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Vor Jahrtausenden! Wo heute die Quellflüsse der Loire, Dordogne, Rhône und Drance gen Nord, West und Süd sich donnernd scheiden und reiche Rebengelände sich an sonnige Höhen schmiegen, liegen damals noch die eisigen Moossteppen, das Jägerparadies! Keine Früchte milden Südens reifen dort zu Füßen der unermeßlichen Gletscherwelt. Aber die Johannisbeere bietet an niedrigen Sträuchern ihre herben roten und schwarzen Beeren. Im Moorboden, den die Sonne kaum in der Spanntiefe einer menschlichen Hand zu erwärmen vermochte, wurzelt eine flach verästelte Himbeerstaude, die zur Sommersonnwendzeit die gelben würzigsüßen Schellbeeren trägt; auf den Moosen sitzen gleich Korallen die grellen Bündel der Preiselbeeren, leuchten weiß und tiefrot die säuerlich bitteren Moosbeeren; die Rauschbeere reift, und die schwarze Krähenbeere gibt süßliche Speise. Um die Zelte, in denen am Fuße des Gipsberges die Horde lagert, seit sie beim ersten Locken des Föhnsturmes die Winterhöhlen verlassen hat, blühen und duften weißer Wasserstern, rosafarbene Nelken, dunkelrote Wicken, blaue Glockenblumen und Moorfuchsschwanz. Bei Sumpfporst und Rosmarinseide sonnt sich am Stein ein blasses Röslein, und darüber kriecht der Wacholderstrauch hin, strotzend von grünen Beeren.
An Schluchten und Hängen, wo die Mittagssonne am besten anwärmen konnte, reckt sich schier mannshohes uraltes Gehölz hin, oft vom Schneesturme gerüttelt und doch immer wieder zum Lichte strebend: Birken und Werfweiden in breiten, weitausgreifenden Büschen. Von struppigen Kronen erstorbener Kiefern hängen bärtige Astflechten herab, an denen die Flöckchen der im sanften Winde segelnden Wolle des Sumpfgrases sich fangen. Zur Dämmerstunde sogen sie sich satt am Labsale der Nebel, die aus dem Moor aufstiegen, und dann tropften sie in eintönigem Gleichmaße, bis die Mittagssonne mit mildem Scheine sich über das weite Moor lagerte, und nun die Welt in traumseligen Schlaf versinkt. Nur die Alpenlerche stimmt noch ihr Lied an, und zuweilen jagt eine Schwalbe aus ihrem Nistloche im Torfe auf. Sonst Stille, feierliche Stille ringsum! Moorhühner und Schneeammern stübern im trockenen Torfsande, auf den Blänken halten die Scharen der Enten, Gänse und Schwäne stille Rast, die Eule blockt mit blinzelnden Lichtern im Weidicht. Selbst der unermüdliche Rabe schweigt; selbst der unersättliche Vielfraß liegt, behaglich den Raub des Morgens verdauend, zusammengerollt zwischen den trockenen Mooskaupen; selbst der hungrige Wolf trabt jetzt nicht mehr umher, und der Lemming hat Frieden in seinem Verstecke.
Zwischen den Zelten an einem Herde aus zusammengesetzten Feldsteinen hocken spielende Kinder. Sie haben Dürrholz von den Weidensträuchern herbeigeschleppt, das sie mit Riemen aus Renfell Unser nordländisches Wild (Rangifer tarandus) heißt Ren, das männliche Renhirsch, das weibliche Rentier. Die Schreibweise Renn, die Brehm gebrauchte, fände Rechtfertigung im altnordischen »hreinn«. Der Name deckt sich aber im Klange mit dem schwedischen »ren«. Englisch rane, ranedeer, auch rein-deer, angelsächsisch hrân oder hrân-deor = Renhirsch. In Amerika wird es Karibu genannt. Sein Verbreitungsgebiet umfaßt den ganzen Gürtel der hochnordischen Breiten, in Amerika von den Nordgrenzen der Vereinigten Staaten bis zu den Parry-Inseln. In Rußland reichte das Verbreitungsgebiet des wilden Ren von Nowaja Semlja bis hinab nach Kasan, im Uralgebiete sogar hinab bis zum 52. Breitengrade. umschnürt hatten. Jetzt blasen sie tüchtig in die Aschenglut und jubeln laut, als die Flamme lichterloh aufschlägt und die Rauchsäule schnurgerade durch die über dem Feuer erzitternde Luft zum Himmel aufsteigt: das bedeutet Heil und guten Fang für die am Rande des großen Stromes auf dem Moossumpfe jagenden Väter und Brüder.
Die Kinder laufen nackt herum in dieser Zeit, in der das Wasser ohne Eiskruste offensteht und man die Fische mit der Hand fangen kann. Heute haben die Buben und Mädchen sich im Tauchen geübt und einige stramme Fische gegriffen, die nun in dem Netze neben dem Zelte zappeln. Das Netz ist aus Rensehnen gestrickt, die mit Pfriemen aus Rengeweih zerfasert und dann geknüpft sind. Jetzt kommt die Mutter und gibt den Mädchen die Fische zur Zubereitung. Mit scharfem Schaber aus Feuerstein schuppt jede einen Fisch und nimmt ihn aus, um ihn der Mutter zum Rösten auf den heißen Steinen zu reichen. Die Kleinste holt auf Befehl der Mutter den Birkenbesen und säubert den Platz von Schuppen und Fischblasen, die sie in die Kehrichtgrube wirft zu zerschlagenen Markknochen und sonstigen Speiseresten.
Dann werden einige Fische verspeist, und der Rest wird auf Weidenstäbe gesteckt und im Zelte aufgehängt, wo kein frecher Vielfraß sie stehlen kann. Die Buben laufen dann wieder hinaus, um junge Schneehühner zu fangen. Die Mädchen aber setzen sich zur Großmutter ans Feuerchen und helfen ihr warme Winterkleider aus Bärenhaut und gegerbter Rendecke nähen. Die Augen der Alten sind noch immer hell und scharf, wenn sie in die Ferne blickt, aber das Einfädeln der dünnen Sehne in das Öhr der feinen aus Rengeweih geschabten Nadel will ihr doch nicht so flink von der Hand gehen wie den Kindern. Wißbegierig schauen diese zu, wie Großmütterchen die Achsel in Vaters neuen Langrock aus weißem Renkalbfell einpaßt und wie sie den Vorderstoß mit Otter verbrämt. Dann wird ein Frauenrock aus Bärenpelz bewundert, der mit Hermelin gesäumt ist. Dazu das herrliche Gehenk aus glitzernden Seemuscheln. Und dann die eigenen nagelneuen Kleidchen, die Mutter zugeschnitten hat, und die alle noch genäht, und wenn es falsch war, wieder aufgetrennt werden müssen, damit sie weich und bequem anliegen, wenn der Schneesturm wieder um die finstere Felsgrotte braust.
Auch dort oben gibt es jetzt noch viel zu tun! Es muß frisches Heu zur Lagerstätte eingetragen und zuvor der alte Unrat ausgefegt werden. Denn sauber und wohnlich soll der Felsensaal bezogen werden, wenn das Unwetter zur Nebelzeit dazu zwingt. Dann wird vor den Eingang ein Fell gehängt, das nur soviel Luft hereinläßt, um dem Rauche Abzug zu gestatten. Mit fröhlichem Geplauder besorgen Frauen und Mädchen dort oben diesen Dienst. Sie schichten Weidenholz in Bündel auf, schütten Grasheu auf die trockensten Stellen des Höhlenbodens und mustern dabei voller Freude die schönen Malereien, die mit geschabten Stücken von Farberde an den Wänden angebracht sind. Da ist ein grimmer Bär eingeritzt, dort ein Ren von Sechsundsechzig Enden, dort ein langhaariges Mammut mit geschweiften Stoßzähnen.
Noch viel schöner aber ist der große Hordenschmuck, der in einem Höhlenschreine verborgen wird. Kristalle, die wie Eis funkeln in stockfinsterer Nacht, Goldgestein und gelber Bernstein neben blauen Amethysten und buntem Achat. Und dazu Speerspitzen, Äxte und Schaber aus Feuerstein, wie die Jäger sie aus weiter Ferne zusammengeschleppt oder den wollköpfigen Braunen geraubt hatten, die vordem diese Gegend bewohnten, aber weichen mußten, als die helläugigen Langschädel aus Norden einrückten. In ihrer Hand wurde der Schaber und das Steinmesser zum Künstlerwerkzeuge. Sie schnitzten damit aus Knochen oder Mammutzähnen herrliche Tierköpfe und sonstige Verzierungen, die später der nordischen Tierornamentik zum Ausgangspunkte ihrer Entwicklung gedient haben. Diese Lust zur darstellenden Kunst war ja auch verständlich genug bei einem Volke, dessen schöpferische Phantasie durch die Erinnerung an bestandene wilde Gefahren und den Kampf mit tobenden Naturgewalten so stark befruchtet wurde. Die Freude an dieser ursprünglichen Kunst teilte sich selbstverständlich allen Mitgliedern der Horde mit und erklärt die fröhliche Schaulust unserer mit dem Höhlenputze beschäftigten Mädchen. Sorgfältig wird der Schrein nach Besichtigung der Schätze wieder mit der Steinplatte verschlossen. Dann werden die gesonnten Felle wieder über die Lagerstätte gebreitet, und singend ziehen die Mädchen in das Zeltlager zurück. Eine von ihnen spielt eine bald eintönig schwermütige, bald schrill klingende Weise auf einer Pfeife, die aus einem Vogelknochen geschnitzt ist, in den Löcher eingebohrt sind.
Unten bei den Zelten ist inzwischen reges Leben eingezogen. Die Männer kehren von der Jagd zurück. Voran die Jünglinge mit den zottigen Wolfsspitzen, die Ren und Bär verbellen. Heute gab es für diese treuen Gefährten der Jäger grobe Arbeit, halbtot vor Müdigkeit strecken sie neben den Zelten sich nieder und schlafen, nur zuweilen laut werdend, wenn sie im Traume des wilden Kampfes mit den Hauptbären gedenken, der mit Steinen nach seinen Verfolgern warf und wie rasend um sich schlug, als er endlich sich stellen mußte. Mit der schweren Steinaxt am Wacholderstiele hat ein Jäger ihn dann erschlagen. Dort tragen ihrer sechs jetzt sein Wildbret herbei. Andere schleppen selbander an Stangen die in Fallgruben getriebenen und dort erschlagenen Renhirsche, deren vielwendige Geweihe nun über Rücken und Flanken des Wildes gespannt sind. Der Tag hat reiche Beute gegeben, drüben in den mit Weidenzweigen und Moos verblendeten Eisgruben und bei der Bärenhatz auf dem offenen Moore! Die Hunde haben dort das Eingeweide und den Schweiß des Bären verschlungen. Jetzt werden am Feuer die Rener zerwirkt, und die Schädelschale kreist mit dem frischen schäumenden Blute als feierlichem Trunke.
Alles an dieser köstlichen Beute wird verwertet. Selbst die Därme, die getrocknet und gedreht werden, um leichte Stricke zu liefern. Die Haut wird am Boden angepflöckt und mit dem Hirne eingerieben und gegerbt, die Sehnen werden für die Bogen aufgespart, aus dem Geweih schnitzen Männer und Kinder Harpunen und Angelhaken zum Fischfange, sowie scharfe Lanzenspitzen.
Das Ren ist ihr ein und alles. Sie würden ohne dies Wild zur Winterszeit, wenn der Fischfang durch Eis und Schneestürme unmöglich gemacht wird, verhungern oder gleich dem Vielfraße vom ekelhaften Wildbret der Lemminge leben müssen. Aber der Jäger empfindet dieses Leben als den Inbegriff menschlicher Seligkeit. Sein stolzer Hirsch ist der adelvolle Sohn einer freien Wildnis und er selbst deren gewaltiger Beherrscher. Wird es, ja kann es jemals auf Erden ein herrlicheres Wildnis-Paradies geben als dies hier am Fuß der unabsehbaren Gletscher? – – –
Jahrtausende sind dahingegangen. Die Vereisung hat sich in ihren Folgen als der große Segen für das Land erwiesen. Die Gletscherablagerungen haben den Boden unerschöpflich fruchtbar gemacht. In den Tälern, die zur Gironde und zum Mittelmeer abwässern, funkelt an breitsilbernen Bändern stolzer Ströme der Reichtum üppiger Traubenpracht und lebt die Erinnerung an die reichste Geschichte und die schönsten verführerischesten Frauen der Menschheit, aus dem Dufte von Jasmin und Rosen flüstern die Lieder der Bertan de Borne, Raimund von Toulouse und Richard von Poitou. O, prouvenco, pais dei troubaire, toun doux parla pout pas mouri! Ist nun dort der Traum des Paradieses von Schönheit und Liebe, von Wein und Liedern vollbracht, das Reich irdischer Glückseligkeit erreicht? Es sieht wenig danach aus. Inmitten des üppigen Reichtums einer verschwenderischen Natur steigt aus dem hungernden Magen der Massen der Wahnsinn verzerrter Begehrlichkeit gegen friedliche Nachbarn empor! In den Höhlen von Cro Magnon und Aurignac aber gruben Gelehrte die Gebeine der Renjäger aus und bestaunten das edele Ebenmaß der Schädel und den hohen Wuchs dieser schönen Nordlandrasse, die mit der Erwärmung des Klimas auswandern mußte, weil das ihr unentbehrlich gewordene Ren vor der lästigen Hitze zurückwich.
Durch das Gebiet des heutigen Belgiens und Niederdeutschlands zogen die Jägerhorden bis zu den kimbrischen und skandinavischen Halbinseln, wo im Moore nun ihre Gebeine vereinigt liegen mit Äxten und Speeren aus Rengeweih. Allmählich, mit der durch den Golfstrom bewirkten Erwärmung, fand der Mensch dort andere Nahrung in den Fischen und Muscheln des Meeres, an Eiern und an dem Wildbret von Strandvögeln, sowie an dem von Hirsch, Reh und Wildschwein. Mit den früher bereits geübten Fertigkeiten schuf er nun dort die neusteinzeitliche Kultur, die sich auswuchs zur Kultur der Menschheit und ihre höchste Blüte erreichte im sonnigen Süden, seiner einstigen Heimat – bis das versklavte Volk der Mittelmeerrasse in seinem germanischen Adel die letzten Reste der abermals erobernd vorgedrungenen Eiszeitrasse ausmerzte und sich nun nicht mehr zu beherrschen vermag.
Das Ren aber, dessen der Mensch nun dort längst nicht mehr bedarf, ist davongezogen zu den eisigsten Grenzen der nordischen Erde!
