelegt hatte und sie von niemand herausgenommen worden waren, so mußten sie noch darin sein, das lag auf der Hand, wenn auch der Schein noch so sehr dagegen sprach.«
»Das klingt ganz einfach,« murmelte Lilian, »wenn man den Thatbestand weiß.«
»Als ich nun noch überdies hörte, daß mein Doppelgänger hier gewesen sei, war ich meiner Sache vollends sicher.«
»Ihr Doppelgänger! Du hattest also doch recht, Lilian, es waren zwei Becks da.«
»Natürlich; ich habe ja immer recht.«
»Darf ich fragen,« fuhr Harcourt fort, »welcher von beiden Sie sind?«
»Versteht sich, der zweite, Sydney; wie einfältig du bist. Aber was ist denn aus dem ersten Herrn Beck geworden, der so schöne Hände hatte?«
»Der erste Herr Beck, gnädiges Fräulein, oder vielmehr Mulligan, mit andern Worten Monsieur Grabeau, sitzt jetzt im Gefängnis und erwartet sein Urteil. Er ist heute nachmittag verabredetermaßen durch den zweiten Herrn Beck in Simpsons Restaurant festgenommen worden.«