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Mit gelösten Gliedern nach getaner Arbeit saß Candide an einem linden Maiabend in der windenumsponnenen kleinen Laube seines frisch entraupten Kohlgartens und besah sich eine neue Sendung, die dreiundvierzigste, seiner illustrierten Lebensgeschichte. Machte sich der hinzuhinkende Doktor Pangloß auch wie sonst mit seinem Spruch bemerkbar: »Da seht Ihr wieder, Candide, wie alles zum besten eingerichtet ist auf dieser Welt; denn es mußte Euch ergehen, wie es Euch erging, damit alle diese Künstler daraus den Anlaß gewinnen, das Auge mit so allerliebsten Zeichnungen zu erfreuen,« so klang Panglossens übliches Amen längst nicht mehr so sicher und überzeugend wie ehedem. Und Candide freute es auch nur, des Alten Stimme zu hören, aber dem Spruch mit zweifelnder Widerrede zu begegnen, hatte er aufgegeben, damals, als er sagte: »Wir müssen unsern Garten bestellen.« Mit einem nassen Auge sah er auf die Bebilderung seines ehemaligen Selbst, mit einem heitern, doch nicht allzu heitern Auge auf den bestellten kleinen Garten, und die darob auf seiner Stirn entstandene Falte bildete wie eh und je die Figur eines Fragezeichens der großen Frage, der Antwort zu geben auch dem Kohlacker bislang noch nicht gelungen war.
Da fiel ein Schatten und kam von dem Fremden, der vor Candide ins Licht getreten war: ein hochgewachsener Mann mit einem rötlichen Gesicht guter Gesundheit, breit und behaglich in der Bewegung der Glieder und um die Augen und auf den Lippen ein Lächeln wie ein guter Spaß. Nichts besonders Auffallendes oder Seltsames war an ihm und wie er redete. Und nicht zu merken oder festzustellen war, woher das seltsam Wirkende kam, das von ihm ausging. Zum dritten Male war er heute unangemeldeter plötzlicher Gast, also Fremder nicht mehr, wenn auch fremd und fremdartiger bei jedem Besuch. Kunigunde meinte von ihm, er müsse einmal ein flotter junger Kerl gewesen sein. Paquette glaubte, man könne auch heute noch allerlei von ihm erwarten; die Alte log in ihre Bartstoppeln, er hätte sie das erste Mal gleich in den Popo gezwickt, leider in die fehlende Backe. Der Bruder Giroflé erklärte ihn kurz und bündig für so einen Schieber. Martin wollte ihm nicht wohl, indem er ihn einen Metaphysiker nannte. Und Candide hatte gar nichts gesagt. Aber in diesem Augenblicke, da der Fremde zum dritten Mal vor ihm stand, spürte er, als er aufsah, wie weggewischt von einer magischen Hand das Fragezeichen seiner gefalteten Stirn. Das spürte er so deutlich, daß er aufsprang, dem Fremden ganz nahe ins Gesicht schaute und langsam die Worte sprach, als ob ein anderer sie aus ihm redete: »Ihr seid die Antwort.«
Und nun sprach der Fremde.