Der Sturm hat die hohen schwarzen Felsblöcke am steil abfallenden Ufer des Fischflusses vom Schnee befreit. Jetzt trägt der trotzigste von ihnen eine lebendige Strahlenkrone. Wie eine feurige Himmelsschlange mit blaßroten Schuppen und Flossen ringelt sich über ihm im Westen ein Nordlicht am blaßgrün erscheinenden Himmelsdome empor. Heller, immer heller werdend flackert es in leuchtendes Rubinrot hinüber und teilt sich zu einem dreiköpfigen Ungeheuer, das Strahlenbündel ausspeit. Blutrot das eine, grünlich-weiß das andere, gelb das mittelste. Bis zur Höhe des Nordsternes zucken und züngeln diese Feuergarben empor, dann verschlingen sie sich und verfunkeln in der kristallklaren Winterpracht wie sanft und leise verzitternde Silberwellen.
Da brüllt es auf wie unterirdisches Grollen. Durch das eisige Schweigen hin donnern die Seen, denen die zunehmende Kälte den Frostpanzer zerbricht. Von ferne her dröhnt Antwort herüber. Ringsum erschauert die Erde; und vom Himmel wirft der Große Bär eine Brante voll sausender Sternschnuppen herab, die Streifen leuchtenden Staubes hinter sich lassen. Tag und Nacht wären jetzt gleich dunkel, wenn nicht der Vollmond aus der Nacht in den Tag und dann wieder aus diesem in die Nacht hinüberzöge, wie er schweigsam lächelnd aus dem alten in das neue Jahr hinübergleitet. Unter Mittag, wenn er so tief dahinzieht, daß sein Ring den Erdkreis berührt, bildet sich in dem Schnitte ein helles Lichtfeld, und als feierlicher Neujahrsgruß erhebt sich ein blasser, zarter Mondregenbogen aus dem feuchten Dunste der weiten Moossteppe. Der Met der Träume taut herab auf das schlafende, lautlose Land. Der Bär unter seinem warm ausgepolsterten Windwurfe, der Lemming in seiner Höhle blinzeln auf; und die Rener, die im Dickicht des fernen Waldes sitzen, heben wiederkäuend die müden Häupter, um gleich darauf wieder in Halbschlaf zu versinken. Über die mondbeglänzte Schneefläche aber schnürt lungernd und hungernd der Eisfuchs dahin, froh, wenn er die scharfe Witterung eines Lemmings unter dem Schnee findet. Und am Saume des Krüppelwaldes von Zwergbirken und Kriechweiden schleicht, tief an den Schnee geduckt, freches Raubgesindel. Ihre Pelze sind schmutzigweiß, wie alter mit Sprock und Dürrlaub überwehter Schnee. Ihr Tritt ist geräuschlos, und scharf horchen die breit nach vorn gestellten Lauscher in den Wald hinein, ob nicht doch das Rudel verdächtigen Laut vernommen habe.
Die Rener dösen wiederkäuend vor sich hin. Schluckt das eine den Brei hinunter, rülpst das andere die ganze Mahlzeit frisch herauf, um den Wohlgeschmack der halbverdauten Flechten noch einmal auszukosten. Die ausgescharrten Stellen neben ihnen und die angehäufte Losung zeigen, daß sie schon lange hier bei ihrer jetzt einzigen Äsung, dem Moose, lagern. Nur spärlich sind daneben Astflechten, die sie hochaufgerichtet von den Bäumen herunterlangen. Seit Wochen und Monaten geht das Schluckhinunter und Hupp-herauf in wohligem, gemächlichem Behagen fort, nur gelegentlich unterbrochen, wenn eins oder das andere der schläfrigen Tiere aufsteht, sich den steifgesessenen Buckel reckt, den Wedel hebt und blubbernd die Losung fallen läßt. Näßt es freilich, so kommt Leben in die Nachbarn, denn diese gelbe Stelle wird begierig bis auf das letzte Schneekorn aufgeleckt. Dies reizt dann auch die Lust zum Herunterholen frischer Flechten, das nur im Parademarsche auf den Hinterläufen möglich ist. Dann knistern bei jeder Bewegung des Rumpfes oder auch nur des Halses die Läufe wie elektrische Batterien. Aber nach wenigen Augenblicken tun die Tiere sich wieder nieder, und das unterhaltsame Spiel beginnt von vorn: Schluck-hinunter, Hupp-herauf! Dies heimliche Leben im Winterverstecke läßt es wohl verständlich erscheinen, daß die Eingeborenen mancher Gegenden, insbesondere in Grönland, wo das Ren sich mangels anderer Deckung einschneien läßt, glauben, das Ren verfalle gleich dem Bär in Winterschlaf. Und wer sie hier schlucken, rülpsen und dösen sähe, möchte sie für die schafsdämlichste Gesellschaft auf Gottes Erdboden halten.
Selbst der alte Hirsch macht, wie er sich jetzt räkelnd erhebt und schlotternden Schrittes mit hängendem Halse und knickenden, knisternden Fesseln zur Äsung schreitet, den Eindruck eines kümmerlichen Bewohners seiner trostlos eintönigen Heimat.
Aber sieh: was war das? Woher auf einmal diese Veränderung? Wie ein erzgegossenes Bild voller Kraft und sprühenden Lebens steht er da, und jedes Haupt des Rudels ist in gespannter Aufmerksamkeit erhoben. Hat ein flackernder Lufthauch ihnen eine schwache Witterung von ihren Feinden zugetragen? Hat ihr unvergleichlich scharfer Blick das Grauweiß des Birkenwaldes durchdrungen? Hat das feine Gehör des Leithirsches den Leisetritt der Wölfin im losen Schnee vernommen? Hochauf reckt er sich, die Nüstern gebläht, scharf voraus äugend. Vergebens drückt das Raubgesindel sich in den Schnee. Ein grunzendblökender Warnruf – und auf und davon ist das Rudel! Durch den losen Schnee stiebt es in hohen steilen Sätzen dahin. Nicht so steifbeinig wie Damwild. Aber doch, falls es nicht trollt, meistens mit allen vieren zugleich in der Luft, hochauf das von schwerem Geweih gekrönte Haupt und hochauf den Wedel gerichtet. Wie Kastagnetten »schellen« die Geäfter hell durch den Winterwald; der Schnee wirbelt hinter ihnen weg, über Stein und Geröll fliegt das scheue Wild dahin, denn seine lockerverbundenen und weitausgreifenden Schalen und stark entwickelten Geäfter ermöglichen, wie auf Schneeschuhen über weiches Moos und lockeren Schnee zu flüchten. Und die Eisdecke auf den Blänken im Moose, die dem Elche zum Verderben würde, benutzt das Ren-Rudel als allerschönste Schlittenbahn. Ist die glatte Strecke weit, so wirft es sich auf die Keulen und saust sitzend so flink wie ein Segelschlitten dahin auf Nimmerwiedersehn.
»Waauu – huuh!« heult vor Wut und Grimm die alte Wölfin, auf ihren Keulen sitzend, zum Mittagsmonde hinüber. Und »Wuuh – aoaah!« antwortet ihr von drüben ein alter nicht minder hungriger Wolf, der vergeblich am Flußufer hinter einem Steine dem schellend und röchelnd herantrollenden Rudel aufgelauert hatte. Ja, wuuh – aoaah! Heule nur, du alter Gauner! Der Leithirsch ist diesmal von dem gewohnten Wechsel abgebogen und hat das blanke Eis angenommen, um endlose Strecken zwischen sich und euch Raubgesindel zu bringen! Denn sobald das Ren sich in seinem Winterverstecke verraten weiß, wechselt es meilenweit aus, um eine neue Schutzstelle zu suchen.
Möge der Neuschnee seine Fährte auslöschen in dem offenliegenden Buche der Eissteppe! Denn die Wölfe werden ihm folgen, spurfest und unermüdlich, und sollten sie tage- und nächtelang traben, Hunderte von Meilen weit. Nirgends ein offenes Wasser, das die Fährten des flüchtenden Rudels verhehlen könnte! Waauu – huuh! Wuuh – aoaah! Hört ihr die anderen drüben an dem schwarzen Felsen? Nur ein Neuschnee kann das Rudel retten oder ein Stiemwind, der das unterste zu oberst kehrt!
Winterwende! Immer seltener waren in den letzten Wochen die Nordlichter geworden. Nun ist die Zeit der großen Morgenröte gekommen, die gewaltige Scheide zwischen dem Mittagsmonde und der Mitternachtssonne. Nicht wie das flüchtige Stimmungsspiel südlicher Länder ist dies ernste eindrucksvolle Nordlandsrot. Nur das Alpenglühen könnte sich ihm vergleichen, das sich, wenn auch nur für eine erhabene feierliche Stunde, in leidenschaftlicher Flammenpracht der Ferner tief in den dunkeln Nachthimmel hineingräbt. Aber hier im Norden stehen nicht wie dort schwere Tinten gegeneinander. In zarten, feinsten Übergängen zerfließt die aufsprudelnde Glut in der kühlen Blässe des gelbgrünen Himmels. Wie eine Mahnung zu sieghaftem Lebensstolze verkündet dies Strahlenlied der Ewigkeit die Erfüllung göttlicher Frühlingsverheißung.
Längst sind die blonden Jägervölker der Eiszeitrasse aus diesen Breiten gewichen. Über dem Lande Thule, das einst ihre Heimat war, liegt das Packeis, oder rollt seine Wogen das rauschende Meer. Weit, weithin sind die alten Völker gewandert, manche bis zu den unwirtlichen Grenzen heißer Länder, in denen ihr nun gebräunter Leib verschmachtet wie ihre Seele. Aber wie in der Tiefe der Muschel noch immer eine Sehnsucht nach der Meeresheimat klingt, so lebt in den Sagen aller Thule-Völker die unzerstörbare Kindheitserinnerung der arischen Menschheit an die dreißigtägige Morgenröte, die der langen Wintersnot voll düsterer Bangigkeit folgte: Hels lange Winternacht und die Mitternachtssonne waren ja Merkmale, die diesen Zeitpunkten zu zähem Gedenken verhalfen. Jauchzend preist die indische Veda die Morgenröte auch noch in einem Lande ewiger Tag- und Nachtgleiche, die das Tagesgestirn in hastiger Gleichgültigkeit ohne Feierlichkeit für braune Menschen herbeiführt, die ihrerseits längst nicht mehr, wie einst ihre blonden Ahnen, erröten können. Die Jägervölker sind dem Wilde des alten Landes Thule gefolgt, das bei der Vereisung südwärts weichen mußte oder wie das Mammut seine Knochen und Zähne auf der vereisenden Moossteppe ließ, wo eine darübergespülte Kiesdecke sie schützte und barg. Aber ein Teil der alten Pflanzenwelt ist geblieben, der dem nordischen Klima sich anzupassen vermochte. Inmitten des Eismooses sprießen Flachthymian und Wermut, Schneeprimeln und Ranunkeln, blüht ein blasses Röslein, und das Vergißmeinnicht spricht im Lande der Verdammten unter Tungusen, Tschuwanzen, Jukahiren und Tschuktschen von ewiger Liebe! Keine dieser Pflanzen kann sich noch durch Samen vermehren, denn der früh einbrechende Winter läßt die Frucht nicht reifen. Aber im verzweifelten Kampfe um das Dasein haben diese Reste einer milderen Zeit sich dem unerbittlichen Schicksal gefügt und leben im Herbste ihren Blütentraum, den der harte Lenz ihnen versagt hat. Wie unter den Tropen gibt es hier überhaupt keinen Frühling, sondern nur Winter und Sommer. Denn die Sonne, die im April sich kaum ein Stündlein mittags über den Erdball erhebt, kann die Nachtfröste von 30 Grad nicht verbannen. Aber wenn im Mai das Tagesgestirn herrschend wird, begrünt sich das Gebüsch der Kriechweiden, Zwergbirken und Lärchen. Und wie auf einen Zauberschlag wird das Pflanzenleben dann aus seinem Winterschlafe erweckt. Dann erhebt sich an jeder freigelegenen Stelle ein gelbes oder blaßrotes Blümlein, wagt seinen Kelch zu öffnen und blüht darauf los, um so viel als möglich vom Lichte der Sonne Nutzen zu ziehen.
Andere Geschöpfe singen in Milliarden feiner Stimmen mit Recht, jauchzend vom Frühling der Moossteppe: die Mücken! Sobald im März oder April die Sonne zu flüchtigem Mittagsbesuche erscheint, stehen sie in schwarzen Säulen über allen vor rauhen Winden geschützten Stellen der Moossteppe, an allen Waldrändern und Gebüschen. Gegen ihre die Luft verfinsternden Wolken gibt es für die Eingeborenen dann kein anderes Mittel als den dicken bittern Rauch von abgefallenen Blättern, Moos und feuchtem Holz. Unter dessen Schutze sammeln sich auf der jakutischen Tundra die weidenden Pferde, lagert die Herde der zahmen Rener des Samojeden und Tungusen und finden die Schlittenhunde des Eskimo am großen Fischflusse und die Kinder des Hasenindianers am Mackenzie und Großen Bärensee vor den blutdürstigen Peinigern Frieden.
Andererseits locken gerade diese bösen Quälgeister doch den Frühling auf die Eismoossteppe. Wenn auch nicht den des Pflanzenlebens, so doch den der gefiederten Sänger. Ohne die Mücken, Eintagsfliegen, Haarflügler, Afterfrühlingsflügler, Springschwänze, Hummeln, Schlupfwespen und deren Brut vermöchten die Vögel ebensowenig zu bestehen wie die zahlreichen Fische in den Strömen.
Im Stromgebiet des Mackenzie kommt noch ein anderes Lockmittel für die im Herbste Fortgezogenen dazu, das sie in die sommerliche Heimat nordwärts zurückruft. Im Süden hat die Sonne die Eisbande des tosenden Flusses schon früh gelöst. Jetzt geht der Strom randvoll mit den brechenden und krachenden Schollen zu Tale. Bald aber türmt sich das Eis zu Wall und Wehr auf und staut das Wasser gewaltig an, bis dem steigenden Drucke der Wall brechend nachgibt und der freigewordene Strom nun mit verdoppelter Wut weitertost, die vor ihm liegende Eisdecke zerbricht, schließlich aber doch abermals und abermals Widerstand findet. Dieser gewaltige Riesenkampf wird in immer erneuten Gefechten so lange fortgesetzt, bis im flacheren Norden, der noch in festen Winterbanden ruht, der ganze Flutenschwall zum Stehen kommt und sich in langsamem Steigen über das Tiefland ergießt. Jammernd und wehklagend sehen die anliegenden Bewohner Haus und Habe in der still aber unaufhaltsam nachdrückenden Flut versinken, bis schließlich auch dieser Damm bricht und das davonbrausende Wasser gurgelnd und röchelnd von den mit Eisschollen und Schneeschlamm bedeckten Feldern zurückweicht, die in ihren Schrunden und Schrammen von der regelmäßigen Wiederkehr dieser Frühlingsschlachten erzählen.
