Clara Blüthgen
Götzendienst
Clara Blüthgen

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243 Der Arzt, mit dem Asmussen sich verständigt, brachte gleich eine barmherzige Schwester mit, die die Kranke nicht außer Augen lassen sollte.

Astrid lag da ohne Fieber, nur apathisch und schlaff, gab aber ganz vernünftige Auskunft, daß sie ein Eichhörnchen habe abschießen wollen, das ein Vogelnest bedroht habe. Dabei sei ihr, wohl infolge der Nachtfahrt, schwach geworden; das erste öffentliche Vortreten sei doch wohl über ihre Nervenkraft gegangen.

Dabei fiel es dem Doktor auf, daß sie ein paarmal ins Genick griff, wobei sich ihr Gesicht schmerzhaft verzerrte.

Auf sein Befragen gab sie zu, dort einen wunderlichen Nervenschmerz zu fühlen, wahrscheinlich habe sie sich auf der langen Fahrt durch den Schneewald erkältet. Darauf machte der Arzt ihr scherzhaft Vorwürfe, daß man so etwas nicht unternehmen müsse, wenn man vor dem ersten öffentlichen Vortrag stehe – sie erwiderte mit einem Spaß – nur um ihn möglichst rasch loszuwerden.

Sicher glaubt er, ich habe einen verunglückten Selbstmordversuch hinter mir, davon werde ich auch die anderen kaum abbringen. Das Natürlichste wäre es schon gewesen, dachte sie.

Dann raffte sie sich zusammen, gesund zu erscheinen. Alle, besonders aber die Schwester zu täuschen. Alle ihre Liebenswürdigkeit wandte sie auf, erkundigte sich gütig nach deren Familienverhältnissen, 244 nach den Kranken, die sie zuletzt gepflegt hatte, und als sie es so zwei Stunden getrieben, erklärte sie, müde zu sein und schlafen zu wollen. Karin möge bei ihr bleiben; der Schwester empfahl sie dringend, sich den Park einmal anzusehen, auch ein Stückchen darüber hinaus den Wald, Anton könne sie begleiten. Dabei arbeitete ihr verstörter Kopf klar und logisch an einem ganz bestimmten Plan.

»Karin, sag', bin ich immer gut gegen dich gewesen?« fragte sie und nahm die Hand des alten Mädchens, das an ihrem Bette saß. »Ich meine doch, du hättest dich über nichts zu beklagen gehabt.«

»Gnädige Frau sind ein Engel«, sagte das Mädchen überzeugt.

»Dann wohl ein gefallener Engel, oder einer, dem es nur mißlang, zu fallen. Aber das verstehst du in deiner Bravheit nicht. Sag', hast du mich lieb, Karin?«

»Für die gnädige Frau würde ich durch Feuer und durch Wasser gehen.«

»Das ist viel zu viel. Wenn du mir nur meine Kleider und den Handkoffer holen wolltest, ich habe ihn noch nicht einmal ausgepackt; und den anderen Mantel, da der, den ich trug, Blutflecke hat – und dann mit mir zur Station gehen wolltest? Würdest du das tun?«

Und als das Mädchen erschreckt versicherte, daß das bei seiner Seelen Seligkeit unmöglich sei, da der Herr 245 Geheimrat angeordnet, gnädige Frau müsse unter allen Umständen im Bett bleiben, zog sie Karins Kopf zu sich nieder, flüsterte ihr ins Ohr:

»Höre zu: sie wollen mir an den Kragen. Weil ich mich ein bißchen anders benommen habe, als es in ihren Kram paßt, wollen sie mich ins Irrenhaus sperren. Du weißt, daß die garstigen Töchter Börgesens immer Geld von mir herausschlagen wollen? Da wäre es ihnen natürlich am bequemsten, wenn man mich entmündigte und sie die Verfügung hätten.«

Als das Mädchen ganz erstarrt von diesen Schrecknissen dasaß, fiel sie ihr um den Hals, küßte sie und beschwor: »Liebe, gute Karin, möchtest du das überleben, wenn sie deine Frau in die Zellen sperrten, womöglich in die Zwangsjacke steckten? Denke doch nur, Karin.«

Da liefen der alten einfältigen Person die Tränen über die Backen, sie stürzte hin, holte die Sachen der Herrin, zog Astrid an wie ein Kind, nahm ihren Koffer, und beide schlichen geduckt an der Gebüscheinfassung des Weges hin, wie ein paar Sträflinge auf der Flucht ins Freie.

Kein anderes Ziel hatte Astrid bei ihrem Plan vorgeschwebt als das eine: hinaus – fort. Nur im Abteil sitzen, durch das Rattern des Zuges das Hirn ganz zermahlen zu lassen, bis es nicht mehr fähig, einen Gedanken durchzudenken. Immer wechselnde Bilder, Eindrücke vor sich vorüber jagen zu sehen, 246 um nichts mehr zu empfinden. Den Körper zermürben und erschlaffen, damit nachts der Schlaf kommen muß.

Vorerst nur eine unendliche Zahl von Kilometern zwischen sich und ihn legen.

Auf gut Glück hatte sie eine Karte gelöst. Sie wußte keinen Menschen, bei dem sie hätte Trost suchen können. Jede Stadt, in die sie kommen würde, war ihr gleich recht. Überall würde es ein Hotel geben, mit irgend etwas zu essen und einem erträglichen Bett.

Es war ihr gleichgültig, ob sie einen Luxuszug oder einen Bummelzug erreichte, manchmal fuhr sie Erster, Dritter – überall war dieselbe Bewegung, dieselbe starke Ablenkung, die sie suchte – und doch nicht fand.