Von seinem kleinen Kohlgarten hatte sich Candide ja nicht düpieren lassen. Die Schnecken fraßen daran, und er mußte sie töten. Denn wovon sollten die Schnecken leben, wenn er ihnen seinen Kohl nicht erlaubte? Hasen, die auch daran Gefallen fanden, fing er in der Falle. Nein, er hatte sich von dieser kohlgrünen Lösung nicht düpieren lassen. Er hatte im Übel der Welt nur gewählt zwischen zwei Übeln. Aber es war ihm keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geworden, so sehr sich auch Martin, der Philosoph, bemüht hatte, ihm zu beweisen, daß er diese Frage ja längst damit beantwortet habe, daß er lebe, und daß er sie mit einigem logischen Grunde nur als Embryo in seiner Mutter Leib hätte stellen können, aber im Augenblick, da er diesen verließ, bereits beantwortet habe: indem er lebe, erfülle er den Sinn des Lebens, und seine Frage sei eine ebenso leb- wie sinnlose Nachgeburt. Es könne, meinte Martin, ganz gut angenommen werden, daß ein und der andere Embryo die Frage sich negativ beantworte und sich hartnäckig weigere, auf diese Welt zu kommen. Aber da es süß sei, Genossen im Leiden zu haben, zögen die Menschen solche obstinate Geburten, die lieber inter faeces et urinam verfaulen möchten als leben, mit der Zange in diese Welt. Nun sei aber Candide, so viel er wisse, ganz freiwillig dem mütterlichen Schoße entschlüpft und sei jedenfalls da, und damit sei die Frage beantwortet vom Tage der Geburt an. Der geschichtslose Wilde lebe recht und richtig wie der Geschichte machende und darauf erpichte Europäer: man könne da das eine dem andern vorziehen, aus natürlichem Geschmack, aus trüben Erfahrungen, aus vermeinter Erkenntnis des Bessern, aber das ändere weiter gar nichts und sei, so oder so, sicher nicht Antwort auf die große Frage, die weder groß noch Frage wäre.
Aber Martin hatte gut reden. Denn Candide wußte das alles längst. Er baute seinen Kohl, aber niemand merkte, daß ihn dabei fieberte. Er war aus der schlechtesten aller möglichen Welten nur in einen ihrer konfliktärmsten Winkel gelaufen. Lebte er hier geschichtslos? War er hier nicht Dschengis-Khan alles Getiers, das in seinen Kohl ging? Ja, wenn er zu Kohl hätte werden können! So aber machte er Geschichte in der Welt des Kohles, er, der kleine Candide in der ihm entsprechenden kleinen Welt.
Und nun sprach der Fremde.
Candide hatte ja in seinem Kohlgarten hinreichend Zeit gehabt, nachdenklich, man könnte fast sagen philosophisch zu werden. Etwa sich zu sagen: das Leben ist ein etwas lang dauernder Prozeß der Ermüdung. Das Leben ist die Kunst, zureichende Schlüsse aus unzureichenden Prämissen zu ziehen. Das Leben ist kein Rätsel, sondern ein gordischer Knoten, der früher oder später durchhauen wird. Das Leben ist ein zumeist wertvoller Aberglaube. Der Beginn des Lebens ist der Anfang einer Illusion, als ob wir einen freien Willen hätten und so was wie die Notwendigkeit, also Anerkennung des Faktums, daß man sagen kann »ich kann« und »ich kann nicht« oder »ich möchte« und »ich muß«.
Solche Worte kamen Candide mit dem Spatenstechen, begleiteten es mit dem einförmigen Rhythmus eines Arbeitsliedes.
Oder es kamen ihm beim Jäten so Gedanken über den lieben Gott, den er vom Teufel nicht trennen konnte, ohne zu wissen, daß, bringt er den Teufel um, er auch dem lieben Gott den Garaus macht. Denn ohne den Teufel ist Gott allein, also tot. Wenn die Tugend allein regierte, das wäre, wie jede Alleinherrschaft, unerträglich. Es ist die Funktion des Lasters, die Tugend in vernünftigen Grenzen zu halten. Gott hat, zumal transzendent, seine großen Verdienste. Aber er hat natürlich auch seine Fehler. Sehen wir auf seine Fehler und bedenken wir dabei seine Tugenden, so sind wir über die ersten so erschüttert, daß wir davor zurückschrecken, die Fehler ihm überhaupt zuzuschreiben, und darum haben wir den Teufel erfunden, ohne zu bemerken, daß es entschuldbarer wäre, wenn Gott den Teufel umbrächte und so mit dem Bösen fertig würde, entschuldbarer als es entschuldbar ist, daß Gott nie alles allein sein kann, was er sein möchte. Denn Gott ist nicht so weiß, wie man ihn malt, und steht sich mit dem Teufel besser, als die Leute denken. Der Teufel ist Gott zu sehr nutz, als daß er ihm Böses wünschte und umgekehrt. Sie reden ja wohl recht schlecht aufeinander, aber sie spielen sich doch in die Hand als Partner seit Ewigkeit. Daß Gott nur gut, der Teufel nichts als schlecht sei, das ist bloß der wissenschaftliche Eigensinn nach reinen Ideen, von dem der Mensch besessen ist. Gott hat in seinen Karten mehr Atouts als der Teufel, es ist daher besser auf ihn zu setzen, aber der Unterschied ist nicht so groß, wie die Leute mit dem Tip behaupten. Wer Weintrauben ißt, der fängt von oben mit den besten Beeren an. Trifft ihn dabei der Tod, wie absurd wäre es gewesen, hätte der Esser die schlechten von unten zuerst gegessen: Es ist also schon richtiger, auf den lieben Gott zu setzen und nicht auf den Teufel.
