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Über freies Feld und hie und da durch dünnen Busch läuft der Weg am östlichen Rand des Harzes hin, den unsere Reisekarte rot angestrichen trug. Die Gewitter hatten die Luft gekühlt, zum Glück der Gefährten, welche die Spuren der gestrigen Orgien noch in den matteren Augen und den schlafferen Gliedern trugen, auch senkten sich zuweilen noch kleine Reste der schwarzen Wolkenzüge nieder; unser Pilgermut ließ sie aber unbeachtet; selbst ein Spritzbad dicker Regentropfen tat uns gut, und wir Söhne der städtischen Bequemlichkeit spöttelten über den besorgten Hirten, der seine Rinderherde fast im Galopp und begleitet vom ängstlich-dumpfen Ruf seines Alphorns, der wie ein »Sauve qui peut!« erklang, zum Stall jagte.
Unsere Hoffart blieb für dieses Mal ungestraft; die Gewitter im Spätsommer sind hier meistens furchtbar und oft verwüstend; ein erquickender Osthauch fächelte uns an, die dunklen Wolken entluden sich fern in den Bergen, und wir gelangten durch das Dorf Neinstedt, bei dem wiederum ein Stück Teufelsmauer mit mancherlei schönen Pflanzen überwachsen aus dem Boden steigt, und an einer netten Schenke vorbei, deren närrischer Name – Reißaus! – die Gäste nicht vertreibt, nach Suderode, das durch das nahe, schon erwähnte Beringerbad einen Ruf bekommen hat. Das Bad ist Eigentum des Herzogs von Anhalt-Bernburg, hat Logierhäuser, einen Brunnenarzt und wird viel besucht. – Rechts zur Seite des beschriebenen Weges steigen zwei Ruinen aus den Waldhöhen empor, die ein schönes Landschaftsbild geben,
Erstere liegt über einem gleichnamigen, gar freundlich in Büschen versteckten Dörfchen und zeigt nur noch einen wankenden Turm nebst einem Anhang von zerrissenem Schloßgebäude; ein Magdeburger Erzbischof zerstörte sie schon im dreizehnten Jahrhundert, um die Besitzer, Ritter von Hoym, die Wegelagerung übten, zu verjagen. Die letztere befindet sich auf einem höheren Platz und muß von bedeutenderem Umfang gewesen sein, da die Trümmer einer kleineren Vorburg sich mit ihr verbinden. Von ihr selbst steht ebenfalls nichts als der Überrest eines überaus festen Turmtorsos. Sie wurde einst von den Grafen von Sommerschenburg bewohnt. Heinrich der Löwe zerstörte sie; später im Besitz der Wittelsbacher, ließ Rudolf der Habsburger sie einäschern, und zuletzt, als sie Albert von Reinstein, jener famose Bürgerfeind, dessen Käfig die Quedlinburger mit Stolz bewahren, innehatte, wurde sie durch das städtische Kriegsvolk von Quedlinburg und Halberstadt zum dritten Mal unbewohnbar gemacht.
Für Freunde schöner Aussichten ist außerdem noch die Georgshöhe zu erwähnen. Neben einem Forsthaus der Familie von dem Busche hat man dort auf einem Vorsprung des Gebirges einen Balkenturm erbaut und mit Anlagen umgeben. Die Aussicht ist weit und schön, und von dem Platz führt ein höchst anmutiger Pfad unter einem Dom köstlicher Eichen in einem Stündchen zum Tanzplatz des Bodetals hinauf.