»Wat den eenen sin Uhl is, is den annern sin Nachtigall!« Goack, gock, gaaock! ruft die alte Schneegans, die an der Spitze ihres Fluges mit wohliger Lust in heller Vollmondnacht auf dies süße Wattenmeer zusteuert. Schöner konnte sie es sich ja gar nicht wünschen bei ihrer Heimkehr aus den Sümpfen im warmen Lande jenseits der hohen Berge. Da hat sie doch nun Ruhe auf unabsehbare Weite hin, wenigstens vor den vierbeinigen Störenfrieden. Und wie schön läßt es sich da nisten für die Gans und mausern für den Ganter! Goack, gaaack, gaaodt; hier ist es gut sein.
Kaaak, paaak, paaak, kaaak! Derselben Meinung sind die Kanevas- und Harlekinenten, die Goldaugen, Halsring- und Langbürzelenten und andere ihrer vielverzweigten Sippe, die Rallen und Schnepfen, Strandläufer und Regenpfeifer. Mit harfendem Flügelschlage strebt der Singschwan zurück zu seinen Brutstellen im Röhricht des Großen Bärensees, und Nacht für Nacht verkünden helle Stoßschreie in hoher Luft die Heimkehr der Trompeterschwäne. Auf Schritt und Tritt zeigen die »Barren Grounds« nun wieder im Risse des Goldadlers und Rauchfußbussards, wie im Gewölle der Schnee-Eule das Haar der Halsband-Lemminge, deren Städte im Gestein und in den Torfrändern der welligen Moossteppe sich nun wieder bevölkern. Ihre Fruchtbarkeit setzt das Renmoos um in nahrhafte Kost für die Könige und Fürsten der Lüfte und die Strauchritter vom Krüppelbusche. Die Eisfähe darf nicht sorgen um Nahrung für ihr Geheck, und der Vielfraß – nun, der mag die ekelhafte Sippschaft mit ihrem in der Todesangst losgelassenen Gestank von ranzigem Urin schon gar nimmer! Er hat jetzt auch wirklich Gescheiteres zu tun. In lustigen Bogensätzen und Purzelbäume schlagend, wälzt er sich über den Schnee dahin, der Jägerschlucht zu, wo er mit Mühe auf einen niedrigen Felsblock klettert und, eng an den Stein geschmiegt, lauert.
Er braucht nicht allzu lange zu warten: die Rener sind auf der Wanderung. Schon Ende März haben die Tiere, nachdem sie kurz zuvor das Geweih abgeworfen hatten, die Buchenwaldungen verlassen, um über die weiten Moossteppen hin bis zu den großen Seen, ja bis zu den Inseln am buchtenreichen Eismeere zu ziehn, wo sie ihre Kälbchen setzen wollen. Dort auf den steinigen Hochfeldern werden sie Ruhe finden vor blutdürstigen Mücken und frechem Raubgesindel. In dem vom Nordwinde getrockneten vorjährigen Grase finden sie ein wohlschmeckendes Heu, das nebst der an allen Trockenstellen wachsenden Flechte willkommene Äsung bietet, bis die Maisonne das Laub der Zwergbirken und die Kräuter der Alpenpflanzen herauslockt. Die Hirsche folgen den Tieren erst um eine bis zwei Wochen später, und die Nachzügler sind noch auf dem Marsche.
Ihr Weg führt über öde Felsenebenen und über Eisdecken stöhnender Seen, durch tiefe, schrundige Klüfte, in denen die Frühjahrswässer donnernd hinabstürzen, über schwampiges Moos und durch schüttere laublose Wälder dahin. Nebelgewölk und dichtes Schneegestöber verdecken ihren Pfad. Aber schnurgeradeaus, wie die honigbeladene Biene zu ihrem Baume fliegt, geht der Renpfad dahin; meistens jahrein, jahraus derselbe, Menschen und Raubwild wohlbekannt. Nur die Furten, in denen sie die reißenden Bäche und Ströme überschreiten, wechseln sie fast jedesmal; denn sie wissen wohl, daß ihnen dort die größte Gefahr droht. Sie können nur landen, wo das jenseitige Ufer eine flache Bank hat; daher stürzen sie vom diesseitigen sich oft in heftigem Sprunge in den tiefen Strom, den sie kraftvoll durchschwimmen.
An solchen Furten lauert ihnen im Herbste der Indianer auf. Aber jetzt, da ihre von Engerlingen durchbohrte Haut wertlos und ihr Wildbret ungenießbar ist, mögen sie ungehindert ziehen. Gleichwohl wählen sie zum Durchwechseln der schlimmsten Furten gern die Nacht oder nebelschwere Tage. Nichts ist dann in dem engen Tale zu sehn als allenfalls hier und dort eine einzelne vorspringende Felszacke. Nichts ist zu hören als das Rauschen und Tosen der von allen Seiten herabstürzenden Wasserfälle, die oft große Felsstücke mit sich herabschleudern, und das Heulen des Sturmes zwischen den Schluchtwänden.
Einer vernimmt aber doch durch allen Aufruhr dieser tosenden Wildnis hindurch in weiter Ferne schon das Getrappel der heranwechselnden Rener. Leise zuckt die kurze, straffbehaarte Rute. Da ist das Rudel schon heran. Einen Augenblick sichert der Leithirsch; dann stürzt er sich in den wilden Strudel. Ihm nach der zweite und dritte. Als der fünfte und sechste folgen, glauben sie den kurzen gurgelnden Schrei eines Gefährten gehört zu haben. Aber sie können sich nicht umsehen; sie müssen hindurch durch dieses tosende Wasser, über glatte Rundblöcke hin, bis drüben der weiche Kies unter ihren knisternden Läufen knirscht. Entsetzt wittern die Nachfolgenden dort den Schweiß ihres unter den zerrenden Bissen des Vielfraßes verröchelnden Bruders. Aber auch sie müssen hindurch und den anderen folgen, vorwärts, vorwärts, fort aus dieser Wildnis von Nacht und Nebel! Unten, weit draußen, liegt die kahle, weithin übersehbare Hochsteppe. Aber an jedem Hindernisse, das sie bis dorthin noch zu nehmen haben, frißt der Reißzahn einen ihrer Gefährten. Am Goldflusse brechen Wölfe in ihre Reihen; als sie den lichten Birkenwald durchziehen, reißt ein Luchs einen starken Hirsch, und mit Mühe entkommt der Leithirsch dem Spießgesellen des frechen Räubers, dem schließlich ein Nachzügler zum Opfer fällt. Am nächsten Tage gerät der Leithirsch nebst drei ihm zunächst folgenden Stücken in eine Fallgrube, wo ein Bär ihn findet und zerreißt. Zersprengt und führerlos schließt sich das Rudel einem anderen an, das hinter ihm heranwechselt, und erreicht endlich nach weiteren Unfällen und Verlusten stark gelichtet die ersehnten Sommeräsungsplätze auf den »Barren Grounds«.
Die Mitternachtssonne! Wenn sie sich kalt an den Himmelsrand hinabsenkt, so ruht zwar nicht das Licht, aber die Erde schläft ermüdet ein. Für ein paar kurze Stunden. Dann begrüßen Schneeammer und Alpenlerche mit dünnem Gezwitscher und Tirilieren den neuen Tag, und aus den Moorblänken und Seen heben sich in wildem Gebrodel die Vögel auf. Kreischende Möwen jagen auf, und Erpel, Schwäne und Ganter laufen schnatternd und flügelschlagend über das Wasser hin, von dem sie jetzt zur Mauserzeit sich nicht zu erheben vermögen. Nicht lange, so zieht ein tiefes Ermüden über das bleiernträge gewordene Eismoor; der Sonnenball meint es allzugut. Er bringt es unter Mittag auf 18 Grad Wärme. Dann hocken Ganter und Schwäne, den Kopf unter dem Fittich geborgen auf einem Beine an einer feuchten Stelle, die zwar keinen Schatten, aber doch kühlenden Lufthauch spendet.
Das ist die Zeit, in der die Chippeways und Hasenindianer ihr großes Gänseschlachten feiern. Mit Knütteln bewaffnet eilen Weiber und Kinder dann herbei, treiben mit ihren Spitzhunden die Mausernden von den Blanken herunter, um ihnen dann mit einem Knüttelhiebe den Garaus zu machen. Denn da das Flugwild jetzt nicht entkommen kann, so sucht es sich zu verstecken, oder stellt sich tot, indem es Hals und Beine starr von sich streckt und wie erschlagen liegen bleibt. Aber das hilft ihm nicht. Was die Hunde nicht erwürgen, trifft der Knüttel. Denn der Indianer meint: doppelter Schlag schade nicht. Die Kinder tun es bei diesem Massenmorde den Alten an Gewandtheit zuvor; die hochbeladenen Pferdchen vermögen kaum die Last der Beute zu schleppen. Doch was bedeutet diese Zahl gegenüber der, die das Raubwild jetzt vertilgt? Gleichviel: wenn der Abend naht, erhebt sich draußen auf den Seen wieder das Brodeln, Schnattern, Paaken und Gaaken, als sei nichts geschehen. Im Wigwam aber bereiten die Squaws, ohne die Stummelpfeife mit beißendem Weidenfaulholze aus dem breiten Munde zu nehmen, das Brustfleisch der Schwäne zum Dörren vor – wie mancher von diesen königlichen Vögeln mag im Frühjahr auf dem Herzuge die blinkenden Gewässer der Moossteppe als sein Heimat- und Jugendland mit frohem »Klong, klong!« begrüßt haben! Hier oben herrscht noch weit mehr als sonst irgendwo der ewige Kampf zwischen Entstehen und Vernichtung. Was die Sonne am Tage erblühen läßt, das zerstört der Frost noch in derselben Nacht. Die dem fernen Süden mit rauschendem Schwingenschlage Botschaft zutrugen vom Vogelparadiese des Nordens, die liegen nun, wie unbeholfene Kröten mit Knütteln erschlagen. – –
Draußen, weit draußen auf der kahlen Steppe haben die Rudel der Rener sich nun auseinandergezogen. Die Alttiere haben dort ihre schmucken kleinen Kälbchen gesetzt. Keines der Tiere hat mehr als ein Kalb. Zärtlich wird dies behütet und, wenn es saugt, beleckt. Das Alttier geht jetzt nur mit einem starken Hirsche, indessen die Schmaltiere und jungen Hirsche sich in geringen Rudeln beisammenhalten. Das Winterkleid war schon lange struppig geworden und glich in diesem Zustande dem mit Schmelzschnee bedeckten dunklen Felsgrunde oder Moore. Jetzt, im Beginne des Juli, fällt die letzte Winterfarbe, das neue Haar ist weich und geschmeidig und wird erst wieder straff, wenn der Herbst herankommt. Es ist dunkler und gleicht in seinem rötlichen Graubraun der sommerlichen Umgebung. Erst wenn die Grannen wieder an Dicke zunehmen, liegen sie nicht mehr glatt an, sondern stehen straff von der Haut ab und stoßen dann die dunklen Haarspitzen ab. Die Decke gleicht in ihrem Weiß dann wieder dem Schnee und Eise, gegen deren Einfluß ihr sechs Zentimeter starker Haarpanzer das Ren im Winter schützt.
Zur Kälberzeit äst das Ren nicht lediglich Moos und Astflechten, vielmehr hauptsächlich die saftigen Blätter der Zwergbirke, Kriechweide, Schneeranunkel, des Schwingels, Hahnenfußes, Renampfers und anderer Pflanzen dieses hohen Nordens, die gute Milch geben. In den frühen Morgenstunden und kühlen Abendstunden geht es hauptsächlich der Äsung nach. Nachts gibt es sich einem leichten Halbschlafe hin, in dem es nie ganz die Aufmerksamkeit auf mögliche Gefahr verliert, ebenso ruht es unter Mittag, und zwar um die lästige Sommerwärme auszugleichen, auf Eisstellen oder in flachen Wasserblänken.
Um diese Zeit verlassen die Hirsche ihre Tiere, obgleich diese ihres Schutzes gerade jetzt am meisten bedürften, und bummeln in Gesellschaft von Beihirschen umher, bis die Brunftzeit sie in Zwietracht und Zorn auseinanderbringt. Indessen entfernen alle sich auch zur Sommerszeit nicht gar zu weit voneinander, so daß die weiten Weidegründe oft von einer einzigen zerstreut äsenden »Herde bedeckt« erscheinen.
Sobald das Kalb fest auf den Läufen stehen kann, folgt es der Mutter mit Vorliebe in klare Seen und Ströme und wird bald ein leidenschaftlicher Schwimmer. Gerade dies wird ihm oft genug zum Verderben. Denn am Ufer wartet seiner der Vielfraß, der in dieser Zeit geradezu verheerend unter den Kälbern aufräumt und die ohnehin schwache Vermehrung der Rudel noch stärker herabmindert. Auch seine Wolverene hat jetzt zwei oder drei junge Ewigfraße zu ernähren, und die Alten sind deshalb noch frecher und gieriger als sonst. Voll wie Tonnen schleppt die Alte den Rest ihres Raubes zu den Jungen in den Bau, an dessen Einfahrt sie den Vielfraß wütend abschlägt. Denn sie ist eine gute Mutter und traut ihm nicht quer über den Wechsel. Die Jungen sind eben erst sehend geworden und – Vielfraß bleibt Vielfraß! – –
Im Indianerlager bringt der August ein langersehntes Fest. Seit acht Tagen haben die Weiber an einem altbekannten Renwechsel die vom Wetter beschädigten Laufhürden erneuert, die gleich den Flügeln eines Fischnetzes durch eine enge Pforte in einen kreisrunden Raum führen, der gleichfalls mit Weidengeflecht umschlossen ist. Langsam und vorsichtig werden nun unter Leitung erfahrener Männer die Rene gegen diesen Fang hin getrieben. Immer enger zieht sich der Kessel zusammen, aber geräuschlos und möglichst unsichtbar geht die Treiberlinie vor. Jede Deckung wird benutzt; es genügt ja, daß der Wind dem Wilde die Witterung der Rothäute zuträgt. Anfangs zögern die Eingekreisten, bald aber versuchen sie dort oder dort auszubrechen. Dann läßt der hinter einem Felsblock verborgene Indianer sie ganz nahe heran und springt erst kurz vor ihnen auf, worauf sie in wilder Verwirrung zurückprallen, um schließlich ratlos in der Mitte des Kessels stehenzubleiben, der sich immer enger, aber auch immer unsichtbarer um sie zusammenzieht. Wie Schlangen im Grase huschen die Weiber und Kinder von Stein zu Stein, jede kleine Deckung benutzend. Vorsichtig ist der Leithirsch vorangezogen und trollt in kurzen Abständen an der Flügelhürde hinunter. Vor ihm die offene Tür, hinter der kein Hindernis zu sehen ist, denn der rückwärtige Fluchtzaun ist durch hohe Steinblöcke verdeckt. Endlich entschließt der Hirsch sich zum Einwechseln in diese einzige bleibende Lücke, und vertraut folgen die nächsten Tiere ihm nach. Da rücken die Treiber vor, drücken alles, was ein Geweih trägt, in die Hürde hinein, und die scheußliche Metzelei beginnt. Hinter dem Flechtwerk des Zaunes verborgen, werfen die Jäger den nächsten Hirschen und Tieren Speere in die Seite und treiben die Rener in höchste Angst und Bestürzung. In ihrer Verwirrung verfangen die Hirsche sich untereinander mit den Geweihen, und die Tiere rennen ratlos auf und nieder, den Lecker weit aus dem röchelnden Geäse gestreckt. Da brechen schließlich die gewandtesten Jäger über den Zaun herein und vollenden mit Beil und Speer die blutige Schlächterei.
