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Drei Tänzerinnen

Die antike Welt erzog zum Ruhme, die moderne Welt erzieht zum Erfolg: auf den Berg Tabor gestellt und vor die Vision der Wüste zur Linken und der Stadt des Triumphes und der Königreiche der Erde zur Rechten, entscheidet sie sich immer für die Königreiche dieser Welt, gegen den Ruhm, der in der Wüste liegt, für das Simulacrum des Ruhmes, den Erfolg, der in der Welt liegt. Für den gemeinen Mann des Volkes ist schon die Krone auf dem Haupte irgendeines Dummkopfes der Ruhm, und dieser Gekrönte wäre unter andern Umständen geboren nichts weiter meist als ein Kneipwirt gewesen oder ein kleiner Beamter oder ein Nichts. Wenn ich aber nun diese drei Schatten beschwöre, die einst in ihrem Fleische oft nicht viel schwerer als Schatten über die Bühne tanzten, – lebten sie nicht für dieses Paradies des Morgens, welches der Ruhm ist? Lebten sie nicht in dieser leidenschaftlichen Projektion des Glaubens und der Illusion auf die Fläche des allgemeinen Todes? Sie weihten ihr Leben dem, von dem sie glaubten, daß es in der Erinnerung der Nachwelt erhalten bleiben würde. Auch wenn sie sich irrten in ihrer Leistung. Auch wenn diese nichts weiter war als eine Posse der Saison.

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9. Marie Salle. Nach einem Gemälde von Fenouil. Gestochen von Petit

I

Marie Sallé, die Tänzerin, entzückte das Alter des hundertjährigen Fontenelle und die Jugend Voltaires. Jener Fontenelle, dem als Knaben die Jesuiten, seine Lehrer, ins Abgangszeugnis schrieben: Adolescens omnibus partibus absolutus, ein in allen Dingen vollkommener Jüngling, wurde das bestaunte Wunder vieler Akademien wegen der Mannigfaltigkeit seiner Fähigkeiten. Unter denen die geringste nicht war, daß er sich bis ins hohe Alter für die Anatomie des weiblichen Körpers lebhaft interessierte. Es hat dieses Interesse sogar alle seine philosophischen und naturwissenschaftlichen Neigungen überlebt. Er verehrte mit etlichen siebzig Jahren Marie Sallé, die Tänzerin an der Oper, und nahm sich ihrer auf das beste an, als sie sich mit diesem Institut veruneinigte, das im Jahre 1730, wie die erhaltenen Dokumente zeigen, neue Konzessionäre bekam, und zwar zu viele, nämlich vier, und darunter einen namens Le Boeuf, der gar nicht seinem Namen entsprach, sondern mit dem Personal der Oper eher wie ein wilder Stier verkehrte. Die neuen Konzessionäre sollten die etwas zu hohen Ausgaben der Oper einschränken. Das Budget überstieg hunderttausend Livres. Man strich auch und gern am Gehalt von Demoiselle Sallé, die das so übel nahm, daß sie dem ihr auch sonst unsympathischen Herrn Le Boeuf einige Ohrfeigen gab. Aber deshalb hätte sie das Pariser Institut noch nicht zu verlassen brauchen. So sehr empfindlich gegen die Aufregungen der Damen war man da nicht. Daß Voltaire Marie Sallé in Vers und Prosa riet, nach England zu fliehen, dem »Lande der Freiheit und der Gerechtigkeit«, wo man die Philosophen und die »Töchter der Terpsichore« gegen die Undankbarkeit der Franzosen räche, das hatte noch andere Gründe, die weder mit Gage noch mit Ohrfeigen zu tun hatten. Demoiselle Sallé machte als Tänzerin eigene Sprünge, andere als ihre berühmte Partnerin Camargo, die nur tanzte um zu tanzen, also »nichts weiter war als eine Person, die mit den Beinen zappelte«. Marie Sallé wollte mit ihren Beinen Gedanken ausdrücken und seelische Zustände. Sie fand den Ballett-Tanz zu leerer Konvention geworden, zu sinnloser Parade von technisch zappelnden Beinen degeneriert. Sie wollte einen Tanz der Aktion. Sie kam zu früh damit. Man verstand sie nicht. Die Camargo blieb Siegerin.