Wir überschritten jetzt die preußische Grenze und betraten Anhalt-Bernburger Boden. Dicht hinter dem Markstein öffnet das Städtchen Gernrode die Arme, dem Fremden gleich einem geschmückten Türsteher das ›Salve Viator!‹ zurufend und ihm gastliche Aufnahme verheißend. Der dreiästige Fürstenstamm, dem das schöne Anhalt eigen ist, entsprang tapferem Blut, und Esiko, Graf von Ballenstedt, schläft auf des Stammbaums Wurzel. Im Selketal trifft man noch die antiken Rudimente der Wiege des edlen Geschlechts, die Burg Anhalt auf dem Hausberg, allen drei Linien gemeinschaftlich gehörig nach verständigem, deutschherzigem Hausgesetz. Die Ahnen besaßen vormals Meißen, Weimar, Orlamünde, erwarben sich durch tapferes Schwert die Nordmark, die Mittelmark und hießen Markgrafen von Brandenburg, ja trugen zuletzt den sächsischen Herzogsschild. Beständig kehrende Brüderteilungen, so häufig der Schwächungsgrund deutscher Fürstenhäuser, Kriege und des Krummstabs Unwiderstehlichkeit entkleideten die tapferen Herren nach und nach von dem Gewonnenen und ließen ihnen nur den vorväterlichen Hausrock, das Stammerbe, ein anmutiges Ländchen voller Wohlstand, erzeugt durch den Fleiß der Bewohner und durch Hochherzigkeit seiner Regenten, denen Unterricht und freie geistige Bildung als das höchste Gut galt, das sie mit denen, die ihnen anvertraut waren, zu teilen sich berufen fühlten.
Gernrode, das jetzt 300 Häuser umfaßt, ist aus einer Frauenabtei entstanden, die Markgraf Gero 960 gestiftet hat und dessen Grabmal noch in der Stiftskirche anzuschauen ist. Recht stattlich breitet sich das Örtchen mit seinen beiden Gotteshäusern, von denen das ältere ein merkwürdiges Gebäude rein byzantinischen Stils ist, vor der fruchtbaren Ackerflur aus, die ihm nördlich liegt, und lehnt sich gegen Süden an die schirmenden Berge. Die eine Hälfte dieses Hintergrunds besteht aus kahler, schroff geschnittener Steinwand, die andere formt der vollbewachsene Stubenberg, aus dessen krausen Baumgipfeln der obere Teil eines herrschaftlichen Sommerhauses emporsteigt, und mitten hinter dem Städtchen erhebt sich aus gefälligem Wäldchen die runde Spitze des schneckenförmigen Klettenbergs, mit mehreren üppigen Linden bepflanzt und so von fern einer Vase ähnlich, in die eine liebe Hand den üppigsten Geburtstagsstrauß gesteckt hat. Gipsbrüche, Kalköfen und Ziegelhütten beschäftigen viele Bewohner der Umgegend, und schillernder Selenit, Marienglas und strahlender Fasergips mit seinen Verwandten bieten sich dem sammelnden Mineralogen dar.
Wir verschmähten für jetzt den Besuch dieser gepriesenen Höhen und streiften durch die Ebene, berührten das Dorf Rieder mit seinen wahrhaft ungeheuren Steinbrüchen und eilten der Anhaltschen Residenz entgegen. Nördlich von der Straße, hinter der Fasanerie Zehling, steigen als Schlußglieder der wunderbaren Teufelsmauer die Gegensteine aus dem Boden auf, zwei Sandsteinblöcke von Bedeutung, vom Volkswitz der Laute und der Stumme getauft, weil ersterer jeden Anruf von Süden aus schallend zurückweht. Dem Stummen hat man, als dem mutmaßlich geduldigeren, eine Treppe aufgebürdet, und er belohnt das Vertrauen und erlaubt ohne Eintrittsgeld die Benutzung eines trefflichen Panoramas. Ein Gerücht erzählt, eine Edelfrau aus einem bekannten Geschlecht habe noch in unserem Jahrhundert auf diesem kalten Fleck eine Zeitlang als Einsiedlerin gelebt; ob sie gebetet oder Landschaften gepinselt oder sonst einer Lieblingsneigung gepflegt habe, sagt das Gerücht nicht. –
Kaum tritt man zwischen den riederschen Dorfhütten heraus, so öffnet sich dem Auge schon ein Durchblick der reizenden Waldung auf das
und ein von der Landstraße abspringender Laubgang, wechselnd aus Pappeln und Obstbäumen gebildet, leitet den Wanderer gerade auf den unverschlossenen Schloßgarten zu.