Sie hatte nur eine Empfindung: Holger Asmussen. Sie fühlte ihn mit jedem Nerv, empfand ihn mit jedem Sinn. Ihr Blut war mit ihm gesättigt wie mit einem bösen Gift; sie fühlte ihn als Fieber durch ihre Adern rollen, fühlte ihr Hirn von ihm angefüllt bis zum Zerspringen.

Eine Überfülle von Bildern war um sie her, die ihn zeigten: vom ersten Sehen an, in ihrem Arbeitszimmer, die schmale Hand auf die Marmorplatte des Tisches gestützt – ihre Arbeit – die Teestunden – die Theaterproben, die Szene im Konversationszimmer, wo sie des Gatten Uhr gegen sein Amulett ausgetauscht hatte. Der fröhliche Anfang ihrer Künstlerfahrt – die Fahrt durch den Wald – sein Kuß.

Zuletzt jene Szene spät abends in seinem Zimmer, 247 seine tötenden Worte. – Sie faßte mit der Hand ins Genick, als ob sie dort wieder die Peitsche spürte.

Jedes Gespräch mit ihm von ihrem ersten Sehen an wußte sie auswendig, sie hörte es mit seiner Stimme, mit jeder Hebung oder Senkung.

Alle diese Bilder und Gespräche drangen auf sie ein wie etwas Lebendiges. Sie krochen am Tage auf den Polstern ihres Abteils und nachts, wenn sie schlafen wollte, aus den Kissen. In ihrer Überfülle erdrückten sie sich gegenseitig, ballten sich zu einer Masse zusammen, die sich um sie auftürmte, sie zu erdrücken drohte. Sie atmete schwer und mühsam, ihr war, als ob sie seinen Dunstkreis verschluckte und daran ersticken müßte.

Es gab für sie keine Ablenkung. Die Natur, der sie sonst so fein auf ihren Wegen nachgegangen, war ihr nur noch eine leblose Kulisse. Sie konnte kein Buch lesen, keine Zeitung. Der Sinn verschwamm ihr, und zwischen den Zeilen lauerten die Worte, die Holger zu ihr gesprochen. Sie trug noch immer sein Amulett auf der Brust, eine Schwäche, von der sie sich nicht freimachen konnte. Es war wie eine Fontanelle: die Wunde sollte sich nicht schließen, solange die Reizung anhielt.

Sie hatte keinen Menschen, gegen den sie sich hätte aussprechen können. Bei ihrem sinnlosen Hin- und Herfahren erreichte sie kein Brief.

248 Eines Tages saß ihr im Abteil eine Dame gegenüber, die eifrig einen mehrere Bogen starken Brief durchlas.

Mit einem Male sprang in Astrid der Gedanke auf, sie müsse an Holger Asmussen schreiben, ihm alles das schreiben, wozu er ihr bei seiner Auseinandersetzung keine Zeit gelassen hatte. Alles das Unausgesprochene, das sie verbrannte. –

Dem Einfall folgte die Ausführung auf dem Fuße.

Hastig zerrte sie ihren Handkoffer aus dem Gepäcknetz, kramte eine kleine Mappe mit Briefpapier und den Tintenstift hervor.

Der Zug schleuderte, die Mappe tanzte auf ihren Knien, sie achtete nicht darauf, sie schrieb, schrieb.

»Du mußtest es wissen, vom ersten Augenblick an, in dem Du in mein Leben tratest, daß Du mein Schicksal bist, Holger Asmussen. Ich hatte noch eine unverbrauchte zweite Jugend: die gehörte Dir. Ich hatte ein reiches Heim, viele beneideten mich darum: Du konntest einziehen als der Herr. Ich rang um Ruhm und Erfolg, um vor Dir groß dazustehen: Du haßtest mich darum, wie einen Nebenbuhler. Alle Rosen meines Seins schüttete ich Dir zu Füßen und Du zertratest sie. Warum gingst Du mir nicht aus dem Wege, Holger Asmussen, und schlugst nicht ein Kreuz vor mir wie vor dem Bösen? Du bist ein müde gewordener Sadist, aber doch ein Sadist – 249 und ich fühle die Peitsche Deiner Worte im Nacken.«

Das langsame Fahren des Zuges, das Rutschen auf den Weichen schreckte sie auf: der Zug fuhr in irgendeine kleine Station ein.

Sie brach den Bogen zusammen, stopfte ihn in einen Umschlag, machte die Aufschrift. Sprang aus dem Abteil zum Briefkasten. Genau achtete sie darauf, daß der Brief richtig im Spalt versank, dann huschte sie zurück – der Schaffner schob sie noch soeben in den abfahrenden Zug.

Für eine halbe Stunde war sie wie erlöst, müde zum Einschlafen.

Gleich darauf fingen die Gedanken wieder an, in ihrem kranken Hirn zu arbeiten. Sie griff nach einem zweiten Bogen. Für den Augenblick hatte sie ihren Haß erschöpft, weiche Töne klangen um sie:

»Warum verschmähst Du mich eigentlich? Was verlangst Du von mir? Dein Haupt ist voll Schnee, meines ist blond wie in meinen Jugendtagen – und so weich wie Seide. Fühltest Du es nicht, als Deine Hand darauf lag? Was sind Jahre? Ein Menschenmaß, von Menschen gemacht. Es gibt eine Jugend, die darüber steht. Weißt Du es nicht, daß ein edler Wein erst in seiner Reife am stärksten berauscht? Daß eine Königin der Nacht kurz vor dem Welken am betäubendsten duftet?«

Dann aber nahmen ihre Gedanken poetischen 250 Schwung und suchten nach einer poetischen Form, steigerten sich zur Extase, in der sie ihm alles, was sie erreicht hatte, zu Füßen legte:

»All meiner Sehnsucht stürmischer Drang,
Der mich begleitet mein Leben lang,
Was zur Höhe oder zur Tiefe rang – –
Lockende Stimmen, die um mich gesungen,
Dunkle Gewalten, die mit mir gerungen,
All mein Verzagen, Hoffen und Bangen
In der einzigen Sehnsucht untergegangen!
Was an brennenden Wünschen in mir schlief,
Was flehend mich um Gestaltung rief,
Jeder winkende Kranz, zum Greifen tief –
Ich laß es lächelnd – ein wertloser Tand.
Nimm Du es! Zerbrich's mit spielender Hand.«

Jeder Einfall übermannte sie mit zwingender Gewalt, daß sie ihn wie einen Druck am Herzen fühlte, keine Ruhe hatte, bis er auf dem Papier stand, bis der dunkle Rachen des Briefkastens den Erguß geschluckt hatte. Dabei schnellte ihr Empfinden von einem Pol zum andern. Wenn sie eben Asmussen empört als ihren Peiniger in den Staub geworfen hatte, hob sie ihn im nächsten Augenblick auf den Thron:

»Auf königlichem Stuhl will ich Dich sehen,
Der Ersten einer und mein Herr.
Um Deinen Leib schling ich den Königspurpur,
251 Das Diadem des Genius um Dein Haupt,
Und meiner Lieder süßer Wohllaut soll
Wie Weihrauchsduft zu Deinen Füßen schwelen.«

Dann wieder zerfloß sie in einem Liebesgestammel, das dem erotischen Wahnsinn verwandt war:

»Ich bin die Schale, die überfließt
Von Dir, von Dir.
Jedes Herzschlags Regen spür ich
Von Dir zu mir.
Bin die Flamme, die Dir entgegenschlägt,
Ein Wachs, das Deinen Stempel trägt –«

Es spielten auch wohl Erinnerungen an ihre gemeinschaftliche Arbeit, den »Rebellen«, hinein:

»Neben des schnaubenden Herbstes Bug
Möcht ich mit Dir zum Kampfe schreiten,
Scharlachne Satteldecken Dir breiten,
Nimmer täte ich mir genug!
Wenn im Sturm die Feinde wanken,
Wenn die Kugeln sie niederstrecken,
Will mit meinem Körper, dem blanken,
Ich den Deinen decken.
Lachend, frohlockend mein heißes Leben
Für Deines geben – –«

Zuweilen zeigten ihre Niederschriften einen Stich ins Religiöse. Sie, die laue Evangelische, die Witwe 252 des alles verneinenden Freigeistes, schrieb in verzückten, mystischen Bildern:

»Du bist mir Priester und Sakrament zugleich, Du reichest mir den heiligen Meßkelch, voll vom Blute des Erlösers, Deinem Blut, Du mein Erlöser. Fühle es: mein eigenes Blut wallt Dir entgegen, es möchte sich mit dem Deinen in dem Kelch der allerhöchsten Liebe mischen. Verwirf es nicht, laß es nicht ungenutzt im Sande verrieseln.«

Wenn sie sich dann so ganz ausgegeben hatte, schlug es wie ein Blitz in ihr verstörtes Bewußtsein, daß Asmussen diese Anbetung nicht verdiene, daß er ein Menschenkind sei, nicht größer, nicht bedeutender als viele andere, und daß sie selbst mit den Schätzen ihres Herzens sein Herz gefüllt habe, bis das schwache Gefäß den Überreichtum nicht mehr fassen konnte. Selbst seine Kunst erschien dann nicht mehr groß. Was ist es denn so Bedeutendes, wenn ein Mensch es zufällig versteht, das, was ein Großer geschrieben hat, etwas besser zu sprechen, als irgendein anderer? fragte sie sich in plötzlicher Unterschätzung seiner Leistungen.

Das erschien ihr dann eine Erlösung, ein Besinnen auf sich selbst. Sie reckte den Kopf hoch, es war ihr, als ob sie Ketten von sich abwürfe. Und nun kam ihr nach all der Selbsterniedrigung die Lust, ihm auch zu schreiben, sich rein zu waschen in dem Eingeständnis, daß sie alles um nichts geopfert habe, um einen Mann, wie ihrer viele sind. Böse, aber erlösende 253 Worte formten sich in ihrem Kopfe; sobald aber ihre Hand auf dem Papier lag, wechselten sie die Farbe. Nach ein paar Worten der Anklage flauten sie ab, dann folgte das Geständnis:

»So seh ich Dich mit den betörten Augen,
So halt ich Dich, so bist Du mein.
Teil meines Wesens, mein Geschöpf, mein Werk,
Zugleich mein Gott – Dich liebe ich!«

Wie lange sie es so getrieben, hätte sie nicht sagen können. Sie erinnerte sich dunkel, in Gasthäusern gegessen, in Hotelbetten geschlafen, Hotelrechnungen bezahlt und Fahrkarten gelöst zu haben. Die Einschnitte in ihrer Erinnerung bildeten nur jene Augenblicke, in dem sie die Briefe in den Kasten geworfen, das Abteil wieder erklommen hatte.

Plötzlich war es ihr, als ob in ihrem Gehirn eine Feder einschnappe: sie wußte nichts mehr zu schreiben. Kein einziger Gedanke, der sich wie sonst so aufdringlich meldete.

Zuerst war es wie ein Aufatmen, eine Erlösung – gleich darauf wie eine fürchterliche Leere.

Sie wußte nun nichts mehr mit sich anzufangen. Zuerst versuchte sie es, sich mit den Mitreisenden anzufreunden. Die aber, denen die ewig schreibende Dame längst unheimlich war, zeigten keine Neigung, auch nur auf die bescheidenste Unterhaltung einzugehen.