Und das, dachte Candide, hätten die mehreren Menschen ja auch begriffen. Nur die Propheten gingen ihm ganz gegen den Geschmack. Er fand sie erzürnt darüber, daß die Welt sie nicht so hoch einschätze, wie sie selber es täten. Gehen also herum und donnerten, daß die Welt nicht wisse, was sie für ihren Frieden zu tun habe, und daß es bald zu spät sein würde und der große Untergang käme und die Menschen es dann bereuen würden, nicht auf sie, die Propheten, gehört zu haben. Denn, so dachte Candide, mit dem allen wolle doch der Prophet nur sagen: gib mir mehr Macht, als ich besitze, zur Belohnung dafür, daß ich das große Glück habe, in den Himmel zu kommen. Und das, meinte Candide, sei zu viel verlangt, denn beides könne man nicht haben, Ehre und Macht auf Erden, und Sitz und Stimme im Himmel; man müsse wählen, das eine oder das andere, aber nicht auf die Welt schimpfen, weil sie nicht wisse, was ihrem Glück not tue, womit der Prophet ja immer nur meine, daß die Welt sich nicht genug darum kümmere, was zu des Propheten Glück not tue. Der Prophet habe sich mit seinem schönen Wissen zu begnügen und das Maul zu halten, also kein Prophet zu sein. Die Leiber seiner Mitmenschen als Treppe in das Himmelreich zu benützen, sei eine recht höllische Art, in die oberste Etage zu kommen. Und die Heiligkeit eines Heiligen vermindere sich in dem Maße, als sie in den Mund der Leute gelange. Das heilige Leben sei ein so außerordentliches Risiko, daß, wer es auf sich nehme, es mit größter Sorgfalt verbergen müsse, um nicht andere zu einem solchen Risiko zu verlocken, das man nur für sich allein verantworten könne.
Mit solcherlei Gedanken und Meinungen entraupte Candide seinen Kohl.
Es standen aber alle Sterne am Himmel, als der Fremde, nun vom Dunkel verhüllten Gesichtes, den Arm weisend gegen den östlichen Himmel streckte und sprach:
»Aldebaran nennt ihr das rötliche Leuchten dort. Von ihm aus sieht das freiblickende Auge eure Erde nicht und eure Sonne nur als ein schwachblinkendes, allerkleinstes Sternchen. Welten wie die eure, o Candide, deren gibt es tausende,– die einen alt wie die eure, andere sind eben geworden, und andere wieder sind um Jahrmillionen älter als eure Sonne mit ihren Trabanten. Ich kann dir, o Candide, nicht erzählen und frage mich danach mit keinem Worte, was in der Zeit geschah vom Heute eurer Erde ab bis zu dem um viele Millionen älteren Heute auf unserm Sterne, den ihr Aldebaran nennt. Denn solches Wissen der Zukunft würde die Ähnlichkeit beider Welten aufheben und fatal für eure Welt sein; es wäre solches Wissen ganz gleichwirkend, als ob ihr in diesem Augenblick in die Sonne stürztet, denn der zeitliche Abstand zwischen eurer und unserer Welt ist zu groß. Und wir auf dem Aldebaran verlören im Verluste eurer Erde eines der hübschesten Mittel, uns über unsere alte Geschichte zu informieren. Denn dieses, unserer Geschichte nachzuspüren, ist ein bei uns sehr beliebtes Gesellschaftsspiel. Ist man bei uns etwa im Zweifel oder im Unklaren über ein Detail aus unserer alten Geschichte, so präparieren wir die Vorbedingungen dieses Details. So wie ihr auf der Erde etwa die Ekliptik der Venus vorausberechnet. Und so wie die Bedingungen eurer