Ballenstedt ist eine Stadt aus dem neunten Jahrhundert, die ungeregelte Anlage der älteren Quartiere deutet darauf hin. Seit es in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts Residenz der Herzöge von Anhalt-Bernburg geworden ist, hat es nicht allein an innerem Wohlstand, sondern auch an äußerer Schönheit gewonnen. Durch neue Straßen, durch die Allee, welche zu beiden Seiten mit den Häusern der Vornehmen besetzt ist, durch fürstliche Gebäude – als da sind Marstall, Reitbahn, Schauspielhaus – verband sich die Stadt nach und nach mit dem am Gebirge gelegenen Schloß und zählt jetzt über 500 Häuser und nahe an 4000 Einwohner, und die wahrhaft reizende Gegend, in der diese Herzogsstadt liegt, bekommt noch eine eigene Freundlichkeit durch die trefflichen, mit größter Sorgfalt gepflegten Obstbaumanlagen, durch die sie rings umkränzt wird und mit denen ihre Bürger lobenswert zu prunken scheinen.
Nachdem wir uns im Gasthof Zur Stadt Bernburg, von einer gewandten Wirtin bewillkommt und von einer hübschen Hebe bedient, gestärkt hatten, besuchten wir das Schloß, den einstigen Sitz der Grafen von Askanien und Ballenstedt, jetzt von einer patriarchalischen Fürstenfamilie bewohnt, deren Sinn und Leben mit dem kunstfleißigen, bescheidenen Gärtnervölkchen, das sie umgibt, im schönsten Einklang steht. Wo der Fremdling Vorliebe für Natur, für ihre unvergänglichen und ungeschminkten Schönheiten findet, darf er immer auf Freimut und Herzen ohne Falsch und lebensfrohe Gemüter die Rechnung stellen.
Das Schloß selbst ähnelt den übrigen Harzschlössern, an denen sich uralte, unzerstörbare Überbleibsel mit neuem Anbau verbanden und in denen sich mehrere Zeitalter – Greis, Mann und Jüngling – umarmen. Als die Ballenstedter Herren die von ihnen erbaute Burg Anhalt bezogen (905), wurde Schloß Ballenstedt Stift und Mönchskloster, bis der Bildersturm des Bauernkrieges seine stillen Bewohner austrieb (1525). Burg Anhalt ist bis auf wenige Mauerreste verschwunden – vom alten Ballenstedt trotzten der Turm und der westliche Flügel dem Zahn der Zeit – und blickt wie der weißlockige Greis auf den Grabhügel des Enkels. Die innere Wohnlichkeit zeichnet jedoch Schloß Ballenstedt aus, die bequeme, geschmackvolle Einrichtung, die, jeder Überladung frei, von einem glücklichen Familienleben erzählt. Nur die drei im Schloßhof aufgepflanzten Kanonen erinnern an die Herzogskrone. Der boshafte Franziskus zog vor ihnen den Hut mit tiefer Reverenz, wodurch die daneben postierte Schildwache in eine Art von Verlegenheit zu geraten schien, indem sie nicht wußte, was sie mit der Artigkeit machen sollte.
Je mehr man den südlichen Grenzen des Gebirges sich nähert, je mehr nehmen die Aussichten den weichen, idyllischen Charakter an, und das Schroffe und Starre macht dem Ländlichen und Geselligen Platz. Zahllos sind die reizenden Bilder, die man von den Schloßfenstern herab betrachten darf. Auch hier bildet nach Abend zu der Brocken den großartigen Hintergrund, und Blankenburg und der majestätische Regenstein fesseln das Auge; nördlich geben Quedlinburg, Hoym und Halberstadt ernste Ruhepunkte, gen Morgen überschaut man die weite, wellenförmige Fruchtebene bis Bernburg hinab, und südlich darf das müde Auge ausruhen auf den herrlichsten Waldungen und an den mannigfachsten Schattierungen des wohltuenden Laubgrüns erstarken. Im Schloß zeigt der Kastellan eine Gemäldesammlung, in der Kunstliebhaber sich an Werken von Wouwermann, Breughel, Rembrandt, Teniers und van Dyck ergötzen dürfen.
