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Tschuang-Tsen aus dem Lande Sung war ein Gelehrter, der die Weisheit so weit trieb, daß er allen vergänglichen Dingen entsagte; und da er als ein frommer Chinese nicht an die ewigen Dinge glaubte, so blieb ihm zur Zufriedenheit seiner Seele nichts sonst als das Bewußtsein, den gemeinen Irrungen der Menschen nachzugehen, die da tätig sind, um Reichtümer zu gewinnen oder leere Ehren. Aber es muß diese Befriedigung eine sehr tiefe gewesen sein, denn Tschuang-Tsen wurde nach seinem Ableben selig gepriesen und des Neides würdig befunden. Nun hatte er, während der irdischen Tage, wo ihm die unbekannten Genien der Welt unter einem grünen Himmel zu spazieren erlaubten zwischen blühendem Bambus und Weiden, da hatte, sage ich, Tschuang-Tsen die Gewohnheit angenommen, träumerisch durch das Land zu wandeln, in dem er lebte ohne zu wissen warum und wozu. Als er eines Morgens so dahin schritt an den blumigen Hängen des Gebirges Namhoa, fand er sich auf einmal mitten auf einem Friedhof, wo die Toten nach Landesbrauch unter einem kleinen Hügel aus Backsteinen ruhen. Beim Anblick der endlosen Gräberreihen dachte der Gelehrte über die Bestimmung des Menschen.
»Dahin also führen, in diese Sackgasse, alle Wege des Lebens. Und man kommt nicht wieder an den Tag, hat man einmal hier Platz genommen.«
Nun, dies ist kein ungewöhnlicher Gedanke, aber er enthielt doch alles, was Tschuang-Tsen mit seiner Philosophie denken konnte. Und da er zu gebildet war, forderte er von dem roten Drachen aus Porzellan, der über dem Tore zum Friedhof lag, keinen Trost. Während er nun so denkend durch die Gräberreihen wandelte, begegnete er plötzlich einer jungen in Trauer gekleideten Dame, denn sie trug ein langes weißes Kleid aus grobem Stoff. Sie saß an einem Grabe und bewegte ihren Fächer über der noch frischen Erde des Hügels.
Neugierig, was solches bedeuten möge, grüßte Tschuang-Tsen die junge Dame höflich und sagte:
»Erlaubt, junge Frau, die Frage, wer unter diesem Hügel ruht und weshalb Ihr Euch so viel Mühe gebt, die Erde des Grabes zu fächeln? Ich bin ein Philosoph und suche die Gründe, und der Grund für Euer Tun entgeht mir.«
Die junge Frau hörte zu fächeln nicht auf. Sie errötete, senkte das Haupt und flüsterte einiges, was der Weise nicht verstand. Er wiederholte noch ein paarmal seine Frage, aber es war vergeblich. Die Dame beachtete ihn nicht weiter, und es schien ihre Seele ganz in der Hand zu sein, welche den Fächer bewegte.
Tschuang-Tsen entfernte sich mit Bedauern. Wenn er auch vom Wahne alles Tuns überzeugt war, so neigte er doch dazu, die Gründe dieses Tuns zu suchen, insbesondere die der Frauen.
Und die kleine Frau am Grabe erregte seine lebhafteste Neugier. Er ging weiter, nicht ohne sich wiederholt umzusehen und immer den lebhaft bewegten Fächer zu gewahren, der wie ein Schmetterling tat. Da machte ihm eine alte Frau, die er zuvor nicht gesehen hatte, ein Zeichen, ihr zu folgen. Er trat zu ihr in den Schatten eines Grabhügels, und sie sagte zu ihm:
»Ich hörte, wie Ihr meiner Herrin eine Frage stelltet, die sie nicht beantwortete. Ich will Euch Antwort geben aus Höflichkeit und für ein weniges, damit ich mir vom Priester Gebetstreifen zum Verbrennen kaufen kann, auf daß ich lange lebe.«
Tschuang-Tsen zog seine Börse und gab der Alten ein Geldstück.
»Die Dame dort am Grabe ist Frau Lu, die Witwe eines Gelehrten namens To, der vor einer Woche an einer langen Krankheit gestorben ist. Sie kniet an ihres Gatten Grab. Sie liebten einander sehr zärtlich. Selbst auf dem Sterbebette konnte sich Herr To nicht entschließen, sein Weib zu verlassen, denn es war ihm unerträglich, daß sein Weib in der Blüte ihrer Jahre auf der Welt bleiben sollte. Aber da er sanften Wesens war, so fand er sich endlich damit ab und unterwarf seine Seele der Notwendigkeit. An seinem Lager saß während seiner langen Krankheit Frau Lu und versicherte ihm unter Tränen, daß sie ihn nicht überleben und seinen Sarg teilen werde, wie sie sein Bett geteilt habe. Aber da sagte Herr To:
›Verschwöre das nicht, liebe Frau.‹
›Nun denn, wenn ich dich schon überleben muß,‹ sagte die Frau, ›wenn ich von den Geistern schon verurteilt bin, das Licht des Tages zu sehen, da ich dich nicht sehe, so wisse, daß ich nie die Frau eines anderen werden werde, und daß ich nur einen Gatten hatte, wie ich nur eine Seele habe.‹
Aber Herr To sagte:
›Schwöre das nicht, liebe Frau.‹
›Dann, lieber Mann, laß es mich für fünf Jahre beschwören!‹
›Schwöre das nicht, Frau Lu. Und schwöre nur dieses, daß du meinem Andenken so lange treu sein wirst, als die Erde auf meinem Grabe noch nicht trocken.‹
Frau Lu tat einen großen Schwur, und der gute Herr To schloß für immer die Augen. Die Verzweiflung von Madame kannte keine Grenzen. Tränen verzehrten ihr die Augen. Mit den Nägeln zerriß sie sich die zarten Wangen. Aber alles hat ein Ende. Drei Tage nach Herrn Tos Tode wurde der Schmerz von Frau Lu menschlicher. Ein junger Schüler des Herrn To drückte das Verlangen aus, die trauernde Witwe in ihrem Leid zu trösten. Und sie schloß mit Recht, daß sie diesen Besuch nicht abschlagen könne. Sie empfing ihn seufzend. Der junge Mann war sehr vornehm und hübsch; er sagte ihr, daß sie reizend sei und wie er fühle, daß er sie liebe. Sie ließ es ihn sagen. Er versprach wiederzukommen. Und in Erwartung seines Besuches sitzt Frau Lu am Grabhügel ihres Mannes, wie Sie sie gesehen haben, und bringt den ganzen Tag damit zu, die Erde des Grabes mit ihrem Fächer zu trocknen.«
Als die Alte ihren Bericht geendet hatte, dachte Tschuang-Tsen:
»Die Jugend währt kurze Zeit. Der junge Adler der Begierde leiht den jungen Frauen und Männern seine Flügel. Schließlich ist Frau Lu eine anständige Frau, die ihren Mann nicht betrügen will.«