Fontenelle gab seiner Freundin Sallé nach London einen Empfehlungsbrief an seinen Freund Montesquieu mit: »Es wäre nur natürlich, wenn Sie mich ziemlich vergessen hätten. Aber es bietet sich eine hübsche Gelegenheit, daß Sie sich meiner erinnern. Ich sage mit Absicht hübsch, hübsch für die Augen, sicher auch für die Ihren. Es ist, um Ihnen Mlle Sallé zu empfehlen, durch unsern Ostrazismus aus der Oper verbannt. Der charmante Tanz und ganz besonders die sehr sauberen Sitten der kleinen Aristida haben ihren Genossinnen mißfallen, was in der Ordnung ist, und auch den Herren, was sinnlos wäre, hätten sie eben nicht unter diesen Genossinnen ihre Herrinnen.«

Marie Sallé ging nach London und tanzte da, worüber ein Augenzeuge berichtet: »Sie wagte es, in einer Szene Pygmalion, ohne Reifrock, ohne Unterrock, ohne Leibchen zu erscheinen, mit offnem Haar, ohne irgendeinen Schmuck auf dem Kopf. Sie hatte nichts an als ein Stück Musseline, drapiert nach Art einer griechischen Statue.«

Was die sehr sauberen Sitten betrifft, von denen Fontenelle spricht, daß sie Fräulein Sallé auszeichneten, so bestätigt das Voltaire, der sie »die strenge Sallé« nennt und gern auch Diana, die eine mirakulöse Vestalität auszeichne. Aber da eine Tänzerin vom Range der Sallé ein jährliches Gehalt von zweitausend Livres bekam, wovon sie leben konnte, ohne ihre Tugend in den Dienst eines ihr zum besseren Leben nötigen Einkommens stellen zu müssen, muß man nicht glauben, was der Poet Gentil-Bernard Boshaftes über die Neigungen der Tänzerin behauptet hat. Man hat da außerdem einen Vertrag entdeckt, wonach der Duc de Noailles der jungen Tänzerin eine Lebensrente von achthundert Livres aussetzte, die sie fünfundzwanzig Jahre lang bezog. Auch diese Rente wirft weiter keinen trüben Schatten auf die sehr sauberen Sitten Marie Sallés, denn was der Herzog von Saint-Simon über den Herzog de Noailles sagt, daß er »unter verführerischem Äußern alle Monstrositäten verberge, mit welchen die Poeten den Tartarus ausstatten«, muß durchaus nicht wahr sein. Saint-Simon haßte diese Familie Noailles, über deren Marschall-Herzog er zum Regenten einmal sagte: »Ich leugne nicht, daß der köstlichste Tag meines Lebens jener sein wird, wo es mir durch die göttliche Gerechtigkeit gegeben sein wird, aus dem Noailles Marmelade zu machen und ihm mit beiden Füßen auf den Bauch zu steigen.« Zwischen den beiden Herrn bestand eine kleine Meinungsverschiedenheit und es muß darum nicht wahr sein, wenn Saint-Simon einen Tag nach dem Tode Ludwig XIV. behauptet, Noailles halte öffentlich ein Mädchen von der Oper aus. Oder er war wirklich ein Monstrum, denn zu der Zeit war Fräulein Marie Sallé wohl schon beim Ballett, aber erst acht Jahre alt.

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10. Catherine Rosalie Gerard (genannt Duthé). Nach einem Gemälde von F. H. Drouais

II

Catherine Rosalie Gérard, genannt Duthé, war eine Tänzerin wie viele, aber sie gehörte, als sie im Jahre 183o im hohen Alter von zweiundachtzig Jahren starb, zu den historischen Monumenten Frankreichs, so leichtgewichtig auch ihr Dasein und nicht nur ihr tänzerisches gewesen war.