Wen die Aussicht vom Schloß nicht gesättigt hat, der kann in der nächsten Umgebung den Ziegenberg mit seinem Schießhaus, den Kaufberg, den Stahlberg, dessen alte Steinkohlengruben Glaskohle und Blätterkohle, Anthrazit und Schieferton mit ausgezeichneten Abdrücken von Schilf und Farnkraut enthalten, das Jagdhaus auf dem Röhrkopf und den Hubertusturm, unter dem die Siebensteinteiche liegen, besteigen und so durch den gewechselten Standpunkt seinen Genuß an diesem Paradies bis zur Erschöpfung vervielfältigen.
Der Schloßgarten ist mit besonderer Sorgfalt gepflegt, doch verbindet er das Nützliche mit dem Schönen, und seine englischen Anlagen wechseln mit Gemüsefeldern und Obstplantagen, mit beschatteten Teichen, von blendenden Schwänen durchschifft, mit Blumenbeeten, deren Reichtum an Rosenarten in der ganzen Umgegend gepriesen wird. Dem Jagdfreund gibt der Tiergarten voller Damwild nebst einer größeren Umzäunung des Waldes, worin Hirsche stehen, und dem Landwirt ein Mustervorwerk Gelegenheit, der Lieblingsneigung zu schmeicheln.
Im Herabsteigen begegneten wir im Schloßgarten einem jungen Paar, und ein Chorus rief den Namen Edmund. Es war der Universitätsfreund, der fleißige Mediziner, und seine Arme breiteten sich nach uns aus.
»Du hier?« fragte Gustav. »Ich wähnte dich jenseits des Ozeans, denn deine Besorgnis meinte im überfüllten Vaterland kein Nest zu finden.«
»Du siehst die Ursache lebendig neben mir, mein Lieber«, lächelte der Freund, »mein Weib, meine gute Emma.« – Die frische, schlanke Dame verneigte sich.
»Du verheiratet? Jetzt schon gebunden?« staunte Franziskus.
»Zürnt darüber der kleine Weiberfeind?« spöttelte Edmund. »Schau ihn nicht böse an, Emma, sein Haß ist nur eine Maske, die er am Tage trägt, um originell zu scheinen. – Er gedenkt besorgt der drei ägyptischen Hungerjahre, die jedem jungen Arzt zugemessen sind, dem der Vater keine Geldkiste hinterließ oder dem nicht der Nepotismus in römischer Manier die Bahn bricht. Volentem ducit fatum, nolentem trahit! Vor diesen blauen Augen sind alle Träume des Weltumseglers geschmolzen, gleich dem Eis, auf dem er am Nordpol weiße Bären bekämpfen wollte.«
»Und du wagtest?« stotterte Gustav.
»Der mageren Jahre wegen?« fiel Edmund lebhaft ein. »Emma hatte Mut, sie mitzutragen, und ich philosophierte, jede Last trage sich leichter zu zweien. Wir haben freilich anfangs wie die Arkadier von Milch und Honig gelebt, dazu ist die Praxis hier in den Bergen keine Spazierfahrt der königlichen Leibmedici auf dem Pflaster der Residenz, und es erfolgt am Silvester kein Goldregen; doch ist des Menschen Wille etwas Großes und Göttliches, und erhebt er sich gepanzert, so gibt es für ihn keine Unmöglichkeit. Seht dorthin!« – Er zeigte auf ein rundes Kindlein, das am Knie der Wärterin die Gänseblümchen des Angers abriß. – »Da seht ihr die zweite Auflage meiner Werke in Taschenformat. Daheim bei der Großmama könnt ihr die erste von etwas größerem und derberem Kaliber anschauen, wenn's beliebt. – Doch, wie steht's mit euch?« fuhr er fort, über die Schweigsamkeit der Freunde verwundert. »Dir, Ernst, fehlt sicher die Landwirtin im Hause nicht.«
»Sie hat gesponnen, was nötig ist, und dies ist mein letzter freier Junggesellenflug«, antwortete Ernst.