Nun sah sie durchs Fenster, in dem Bemühen, mit 254 der Landschaft, die ihr sonst in ihrem raschen Vorübergleiten so viel geboten hatte, wieder Fühlung zu gewinnen.

Die zeigte nichts Außerordentliches: Kornfelder mit fußhohen, grüngrauen Halmen, endlose grüne Wiesen, hier und da ein dunkler Knick, ein Wasserarm, in dem sich der blaue Himmel spiegelte.

Von weither grüßte eine Stadt.

Um sie herum veränderte sich das Gelände. In das Grün mischten sich sanfte, farbige Töne, ausgeblichen, durch die Farbenbrechung der Ferne verwischt.

Der Zug sauste weiter, und nun sonderten sie sich in Streifen, rote, blaue, gelbe, violette – ein Regenbogen, der auf die Erde niedergesunken war.

Astrid wurde aufmerksam, diese bunten Farbenflächen prägten sich in ihr Bewußtsein ein. Durch die Kurven des Zuges verschoben sie sich, einmal lagen sie da, wie die Felder eines auseinandergeschlagenen Fächers, schräg gegeneinander gerückt, dann voll entfaltet, wie ausgebreitete Seidentücher, nun in vollster Kraft der Farbe.

Sie ließ das Fenster herunter, und nun wehte ihr von einer graugrünen Fläche ein starker, süßer Resedenduft entgegen. Daneben leuchtete es tiefblau, breit, glatt wie ein italienischer See.

Blumenfelder, Reseda und Ranunkeln, Nelken, Levkojen und Aurikeln – vor allem aber blauer Rittersporn.

255 Sie erinnerte sich, daß dies die bekannte Stadt sein müsse, die durch ihre Blumenkulturen berühmt sei, deren Samenhandel über die ganze Welt ging. Die Stadt selbst sah im Vorüberfahren grau und alltäglich aus, die Einfassung ihrer Blumenfelder aber war ein Wunder.

Eine brennende Sehnsucht kam über Astrid, auszusteigen und dort zu bleiben. Die weite blaue Fläche des Rittersporns tat es ihr an: Dieser tiefe geheimnisvolle See, dieses Stückchen niedergefallenen italienischen Sonnenhimmels – tiefblau wie die blaue Blume der Romantiker, wie das beruhigende blaue Licht, das im Charlottenburger Mausoleum über das Marmorbild der Preußenkönigin Luise spielt, wie sie es vor Jahren auf einer ihrer Reisen mit Börgesen gesehen hatte. Blau wie der Mantel der Himmelskönigin, wie sie das Christusknäblein im Arm, der Welt verklärt ins Auge sieht. Blau wie das beruhigende Licht in der Zelle eines Irren –

Aber der Kurierzug sauste an der kleinen Stadt vorüber, ohne zu halten. Astrid bog den Kopf zum Fenster hinaus, um noch das letzte Zipfelchen der blauen Seide zu genießen, bis der Wunsch der Mitreisenden sie zwang, das Fenster zu schließen.

Auf der nächsten größeren Station stieg sie aus, unbekümmert darum, daß ihre Fahrkarte noch viel weiter ging.

Zum ersten Male wurde sie sich der Nüchternheit 256 ihres Hotelzimmers, der verwirrenden Geräusche um sich her bewußt. Das Bett war tadellos frisch bezogen, aber es roch nach einem scharfen Waschmittel, und die Matratze brach unvermittelt unter ihren Füßen ab. Ohne schlafen zu können, warf sie sich hin und her.

Da wogte es blau um sie, wie blaue Seide, wie ein italienischer Himmel, der auf sie herniedergefallen war. Dort, wo das blaue Feld war, würde sie Ruhe finden –

Am frühen Morgen fuhr sie die Strecke rückwärts, bis sie die Blumenstadt erreichte.

Sie ließ ihr Gepäck auf dem Bahnhof und machte sich auf die Suche. Irgendein kleines, stilles, efeubewachsenes Haus, mit ein paar alten Leutchen drin, die mit der Welt abgeschlossen hatten, schwebte ihr vor. Eine kleine Veranda oder ein winziger Balkon gehörte dazu, um von dort aus immer auf das beruhigende blaue Feld zu sehen –

Das Suchen verdroß sie nicht, und es war vom Glück belohnt.

Das Häuschen, das sie endlich auffand, war nur einstöckig, mit einem Vorplatz, zu dem fünf Stufen führten, und auf dem zu beiden Seiten zwei gußeiserne Bänke sich altväterlich gegenüberstanden. Das Dach des Vorplatzes stützte den winzigen Balkon vor dem einzigen Zimmer des zweiten Stockwerks, das sonst nur Mansarden und Bodengelasse 257 aufwies. Ein außerordentlich sorgfältig gehaltenes Gärtchen, das auf kleinem Raum alles vereinigte, was die Jahreszeit hervorbrachte, duftete vor dem Hause – und davor, nur durch einen schmalen Weg getrennt, dehnte sich unabsehbar das ersehnte blaue Blumenfeld.

In dem Häuschen wohnten nur der Aufseher der großen Blumenhandlung, seine alte Frau und eine alternde Tochter, die still zwischen den Blumen verblüht war. Sie saß von früh bis spät, um nach den lebenden Blumen die Abbildungen für die Samenkataloge zu malen, während die Mutter den kleinen Haushalt besorgte.