Die erlegten Stücke werden dann zusammengelegt, und die Weiber hocken an ihnen nieder, um die Getöteten liebkosend um Verzeihung zu bitten.
Von dem Ausfalle dieser Jagd hängt hauptsächlich ihr Wohlbehagen im nächsten Winter ab. Denn sobald das Geweih des Renes reif und vereckt ist und im September beim Herannahen der Brunftzeit die großen Rudel sich wieder zusammenziehen, hält es schwer, die Rener in Hürdenfänge zu treiben. Zudem hat das Wildbret der Hirsche dann bereits den scharfen Bockgeschmack. Und, was für die Indianer die Hauptsache bleibt, die Haut der Kälber hat ihr zartes, weiches und glatt anliegendes Haar bereits mit dem straffen Winterhaar vertauscht, das zu Kleidern weit weniger gut zu gebrauchen ist.
Auch ist das von den Kanadiern »dépouilleé« genannte Nackenfeist der Hirsche vor der Brunftzeit am besten. Es hat dann eine blaßrote Farbe und ein feines Aroma, während es im Verlaufe der Brunft verdirbt. Die Tiere sind um diese Zeit, im August, namentlich wenn sie Kälber führen weniger feist; ihr Wildbret ist dann sehr unschmackhaft und wenig begehrt.
Sobald die Weiber herzutreten dürfen, saugen sie behutsam den Sicherschweiß aus den frischen Wunden des erlegten Wildes. Das köstlichste Labsal aber bleibt das Mark der Laufknochen. Diese werden von der Mehrzahl der erlegten Stücke aufgeschlagen, sobald sie zur Strecke gebracht sind. Und mit Wonne schlürfen Männer, Weiber und Kinder diese noch warme Leckerspeise. Der Aufbruch des Wildes erfolgt daheim im Lager, damit kein Tröpfchen des köstlichen Inhalts verloren geht. Dort wird der aufgefangene Schweiß mit Fischmehl zu Brei verquirlt. Ein Teil des Feistes wird über Feuer zerlassen und mit gehacktem Wildbret zu »Pemmikan« verknetet, um dann getrocknet und gefroren zu werden. Aus gehacktem Wildbrete und gedörrtem Fischrogen wird »Ssuihawgan« bereitet. Die zartesten Teile des Rückens und die Mürbebraten aber werden frisch am Spieße geröstet und sofort vertilgt. Besonders hochgeschätzt als Nachtisch sind die noch weichen Spitzen der Kolbengeweihe, die dünnen Wandungen des Labmagens und der Inhalt von Kräutern und Flechten, der sich im Magen findet, und, vermischt mit den Magensäften, als feinste aller Seltenspeisen gilt.
Bringt alles dies Arbeit in Hülle und Fülle für die Weiber, so steht doch auch den Männern solche bevor. Die Häute müssen, zum Teile auf beiden Seiten, zum Teile nur inwendig, gegerbt werden. Zu diesem Zwecke werden sie zunächst mit der Schärfe des gespaltenen Knochens eines Renschienbeines von den dünnen Zwischenhäuten befreit und dann mit dem Hirne des Wildes so lange eingerieben, bis sie weich und haltbar sind. Hierauf werden sie über einem aus feuchtem Weidenholze bereiteten Rauchfeuer vollends gargemacht und dann mit Rindensaft rotbraun gefärbt. Sie können dann naß werden, ohne beim Wiedertrocknen zu brechen – was man vom Leder aus mancher Fabrik gewiß nicht behaupten kann. Alles dies will aber getan sein. Es wird also in den nächsten Tagen gelten, alle Hände zu rühren. Gleichviel verrichten jetzt Männer wie Weiber schweigend und würdevoll ihre Arbeit. Die Beute wird auf die Schleifen gelegt, die das Fuhrwerk bilden: zwei lange dünne elastische Birkenstangen, die unter einem spitzen Winkel vorn zulaufen und dort mit ihren Enden auf dem Sattel des Pferdchens aufliegen, während die ausgespreizten hinteren Enden auf dem Boden schleifen. In der Mitte sind diese Stangen durch drei Querhölzer verbunden, auf denen nun das Wild befestigt wird. Dann geht es in langer Reihe zu Einem in schweigsamem Marsche dem Lager des roten Mannes zu.
Wohin dieser Zug kommt, wo er seine breite Schweißspur hinterläßt, da folgt ihm in Bogensprüngen und Purzelbäumen der gierige Vielfraß, und die Rener stieben auseinander. Mit Entsetzen starren sie aus der Ferne, von der Höhe eines Felsenhügels, dem schlimmsten aller Raubtiere nach, dessen Reißzahn mehr Gefahr bringt als alle Wölfe, Luchse und Wolverene zusammen genommen.
Und der Mensch selbst? Wie die Rener und Elche seiner Jagdgründe verschwindet der Indianer vom Boden seiner Heimat. Die sechs großen Nationen, die in alter Zeit das Land beherrschten, sind vernichtet oder in alle Winde zerstreut, weil sie in unaufhörlicher Fehde sich bekriegten, niedermetzelten und skalpierten.
Und wenn die große Jagd mißlingt? Wenn einmal die Rener ausbrechen und unverzüglich weithin fortwandern? Wenn der Fischfang versagt? Wenn alle Lebensmittel ausgehen und der ganze Stamm, Krieger, Weiber und Kinder darben und hungern? Wenn der letzte heruntergemagerte Hund geschlachtet ist und keine Aussicht oder Hoffnung besteht, in der weiten Einöde der eisigen Moossteppe zu Beute zu gelangen?
Dann beweist dies arme, selbst im hohen Norden bereits infolge des schwindenden Wildstandes heruntergekommene Volk, daß es noch die höchste aller Tugenden seiner Väter besitzt: mit gelassenem Gleichmute in stiller Größe sterben zu können. Dann hüllen Männer, Weiber und Kinder sich in ihre bunten Feiertagskleider von Renkalbfell und erwarten ernst und schweigend den Tod, der sie hinüberführt in Manitus ewige und unerschöpfliche Jagdgründe.
Indianersommer! Mit kühler Frische täuscht er über das große Sterben des goldenfarbenen Waldes hinweg. In tosendem Gischte stürzt der Friedens-Fluß zwischen engen Klammwänden und dunkeln Tannenhängen hin über wildes Gestein am Ostabhange des Felsengebirges der Öffnung des Tales zu, wo zahllose Bäche sich ihm beigesellen, die aus engen Felsspalten oder kleinen von dunkeln Tannen bestandenen Mooren entspringen.
Auf den Gipfeln und Graten der steilen Berge, die in feinen Linien in das metallische Blau des Himmels hineinschneiden, steht das Bergschaf, und der Biber schwimmt in den klaren Bächen. Der schwarze und der Grislybär haben jetzt reiche Nahrung an den im Strome verendenden Lachsen, und der Waschbär sucht an südwärts offenen Stellen die Wildapfelbäume nach reifem Obste ab.
Hier oberhalb der heimlich rauschenden Tannenwälder ist die Grenze, wo Elch und Waldren sich zuweilen treffen. Durch das Gewirr von gefallenen und vermodernden Stämmen dröhnt jetzt an klaren Septemberabenden der klagende Schrei des Riesen unter den Hirschen hin. Und auf dem bültigen und kaupigen Moore ist der Rand eines klaren und tiefen kleinen Sees an jedem Morgen getrübt von den frischen Spuren eines Rudels von Renern, das die ganze Nacht hier gestanden hat und vom Hirsche im Kreise herumgetrieben ist. Zuweilen meldet auch in der Morgenfrühe mit kurzem, rauhem Schrei der starke Fünfzigender. Das zwischen Grunzen und Bellen stehende Schallen dringt zu den Hochzeitskämpfen der Elche hinüber. Zornig wetzt er das bereits blankgefegte Geweih an einem feuchten Steine, dann richtet er das reichgekrönte Haupt hoch auf, legt das Geweih in den Nacken, streckt den zottiggemähnten weißen Hals lang aus und schreit wieder in kurz abgebrochenen Trenzern einen Nebenbuhler an, der sich dem starken Rudel nähert. Der heranziehende Gegner ist nicht viel geringer; aber sein Geweih ist noch nicht fertig verfegt. Von den Kronenenden hängt ihm noch der Bast wie graue Astflechten herab. Aber trotzig greift er an, und die Geweihe prallen gegeneinander. Sie drängen und ringen, fahren auseinander und wieder zusammen, ohne daß einer zu ermüden wäre. Wütend schnaubend erhebt sich der Platzhirsch, um den Gegner mit den Schalen zu bearbeiten; doch ebenso heftig zahlt dieser die Hiebe zurück. Dann ringen sie wieder mit den klappernden Geweihen, bis sie verkämpft sind. Erst nach langem ermüdendem Ringen kommen sie voneinander los und stehen dann kampfunfähig, mit hängendem Lecker, einander gegenüber. Inzwischen hat sich ein geringer Hirsch, den der Platzherr stets höhnisch ferngehalten hatte, an das Rudel herangemacht und treibt ein abgeschlagenes Schmaltier ungestüm umher. Als er es endlich zum Stehen gebracht hat und zärtlich beleckt, fährt der Platzhirsch, der ihn schon längst beobachtet und nur Atem geschöpft und frische Kraft gesammelt hat, wütend auf ihn los und bringt ihn auf den Trab. Dann kehrt er zu dem Schmaltier zurück, liebkost es leckend, reckt Hals und Grind aus, bläst Nüstern und Lippen auf, schließt sie wieder und stößt dabei seine grunzenden Trenzer aus. Dann knickt er in den Hinterfesseln nieder, sitzt auf und vollzieht dann rasch mit niesendem Prusten den Beschlag.
Der gleiche Vorgang spielt sich hundert Schritte weiter ab, wo der Nebenbuhler des Platzhirsches sich einem freundwilligen Tiere gesellt hat.
Da plötzlich schallt der Warnruf eines Alttieres, und in hurtigen Sätzen jagt das ganze Rudel über das hochaufspritzende Moor weg in das schützende Tannendickicht hinein.
Als sie verschwunden sind, taucht hinter einem hohen Steine ein Jäger auf in brauner, lose und leicht fallender Jacke. Aufmerksam betrachtet er den zertretenen Kampfplatz und die breite Spur, die das abgesprungene Rudel im Schnee zurückgelassen hat. Dann prüft er den Wind und schaut nach dem Stande der Sonne. Es hat keinen Zweck, in diesem Wirrsal von Geknäck und verschneiten Stämmen die Fährte ausgehen zu wollen. Weit besser ist es, nachmittags, wenn der Wind bergwärts zieht, am Hange hin zu birschen. Vielleicht, daß in den Abendstunden der Hirsch noch einmal meldet oder das Getrappel des Rudels vernehmbar wird.
Inzwischen hockt der Jäger sich einige tausend Schritte weiter hinter einem gestürzten Baumriesen auf einem Moospolster hin, das ein bißchen trockener ist als die anderen ringsherum, und wartet, ob er nicht das Schellen der Geäfter heranwechselnder Rener oder vielleicht einen verstohlenen Trenzer eines Elches vernehme. Ruhig zündet er sich inzwischen sein Pfeifchen an. Warum auch nicht? Es hält immerhin die Stechmücken ein wenig ab und sagt ihm in jedem Augenblicke, wie der flackernde Wind nun steht. Aberglaube, daß man auf dem Ansitze nicht rauchen solle! Ehe das Wild den Rauch als Tabaksrauch unterscheidet, wittert es ganz gewiß auf die gleiche Entfernung den für seine feine Nase unerträglichen Raubtiergestank des Menschen selbst. Den kann nichts verwittern, als allenfalls mohles Fallobst von den Wildäpfelbäumen und – der Brunftgeruch eines Renhirsches.
Die Aussicht, an solchem Ansitze auf einen guten Renhirsch zu Schusse zu kommen, ist gering. Aber mancher gerade vorbeibummelnde Petz ist bei solcher Gelegenheit geschossen, und manche Stunde fröhlicher Waldeinsamkeit hat Jägerherzen dabei erfüllt und erhoben. Wie könnte es auch anders sein hier, wo von jeder Höhe sich der Fernblick auf weite grüne Moosmatten, auf schroffe Schluchten und wildzerklüftete, oft mit weichem Schnee bedeckte Felsberge bietet? Zu Füßen des Jägers die Silberbänder der Seen, die tosenden Bäche, der rauschende Wald und in dieser Gotteseinsamkeit ein Reichtum herrlichen Wildes! Wer die ernste, zurückhaltende, sinnende und wehmütig gefaßte Art der alten Indianervölker verstehen will, braucht nur in diesen Bergen zu jagen. Aber auch die jäh zufahrende Art des roten Mannes wird er hier verstehen!
Horch! Drüben am jenseitigen Hange, den mooriger Grund bedeckt, ein leises, nicht zu verkennendes Geräusch. Quatschend zieht ein langsam dort durch den Wald wechselndes Ren die breiten Schalen aus wässerigem Torfe; es sind wohl zwei oder mehrere sogar. Und da, horch, ein kurzes Röcheln – das ganze Rudel wechselt dort bergwärts fort. Der Rauch der Pfeife zieht über die rechte Schulter des Jägers: vorwärts also, was die Knochen winden können! Die weichen Gummisohlen der Birschschuhe sind gut in diesem steinigen Moraste; und wenn sie bei der wilden Jagd über Stock und Stein zum Teufel gehen, was liegt daran? Nur vorwärts, schnell und doch vorsichtig heran. In den Bach des Nebentälchens hinunter; sein Rauschen kommt gerade recht! Jenseits des Rückens über den Hauptbach, den Berg hinauf. Dort oben aber Vorsicht und Ruhe!