»Freiheit ist ein Phantom. Wer ist frei? Nicht einmal der nackte Robinson auf seiner kahlen Insel. Glück auf dir, du eiserner Roland, aber fahre fein säuberlich mit deinem Täubchen. Warum auch harren und zaudern, bis der süße Most des Lebens verschäumt ist? Gute Engel haben euch dahergebracht, um an meinem Beispiel euch zu erquicken; denn wie ich euch da vor mir sehe, seid ihr zu Hagestolzen nicht geschaffen, zu diesen nutzlosen Drohnen des großen Bienenstocks, die die Pflicht vergessen, das, was für sie geschehen ist, auch für andere zu tun. Und du, Gustav? Du mußt uns allen vorangesprungen sein. Erlaubte dein Paulinchen ohne Tränen den burschikosen Jasonszug in die Berge?«
»Frühobst leidet am ehesten vom Nachtfrost«, fiel Franziskus schnell ein, und als Edmunds scharfer Blick Gustavs inneres Erbeben bemerkte, fragte er nicht weiter, sondern lud uns sämtlich in sein Haus. – Wir fanden eine nette kleine Wirtschaft; alles anständig, doch nichts von den teuren Spielereien des städtischen Luxus. Ohne Verlegenheit über die unerwartete starke Einquartierung, rührte sich die schlanke Hausfrau für uns; dem sokratischen Mahl fehlte nichts, selbst Edmunds Keller ließ sich preisen, wenn auch der Nachtisch statt Torten und Konfekt nur das schmackhafteste Obst darbot.
Aber je glücklicher Wirt und Wirtin erschienen, indem sie ihr bescheidenes Glück vor den Gästen auskramen durften, desto trüber wurde unser Gustav, und Ernst flüsterte mir zu: »Der arme Bursche dauert mich, und diese Tantalusstrafe ist hart, wenn auch verdient. Das große Auge da oben läßt doch keinen entschlüpfen, wenn er auch die Sünderkugel am Fuß nicht zu fühlen scheint.« –
Edmund sprach von einem Ruhetag, sein Tafelzimmer sollte sogleich zu einer Kaserne eingerichtet werden; da er aber unseren Entschluß vernahm, seine Gastlichkeit nicht zu mißbrauchen, so ließ er rasch seinen geräumigen Korbwagen anschirren, und mit uns allen, wenn auch etwas eng beladen, kutschierte er selbst das Fuhrwerk auf dem Weg, den wir morgens durchwandert hatten, zurück zum Hauptplatz des Plaisiers der Umgegend, zum
Die Erinnerung ist das Schönste im Leben. Die stürmischen Freuden der Gegenwart stehen ihren ruhigen und sinnigen Genüssen bei weitem nach, und erscheinen auch manche ihrer Bilder beschattet, ja düster vor uns – wir lieben sie doch, denn von ihr beleuchtet wird selbst der überstandene, wilde Schmerz zur linden Wehmut, der die schmerzenden Narben gleich einem kühlenden Öl berührt. Die Erinnerung spendete uns mehrere angenehme Stunden oben auf dem herrschaftlichen Gasthaus im Austausch unserer Lebensschicksale.
Der Stubenberg ist ein mäßig hoher Kegel, voll und üppig gewachsen; das luftige, geräumige Herrenhaus läßt sein zweites Stockwerk über die Baumgipfel steigen, macht durch eine umherlaufende Galerie die Ansicht der Gegend bequem und darf in jeder Hinsicht als das angenehmste Logierhaus am Harz bezeichnet werden. Der geniale Geograph GutsMuths, der noch etwas mehr versteht, als Landkarten zu zeichnen und zu erläutern, will diesen Berg Stuffenberg genannt wissen, und zwar einem alten Gott der Germanen zu Ehren, Stuffo mit Namen und als Patron der Lustgelage angebetet. »Deutsches Land« von J. B. F. GutsMuths, I, S. 175, 1832. Wir müssen gestehen, durch ihn zuerst dieses Göttersohnes Bekanntschaft gemacht zu haben; aber der Ort eignet sich wirklich zu einem Tempel dieses fröhlichen Asen, der vielleicht hier einen Blütenzweig vom Götterbaum Yggdrasil eingesteckt hat, denn als wir diese Baumgänge, Lauben und Rondells durchstrichen, trafen wir überall, am Schießplatz wie auf der Kegelbahn, im Tanzsaal und bei der russischen Schaukel, auf laute Gesellschaft, von denen manche jener, mit der Faust in Auerbachs Keller zusammenstieß, an Ausgelassenheit nicht nachstand, und aufgeregt durch sie, denn der Frohsinn ist das einzige wohltuende Kontagium, ahnten wir nicht, am dünnen Vorhang einer gar ernsten Szene zu stehen.