Im Kloster erzogen begnügte Chatherine Rosalie sich was die erlernbaren Kenntnisse betraf mit ein bißchen unorthographisch Schreiben und verließ sich im übrigen ganz auf ihre eine große Tugend: vollendet schön zu sein. Sie hat damit recht behalten. Mit vierzehn wurde sie, wie man es nannte, Überzählige im Ballettchor der Oper, die damals eine Art Asyl war, das so etwas wie ein Brevet der Emanzipation jedem jungen unschuldigen Mädchen ausstellte, das in der Unabhängigkeit und ohne den Eltern zur Last zu fallen leben wollte. So kann man es mit vorsichtiger Dezenz ausdrücken.

Die außerordentliche Schönheit der jungen Duthé verschaffte ihr sehr bald höchst offizielle Missionen im Staatsinteresse. Als Christian VII., der junge Dänenkönig, studienhalber nach Paris kam – den modernen Telemach nannten ihn die Chronisten – da fehlte das Fräulein Duthé nicht im Programme dieser Studien, und Christian hatte allen Grund wie Brasseur als »König« auszurufen: »Ah! que j'aime la France!« Der Memoirist, der nach ihren Erzählungen das Leben der Duthé aufschrieb, umschrieb das bei dieser Gelegenheit von ihr sicher nicht so, sondern etwas derber und naiver Gesagte: »Diese geheiligte und sehr verehrbare Sache, die ein Monarch ist, und die hohe Meinung, die man von ihr hat, bevor man ihre näher kommt, leidet sehr viel, wenn sie im intimen Verkehr gezwungen wird, Rabatt zu geben, und das passiert immer.« Aber, und das war ein Verdienst, das man ihr höheren Ortes nicht vergaß, die Duthé war »diskret angesichts der ihr zuteil gewordenen Ehre«. Sie ließ sich nicht darauf ein, die Höhe des Rabattes zu nennen. Weder bei dem modernen Telemach, noch in den späteren offiziellen Missionen dieser Art. Denn sie erhielt deren des öfteren. »Die erste väterliche Sorge des Herzogs von Orleans war, seinem Sohne eine Mätresse zu geben«, berichtet die in Erziehungsfragen so überaus kompetente und zuverlässige Frau von Genlis. Des Herzogs Sohn, der Herzog von Chartres, der künftige Philippe-Egalité, war da sechzehn Jahre alt und hübsch wie ein Herz. Das Fräulein Duthé hatte wieder einmal die hohe Ehre, und die diesmal ganz besonders hohe, die erste zu sein, die den Jüngling auf seine männliche Karriere vorbereitet. Sie zeichnete sich auch in diesem Falle zur höchsten Zufriedenheit der hohen Herrschaften aus, sowohl was die Instruktion wie was die Diskretion betrifft. Die Familie hat ihr das nie vergessen. Als viel später einmal Sophie Arnould, die Sängerin, von der Galiani sagte, er habe nie im Leben eine Asthmatische so gut singen hören, ein Feuerwerk über das Palais Royal abbrennen wollte, wandte sie sich um Erlaubnis an den Herzog von Orléans und zählte unter den Verdiensten, welche sich die Oper um das Haus Orléans erworben, auch dieses auf: »Wir wollen auch nicht vergessen, daß es eine Opernschönheit war, welche einen teuren Prinzen, Ihren einzigen Sohn, die Erstlinge des Vergnügens hat kosten lassen und daß Sie dem jungen Athleten zu seiner Liebeskarriere gratulierten.« Das Feuerwerk wurde gestattet, in dankbarer Erinnerung an Fräulein Duthé. Catherine Rosalie war nicht mehr die Allerjüngste, aber sie hatte wundervolle Zeugnisse, die ihr alles Vertrauen erhielten. Der Chef-General der Emigranten, Seine königliche Hoheit der Prinz Condé, suchte sie persönlich auf, als er seinen Sohn, den Herzog von Bourbon verheiraten wollte und erbat sich für den Fünfzehnjährigen Mademoiselles Gunst, denn seinem Erben solle, wie er sagte, nichts fremd sein. Catherine Rosalie wagte mit aller Delikatesse zu bemerken: »Hoheit lassen ihn sehr jung debütieren.« Worauf aber der Condé meinte: »Ja, wenn man ihn sich selbst überließe. Aber unter meiner Aufsicht et avec de bons procédés ...« Da gab die Duthé nach, denn wie sie der Hoheit sagte: »Ich bin immer Royalistin gewesen und habe immer die Bourbonen geliebt, einmal wegen ihrer Vorzüge, dann aus Erkenntlichkeit und schließlich, weil ich ihnen keine Fremde bin. Ihre Altesse Sérénissime schien mit meinen Gefühlen zufrieden zu sein.«