Nach Wochen befand sich Astrid zum ersten Male in einem Zimmer, das kein Hotelzimmer war, sondern eine wohnliche kleine Stube. Es hatte Eichenmöbel mit stumpfblauen Bezügen, einen ehrwürdigen Sekretär mit vielen Fächern, einen Glasschrank, hinter dessen Scheiben viele Blumentassen und Porzellantiere standen. An den beiden Fenstern zu seiten der Balkontür hingen getüpfelte weiße Mullgardinen mit Rüschen glatt hernieder und bauschten sich auf, wenn der Wind durch die geöffneten Fenster den leisen Resedenduft von jenseits des blauen Feldes hereinbrachte.

Lange Stunden konnte Astrid müßig auf dem Balkon sitzen und auf das Blaue starren, jede Verschiebung der Töne beobachtend, wenn der Wind die 258 Blüten in leise Wellen aufwarf, die Wellentäler zu dunklerem Blau vertiefte, die Kämme in einem leisen Schein versilberte, oder wenn die untergehende Sonne eine rote Lasur darüber warf, daß die ganze Fläche tieffarbig wurde, wie der violette Sammet des Bischofsornates.

Gewöhnlich wirkte dieses Blau wirklich beruhigend auf sie, wie das blaue Licht in der Zelle eines Gemütskranken. Dann hörten die Gedanken auf, hinter ihrer Stirn zu arbeiten, ein stumpfsinniges Behagen am Augenblick, ohne jedes Denken, nahm von ihr Besitz. Dann wieder erweckte ihr das Blau eine wollüstige, schmerzliche Sehnsucht – und mit dieser sprangen die Gedanken wieder ein, das Spiel der Phantasie, das Fordern ihres Blutes.

Wenigstens war sie nun nicht ganz allein, nicht auf kecke Zimmermädchen und trinkgeldgierige Kellner angewiesen. Wenn sie wollte, so konnte sie mit den beiden Frauen ganz gut ein Wort sprechen. Die Tochter Augusta hatte ein Weilchen eine Kunstschule besucht, und es war der ständige Stolz der beiden Alten, daß sie der Einzigen diesen Herzenswunsch hatten erfüllen können. Sie war ein stilles, grüblerisches Geschöpf, das manches gelesen hatte und bei der ruhigen Arbeit seinen Gedanken nachhing.

Dadurch fanden sich zwischen den beiden Jüngeren Berührungspunkte, und gar nicht lange, so wußte Astrid, daß auch jene ihr Stückchen Erdenlust und 259 Erdenleid erfahren hatte, in der hoffnungslosen Neigung zu einem ihrer Lehrer, einem verwöhnten Mann, der nur mit ihr getändelt, sie nach ein paar kurzen Freudenstunden beiseite geschoben hatte.

Wenn Astrid das verblühte Geschöpf mit dem dünnen schwarzen Haar, den hektisch geröteten Backen und der spitzen Nase betrachtete, wollte ihr dieser Liebestraum recht verwunderlich erscheinen. Und doch lag, wenn das Mädchen davon sprach, ein Nachglanz dieses Glücks über ihm, der es rührend erscheinen ließ.

»Und Sie können es über sich gewinnen, an den Mann, der Sie so hintergangen hat, ohne Empörung zu denken?« fragte Astrid staunend.

»Dankbar bin ich ihm sogar. Was wäre denn mein Leben ohne ihn gewesen? Er hat wenigstens in all das Grau ein bißchen Farbe gebracht. Trotzdem er mich verlassen, bin ich nicht ärmer als zuvor. Wohl aber reicher.«

Astrid beneidete Augusta um diese Auffassung, konnte sie aber nicht zu ihrer eigenen machen, ein Gefühl furchtbaren Verarmens lag über ihr.

Das blaue Feld war nun abgeblüht. Langsam waren die reinen blauen Töne von mißfarbigen gelblichen abgelöst worden. Man hatte die Samenkapseln abgepflückt und auf die Trockendarren gebracht, eine Menge Menschen, klein wie Heuschrecken und sonderbare feingliedrige Maschinen, wie häßliche 260 Riesenspinnen, waren bei der Arbeit, den ausgenutzten Boden für eine neue Blumenart vorzubereiten.

Durch das Getriebe wurde Astrids Behagen gestört. Die Unruhe sprang von neuem in ihr auf. Ihre Nächte waren schlecht, in ihren wüsten Halbträumen sah sie die Riesenspinnen auf sich zu kriechen, mit ihren dünnen Gliedern nach ihr langen.

Das geht so nicht weiter, ich muß mich an einen Arzt wenden, obgleich ich zu keinem Arzte Vertrauen haben kann. Wenigstens kann er mir etwas zum Schlafen geben, sagte sie bei sich, und jählings, wie es ihre Art war, ging sie durch die Straßen und auf gut Glück in ein Haus, das ein ärztliches Schild aufwies.

Der Doktor war ein kleiner, ältlicher Herr mit klugen Augen hinter den sehr dicken Brillengläsern des krankhaft Kurzsichtigen. Wenig gepflegt und schlecht rasiert, wie es dem Arzt der Kleinstadt durchgeht.

Aufmerksam hörte er Astrids Erzählungen an, wie ihre Gedanken stets um einen bestimmten Punkt kreisten, ohne je davon loskommen zu können, wobei sie natürlich vermied, von ihrer verspäteten Leidenschaft zu sprechen.

»Sie sind Witwe, hm? Und vermutlich vermögend, da es Ihnen möglich ist, so zwecklos herumzureisen? Unter ›vermögend‹ verstehe ich einen Besitz, der Ihnen gestattet, ohne eine Berufsarbeit zu leben?«

Astrid mußte es zugeben.