Der Wohlklang lachender Mädchenstimmen lockte uns nämlich zu einer der unteren Terrassen, die sich westlich gegen Neinstedt und seine Teufelsmauer öffnet und von der man einen Fernblick auf Blankenburg und den Regenstein frei hat. Auf dem Samtteppich eines Rasenplatzes, von jungem Baumwuchs leicht beschattet, saß eine heitere Gesellschaft beiderlei Geschlechts im Kreis, und mehrere Mitglieder der Runde erschienen uns als schon einmal gesehen. Das ehrwürdige Paar vom Bodekessel bildete das Präsidium; der alte Herr blies gemütlich seinen bläulichen Tabakskringel in die Luft, und die appetitliche Matrone schaute mit Freundlichkeit dem Pfänderspiel zu, das, von fröhlichem Gelächter und vom stachligen Scherzwort akkompagniert, die junge Welt beschäftigte und zu dem der runde Konzertmeister, als stände er vor seinem Orchester, den Takt angab und überhaupt den befehlenden Zeremonienmeister zu spielen schien. Nur eine, die Jüngste, die Niedlichste, aber die Bleichste, hatte nicht acht auf das Spiel, ein ernstes Wölkchen lagerte über den schmalen Brauen, und ein Schmerzenszug lag um den schmalen Mund; neben dem alten Herrn sitzend beschäftigte sie sich mit einer mutwilligen Kleinen.
Unsere Annäherung blieb nicht unbemerkt; der Konzertmeister sandte einen finsteren Blick auf die Störer, da ertönte ein gellender Schrei mitten aus der Tafelrunde. Die Stille hatte ihr blasses Gesicht zu uns gekehrt, von ihrem Mund ertönte der Angstruf, sie war aufgesprungen und sank jetzt rücklings dem erschrockenen Vater in den Schoß.
Erratend blickte ich rasch hinter mich. Gustav stand, weiß wie ein Steinbild, am Rand des Gebüsches, und Franziskus zog ihn schnell und fast gewaltsam in das grüne Versteck zurück. Die Gesellschaft war im lauten Aufstand um die Gefallene bemüht, und Edmund eilte hinzu und bot seinen Dienst an. Im widerwärtigen Gefühl, zu den Schöpfern dieser Störung zu gehören, zogen auch wir uns zurück und suchten Gustav auf. Wir fanden ihn auf einem Sitz im dicken Busch erschlafft und in sich gesunken, mit entstellten Zügen, ähnlich einem vom Blitz Getroffenen; der kleine Fränzel perorierte tüchtig auf ihn ein, sein Wortschwall schien jedoch unverstanden an Gustavs Ohr vorüberzufliegen.
Als er uns sah, erhob er seinen Kopf und fragte heftig: »Ist sie tot? Nicht wahr, sie ist's! Mein Anblick mußte sie töten wie das Gorgonenhaupt. So habe ich auch den schönen Leib ermordet, wie früher schon ihre Seele!«
»Sie lebt!« antwortete Ernst. »Nur die Überraschung erschütterte die schwache Blume; wir sahen sie sich aufrichten in den Armen des Vaters und unseres Edmund.«
»Dann fort von hier«, stöhnte der Jüngling, und der Schwache versuchte sich zu erheben. »Sie werden alle mich umstellen, alle werden ihre Flüche über mich ausschütten, diese Flüche, die ich täglich in meinen Träumen hörte.« Er strengte sich an, um den Platz zu verlassen.