Catherine Rosalie Duthé ist aber auch eine Freundin Diderots gewesen und so ist ihr solche Witzigkeit zuzutrauen.

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11. Isadora Duncan. Nach einer Photographie

III.

Man überklebte gerade die Plakate der Saharet, erstes Auftreten in München, als man zu einem Tanzen einer Miß Isadora Duncan aus Boston ins Künstlerhaus eingeladen wurde. Das war im Frühjahr 1901 und eine private Veranstaltung für die etlichen vierhundert Damen und Herren, die München bildeten, damals, vor der Entdeckung der bayrischen Belange und vor der Verselbständigung der Eingeborenen unter preußisch-nationaler Patronanz. Jene Oberschicht oder Überschicht der »Zugereisten«, polizeilich ausgedrückt Ortsfremden, wurde, da sie fröhlicher, ja etwas leichtfertiger Konsistenz war, gutmütig von den Münchnern ertragen, die darüber ganz ihr bedeutendes politisches Ingenium vergaßen, das frei wurde, als sich diese Zugereisten um 1918 in alle Winde zerstreuten, um jenen Platz zu machen, die unter Herrn von Ludendorffs Führung im Münchner das Kerngebilde künftiger deutscher Größe zu erkennen glaubten, worin sie sich ja auch, wie man seither weiß, nicht täuschten. Damals war es eine Lust in München zu leben. Nach und um 1918 soll es nur mehr ein Vergnügen gewesen sein.

Isadoras Tanzen machte von erbitterten Auseinandersetzungen nicht freies Aufsehen. Die einen kamen, zustimmend oder ablehnend, begeistert oder entrüstet, nicht über die nackten Beine hinaus. Bis dahin gab es das in der Tanzerei nicht. Weder Strümpfe noch Trikot zu tragen war den einen ein Fortschritt, den andern Indezenz. Neuartig war es jedenfalls. Etwas Erfahrenere in der nackten Materie hielten sich mehr an die Beine selber und stellten fest, daß die der Miß Duncan in dem Verhältnis zu dem Leibe, den sie trugen, etwas zu kräftig ausgefallen waren und sie zur betonten Schau zu stellen so eigentlich kein Anlaß bestünde. Dies hinwieder parierten die Begeisterten mit dem Eigentümlichen ihres Tanzes, den man je nachdem griechisch oder schlechthin naturhaft fand, zumal dann, wenn die Betreffenden sich mit Miß Duncan über ihre Kunst unterhalten hatten. Denn Miß Isadora war wie ihre sie begleitende Schwester nicht verlegen in allerlei Tanztheorien. Nur die Mama Duncan enthielt sich solcher schwieriger Unterhaltungen und begnügte sich, immer wieder in der guten traditionellen Art der Ballettmamas zu bemerken, daß Isadora überall in Amerika große Erfolge gehabt und so wundervolle Präsente bekommen habe. Die einfache Frau war ganz auf das Praktische bedacht und das Griechische war ihr Hekuba. Sie verschwand übrigens bald aus dem Verkehr; so intensiver Idealismus brach ihr das Herz; die bewundernden »Griechen« verstanden sich auf keine anderen Präsente als ihre Bewunderung. Zudem sprach Isadora im verachtendsten Bostoner Ton von der »amerikanischen Dollarjagd« und im begeistertsten vom deutschen Idealismus. Aber Heymel freute sich wie ein Junge, als er bei Isadora nach dem sechsten Whisky-Soda die Umschaltung ins Normale erreicht hatte, Isadora wie ein Mädchen, das eben tanzt, sprach, und nicht mehr wie die Prophetin einer Heilsbotschaft.