Nichts zu sehen; das ganze Tal erscheint leer! Nichts zu hören als der helle Ruf kleiner Braunkraniche, die in hoher Ferne nach wärmeren Sümpfen gen Süden ziehen. Alle Sinne sind gespannt. Leicht fährt der Jäger zusammen, als unweit von ihm ein graues Eichhorn keckernd am Baume hinaufruckt. Dann wendet er sich, an den Stamm einer alten Fichte gedrückt, lächelnd wieder dem Tale zu. Jeden Baum, jeden Stein am jenseitigen Hange faßt er ruhig ins Auge. Jetzt endlich: dort drüben regte sich etwas auf dem trüben Schnee. Kein Zweifel: es ist das Rudel! Der Wind zieht den Bach hinauf. Vom Stamme der einzelnen alten Tanne dort unten rechts könnte der Schuß gelingen, wenn der Hirsch freizubekommen wäre! Vorsichtig schleicht der Jäger zurück und dann, Stamm um Stamm als Deckung benutzend, hinunter. Nun geradewegs auf die gut deckende Tanne zu! Aber drüben ist nichts mehr zu sehen, als der eben über den Kamm verschwindende Spiegel eines Tieres. Jenseits der Überschneidung ist der Boden moorig, der Wald niedrig und schütter. Viel Knackholz und Geäst wird in den dünnen Krüppelstangen liegen – gleichviel, vorwärts! Hinüber über den Bach, langsam den Berg hinauf: dort oben flackert der Wind ein wenig, aber er zieht nicht über den Kamm. Als der Jäger vorsichtig hinüberschaut, liegt das ganze Rudel vor ihm im Stangenholze und kaut wieder. Schluck hinunter, hupp herauf! Eben hat der alte Hirsch ein Büschel Moos aufgenommen. Jetzt hebt er den Hals. Ein Pfiff des Jägers; der Hirsch wird hoch. Da hat er die Kugel, und das Rudel flüchtet in hastigen Sätzen über das bucklige Moor und Fallholz davon.
Am nächsten Tage steht der gestern vom Platzhirsche abgeschlagene Zweiundvierzigender beim Rudel und wetzt in feinem Bachkiese und in verschneitem Moose sich die letzten Bastfetzen vom Geweih. Endlich hat er es blank und glatt. Dann zieht er windend das Geäse hoch und stößt einen kurzen Schrei aus. Jetzt ist er Herr vom Platze.
Auch seine Tage werden wohl bald gezählt sein! Drüben, in Britisch-Kolumbia, unweit Stewart, ist Gold gefunden, und die fieberhafte Jagd nach dem roten Erze der Quarzriffe, die mit reichen Goldadern sich meilenweit hin erstrecken, lockt wildes Volk ins Land. Wie droben am Klondyke und in Dawson City wird Satans Streubüchse auch hier einen Höllenspektakel erregen. Bald werden die Stampfmaschinen erdröhnen, und in den aus dem Boden aufschießenden Goldgräberstädten wird es wimmeln von Abenteurern aller Farben, von redlichen und unredlichen Glücksjägern, von Verkaufsstellen mit dem üblichen Grenzertande: blanken Knöpfen und billigem Schmuck für Indianer, blitzenden Revolvern, Gewehren und Ladung für die Helden des Lagers.
Und bald werden die kupferfarbenen Burschen in Lederhosen und perlengestickten Mokassins, die jetzt als ein einziges Zeichen der Zivilisation einen alten Zylinderhut auf den glänzend schwarzen Zöpfen tragen, Büchsen neuester Verbesserung kennenlernen und sprechen lassen. Und was sie verschonen, wird das aus den Viehbezirken von Alberta herbeiströmende Heer der Kuhjungen zusammenknallen, um das Wildbret in die Goldgräberlager zu liefern. In Alaska waren, bevor die Einwanderung der Goldgräber kam, starke Rudel von Renern längs der ganzen Küste des Bering-Meeres. Heute haben sich die Reste bereits bis auf zwanzig, fünfundzwanzig geographische Meilen weit zurückgezogen. Auf der Kenai-Halbinsel haben weiße und farbige Erwerbsjäger die einst so zahlreichen Bestände nahezu ausgerottet und die internationale Schar der »Sportsmen«, die in jährlich wachsender Zahl die berühmten Jagdgründe überflutet, würden den Rest des stattlichen Wildes vertilgen, wenn die Gesetzgebung dies nicht unter ihren Schutz gestellt hätte.
Hoffentlich werden Britisch-Kolumbia und die Provinzen östlich der Felsengebirge für die Durchführung eines genügenden Wildschutzes mit gleicher Entschlossenheit sorgen, wie dies Alaska getan hat, als es – spät zwar, aber doch nicht zu spät – die drohende Gefahr der Ausrottung seiner Wildbestände erkannte!
Frühzeitiger als sonst hat der Frost dem Verkehre der Dampfer auf dem See und dem Unterlaufe der Ströme ein Ende gemacht, und das weite Land, das von dem »white conquest«, wie im Yankeeslang die Einwanderung der Weißen genannt wird, noch unberührt blieb, schmiegt sich nun wieder in die Arme des starken weißen Eroberers, der es schweigend mit Eis und Schnee umfängt. Die Moorsteppen-Rener fürchten ihn aber nicht. Ihre Brunftzeit ist noch nicht vorüber, und die erste Kälte treibt sie nicht gleich in ihre Winterstände. Sie sind jetzt im besten Feiste und heilfroh, daß der Frost sie endlich von Mücken und Schwarzfliegen befreit hat. Tagtäglich erhalten sie jetzt Zuzug von Rudeln, die langsam von der Küste im hohen Norden zurückkehren, wo die Tiere ihre Kälber gesetzt haben. Die Hirsche mancher dieser Rudel waren ihren Tieren überhaupt nicht bis an das Meer gefolgt, sondern treffen sich nun erst wieder mit ihnen bei ihrer Rückkehr auf den großen steinigen Mooren, die sich östlich der großen Prärie und nördlich des Friedensflusses und Athabaskasees über Tausende von Meilen hindehnen. Insbesondere ist der zwischen dem kleinen Sklavensee und dem Athabaska gelegene Teil jetzt ein wahres Stelldichein der Rener.
An den Ufern der kleinen Rinnsale, die aus diesen wellenförmigen Mooren entspringen, spielt Meister Biber den Deichhauptmann und liefert den Chippeways noch immer seinen kostbaren Pelz, der im Tauschhandel an den Hudsonbai-Faktoreien gleichsam als Münzeinheit gilt, obwohl der Biber auch hier bereits der Ausrottung entgegengeht. Längst haben die Rothäute sich für diesen Wertmesser von den Schleichhändlern gute Remingtons und Winchester-Mehrlader eingehandelt, mit denen sie namentlich den Renern nachstellen. – – –
In mürrischem Schweigen erhebt sich der alte Indianer von seinem Lager trockenen Mooses hinter dem schwarzen Steine, wo er zwei Stunden lang auf heranwechselnde Rener gewartet hatte. Der Wind ist umgeschlagen und bläst ihm mit unzweideutiger Schärfe in den Nacken. Der Alte steigt auf den nächsten Hügel und schaut sich um. Schnell duckt er sich; denn er hat drüben Rener gesehen. Im Bogen, um unter Wind zu kommen, schleicht er heran. Aber von dem letzten großen Steine aus, den er als Deckung erreichen kann, ist es noch viel zu weit zum Schusse. Gleichviel, in dieser Zeit schadet das nichts! Der Indianer versteht sich auf den Ruf. Er ballt die hohlen Hände zu einer Muschel und bellt in täuschender Nachahmung den kurzen, rauhen Schrei eines Renhirsches hinein. Sofort kommt Leben in die dort drüben. Neugierig starren sie in die Gegend, aus der der Schrei kam. Dann ziehen sie alle, wohl ein Dutzend und mehr, auf die sonderbar erscheinende Stelle zu. Ärgerlich, dort nichts wahrnehmen zu können, suchen sie sich Wind zu holen, nähern sich aber dabei immer mehr dem schwarzen Sterne. Da: ein leichter Dampf steigt auf, ein scharfer Knall tönt über das Moor hin, und ehe die bestürzt hin und her springenden Rener wissen, was geschehen ist, liegt auch schon das zweite Stück neben dem so merkwürdig still gewordenen Leithirsche. Abermals ein Knall, ein drittes Stück klappt den Wedel ein, schwankt und bricht zusammen. Nun erst rollt das Rudel ängstlich davon, alle paar hundert Gänge stehenbleibend und nach den verendeten Gefährten blickend.
Erst als der Indianer aufsteht und zu den Gefallenen heranschleicht, erfaßt entsetzlicher Schrecken die Überlebenden; und in wilden Fluchten setzen sie über Steine und Moos dahin, bis sie Meilen zwischen sich und ihren Feind gelegt haben.
Der alte Indianer schleppt die drei Stücke zusammen. Leicht wirft er sich eins auf die Schulter und trägt es zu dem Haupthirsche hin und holt dann das dritte herzu. Das Ren der »Barren Grounds« erreicht ja annähernd das Gewicht der Waldrener in den Bergen, deren Hirsche zu ihrer guten Zeit es auf 200, ja sogar auf 250 Kilogramm bringen.
Gleichviel, die Pferdchen werden genug zu tragen oder auf der »Travaille« genannten Schleife zu schleppen haben. Denn der Boden ist höllisch bucklig hier draußen, und es gehören die breiten Hufe des Renes dazu, um darüber hintrollen zu können!
Draußen über den zerklüfteten Fjorden und über den Bänken, deren Fischreichtum neben dem Robbenschlage die fast einzige Nahrungsquelle Neufundlands bildet, liegt noch immer der berüchtigte Nebel, den das Zusammenprallen der eisigen Polartrift mit dem heißen Golfstrome erzeugt. Aber der herrschende Westwind treibt diese aufdampfenden Nebelmassen, die den Schrecken der Seefahrer bilden, über den Heringsteich hinüber und beglückt damit das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland bis zum Spleen. Landeinwärts aber gilt, falls nicht gerade Südwest bis Südwind Regen übelster Sorte bringt, das alte Seemannswort: »Das Land frißt den Nebel.«
Es frißt ihn und lacht dazu. Draußen über den Fjords brodeln und wallen die tausendmal verdammten grauen Schwaden; über den breiten grünroten Felsmassen der Hochebene des Innern aber, aus der einzelne Ketten und Felsnadeln kahl und einsam aufragen, liegt der helle Sonnenschein des Indianersommers. Und die Indianer haben sich dieses späten Sommers zwei Jahrhunderte lang um so unbefangener erfreut, als sie, ihrer etwa einhundert, das ganze Innere der wild- und pelzreichen Insel zu eigen hatten, während das arme Fischervolk an den Küsten ein Dasein führte, das tief unter Hund und Affen stand. Der unermeßliche Wildreichtum der Insel diente lediglich dem Bedürfnisse dieser, übrigens bedürfnislosen und sehr anständigen Rothäute vom Stamme der Mik-Mak, die aus Neu-Schottland eingewandert sind und Schawnaditith, die letzte Überlebende der alten Bethuks, der ausgestorbenen Urbevölkerung dieses Landes, getötet haben. Sie wußten wohl, warum sie dies taten. Denn jede Frucht aus dem Schoße dieser letzten ihres Stammes würde sich gegen das Volk des Vaters in endlosem, rachevollem Hasse gewendet haben. Es war besser so: Schawnaditith starb und die Mik-Maks herrschten allein über Neufundlands Wälder mit ihren unzähligen Herden von Renern, ihrem Pelzreichtum an Bär, Wolf, Biber, Otter, Silber- und Schwarzfuchs, Hermelin, Nerz und Bisam-Ratte, mit ihrem unermeßlichen Reichtum an Flugwild und Fischen.
Wohl niemals hat ein noch so mächtiger Stamm ein so herrliches Jägerleben geführt als diese hundert Rothäute, die sich unangefochten das Recht auf das Innere von ganz Neufundland angeeignet hatten, das weit größer ist als das in seiner Bevölkerungsflut erstickende Irland. Mit Verachtung sahen sie hinunter auf die Söhne St. Patricks und auf die Kanadier, die in St. Jones und in den sonstigen Küstenorten vom Fange und Dörren der stänkerigen Stockfische und vom Schlage der noch viel widerlicher stinkenden »weißröckigen« jungen Robben lebten und gleichwohl zur Winterszeit in jammervoller Weise Hunger litten. Damals schweiften Tausende und aber Tausende von Renern, die im Winter häufig über Eis auf das Festland wechselten. Ihre regelmäßigen Wanderungen, südwärts bei Eintritt der rauhen Jahreszeit und nordwärts im Mai, gaben den Indianern willkommene Gelegenheit zu reicher Beute. Aber es spricht für diese Rothäute, daß das Neufundland-Karibu von allen Wildrenern der Welt das vertrauteste geblieben war. Dies Vertrauen ward sein Verderben, als an der Wende des letzten Jahrhunderts zur Erschließung des Landes eine Eisenbahn von St. John nach Port aux Basques gebaut wurde. Sie hat das Land nicht erschlossen. St. Jones ist das unbeschreibliche Tranloch geblieben, das es war, und die Küstenbevölkerung erblickt nach wie vor zu ihrem Unheile im Kabeljaufange und Robbenschlage ihren einzigen Beruf. Der Schienenstrang aber hat den Renern in verhängnisvoller Weise ihre Wanderungen verengt und sie auf gewisse Zwangswechsel gedrängt, wo sie längst abgeknallt sein würden, wenn ihnen nicht für die Hauptwanderzeit vom 1. bis 20. Oktober eine gesetzliche Schonfrist gestattet wäre. Außerdem ist der Abschuß gesetzlich begrenzt. Der Jagdschein dritter Klasse, der gewöhnlich gelöst wird, gestattet gegen eine Gebühr von 320 Mark den Abschuß von fünf Hirschen und zwei Tieren.
Die zwanzigtägige Schonzeit ist um so wertvoller, als im Oktober die Brunft stattfindet, während deren die Hirsche geradezu sinnlos unaufmerksam sind und die mühelose Beute jedes Söhnchens werden, dem Papas Mittel erlauben, nach Neufundland zu fahren und sich an der Bahnlinie am Wechsel anzustellen. – –
Was bleibt dem armen Hirsche von Neufundland übrig bei dieser »Erschließung« seiner einsamen Heimat? Wenn er gescheit ist, gibt er die Wanderungen über die Eisenbahn hinaus auf. Leider ziehen ihn die alten Erinnerungen zur Brunftzeit nach Süden. Gewitzte »still hunters« lauern ihm deshalb auch bereits mit Vorliebe vor dem ersten und nach dem zwanzigsten Oktober im Süden auf. Vielleicht wird das Wild doch durch Schaden klug und bleibt im Norden in der bessere Sicherheit verbürgenden Einsamkeit seiner »Barren Grounds«!