Da trat ein Fremder in seinen Weg; es war unser Max, der Freischütz. Purpurrot die Wange, die blaue Ader auf der Stirn dick geschwollen und Mordbrand in den schwarzen Augen, stand der junge Jäger Gustav gegenüber und maß ihn vom Fuß bis zur Sohle, als wäre er unschlüssig, wo er ihn zuerst anfassen sollte, um ihn zu vernichten. »Sie heißen Gustav Strahlen?« fragte er barsch.
»Ich bin's!« antwortete der Gefragte, indem er die Schwäche überwand und den Gegner ins Auge faßte.
»Das ist also der göttliche Adonis, um den ein Mädchenherz beinahe gebrochen wäre? Dieser da, dem ich gestern in den Steinklippen in der noblen Gesellschaft wüster Gesellen und fahrender Harfenistinnen begegnet bin? Pfui über das schwache Mädchenherz, das einem solchen eine Träne nachweinte!« Sein Hohn verwandelte sich jedoch schnell in feuersprühendes Zornwort. »Und Sie wagten in der Nähe einer Familie zu erscheinen, deren Verderber Sie geworden sind, deren Frieden Sie boshaft zertreten haben? Sie wagten einem Mädchen ins Angesicht zu kommen, das Sie beschimpften, belogen, elend machten, wie es noch nie geschehen ist, solange der Treubruch in die Welt kam? Das ist bübischer, schändlicher als der Verrat selbst und soll bestraft werden. Paulines Bruder war fern, als das Bubenstück geschah, aber jetzt ist er zugegen und wird den Bösewicht züchtigen, und der jämmerliche Ehrenräuber soll nicht entkommen, soll vor seinen Füßen getreten und zerfetzt werden.«
Ernst trat hinzu. »Nicht diese Sprache, junger Herr«, sagte er kalt, aber mit Bestimmtheit. »Sie mögen gerechte Ursache haben für diese Aufwallung, aber Sie sprechen nicht zu Strauchdieben und Landstreichern, und diese Begegnung ist nur ein unglücklicher Zufall, dafür verbürge ich mich. Machen Sie Ihren Handel ab, wie es unter Gebildeten Sitte ist.«
Gustav hatte sich völlig ermannt, Röte und Blässe wechselten in seinem Gesicht, aber eine wehmütige Freundlichkeit lagerte auf seinen entstellten Zügen.
»Sie kennen also die teuflische Geschichte?« tobte der junge Waidmann fort. »Und warum nicht? Wer kennt sie nicht? Die Schlechtigkeit rühmt sich mit solchen Taten und prahlt mit solchen Heldenstücken. Nicht Zufall – Gottes Hand hat diesen da in mein Revier gesandt und meinen Rächerarm vorgeworfen. Geschah's nicht, so hätte ich ihn wenige Tage später gesucht, gefunden in einem Fuchsbau, wo er sich auch eingegraben hat; denn – bei dem da droben! – für jede Träne der armen Pauline will ich einen Blutstropfen aus seinem Herzen!«
»Nehmen Sie!« sagte Gustav mit bebendem Mund und preßte die Hand gegen die Brust.
»Gut denn«, entgegnete der Jäger, sich sammelnd. »Ich will die Sache behandeln, als wäre ein Ehrenmann mein Gegner. Ich will den Schänder nicht niederschlagen mit meinem Kolben wie einen tollen Wolf. Er soll ehrlicher enden, als er es verdient. Meine Familie ist bereits aufgebrochen von hier, sie flieht die Pestluft, die dem Liebling Tod droht. Unten in Gernrode werde ich im Braunen Hirsch Nachricht von Ihnen erwarten. Bestimmen Sie Waffen, Ort und Zeit. Der lange Herr da soll nicht klagen, daß Felix von Stahlhut die Sitte verletzte. Wählen Sie die Mitternacht, sie paßt für Ihresgleichen; mein Lauf wird Sie im schwärzesten Dunkel nicht fehlen. Und entkommen werden Sie mir nicht, Ihre Fährte ist mir jetzt gewiß, und meine Büchse würde Sie vom flüchtigsten Roß werfen. Addio also bis dahin! Die Geduld soll meinen Haß bis zum nächsten Frührot zwängen, dem großen Herrn da zu gefallen.« Er warf ein Kartenblatt mit seinem Namen auf den Steintisch, grüßte uns leichthin und ging.