261 »Das dachte ich mir, hm, es ist schade. Diese verwöhnten Frauen bequemen sich kaum je ohne äußeren Zwang dazu, das zu tun, was ihnen heilsam wäre. Wenn ich über Sie zu bestimmen hätte, so sagte ich: Büroarbeit, etwas ganz Mechanisches, lange Zahlenreihen addieren, Geschäftsbriefe schreiben, wenn's sein müßte, Stenographie oder Schreibmaschine. Jedenfalls etwas rein Praktisches, was die Gedanken am Fäden hält und der Phantasie keine Seitensprünge erlaubt. Oder ich würde Ihnen Gartenarbeit verordnen, nicht als Sport für ein paar Stunden, sondern angestrengt den ganzen Tag hindurch, bei jedem Wetter. Das zieht das Blut vom Kopfe, entlastet gewisse Teile – – Na, da Sie es aber nicht nötig haben, bin ich sicher, daß Sie es nicht tun.«

Schließlich schrieb er eine Anweisung auf Veronaltabletten, die Astrid nicht ohne ärztliche Bestätigung bekommen konnte.

Astrid dankte, zahlte aus freien Stücken überreichlich und ging. In des Doktors Worten war etwas, das ihre Vernunft aufrief.

Im Vorübergehen sah sie die Büros und Läden an, ob dort vielleicht etwas sei, wo sie hineinpasse.

Als sie in der Apotheke auf das Schlafmittel wartete, überlegte sie, ob hier nicht Handlangerdienste für sie zu tun seien: Rezepte abschreiben. Flaschen ordnen, den Papierrand über den Flaschenkorken sauber abzuschneiden? Aber nein, eine Apotheke verlangt 262 geschulte Kräfte, so ist's Vorschrift, die müssen selbst für solche untergeordneten Dienste einspringen.

Später, als sie das Glasröllchen in der Tasche hatte, sah sie das Schaufenster einer Buchhandlung. Wenn sie dort den Kleinkram an Schreibpapier und Radiergummi verkaufte und die Nummern all der zweitausend Bände der Leihbibliothek sich ins Gehirn zwänge, so daß sie ohne Überlegen gleich den verlangten Band herausgreifen könne? Wo wäre ein besseres Mittel, um alle die bohrenden Gedanken lahmzulegen?

Sie spielte mit der Idee, ging über die Straße hinüber, blieb plötzlich wie angenagelt vor dem Schaufenster stehen.

Hinter der grünen Scheibe, inmitten von allerlei billigen Drucksachen, Lieferungswerken in geschmacklosem Farbendruck stand etwas, was sie am wenigsten hier vermutet hätte: das Bild ihres Gatten aus seinen Altersjahren; er steht umringt von den vier Doggen vor dem Hünengrab.

All die Zeit über hatte sie ihn fast vergessen gehabt. Jetzt war es, als ob sein Riesenwille den Bleisarg gesprengt hätte; er stand vor ihr als ihr Ankläger: Was hast du mit meinem großen Namen gemacht?

Natürlich ging sie in den Laden, sich das Bild zu kaufen, stolz, daß sie zu diesem Großen gehört hatte, doch ängstlich, daß der Verkäufer den Zusammenhang durchschauen könnte.

263 Es folgte eine böse Nacht, in der das Veronal anstatt Schlaf nur eine Reihe wirrer Bilder in dem überreizten Gehirn hervorrief. Mit schweren Gliedern und dumpfem Kopf wachte sie auf.

In ihrer Zerschlagenheit wurde der Wunsch, sich gegen jemand auszusprechen, so peinigend, daß sie Augusta bat, zu ihr zu kommen. Sie zeigte ihr Börgesens Bild und erzählte ihr schamvoll, abgebrochen einzelne Kapital ihrer Leidensgeschichte.

»Und da gehen Sie zu einem Arzt und erwarten von dem Hilfe? Von einem Mann, der Sie nie gesehen hat, der von Ihrem Innenleben nichts kennt, als was Sie für gut halten, ihm zu sagen? Glauben Sie mir: schon heute weiß er nichts mehr von Ihnen, als daß Sie ihm zwei Doppelkronen hingelegt haben.«

»Wohl war. Aber nach irgendeiner Hilfe tastet man doch, wenn man so zermürbt ist wie ich. Wenn doch ein Mensch auf Gottes Erde mir dazu verhelfen könnte, daß ich nur einmal eine einzige Minute nicht daran denken müßte: Was tut er – jener Mann jetzt? Oder daß mir eine Antwort darauf würde. Irgendein Weg muß doch noch zu ihm führen.«

Augusta überlegte einen Augenblick.

»Ich kann nicht wissen, wie weit Sie im Materialismus untergegangen sind oder ob Sie noch eine Verbindung mit unseren Toten oder eine Strömung zu den Lebenden hin, die wir lieben, zugeben?«

»Mein Gatte war diesen Einflüssen unterworfen. 264 Ja, in seinen letzten Lebensjahren glaubte er das Hineingreifen einer jenseitigen Welt in unsere beständig zu fühlen. – Wenn Sie aber vielleicht vorhaben, mich zu einer Kartenschlägerin zu führen, die mir aus dem Kaffeesatz die Zukunft prophezeit – nein, so weit bin ich noch nicht gesunken.«

»Lehnen Sie dies nicht ab. Die einfachen Geschöpfe sind vielleicht die besten Gefäße einer fremden Kraft. Die Frau, an die ich dachte, ist eine von den geistig Armen, aber sie hat besondere Kräfte, daran ist nicht zu zweifeln, ich selbst habe mich davon überzeugen können.«

»Und wie erklären Sie sich das? Meistens folgt doch jeder übersinnlichen Offenbarung eine recht irdische Erklärung.«

»Danach habe ich freilich nicht gesucht, aber sie könnte hier liegen: Frau Larsen hat neben ihrem linken, etwas verkümmerten Ohr noch den Ansatz eines anderen Ohres – so wie oft zwei kleine Äpfel nahe zusammensitzen und einer auf Kosten des anderen verkümmert. Vielleicht hat die Natur bei ihrer Zeugung eine Zwillingsgeburt beabsichtigt, und jener kleine Geist, der um seinen Körper betrogen ist, hat sich in ihr eingenistet und wirkt da in einer Weise, die wir nicht verstehen. Zudem ist sie die Witwe eines Matrosen, der aus Indien allerlei Geheimnisse mitgebracht haben mag.«

Astrid war aufgestanden.