Die sehr Musikalischen protestierten gegen die Musiken, welche Isadora ihren Tänzen unterlegte, und erklärten, sie müsse eigentlich ganz unmusikalisch sein, jedenfalls die Musik nicht lieben. Denn sie sticke keineswegs auf die Seiden und Brokate der Beethovenschen, Bachschen und Chopinschen Musik ihre Rhythmen, sondern sie figuriere darüber Anekdoten, mache aus Gebeten lebende Bilder, aus Emotionen des Herzens gestikulierte Faits divers. Man könne, so sagten sie, die Beleidigung des inneren Lebens nicht weiter treiben, als bis zu dessen völliger Ignoranz. Sie meinten, die Duncan suche im Räumlichen einige Figuren, welche den Bewegungen einer Melodie antworten, und das hieße in die Kunst der Wilden zurückgehen, nicht in die Natur. Die Musik sei aus dem Tanz geboren, aber der Tanz könne nicht aus unserer Musik geboren werden. Wer so was behaupte, der habe weder die eine noch den andern.

Kein Zweifel, daß es sich so verhält. Zuerst war der Tanz der Neger, rhythmisch akzentuiert von nichts als einem Schlaginstrument, zu dem erst in der weiteren Folge andere Instrumente traten bis zu einem ganzen Orchester. Die Neger am Kongo tanzen nicht zu einer Jazzband, aber was die bei uns spielt ist musikische instrumentierte Verzierung eines Tanzrhythmus, der noch keinerlei Musik ist. Ein Präludium von Chopin kann man nicht tanzen, sowenig wie ein Bild von Rembrandt oder eine Architektur von Fischer von Erlach. Man kann dazu unterstützt von allerlei Kostümlichen Bewegungen ausführen, die einen Gefühlszustand zu übersetzen scheinen, aber das ist noch nicht Tanz und bleibt auch, was das Gefühl betrifft, von sehr vager Subjektivität einer gar nicht zwingenden Interpretation. Darüber, was das Präludium gefühlsmäßig auslöst, kann man sich nie einigen. Es kommt auf den Hörer, seine Disposition und allerlei Umstände an. Und ist nebensächlich, weil anekdotisch und zufällig. Wenn die Pawlowa den sterbenden Schwan mimt, kann sie unter hunderten von malenden Begleitmusiken wählen, und sie besaß immer so viel Geschmack, eine recht banale uneigentümliche Musik auszusuchen, die gar keine musikalische Eigenbedeutung hatte, sondern nur gerade so Stimmungsgedudel war, zum einen Ohr hinein, zum andern heraus, ohne Aufenthalt in der Mitte und ohne die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu teilen. Denn solche Musiken notieren sich nicht. Aber jene, welche die Duncan tanzte, waren schon zuvor notorisch und besaßen ein künstlerisches Eigenleben, über das sich nicht ein zweites legen ließ mit gleichem Anspruch. Hier wurde Bedeutung entliehen.

Als die Duncan zum erstenmal auftrat, konnten die Verteidiger des alten Balletts und seiner Technik nicht sonderlich Wichtiges für eben diese Tanzform beibringen, als daß sie traditionell sei. Also wenig genug. Denn die Erhebung auf die Fußspitze als Sinn und Zweck tänzerischen Daseins, das war nicht viel. Und seine Verwendung in recht staubig gewordnen Ballettstücken war auch recht wenig. Das wurde ja dann zehn Jahre später anders, als die Russen mit sehr eigentümlichen Balletten kamen, die in jeder Hinsicht mehr waren als Kunstfertigkeit, auf der Spitze der großen Zehe herumzuwirbeln. Darin schlug sie ja jede Akrobatik. Aber die Russen stellten die große Zehe dorthin, wo sie hingehörte, in den Dienst eines Ganzen, das Kunst war. Das, was die Duncan brachte, ging andere Wege, abseits vom Ballett und der Akrobatik, nämlich in jenes Tanzen, das Weltanschauung sein wollte, Kulthandlung weiß Gott welcher Religion.