»Gut, daß er ein Ende machte«, brach Franziskus los; »mir juckten die Fäuste, und ich begreife kaum, wie wir alle den adeligen Grobian mit heilen Gliedmaßen davonlassen konnten. Aber munter, mein Gustav, das gibt ein Gaudium, ein Festspiel aus der alten, schönen Zeit, die schönste Episode in unserer Reise; und ich fabriziere noch heute abend die Grabschrift des hochmütigen Gesellen, denn dir bleibt jedenfalls der erste Schuß.«
»Hätten wir anders getan in unseren Brausejahren?« fiel ihm Ernst unwillig ins Wort. »Er leistete nur den Grundsätzen seines Standes strenge Folge. – Was wirst du aber tun?« setzte er hinzu, Gustav auf die Schulter fassend, der, den Blick am Boden, bisher im tiefsten Sinnen dagestanden war.
»Was ich muß!« antwortete dieser aus tiefer Brust, atmete schwer auf und ließ sich von uns zum Gasthaus geleiten. –
Zwiefach wirkt das Unangenehme, wenn es mitten in die Freude hineinfällt wie der plötzliche Tod einer Braut am Hochzeitsmorgen. Unsere ganze Kameradschaft war verstimmt, gedrückt, beunruhigt, und der Abendtisch sah einsilbige und mäßige Gäste. Gustav hatte sich in ein Zimmerchen eingeschlossen, schrieb emsig und duldete selbst Franziskus nicht, der sich darüber sehr verletzt fand; und Edmund war schon früher nach einem kurzen, herzlichen Abschied davongefahren, um in der Nähe des kranken Fräuleins zu bleiben, wofür ihm ein sprechender Blick des Freundes zu danken schien.
Früh mit dem Anbruch des Tages rief uns Gustav vom Lager auf, und wir fanden ihn mit Verwunderung frei und fast heiter. Er sandte einen Knaben mit einem ansehnlichen Brief nach Gernrode hinunter und drängte dann zum Abmarsch.
»Wo wirst du die Sache abmachen?« fragte Ernst, ihn scharf betrachtend.
»Sie ist abgemacht«, antwortete Gustav mit bestimmtem Ton. »Laßt die Sache fallen; auch mich, den Gott fallenließ.«
»Du wirst dich nicht schlagen?« fuhr Franz dazwischen; »du wirst dem Großmaul nicht die Zunge für immer lahmlegen? Du suchst wohl gar flüchtig aus seinem Schuß zu kommen und uns dadurch mit Schimpf zu belasten? Besinne dich, Mensch! Die Sache kam ja so auf einmal ganz zu Ende. Oder fühlst du wieder Fieber, wie sonst zuweilen?«
Gustav sah mit einem unbeschreiblich verächtlichen Blick auf den Kleinen. »Furcht vor diesem Blutgang bewegt mich nicht«, entgegnete er mit edlem Ausdruck, der uns für ihn gewann und den schlanken Mann verschönerte. »Woher sollte Furcht kommen, wo mir Versöhnung und Erlösung winken? Aber ich darf sie nicht nehmen, denn Buße und Strafe sollen noch nicht zu Ende gehen, so sprachen zu mir in dieser Nacht die Unsichtbaren. Was ich getan habe, errätst du nicht; denn was ich mir selber auferlegt habe, liegt außer dem Bereich deines Gemütes. Die ich schwer beleidigte, werden zufriedengestellt sein, und das ist der einzige süße Tropfen, den das Geschick in meinen Wermutsbecher zu mischen erlaubt hat.«
Er wandte sich von uns, warf seine Reisetasche über die Schultern und ging voran den Berg hinab. Wir folgten; unsere Neugierde mußte verstummen vor dem verborgenen Weh, das aus dem Gehörten klang; nur Franziskus murrte hinten nachschleichend in halblauten Selbstgesprächen.