265 »Also sehen wir uns dieses dreiohrige Höllengeschöpf an. Es fängt an, mich zu interessieren. Wollen Sie mich dort feierlich einführen?«

»Nur auf den Weg dahin will ich Sie bringen. – Das Bild des Herrn Staatsrates sollten Sie aber mitnehmen, vielleicht kann sie Ihnen auch darüber irgend etwas sagen.«

Sie gingen durch ein Gewirr kleiner Gassen, die sich immer mehr verengten. Schlechtes Pflaster; Berg und Tal. Vor einem zweistöckigen Backsteinhause mit Toreinfahrt, das einen ländlichen Eindruck machte, blieb Augusta stehen.

»Nun müssen Sie Ihr Heil schon allein versuchen. Gerade durch den Flur, dann über den Hof, in dem kleinen Häuschen links wohnt sie.«

Der Hof war aller ländlichen Gerüche voll. Ein ausgespannter Ackerwagen stand in der Mitte, auf einem Dunghaufen gackerten die Hühner, ein angeketteter Hund schlug an.

Ohne Mühe fand sie die bezeichnete Tür, klopfte und trat ein.

Ein Zimmer, so alltäglich, wie es die Armut sich allerorten gleich einrichtet: Ein ausgesessenes und verschossenes Sofa mit gehäkelten Schonern bedeckt, eine Kommode mit gehäkelter Decke, darauf unter einem Glassturz ein Strauß aus gefärbten Wachsblumen, von kleinen Blüten aus zusammengesetzten Reiskörnern und Gewürznelken unterbrochen. Ein 266 lederner Altersstuhl am Fenster, auf dem Tisch noch das Kaffeegeschirr. Alles so nüchtern, daß es schwer wurde, an das Walten überirdischer Wesen zu glauben.

Die Besitzerin trat aus der nebenliegenden Küche. Sie war eine einfache Person in mittleren Jahren, mit einem etwas aufgeschwemmten, unintelligenten Gesicht, in dem ein paar trübe Augen unter entzündeten Lidern lagen. Das Haar war von einem farblosen Hellblond, ungepflegt, und hing, hinten zu einem Knoten aufgerollt, nachlässig halb über die Ohren, doch ohne das dritte Öhrchen ganz zu verdecken. Sie trug ein braunes Lüsterkleid und eine blaue Druckschürze, an den Füßen ausgetretene Pantoffel, mit denen sie schlürfte.

Als Astrid von dem Zweck ihres Besuches anfangen wollte, winkte sie ab, sie wisse Bescheid, die Besucherin möge nur vor dem Tisch Platz nehmen. Sie selbst setzte sich, nachdem sie das Kaffeegeschirr in die Küche getragen, Astrid gegenüber ins Sofa.

Sie legte ihre Hände, die für eine Frau aus dem Volke auffällig klein und gut gehalten waren und mit ihrer feinen straffen Haut beinah jugendlich aussahen, auf den Tisch und sah mit ihren matten, rotgeäderten Augen Astrid lange an, ohne ein Wort zu sprechen.

Diese fühlte, wie eine schwere Müdigkeit davon auf sie überstrahlte – vielleicht war es auch die Nachwirkung des Veronals, daß sie in der Nacht nicht richtig ausgeschlafen hatte.

267 »Sie müssen mir nun etwas geben, das von ihm ist«, sagte die Frau endlich, mit einer Stimme, die dick und schwer wie etwas Materielles aus ihrem Kehlkopf hervorkam.

Astrid zauderte. Sie schämte sich, daß sie sich vor der alten Person so ganz preisgeben sollte. Dann aber fühlte sie es durch ihre Müdigkeit wie einen Zwang: sie nahm das Bild Börgesens aus dem Papier und reichte es der Frau.

Die legte es vor sich hin, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, beschattete mit den Händen die Augen und starrte auf das Bild.

Astrid behielt sie fest im Auge, aber allmählich merkte sie, wie ihre Blicke auf das dritte Öhrchen abirrten. Es war nicht größer als eine Kirsche, das Läppchen fehlte, auch die Muschel war verkümmert, dagegen war das innere Gewinde vollkommen ausgebildet. Es zog Astrid hypnotisch an, als ob ein kleiner Dämon darin sitze.

Nach einem Weilchen hob Frau Larsen den Kopf.

»Es ist nicht das Richtige«, sagte sie, indem sie Astrid böse ansah, als habe diese ihr Spiel mit ihr getrieben.

»Doch. Es ist das Bild eines Verstorbenen, der mir sehr nahegestanden hat –«

»Das Bild Ihres Gatten und seiner Hunde. Den rechts wollten Sie töten – dem anderen zuliebe.«

Astrid fühlte, wie es ihr über den Rücken lief. 268 Gleich darauf beruhigte sie sich. Ah, sie liest die Gedanken aus meinem Gehirn. Natürlich habe ich an meinen Mann gedacht, als ich ihr das Bild gab. Unbewußt wohl auch an Palle, sagte sie sich.