Dorthin folgen ihm schon jetzt ab und zu Jäger; aber die sind von anderem Schlage als die Schlächter und Schinder im Süden. Ihnen wird jeder Jagdtag zum inneren Erlebnisse und sie verzichten leichten Herzens auf alle Zahlengipfel, froh, wenn sie in eisiger Nordlandsnacht dem Rauschen der Wälder und Bergwasser lauschen dürfen, über sich des Herrgottes funkelnde Sterne und im Herzen den sicheren Leitstern echten Weidmannssinnes, der im Geschöpfe seinen Schöpfer ehrt!
Einer von dieser Gilde führt überhaupt bei dieser Jagd gar keine Waffe. Seine Büchse ist die Lichtbildkamera, und sein Abkommen tut keinem Wilde weh. Hinter einem aus Tannen errichteten Schirme wartet er am Wechsel auf sein Wild. Manchmal schießt er freilich auch vorbei, z. B. wenn ihm just im Augenblicke des Knipsens ein Zweig zwischen die Linse und sein Wild kommt. Überhaupt trifft man mit der Büchse auf hundert Schritte sehr viel leichter als mit der Kamera auf zwanzig! Um so größer die Freude, wenn ein stolzer Hirsch mitten im pulsenden Leben erfaßt auf die Platte gebracht ist! Kann der herrlichste Hauptschmuck eines, doch gegenüber dem Jäger wehrlosen Renhirsches auch nur im entferntesten die Genugtuung aufwiegen, die ein Bild gibt, das dies Wild inmitten seiner einsamen Heimat und in aller Herrlichkeit seiner wilden Freiheit gibt?
Wie ein ungeheurer Friedhof der Vorzeit dehnt zwischen dem Unterlaufe der Indigirka und der Kolyma mit allen Schrecken der Kälte und des Hungers die menschenleere steinige sibirische Moossteppe sich hin. Eisbedeckte Felsen begrenzen den blaugrauen Himmelskreis. Aus dem Boden der grausigen Einöde ragen Werst um Werst die Gebeine der entschwundenen Tierwelt der Vorzeit auf: Mammutknochen und Reste des büschelhaarigen Nashorns. Auch dies Riesengrab hat seine Hyänen gefunden, die scheu und verhungert aus elenden Höhlen hervorkriechen und nach den Knochen scharren: Jakuhiren haben, angereizt von den klugen Händlern in Srjedne-Kolymsk und Jakutsk, nach dem kostbaren Elfenbein gegraben, und bald hier, bald dort zeigen hinterlassene Splitter, daß sie die schadhaften Randstellen der gefundenen Mammutzähne abgesägt haben. Auch große Grabhügel ragen auf. Ehemals, bevor die Russen um des Pelzreichtums dieser einsamen Gegend über die Lena kamen, lebten hier die zahlreichen Stämme der Omoki, die diese Hügel für ihre Toten errichteten. Sie besaßen gleich den Tschuktschen große Renherden und lebten in festen Blockhäusern, von denen aus sie wandernd und weidend ihren Tieren über die weite Tundra folgten.
In den Kämpfen mit den Russen wurden die Renherden und die Omoki aufgerieben, und die Tschuktschen zogen sich mit den spärlichen Resten ihrer Herden zurück in die Nordostspitze Asiens, wo sie zwischen dem Tschaun-Flusse und dem Wankarem ihre mit Robben- und Walroßhäuten überzogenen Zelte aufschlugen, in denen aus dicken Renfellen eine innere Kammer hergerichtet ist, in der sie selbst im strengsten Winter nackt gehn.
Der Pelzreichtum an den Abflüssen des Stanowai-Gebirges wurde durch die rücksichtslose Ausbeutung bald stark vermindert, wenn auch nicht ganz erschöpft. Noch immer hausen der Bär und der Zobel, der Fuchs und zuweilen auch der Schneetiger in den Wäldern und Schluchten, und durch die Tundra ziehen Wölfe und Steinfüchse den ungeheuren Flügen von Schwänen und Gänsen nach, die dort auf Blänken und Moorteichen liegen. Schneehühner und Waldschnepfen brüten hier, und ihnen folgt der königliche Adler, wie die Schnee-Eule und die Raubmöwe.
Die Häuser der geringen Bevölkerung, die an den Unterläufen der Ströme geblieben ist, lassen schon in ihrer Bauart auf das Gewerbe schließen, das diese Umwelt von selbst ergibt: Fischfang und Jagd. Überall neben dem Hause und namentlich auf dem flachen, mit Rasen bedeckten Dache stehen hohe, für Fuchs und Vielfraß unerreichbare Gestelle zum Trocknen der Netze und Wildhäute. Auch die Kleidung zeigt deutlich das Tun und Treiben der Leute. Die weiche Decke des Renkalbes liefert ihnen den Stoff zu dem »Hemde«, das mit der Haarseite nach innen getragen wird und vorn offen ist. Die Außenseite ist mit Erlenrinde rot gegerbt. Die Säume sind mit Biberpelz und Otterpelz besetzt. Aus Renhaut sind auch die Hosen der Männer und Weiber, die bis zum Knöchel reichen. Das Oberkleid ist von starkem gegerbten Renleder, vorn und hinten geschlossen und mit einer Schneekapuze versehen. Die Schuhe aus schwarzem Bock- oder Roßleder sind an Schäfte aus rauhem Renfell genäht und werden mit Riemen kreuzweis an die Hose angeschnürt. Über diesem Hausanzuge wird zum Ausgehen ein Wettermantel aus doppeltem Renfelle getragen mit einer gleichartigen Kapuze und Fausthandschuhen. Dazu Strümpfe aus Renkalbfell und große Stiefel, die der grimmigsten Kälte trotzen.
Aber alle diese Herrlichkeiten und anderes mehr, was das Herz eines Jakuhiren erfreut, wie namentlich Tabak und blanke Messer, kann er sich nur verschaffen, wenn die Jagd gut geht und der Fischfang lohnt. Mit unzähligen Fallen stellt er den Füchsen und Zobeln nach und mit Gift den Eichhörnchen, aber zuweilen ist doch die Ausbeute bereits recht gering. Mit dem Bären bindet er nur ungern an. Denn mag es auch zwei oder selbst dreimal einem Unerschrockenen gelungen sein, eine gute Bärendecke zu erbeuten, so hat ihm sicherlich der vierte Mischka einen Denkzettel gegeben, den er nie wieder vergißt, falls ihm nicht das Denken für immer vergangen ist. Der Verkauf von Bärenlagern hat sich aber bisher hier noch nicht eingebürgert, da die gut zahlenden Schwermer aus Moskau und Berlin noch fehlen. Die Jagd auf Argali-Schafe in den Felsenbergen ist mehr reizvoll als lohnend. Und der Bestand an Elchen geht auch hier, fern von allen großstädtischen Schießern, bereits arg zurück. Denn schließlich sind schlechte Waffen auch des Schauflers Tod.
Der Reichtum der Ströme an Lachsen, Heringen, Forellen und sonstigen aus dem Meere heraufsteigenden Fischen ist noch immer groß; aber oft haben die Jakuhiren nicht einmal Netze, sondern trachten ihr Leben mit dem Aussetzen von Reusen zu fristen, in die nur bei günstigem Wetter und Winde Fische hineingehen.
So bleibt ihre Hauptnahrungsquelle die Renjagd. Mit verheerendem Erfolge betreiben sie diese, wenn im Frühjahr sich der Narst, der Krustenschnee bildet; denn jedes Rudel, das sie finden, ist ihnen dann bis auf das letzte Stück überliefert. Auch bei den Herbstwanderungen fallen ihnen unzählige Rener zum Opfer. Teils in Schlingen und Fallgruben, insbesondere aber an den Furten. Aber die Zeiten sind vorüber, da diese Züge Tausende von Renern in Rudeln von 200 bis 300 Stück aufwiesen, die sich in Breite von 50 bis 100 Werst über die Tundra bewegten. Die Vermehrung des Rens ist zu gering, als daß es die fortgesetzte rücksichtslose Vernichtung durch Nachkommenschaft hätte ersetzen können.
Im Norden des europäischen Rußland ist dank dieser unausgesetzten Verfolgungen das herrliche Wild bald zur Seltenheit geworden. Am Onego, wo es noch vor einigen Jahren stand, ist es vernichtet. Auch in Sibirien dämmert sein Ende herauf. Im Tobolskischen galten Rudel von 20 Stück bereits 1913 als stark, und östlich der Lena und Indigirka lebte das Renwild zwar noch immer in guter Anzahl, aber es war dank der fortgesetzten Verfolgungen rastlos und unberechenbar geworden.
Dies hat die damalige Regierung veranlaßt, die Syrjanen, Samojeden und Jakuten wieder zur Einführung der Zucht zahmer Rener anzuhalten. Aber die Küstenbevölkerung ist bis jetzt zu dieser heilsamen Wirtschaftsweise nicht zu erziehen gewesen. Sie verläßt sich auf den Fischfang und die Jagd. Zur Bespannung ihrer Schlitten genügen ihr die leichter zu ernährenden Hunde.
In Wirklichkeit mag auch der unausrottbare Hang zur Jagd dazu beitragen, ihnen die Haltung zahmer Renherden zu verleiden. Gleichwohl führt diese Unsicherheit des Lebensunterhaltes sie oft genug in bittere Not, der sie keineswegs mit dem stillen Gleichmute der Indianer zu trotzen wissen. – –
Mit Sehnsucht erwarten an allen Furten und Beobachtungsposten Männer und Weiber den großen Herbstzug. Endlich kommt am 10. September die Kunde, daß ein großer Renzug aus der Tundra anrückt auf eine selten betretene Furt an der Beresowa zu. Ein starker Herbstnebel lagert über der steinigen Uferbank. Binnen wenigen Stunden wimmelt es von Jakuhiren, die von einer ergiebigen Jagd sich das Ende ihres Hungers und aller Not erhoffen. Alles wird bereitgehalten, um den Zug der Rener erfolgreich zu empfangen: Kähne und Speere. Aber als das erste Rudel heran trottet, stutzt das Leittier. Hier und dort vernimmt, wittert oder eräugt es einen der unvorsichtigen Jäger, der sich nicht zu verbergen verstanden hat. Mit einem grunzenden Schrecklaute bricht es zurück und führt sein Rudel in die Berge, um von dort aus einen anderen Wechsel nach Süden anzunehmen. Dem ersten Rudel folgt kehrt marsch das zweite und diesem die ganze nachfolgende Schar.
Mit Blicken des Entsetzens und der Verzweiflung starrt die am Flußufer aus ihren Deckungen hervorgekrochene Menge der Jäger und ihrer Weiber den im Nebel untertauchenden Rudeln nach, mit denen ihr alle Hoffnung entschwindet, den nagenden Hunger zu stillen und die kommende Not des Winters zu überstehen. Stumpf und fassungslos stieren die einen in die leere Ferne; heulend ringen andere die Hände. Die Weiber raufen sich kreischend das Haar oder werfen sich fassungslos in den Schnee. Die einen beten, andere reden irre.
»Seid ruhig!« ruft der alte Russe Serjoschka, der auf einem Block am Ufer verzückt in die Ferne starrt, »Gott wird uns nicht verlassen!« »Gott wird helfen, Väterchen!« antworten ihm ein paar Weiber. Und baumstarke Männer umarmen sich! »Gott wird uns nicht verlassen!«
»Er wird nicht! Andere Rener werden kommen, Tausende, sage ich euch! Hier ist die Stelle, wo sie kamen, als ich jung war. Ich sehe sie vor mir dort im Nebel. Ich höre sie trappeln. Ich höre wie sie sich drängen. Erst wollte der alte Leitbock nicht herein in den Fluß. Wie ein Maralhirsch trug er den Kopf, der Stolze! Aber nun ist er drin! Brüderchen und Schwesterchen, nun wird's lustig! Alle drängen sie sich in den Fluß, juchhei! Hundert, tausend, was weiß ich? Geweihe über Geweihe! Und nun drauf in den Kähnchen und niedergestoßen, was die Pokoljuga halten will, der liebe, gute, kurze Speer! Immer rein in den dicksten Haufen! Die tot flußabwärts schwimmen, kriegt ihr. Aber die Besten, hehe, die verwunde ich nur, damit sie das Ufer erreichen können. Die gehören mir! Fangt sie alle für mich auf! O, du liebes Gottchen, man muß aufpassen, daß man nicht gebissen wird von den wilden Tieren und nicht geschlagen von den strampelnden! Paßt auf, Brüderchen und Schwesterchen! Jetzt könnt ihr salzen und dörren und räuchern und einfrieren lassen, juchhei! Paßt auf und fangt sie alle, die Matten, die Todkranken. Keins laßt laufen! Immer drauf mit der Pokoljuga! Hört ihr, wie sie klappern mit den Geweihen? Seht ihr, wie das Blut das Wasser färbt? Heihei, Brüderchen und Schwesterchen, jetzt wird's lustig!«
Schnalzend und tanzend starrt der Alte in den Nebeldunst hinein, der ihm Bilder aus längstvergangenen Tagen vorgaukelt und immer dichter sich herniedersenkt. Nur die Umrisse der nächsten Steinblöcke treten noch daraus hervor und die Gestalten der am Boden kauernden, vor Todesangst und Hungerqual jammernden Menschen.
In trotzigem Ingrimme hält Etukini, ein untersetzter Jakuhire, dem irre redenden Greise die Faust vor die Nase und schreit ihn an: »He, du, was faselst du? Hat Gott dich noch immer nicht verlassen?«
Andere dringen auf den Lästerer ein, um ihn zu beruhigen. Wieder andere, verwilderte Gesellen und wüste Weiber, stehen diesem bei und reizen damit nur noch mehr die Wut der Gläubigen. Knüttel werden geschwungen. Blut und Stöhnen der Niedergeschlagenen vermehrt vollends die Wut der sinnlos gewordenen Menge. Im Nebel erkennt niemand mehr Freund und Feind. Es ist ein Kampf wie von riesenhaften Spukgestalten. Sie fahren einander an die Gurgel, hageldicht fallen die Hiebe. Und die Speere, die zum Niederstechen der Rener mitgenommen wurden, treffen wahllos und blindlings brüllende Männer, verzweifelte Weiber und kreischende Kinder.