Rechnung oft ungünstig sind, so kann es auch uns passieren, daß wir den rechten Zeitpunkt aus äußern Gründen verpassen und warten müssen, bis sich auf einer andern Welt als der euren eine günstige Kombination ergibt. Denn es sind viele Welten jünger als die unsere. So sagen etwa unsere Historiker: »Die nächste Abdankung einer Dynastie wird sich im Orion vollziehen« oder wie immer der Stern heißt. Oder wir können in unserer alten Geschichte das Detail eines großen Krieges nicht aus den Dokumenten mehr feststellen. Dann schaffen wir, zum Beispiel auf der Erde, die Bedingungen für solchen Krieg und beleben mit dessen beobachtetem Ablauf unser schlechtes Gedächtnis. Wir betreiben das, o Candide, mit allem Ernste, den Gesellschaftsspiele verlangen, und ich bitte dich, mir zu glauben, daß wir dabei durchaus nicht mit der Frivolität eurer gelehrten Geschichtsverfasser vorgehen, die auf Dokumenten bauen, welche zufällig die Mäuse nicht gefressen haben. Ich muß dir auch gestehen, daß wir unsere Spielverderber haben, leichtsinnige junge Leute, die unsere hübschen Nachschlagewerke, wie eines eure Erde ist, boshaft in Unordnung zu bringen suchen, indem sie zum Beispiel eine giftige Mikrobe in die Zellen einer Welt setzen, die mit dieser Denkmikrobe nicht zurecht zu kommen vermag, per exemplum, daß zwei mal zwei sieben gibt, oder daß alles, was geschieht, vernünftig ist. Aber das wird immer seltener, denn unsere jungen Leute sind nicht mehr so jung wie ehemals. Im ganzen arbeiten die Versuchsanstalten unserer rekonstruierten Geschichte sehr zur Zufriedenheit unserer Damen.«
Candide hatte in seinem Menschengefühle, das ihm erlaubte, auf die Sterne herunterzuschauen, wenn er zu ihnen hinaufschaute, eine Kränkung erfahren. Er fand es in seinem erdlichen Patriotismus und Imperialismus beschämend, nichts weiter als ein spaßiges Laboratorium einer großen Spielzeugfabrik auf dem Aldebaran zu sein, und hätte, um am Maße seinen nicht unterzukriegenden Menschenstolz aufzurichten, gar zu gern etwas über die Aldebaranesen gewußt. Also fragte er dies und das. Der Fremde aber sagte: »Es gibt Dinge, die nicht wissen zu wollen, Irrsinn wäre. Und es gibt Dinge, die wissen zu wollen, Irrsinn wäre. Zu den letztern Dingen gehört deine Frage, o Candide. Ich will dir nur sagen« – und es schien, als ob er lachte – »daß bei uns jene Leute eingesperrt werden, welche andern Leuten Dinge sagen, die zu wissen diesen nicht gut ist. Und daß wir ganz alt auf die Welt kommen und als kleine Babys sterben, aber ebenso wenig von unserer Vergangenheit wissen wie eure Babys von ihrer Zukunft.«
»Das ist ja genau so auch in Berlin«, erlaubte sich Candide zu bemerken.
Aber der Fremde konnte darauf nicht mehr antworten, denn er war in der Nacht verschwunden.
Da rief Kunigunde aus dem Bette nach Candide. Und wissend, daß ein Hauswesen nicht in Ordnung sei, wo der Hahn schweige, die Henne aber singe, begab sich Candide ins Haus.
Doktor Pangloß blickte zweifelnd nach dem rotglühenden Stern. Dann legte er die neuen Schildereien von Candides Leben zusammen und sprach sein gewohntes Amen.
»Es war da ein Herr aus Berlin ...«, begann Candide Kunigunden zu erzählen, als er sich zu ihr ins Bett legte.