»Sie wollen ja nichts von dem alten Gatten hören – nur von dem anderen. Sie tragen etwas bei sich, das von ihm ist –«

War diese Frau doch am Ende hellsehend?

Unwillkürlich machte Astrid einen Griff zu ihrer Brust, wo, wie immer, unter dem Kleide Asmussens Amulett lag. Als sie es berührte, fühlte sie: es war ihr unmöglich, von ihm zu sprechen, das Reliquiensäckchen fremden Blicken auszusetzen. Mochte ihre Sehnsucht, von ihm zu hören, noch so groß sein, größer war ihre Scheu, das Heiligtum, das von ihm war, zu mißbrauchen.

»Ich habe nichts von einem anderen, und es ist von keinem anderen die Rede«, log sie und suchte nach ihrem Geldtäschchen, um die Sitzung zu beendigen.

»Ich sehe eine kleine Goldmünze mit dem Bilde der Muttergottes darauf. Er gab sie Ihnen – als – an einem Abend in der großen Stadt – – –«

Der Faden schien ihr zu reißen, und ärgerlich darüber, stand sie auf.

»Ich zwinge niemand, mir die Wahrheit zu sagen. Aber nur, wo Wahrheit ist, ist Erkennen. Die Lüge verdirbt alles Schauen. Mit der Lüge verschließt sich die Tür, durch die ich sehen kann.«

269 Astrid lag daran, sie zu versöhnen. Offenbar waren hier unbekannte Kräfte, die man nicht von oben her abtun konnte.

»So sagen Sie mir von ihm hier – von meinem Gatten«, bat sie fast demütig.

»Wollen Sie, daß er zu Ihnen zurückkehrt?« fragte die Seherin, und Astrid antwortete, wie unter einer Suggestion: »Ich will es.«

Nebenan in der Küche hantierte Frau Larsen. Eisen klirrte, ein weichlicher Geruch von Holzkohlen strich herein.

Die Schwere in Astrids Gliedern nahm zu. Halb gelähmt saß sie auf ihrem Stuhl, kaum noch fähig, die Augenlider zu heben.

Jetzt kam Frau Larsen zurück, sie trug auf einem Blechteller einen kleinen Dreifuß voll schwelender Kohlenglut, und setzte ihn mitten auf den Tisch, genau zwischen sich und Astrid. Aus einem lackierten Büchschen, offenbar indischer Herkunft, nahm sie neun Samenkörner von einer eigentümlichen gelbroten Färbung und streute sie auf die Glut.

Ein starker betäubender Geruch entwickelte sich, zugleich ein fester, grauweißer Dampf, der sich nicht zerteilte, sondern über dem Tisch wie eine Scheibe stehenblieb und den Oberkörper der Frau ganz verhüllte, so daß nur der Kopf, wie abgetrennt vom Rumpfe, darüber schwebte.

Sie faßte Astrid fest ins Auge. Sie fühlte sich 270 davon gebannt, wie ein kleiner Vogel von dem Blick der Schlange. Ihre Glieder schienen ihr unbeweglich wie Marmor.

Mit einem eintönigen Geräusch, einem ganz leisen Zischen schwelte die Glut in dem Dreifußbecken weiter. Immer mehr verdichtete sich der Rauch, immer betäubender wirkte der fremdländische Geruch.

Über der Dampfwand begann das Gesicht der Frau sich zu verändern. Die verschwommenen Züge wurden markig, gedrungen, die glatte Nase sprang nun in kühnem Zug aus der Stirn hervor, die Unterlippe schob sich vor, füllte sich tiefrot mit Blut, einzelne blaue Äderchen liefen darüber fort. Über den stahlhart gewordenen Augen sträubten sich buschige weiße Brauen. Das herunterhängende Haar richtete sich um die Stirn zu einem Kranze auf, verblich, wurde weiß, greisenhaft. –

Auf die Tischplatte hatte die weichliche Hand der Frau gelegen, sie war nun größer geworden, vertrocknet, eine Greisenhand mit freiliegenden Sehnen und darüber gespannten graublauen Adern.

Immer weiter schritt die Wandlung vor sich: die Hexe von Endor, die den Geist Samuels zitierte, eins mit ihm ward.

Die Augen rollten, das Weiß schimmerte. Die Lippen bewegten sich, um Worte zu formen.

Da beugte sich das entsetzliche Greisenhaupt gegen Astrid vor, die Greisenhand faßte nach ihrer rechten 271 Schulter und glitt von da langsam den Arm hinunter, der sofort gelähmt herniederfiel.

»Malthe!« schrie Astrid in wahnsinnigem Entsetzen. »Malthe, laß mich – –«

Sie sprang auf, taumelte, warf ihr Geldtäschchen auf den Tisch, riß beide Fensterflügel auf.

Wie irr sah sie um sich. Die Glut schwelte im Erlöschen. Dahinter saß mit gedunsenem Gesicht und geröteten Augen Frau Larsen und atmete schwer. Ihre eine Hand zeigte noch die dick aufliegenden, greisenhaften Adernstränge.

Astrid stürmte hinaus.

Irgendwo fand sie einen Wagen, der sie heimbringen sollte. Als sie die Wagentür öffnen wollte, hing ihr rechter Arm steif, leblos hernieder.

Sie überließ es ihren Wirtsleuten, den Kutscher zu bezahlen, torkelte die Treppe hinauf, warf sich, wie sie war, aufs Bett.

Schlafen, nichts als schlafen. –

Da fühlte sie das Veronalgläschen, nahm, wie es traf, vier oder fünf Tabletten, schluckte sie, spülte mit einem Schluck Wasser nach und wendete den Kopf zur Wand. –

* * *


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