Auf dem schwarzen Steine am Ufer tanzt und schnalzt der verzückte Alte und schreit in den sinnlos gewordenen Haufen der Nebelgespenster hinein: »Jetzt wird's lustig! Heidioh, Brüderchen und Schwesterchen! Recht so, immer drauf mit der Pokoljuga! Immer lustig drauf!« – –
Acht Tage später ist die ganze Gesellschaft kreuzvergnügt beim Fischen zusammen: das Eis hält, und die Reusen konnten ausgelegt werden. Die Herbstfische gehen stromauf. Der Fang ist gut, und es gibt zu rösten und zu dörren, daß Arbeit für eine Woche bleibt. Menschen und Hunde schlingen sich satt. Und alles Ungemach ist vergessen.
Über dem jakutischen Urwalde brütet die heiße Julisonne und treibt das Thermometer, das im Januar zwanzig Grad unter Null stand, unter Mittag auf achtzehn Grad in die Höhe. In den schattigen Tälern der zum Aldan und der Lena strömenden Bäche steht am Rande schöner Weißbirkenstände die fruchtbeladene Eberesche, und die Edeltanne ragt in herrlichen Gruppen auf neben Lärchen, Weiden, Zwergzedern und Espen, deren Laub sich bereits zu gilben beginnt. Wo der dichte Wald einen Ausblick erlaubt, ragen die hohen, wildgezackten Berge auf, und am Ausgange der Täler dehnen sich die fruchtbaren Viehweiden der Jakuten aus, unterbrochen von kleinen Feldern, auf denen jetzt der Weizen geschnitten wird und der Sommerroggen reift. Im Jahre 1819 hat der Gemeindeschreiber Andrejewitsch Bolkaschin die ersten Anbauversuche auf diesem Boden gemacht, der bis dahin als reiner Eisboden galt. Heute bildet der Getreidebau für die Bezirke Jakutsk und Werchojansk eine Quelle unerschöpflichen Segens. Man baut vom Weizen das zwanzigste und von der Hirse das achtzigste Korn. Das Geheimnis liegt lediglich darin, die Aussaat des Sommerroggens bereits in den letzten Apriltagen und die der Gerste und des Weizens in den ersten Tagen des Mai unterzubringen. Denn der Übergang vom Frühjahr zum Sommer ist hier überraschend schnell, und sobald die Maisonne den Boden anwärmt, prangen die Wiesen auch schon im herrlichsten Grün, und überall lacht eine Blütenpracht von zahlreichen roten Lilien, Astern, Nelken und dem Bergveilchen, das an Größe und Farbe dem blauen Stiefmütterchen gleicht. Das ganze Land bietet nahrhafte Weide für die ausdauernden und feurigen Pferde und das Rindvieh der Steppenrasse sowie den eingeführten mongolischen Yack. Auch Ziegen und allerlei Geflügel werden von den Jakuten gehalten, und seit längerer Zeit wird auch die Renzucht betrieben. Während das Ren auf den großen Tundren an der Kolyma und im Tschuktschenlande außerordentlich klein ist, stellt das der Jakuten und Russen im Jakutsker und Werchojansker Bezirke die schwerste und stärkste Zugrasse dar. Die Herden werden auch in kleineren Rudeln gehalten, um sie besser vor verheerenden Seuchen, insbesondere dem so oft auftretenden Milzbrande, zu schützen. Und sowohl Russen wie Jakuten sorgen durch Anlage von Schutzdächern und Rauchstellen für Schutz gegen allzu wilde Schneestürme und Mücken. Im Winter wird die ganze Herde oft in Umzäunungen getrieben und dort gefüttert. Es kann nicht überraschen, daß unter diesen Umständen auch in der Farbe bereits Unterschiede sich herauszüchten und daß sogar bereits scheckige Stücke vorkommen. Der Jakute ist einsichtig genug, die Gefahren zu erkennen, die in dieser Überzüchtung liegen. Er sieht es deshalb gern, wenn gelegentlich im Herbste ein wilder Hirsch sich zu seinen Herdentieren gesellt und für Blutauffrischung sorgt.
Nachts werden die Rener der Jakuten von Kindern gehütet, die zur Verscheuchung der Wölfe mit Ringrasselstäben und Klappern bewaffnet sind. Augenscheinlich nähert sich diese Renhaltung bereits einer vollständigen Eingewöhnung des Wildes als Haustier. Dabei entwickelt es sich zu einer beachtenswerten Größe und Schwere und reichlicher Milchgabe. Die Rener aus den Bezirken Werchojansk, Wiluisk und Jakutsk erreichen eine Höhe von 92 Zentimetern und liefern schmackhaftes Wildbret und sechs Zentimeter hohen Feist. Bei der sorgfältigen Pflege gewöhnt sich das Ren an seinen russischen oder jakutischen Herrn ebenso wie Kühe und Pferde. Darf doch sehr oft auch das Renkalb neben dem Reitpferdchen seinen Platz am Kamine einnehmen. Von klein an wird ihm dort jede Kost geboten, es lernt sich als Mitglied der Familie fühlen und legt infolgedessen die stürmische Reizbarkeit ab, die das Ren des Tungusen so oft zeigt. Im Kreise Olekna bringt diese Zucht insofern noch besonderen Gewinn, als die russischen, jakutischen und tungusischen Besitzer ihre Rener an die Goldminen bringen, wo die Tiere Holz und Balken schleppen und allerhand Vorräte herbeiführen. Schon nach seiner Fährte ist das Ren des Jakuten leicht vom Tungusen-Ren zu unterscheiden, noch leichter aber von beiden die Fährte des wilden Renes. Sie ist weniger plump und latschig, aber breit und rund, und die Geäfter drücken sich klarer als die des zahmen Renes in der Spur aus. –
Der alte Charlampij schaut nach seiner Sommerjarte, dem leicht gebauten Renschlitten mit hohen schneeschuhähnlichen Kufen. Dann nimmt er eine Schlinge, um sich zwei liebe Rener einzufangen. Vorher aber geht er an einen Hügel, schaut sich sorgfältig ängstlich um, ob niemand ihn sieht, und dann – nun auch der Jakute hat am frühen Morgen einen Augenblick, an dem er allein sein möchte mit seiner Lust und Qual! Kaum aber fühlt Charlampij aufstöhnend einige Erleichterung, als auch schon seine lieben Rener in wilder Eile herbeistürmen und ein Wald von drohend klappernden Geweihen ihn in hohen Fluchten vom Plätzchen seiner stillen Beschaulichkeit vertreibt. Lachend schnallt der Alte sich seinen Leibriemen zu und wirft dem zudringlichen Störer, der eben den letzten Rest der Morgengabe aufleckt, die Schlinge über das Geweih. Nicht zur Strafe, sondern weil der dreijährige Hirsch der beste Läufer ist. Er macht vor dem Schlitten seine 15 bis 20 Werst in der Stunde. Aber man muß gut aufpassen, denn er frißt alles: Fische und altes Leder, was er kriegen kann! Sogar Lemminge fängt er: es ist spaßig anzusehen. Die mag er wohl gern wegen ihres Uringeruches. Auch Tran leckt er. Aber sein Allerliebstes ist doch des Morgens – na, ein jeder hat so seine Leibgerichte! Die Chinesen drüben in der Mandschurei essen faule Eier, die Russen faule Milch (Käse) und die Jakuten faule Fische. Je fauler, je lieber! Na aber ja, warum also soll das liebe Rentierchen nicht auch seine Leckerbissen haben?
Bww – wwrr – rupp! Noch einmal saust die Schlinge, und ein zweites Ren wird, wie es auch sich sträubt, strampelt und stemmt, herangeholt. Dann zieht Charlampij beide zu seinem »Balagan«, der viereckigen Hütte mit dachförmig geneigten Seitenwänden und flacher Decke. Sein Junge nimmt ihm dort das eine Ren ab und hilft das Geschirr auflegen, für jedes Ren einen Brustriemen und einen Zugriemen, die an dem Kreisholze des Schlittenvorderteiles beweglich befestigt sind. Charlampij ist sehr stolz auf seine Anspannung. Das ist was anderes als das Bettelzeug der Tchuktschen, das aus einem unbeweglichen Riemen besteht, der am Sattelgurte befestigt ist und dem Rene zwischen den Hinterläufen durchgeht! Ungeduldig scharren und stampfen die Rener in ihren Geschirren. Flink nimmt Charlampij Platz. Die Leitgerte berührt den Hirsch, und hurtig wie ein Pfeil saust der Schlitten auf seinen dünnen, breiten Kufen über den sandigen Weg und dann über das weite braune Hümpelmoor dahin bis zu dem großen Moorsee, wo Charlampij seine Reusen gelegt hat, in denen er die dicken, zehnpfündigen Karauschen fängt. Sollte einmal ein Mensch versuchen, ohne diese Schlitten und dies Gespann über das quatschige und schwampige Moor zu kommen! Na ja! –
Der Tunguse freilich macht das noch einfacher. Er schnallt sich die Schneeschuhe unter die Füße, faßt den Zugriemen des Renes mit der Linken und den Laufstab mit der Rechten und saust los.
Und, sobald der Boden fest ist, legt er dem stärksten Hirsche aus seiner Herde den Sattel auf und springt hinein. Steigbügel hat ja dies Holzgestell nicht und darf sie auch nicht haben. Denn der Tunguse und namentlich sein Weib pflegen mit Schneeschuhen in den Sattel zu steigen. Über das Sattelgestell wird ein Renfell gelegt, manchmal auch ein Kind darauf gebunden, dem die Ärmel an den Händen zugenäht sind. Es plärrt, als ob es von Sinnen wäre. Aber die fette Mutter sitzt gleichgültig hinter ihm. Ihre Schneeschuhe streifen auf dem tiefen Schnee die Oberfläche, und sie muß auf ihrem Schiffe der Eismoorwüste ärger balancieren als der Kabyle auf seiner Kamelstute. Und doch hat kein russischer Freiligrath, kein Lermontow und kein Turgenjew sie besungen.
Moor, Sumpf und Moränenschutt, farblose Heide. Grau verhangene Fichten, hoch, hoch über Norwegens Fjorden. Und droben blaue Seen, deren Wasser in wilden Sturzbächen hinabstürzt zum Meere, das gegen die Felsbuchten donnert. Hoch droben unter den schneetragenden Bergen die leuchtende, tiefe, tiefe Einsamkeit. Nur durchbrochen von dem unaufhörlichen, eintönigen, fürchterlichen Singen der Mücken. Lappland!
Am See drüben das Lager des Berglappen. Es ist »Friede« im Lande, d. h. kein Wolf zu spüren. Gemächlich lassen sich die Rener zum Melkplatze treiben, wo Mädchen und Buben ihnen die Bastschlinge überwerfen und sie dann mit einem Schlage der flachen Hand auf das Euter zum Stillstehen veranlassen. Schale auf Schale füllt sich mit Milch. Dann ziehen die Tiere langsam wieder davon, und die Wächter folgen ihnen. Langsam rückt die Mitternacht heran. Da fahren die Hunde wütend auf, die Rener drängen sich in dichtem Knäuel zusammen, jagen verwirrt hin und her, bis sie die gierigen Feinde wittern. Dann prallen sie entsetzt auseinander und stieben davon. Der Ruf »Wolf in der Herde!« gellt auf. Alles springt vom Lager auf und setzt auf Schneeschuhen den Flüchtlingen und ihren Verfolgern nach.
Der Lappe mag es nicht leiden, wenn er nach der Kopfzahl seiner Herde gefragt wird, und gibt sie niemals richtig an. Denn er fürchtet das Schicksal. Eben noch war er ein reicher Mann und nannte Hunderte von Tieren sein eigen – wer weiß, wie viele er morgen besitzen wird! Denn was der Wolf nicht reißt, wird versprengt. Vielleicht, wer weiß es, wird es gnädig abgehn; vielleicht sieht er nur den dritten Teil wieder!
Ein Teil der Versprengten läuft möglicherweise über die Wiesen der »Ansiedler«, hergelaufenen Volkes, das seine Niederlassungen gerade an solchen Stellen aufschlägt, die der Lappe auf dem Zuge zum Meere, wo die Tiere ihre Kälber setzen, im Mai mit seiner Herde unausweichbar berühren muß. Unzählige Scherereien sind die Folge eines solchen Zusammenstoßes. Gerade der Lappe scheut nichts so sehr, als die weiten Reisen zum Gerichte und das endlose Warten und Schwatzen dort, das ja doch immer nur darauf hinausläuft: der Nomade hat unrecht! Er geht dem Ansiedler im Bogen aus dem Wege, schon deshalb, weil er sich nicht einen Tag lang von seiner Herde trennen darf. Denn diese ist es, die seine Wege bestimmt. Ihr zuliebe muß er zur Mückenzeit hinauf auf die eisigen Höhen des Fjeldes, wo er kein Holz zu einem Feuerchen findet. Führt sie ihn zu weit fort von seinen Vorräten, so muß er hungern oder sich von Lärchenrinde nähren. Im Schmutze verkommen, nie gewaschen und verlaust – »selten nur zieht das Tote (der Kamm) das Lebendige aus dem Walde!« – ist er vollständig abhängig von dem herabgekommenen armen Ren, das ihn unstet und flüchtig macht auf Erden. Und doch möchte er dies Hundeleben für kein anderes geben. Mitleidig schaut er hinab auf die Fischerlappen und mit Ekel auf die Ehrvergessenen seines Volkes, die sich zur Dienstleistung an die Normänner erniedrigt haben. Und wenn sein Blick über das wogende »Meer«, die Geweihe seiner weidenden Herde blickt, wähnt er, als der einzige Freie auf Erden, sich, wie einst am Fuße der Seealpen die Jäger der Eiszeit, im irdischen Paradiese.
Wiederum ist der Winter über die Tundra hereingebrochen. Mit Schneestürmen jagte der November daher, denen außer dem Ren kein lebendes Wesen auf der eisigen Blöße standzuhalten vermochte. Und das Weihnachtsfest brachte den üblichen furchtbaren Frost. Wieder zeigt der Mond den breiten Dunstring mit kreuzförmiger Ausstrahlung. Wieder züngeln im Norden die feinen Schlangen des Nordlichts auf. Wieder schleicht unter Mittag tief im Süden der Abglanz der Sonne wie Verheißung eines Blühens dahin, das doch nie in diesem Lande der ewigen Vernichtung sich erfüllt. Die feierliche Marmorschönheit der nordischen Landschaft zeigt sich in ihrer lebensfeindlichen Kälte.