Es mußte einem auffallen, daß hinter den Begeisterten für Isadora die Frauen weit in der Überzahl waren und unter den Ablehnenden mehr die Männer. Was so an Männern anbetend um Isadora herum war, das sah in seinen hellen Hosen und schwarzen Bratenröcken sehr nach griechischer Philologie, also nicht sehr männlich aus. Es machte den Eindruck, als ob sich hier Pädagogen freuten, weil endlich einmal nackte Beine und die unregelmäßigen Verben unter eine Haut gebracht wurden. Man konnte sich für das Nackte interessieren, ohne den Beruf zu beschämen und konnte in der griechischen Schulstunde an das Nackte denken, ohne zu erröten. Der alte Professor Furtwängler schwur jeden Eid, wie die Duncan hätten die alten Griechen getanzt, und sie beeilte sich auch, an Hand der ihr gezeigten antiken Vasenbilder allerlei Griechisches zuzulernen. Aber selbst wenn es keine Meineide Furtwänglers gewesen wären, – wir sind keine alten Griechen, nicht einmal was das Tanzen betrifft.

Der Tanz der Duncan hatte paradoxerweise seinen Höhepunkt dann, wenn sie nicht tanzte, nämlich in dem Augenblick ihres Auftretens, wenn sie auf leisen nackten Sohlen hereinkam und still stand. Das war eine anmutige Statue. Aber dieser kleine Zauber verflog, wenn sie anfing, das Gewicht ihrer Schenkel zu heben. Doch war es nicht dieser etwas zu korpulente Umstand, der die Männer zur Ablehnung reizte, denn sie hätten immer Phantasie genug besessen, sich diesen Umstand auch ganz schlank vorzustellen. Sondern die Duncan mimte so etwas wie Emanzipation der Frau vom Manne. Sie mimte eine Ranküne, eine männerlose Welt. In ihren Tänzen existierte so etwas wie Liebe nicht. Aber wenn etwas, so ist es doch der Ritus der Liebe, der zum Tanz führt. Das Schicksal der Frau, sagte ein Beobachter, ruft nach der Präsenz des Mannes. Aber Isadora tanzte in jedem Sinn allein, auch später, als sie mit einer Kinderschar auftrat. Da war eine sterile Hitze ohne Strahlung, eine Trunkenheit von sich selber. Sie tanzte über einem Parkett, das ein Spiegel war, mit dem erstarrten gefrorenen Lächeln des weiblichen Narziß. Frauen, die gelitten hatten, an sich selber und dadurch vielleicht auch am Manne, jubelten ihr zu. Männer verteidigten das Leben, indem sie Isadoras Tanz ablehnten.

Als die Duncan zum erstenmal in Europa und griechisch auftrat, war sie eine Frau von dreißig, die mehr als ein Jahrzehnt Existenz als eines Neuyorker Tanzmädchens hinter sich hatte. Es muß ein Leben mit viel Enttäuschung und Verbitterung gewesen sein, über das keine Kunst tröstete, denn was sie da tanzte, das tanzten neben ihr noch vier Dutzend Beine. Kühl wie eine Vestalin zog sie in Europa ein. Und tanzte, was auf die Schwester als Erfinderin geht, die, gar nicht ein bißchen hübsch, selber nicht auftreten konnte. Die eine hatte den Mann wohl gar nicht erlebt und war darüber eine alte Jungfer geworden. Die andere hatte ihn wohl nur recht unangenehm erlebt. Mann und Liebe mußten aus ihrem Tanz verschwinden. Die Liebe kam erst wieder über die alternde Frau, als sie sich das Tanzen versagen mußte, dieses Ventil, und kam also nicht mehr mit aller der Würde, welche sie der Frau gibt, sondern mit ihren Erbärmlichkeiten. Die mißachtete Liebe rächte sich grausam. Wie es der mißachtete Schleier tat in der bizarren Tragödie ihres Todes, den sie durch einen Schleier fand, der sich um den Hals der Sechsundfünfzigjährigen rollte und sie erdrosselte.


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