Über das schattenlose Weiß des ewigen Leichentuches zieht eine schweigsame Karawane. Jakuten sind es auf wetterharten kleinen Rossen. Von Kopf bis zu Fuß in dicke, steife Pelze gehüllt, können die Reiter sich während der zehnstündigen Tagesreise von einem Futterlager zum andern kaum bewegen. Nur zuweilen schaut einer verstohlen aus der dickbereiften Bärenkaputze heraus, um nach den Hufen seines Pferdchens zu schauen, die gar leicht bei dieser Kälte zerspringen. Eine Wolke dicken Dunstes entströmt Rossen und Reitern. Selbst der Wolf, der scheu in gemessener Entfernung der Karawane folgt, um den Dung der Pferde gierig aufzulesen, selbst der heiser quorkende, eisgrau überschimmerte Rabe, der langsamen Fluges über das Land des weißen Todes hinstreicht, hinterlassen als Spuren ihres einsamen Zuges feine Dunstsäulen. Den Pferdchen starrt jedes Haar von rauhen Eisnadeln, und die Nüstern verstopfen sich mit dicken Eiszapfen, die ihnen das Atmen erschweren. Wohl ihnen, wenn sie ohne Wettersturz und Sturm die ferne Rasthütte erreichen!
Nur der Hund, dieser ewige Bürger aller Breiten, spottet selbst dieser Kälte. Nichts kann seine unverwüstlich gute Laune verderben, als etwa der Neid gegen seine rauhen Artgenossen. Aber sobald die Beißerei vorbei ist, graben alle sich abends ihr Bett in den Schnee und halten gute Kameradschaft und treue Wacht. Aller persönliche Zwist ist vergessen, falls ein Bär oder Wolf es wagt, eine Rasthütte zu umschleichen, die von den Hunden der fünf bis sechs Zwölfergespanne der Reisenden bewacht wird! Und gibt es einen zuverlässigeren Freund des Menschen als den Leithund vor einem Jukahiren-Schlitten? Wie hält er seine elf Zuggenossen in Ordnung und Gehorsam, und welche liebe Not hat er oft mit den ungebildeten Kötern, die hinter jeder Fuchsfährte hinprellen und dabei den richtigen Weg verfehlen! Zu welchen Listen muß er greifen, um sie durch plötzliche Rechtswendung und heftiges Gebell auf eine vermeintliche neue Wildspur zu locken, die zurückführt zu der Richtung, in der die nächste »Powarna«, das aus Noah-Holz »Noah-Holz« ist Treibholz aus der Urzeit, als die Tundra noch Meeresgrund war. und Moortorfen errichtete Rasthaus, liegt! Wie oft ist dies vom Sturme verweht und nur durch die Klugheit des Leithundes zu finden, der mitten auf der einförmigen weißen Ebene haltmacht und unter Scharren und Wedeln zum freudigen Erstaunen seines Herrn die tief unter dem Schnee vergrabene Hütte verbellt, die dann hurtig freigeschaufelt wird!
Auch das Ren ist dem Menschen dienstbar geworden. Aber es hat sich nur widerwillig in dies zur Entartung führende Sklavenlos gefügt. Wo es noch in alter, adelvoller Wildfreiheit lebt, da weicht es vor dem Menschen immer mehr nordwärts zurück. Wenn alles, was atmet, die eisige Moossteppe flieht, dann harren noch die Rudel der Tundra-Rener auf ihr aus. Dicht aneinandergedrängt stehen sie da, oder lassen sich, wenn die Wirbelstürme kommen, sogar einschneien wie die klugen Hunde. Mit seinen Wohnsitzen hat der Mensch die nördlichsten Stände des Renwildes nicht erreicht und wird sie auch nie erreichen. Es bewohnt alles Festland und alle Inseln des Eismeeres, soweit sie ihm nur einige Gräser, Moose und Flechten bieten. Seit Menschengedenken steht es auf den Neusibirischen Inseln. Vom Wrangellande, wo es zur Sommerzeit Ruhe vor Wölfen und peinigenden Dasselfliegen findet, kreuzt es im Herbste über Eis das zwanzig deutsche Meilen breite Meer. Am Kap Tscheljuskin und am Kap Taimyr ist es zu Hause, und Parry fand es auf den sieben Inseln nördlich von Spitzbergen ebenso wie auf den nach ihm selbst benannten Inseln im hohen Norden von Amerika. Im Norden von Grönland ist es häufiger, als im Süden und trotzt dort ohne jede andere Deckung, als die der Schnee ihm bietet, den Stürmen des Winters.
Aber auch dorthin folgen ihm die Geldgier und die Schießwut. Wie Innerafrika wird auch der hohe Norden in rücksichtsloser Weise heimgesucht und gebrandschatzt. Ganze Flotten laufen von Tromsö aus, um Jagd zu machen auf Walrosse, Eisbären, Robben, Narwale und Rener. Die Folge dieses Vernichtungskrieges ist, daß ganze Arten unter unseren Augen vom Erdboden verschwinden. Das Walroß, das vor sechzig bis siebzig Jahren auf Spitzbergen und der Bären-Insel alljährlich zu Abertausenden erbeutet wurde, ist dort bereits vollständig ausgerottet. Auch das Ren, das vor fünfzig Jahren dort gemein war, kommt jetzt selbst in jenen Gegenden von Spitzbergen kaum noch vor, in denen es nicht gejagt werden darf.
Echtem Weidmannsgeiste graut vor diesem Schießertume. Und darauf beruht schließlich unsere Hoffnung für das eigenartige Wild. Mag es auch lange währen, bis in Rußland das Verständnis dafür erwacht, daß es eine Ehrenpflicht echter und rechtverstandener Kultur ist, die Wildstände als Denkmäler der heidnischen Kultur zu schonen – in den germanischen Ländern wird dies Verständnis sicherlich um so entschiedener sich Bahn brechen. Norwegen hat bereits 1901 die Jagd auf das Wild-Ren fünf Jahre lang verboten. Britisch-Amerika und die Vereinigten Staaten haben Schutzgesetze und werden diese gewiß immer besser zur Durchführung bringen. Hoffentlich wird die Beratung, die auf Schwedens Antrag die politischen Verhältnisse Spitzbergens regeln soll, auch international bindende Bestimmungen treffen, durch die der völlige Untergang der hochnordischen Tierwelt und insbesondere der des Rens verhütet wird! Denn kein Wild der Erde erinnert so sehr wie dies in seinem ganzen Wesen an die Urgeschichte unseres Landes und Volkes, die Windzeit, Wolfszeit und Beilzeit der alten Edda!
In Alaska wird jetzt das zahme Ren mit Erfolg zur Überlandpost verwendet. Im Jahre 1891 wurden die ersten 16 Stück von sibirischen Tschuktschen gekauft und nach einer Reise von 1000 Seemeilen in Unalaska gelandet. Im nächsten Jahre folgten 175 Stück nach und landeten bei Port Clarence. Die als Lehrer herübergeholten Tschuktschen unterrichteten die Eskimos in der Behandlung der eingeführten Tiere. Sie stellten sich aber bei diesem Unterrichte wenig klug an. An ihrer Stelle wurden deshalb mit hohen Kosten sechs Lappen aus Kantokeino in Finnmarken verschrieben, die mit vier Frauen und vier Kindern im Juli 1894 in Port Clarence anlangten und sich bewährt haben. Nun verbot aber die russische Regierung die Ausfuhr von Renern, die sich bald sehr lebhaft gesteigert hatte. Die russische Regierung befürchtete, daß die Ausfuhr die ohnehin durch Seuchen bedrohten sibirischen Bestände erschöpfen und die Preise verhängnisvoll verteuern werde. Die Bedeutung der Renzucht kann wohl durch nichts so sehr erwiesen werden als durch diesen Vorgang. Die Alaskaner haben sich denn auch nicht beirren lassen. Es sind jetzt etwa 20 000 zahme Rener in Alaska in Gebrauch, und in Dawson City ist ein stark besuchter Ren-Markt. Das Ren leistet am Yukon das Dreifache wie der Hund, der bisher der einzige Gefährte des kühn vordringenden Goldgräbers war. Und es hat vor dem Hunde noch den Vorsprung voraus, daß es fast überall am Wege Moos und Flechten findet, während die Nahrung des Hundes auf dem Schlitten mitgeschleppt werden muß und deshalb einen erheblichen Teil der Ladung ausmacht, der beim Ren fortfällt.
Der Schulinspektor Dr. Sh. Jackson, der im Jahre 1894 die Anregung zur Einführung von Renern gab, hat sich ein großes Verdienst um Alaska erworben. Das von ihm gegebene gute Beispiel wurde dann auch von Labrador befolgt. Der Missionsarzt Dr. W. T. Grenfell leitete dort die Angelegenheit. Man ließ 300 Rener aus Norwegen kommen, die unter der Obhut ihrer Lappen über die Küste verteilt wurden, an der infolge der ruchlosen Metzeleien das Wild-Ren schon auf weite Strecken hin verschwunden ist und als Folge davon Not und Elend unter den Eingeborenen herrscht.
Das Wild-Ren hat man in den Adirondacks, dem bekannten Gebirge im Norden des Staates New-York, einzubürgern versucht. Die ausgesetzten Stücke waren mit Erlaubnis der kanadischen Regierung aus den Provinzen Quebec und Neubraunschweig bezogen. Nach übereinstimmenden Berichten kanadischer Jäger und Wildheger wurden mehrere Rener, die nach den Adirondacks ausgeführt waren, 1903 in ihren Heimatrevieren wieder angetroffen. Sie waren also zurückgewechselt!
Mit zahmen Renern hat man schon 1805 einen Einbürgerungsversuch in den Steiermärker Alpen gemacht. Und 1878 gab Brehm zu einem neuen Versuche Rat. Er empfahl die Aussetzung eines Rudels von etwa 20-30 Stück Wildrenern. Der Versuch von 1805 war daran gescheitert, daß die Tiere bereits krank ankamen; auch Brehms Rat, an den sich große Hoffnungen knüpften, hat zu keinem Erfolg geführt. Auch in Deutschland sind mehrere Versuche gemacht, zahme Rener auszusetzen. Die Hoffnung, daß diese, wenn sie überhaupt die Bedingungen ihres Gedeihens fänden, bald verwildern würden, war ja berechtigt, da in den nordischen Ländern gelegentlich versprengte Herden-Rener sehr schnell verwildern. Aber die deutschen Versuche scheiterten bald an der unbezähmbaren Wanderlust, die auch dem zahmen Ren noch innewohnt. Im Jahre 1900 wurden vom Oberförster Wendt im Schwarzwalde drei Rener, ein Hirsch und ein Kälberstück ausgesetzt. Der Hirsch entstammte dem Zoologischen Garten in Basel, während Tier und Kalb in Kopenhagen angekauft waren. Die Tiere gediehen zunächst leidlich, da auf dem südlichen Schwarzwald in Höhe von achthundert Metern aufwärts das Rentiermoos reichlich wächst. Aber die Brunft verlief ergebnislos, da das Tier den Hirsch nicht annahm, was wohl auf das zu milde Klima zurückzuführen sein dürfte. Nach einer Mitteilung des »St. Hubertus« Nr. 47, 1903, soll dem Wilde dann aber die Äsung ausgegangen sein. Es begann deshalb zu wandern, und konnte oft in verhältnismäßig weiter Ferne nur mit Mühe wieder eingefangen und zurückgebracht werden. Schließlich sperrte ein Hotelbesitzer die armen Tiere in einen Stall ein, wo sie natürlich erkrankten und bald eingegangen sind.
Auch der in Nordjütland mit der Aussetzung von norwegischen Renern gemachte Versuch ist mißglückt.
Ein anderer Versuch wurde im Jahre 1903 bei Preil auf der Kurischen Nehrung gemacht. Es wurde dort ein Renpaar aus dem Königsberger Tiergarten ausgesetzt. Anscheinend war das Gatter, in dem sie gehalten wurden, zu eng. Und da im Frühjahr 1904 die Mücken besonders zahlreich und stechlustig waren, so scheint das Tier, das sich ihrer in dem engen Gatter nicht erwehren konnte, an dieser Plage eingegangen zu sein. Der Hirsch hingegen brach aus und zog in richtigem Ahnungstrieb nordwärts. An der Memeler Süderspitze wurde er einige Male beobachtet, wie er in die Ostsee hinausrann und dort sich mit wohligem Behagen von der salzigen Flut umspülen ließ. Bei seiner Rückkehr an den Strand wurde er eingefangen und nach dem Königsberger Tiergarten zurückgebracht.
Armes Geschöpf!
Es hatte die ganz zutreffende Ahnung, daß in der Richtung Memel–Livland–Finnland der Weg zu seiner natürlichen Heimat liege.
Liegt die Kurische Nehrung schon im südlichen Grenzgebiete des Elches, so kommt sie für das Ren als Standgebiet überhaupt nicht in Betracht.
Als die vom Norden kommenden Germanen zur Steinzeit sich heraussonderten aus der alten Urgemeinschaft des Ariertums, hatten sie sich längst befreit aus der Abhängigkeit von dem Ren, das dem langschädeligen Ahn einst am Rande der Rhonegletscher vor der Nordwärtswanderung ein und alles gewesen war. Aus bloßen Jägern waren sie Hirten und aus diesen tüchtige Ackerbauern geworden. Ihr Reit- und Zugtier war das Roß, Milch lieferte ihnen die Kuh, und ihr Wild waren Urstier, Wildroß, Elch und Keiler.
Noch ziehen die letzteren beiden in Litauens Wäldern und Mooren ihre Fährte. Sorgen wir für ihre Erhaltung und den Schutz ihrer Art durch verständige Hege mit der Büchse!
Gewiß hat der Gedanke viel Bestechendes, das Wildren dort anzusiedeln, wo die Renflechte jetzt ungenützt bleibt. Aber kein Kulturland kann in seinen inselartigen Bergeinöden diesem von ewigem Wanderdrange erfüllten Wilde den nötigen Raum bieten.
Seine Heimat ist und bleibt der hohe Norden. Selbst dort zieht er immer weiter in bisher unbetretene Gebiete. Dorthin, wo unter dem Drucke der Erdschwingung der feurige Gesteinsfluß herausgepreßt wird und in weiten Lavafeldern bergehoch verkühlt. Wo aus ewigem Eise die heißen Brunnen aufspringen, wo über Seen, die noch nie eines Menschen Auge sah, in Wolkensäulen die Mücken stehen und Scharen von Fischen nähren, von denen Eiderenten, Schopfsäger, Seepapageien, Kormorane, Lummen, Nonnengänse und Eissturmvögel leben, die dem Adler zur täglichen Beute dienen. Dorthin in jene äußerste Thule, wo im luftverdünnten Raume die von der Sonne ausgehenden Kathodenstrahlen hart am Pole vorbeistreifen und für Minuten in einzigartiger Herrlichkeit mit der Pracht ihrer Farbenschlangen die ewige Winternacht durchbrechen. Dorthin, wo die Hoffnung alljährlich ihre herrlichste Erfüllung findet in der auf die lange Finsternis folgenden dreißigtägigen Morgenröte!
Dort, wohin seit Menschengedenken im Vereine mit dem forschenden Geiste die letzte Sehnsucht der Menschheit sich flüchtet: dort ist die letzte Heimat des ewig vor dem unsteten Menschen flüchtigen Ren!
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