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Der Tag begann zu grauen, als der Doktor Aresti durch ein Rütteln an der Schulter geweckt wurde. Das erste, was er sah, war der alten Catalina Gesicht – grünlich und schrumpelig wie ein vertrockneter Apfel – und die beiden Hörner des Taschentuches, das sie um die Schläfen trug.

»Don Luis ... wachen Sie auf. Auf dem Wege nach Ortuella liegt ein Toter. Der Friedensrichter läßt Sie rufen.«

Eine ganze Weile dehnte und reckte sich der Doktor, ehe er langsam seine Kleidungsstücke unter den Bänden und Zeitschriften zusammensuchte, die von den überfüllten Büchergestellen des benachbarten Studierzimmers bis in sein Junggesellenschlafzimmer hineinquollen.

Im Krankenhause von Gallarta unterstanden ihm zwei Ärzte, aber an diesem Tage waren beide abwesend; der eine hatte Urlaub nach Bilbao, der andere befand sich seit dem vergangenen Abend in Galdames, um mehrere bei einer Sprengung verunglückte Bergarbeiter zu behandeln.

Die Wirtschafterin half dem Doktor in den dicken Mantel und schloß die Haustür auf, während er die flache Baskenmütze aufsetzte und nach seiner Cachaba verlangte, einem derben Krückstock mit spitzer Stahlzwinge, der ihn auf seinen Besuchen in den Bergwerken stets begleitete.

»Weißt du, wer der Tote ist, Catalina?« fragte er auf der Schwelle.

»Das Schulmeisterchen, sagt man. Der den Jungens abends das ABC beibrachte – der Verlobte der Tschinderassa. Allmächtiger, wohin ist es mit Gallarta gekommen! Aber natürlich, wenn die Kirche ewig leer steht ...«

»Also wieder ein Verbrechen aus Leidenschaft«, murmelte der Arzt. »Diesen Barbaren genügt es nicht, ein Leben voller Aufregungen zu führen – sie müssen sich noch um einer Frau willen töten!«

Er schritt schon die Straße hinunter, als die Alte ihm von der Tür aus nachrief:

»Don Luis, kommen Sie bald zurück! Vergessen Sie nicht, daß wir heute Sankt Joseph haben und man Sie in Bilbao erwartet. Machen Sie Ihrem Vetter keinen Strich durch die Rechnung.«

Wieder einmal gewahrte Aresti den respektvollen Ton, in dem die Alte von diesem Vetter sprach, der ihn zur Feier seines Namenstages zu Tisch eingeladen hatte. Kein Mensch in der ganzen Bergbaugegend redete von ihm, ohne den Namen durch eine Betonung von beinahe religiöser Verehrung zu unterstreichen. Sogar diejenigen, die gegen seinen Reichtum und seine Macht tobten, fürchteten ihn wie eine allmächtige Gewalt.

Als die letzten Häuser hinter ihm lagen, knöpfte der Doktor, vor Kälte schauernd, den Mantel zu. Der dunstige Himmel verschmolz mit den Gipfeln der Berge zu einem trüben Bleigrau – es war, als hätte sich ein graues Zelt herniedergesenkt, bis es auf ihnen Halt fand –, und heulend suchte der Sturm der Triano-Höhen die Mützen von den Köpfen zu reißen. Aresti setzte den Kneifer fester auf und stapfte, noch immer schlaftrunken, mit der passiven Resignation des Arztes weiter, der als Sklave fremder Schmerzen lebt. An den derben Sohlen seiner Bergschuhe blieb der Kot kleben; die Stahlzwinge seines Stockes ließ bei jedem Schritt ein Loch zurück.

Am vergangenen Abend hatte er mit einigen Unternehmern – den vornehmsten Leuten von Gallarta – gespeist, ehemaligen Tagelöhnern, die auf dem Wege zum Reichtum waren und, da sie sich mit ihren früheren Arbeitskameraden nicht abgeben mochten, bei der Gesellschaft Bilbaos aber keinen Zutritt fanden, den Arzt umwarben und mit allen möglichen Liebenswürdigkeiten überhäuften. Daß der Doktor Aresti, der im Ausland studiert hatte und von dem man in der Stadt mit großer Achtung sprach, es vorzog, in der primitiven und beinahe barbarischen Gemeinschaft des Bergwerksdistrikts zu leben, schmeichelte ihrem Selbstbewußtsein, als würde dadurch eine stumme Erklärung für die Überlegenheit der Bergleute über die Fettwanste von Bilbao abgegeben. Und außerdem respektierten sie den Doktor mit einer gewissen abergläubischen Vergötterung ... war er doch der leibliche Vetter von Sanchez Morueta!

Sanchez Morueta! Wahrlich, nichts Belangloses bedeutete dieses Wort! ... Seit mehreren Jahren war er nicht mehr in den Bergwerken gewesen, und selbst in Bilbao verstrichen Monate, ohne daß die nächsten Freunde dieser berühmten Persönlichkeit seinen graumelierten Bart und die muskulöse Gigantengestalt zu Gesicht bekamen. Aber ob man sich beim Gouverneur der Provinz Bilbao oder beim letzten Lehrjungen von Gallarta nach ihm erkundigte – keiner blieb unempfindlich beim Klang seines Namens. Vom Gipfel des Triano sah man Bergwerke und Bergwerke, Schienenstränge mit Rosenkränzen von Loren, Bremsberge, Drahtseilbahnen, Herden von Männern im Tagebau; alles gehörte ihm. Und ihm gehörten auch die Hochöfen, die Tag und Nacht am Ufer des Nervion glühten, um Stahl zu erzeugen; viele der an den Kais der weiten Flußmündung rastlos Erze übernehmenden oder Steinkohle löschenden Dampfer und andere noch, die seine Hausflagge auf allen Meeren zeigten; der größte Teil der modernen Paläste in der Neustadt, und zahllose Fabriken zur Herstellung von Sprengstoffen, Draht und Wellblech in entlegenen Winkeln der Provinz. Er war wie Gott: unsichtbar, aber allgegenwärtig. Er konnte zwischen Morgen und Abend einen Menschen reich machen – sein Wunsch genügte. Sogar die regierenden Herren in Madrid bemühten sich um ihn, damit er dem Staat in seinen Nöten und Anleihen beispränge.

Und der Doktor Aresti, dem Sanchez Morueta das warme Gefühl eines älteren Bruders entgegenbrachte, versteifte sich darauf, fern seiner Protektion zu leben, fern dem Goldregen, den sein Blick hervorzuzaubern schien und der die Menschen sich mit solch brutaler Habgier um ihn drängen ließ, daß er sich absondern mußte, um nicht unter dem furchtbaren Druck seiner Anbeter zermalmt zu werden! ... Die einzige von Aresti erbetene Gunst war die Errichtung eines Krankenhauses für die Arbeiter des Erzbeckens gewesen, die früher wegen fehlender ärztlicher Hilfe an den Folgen ihrer Unfälle starben. Und ungeachtet seines Rufs als Assistent berühmter Kliniken des Auslands, ungeachtet der Popularität, die er seinen kühnen Operationen in Bilbao verdankte, hatte er sich, kaum dreißig Jahre alt, mit seinen Büchern und der greisen Catalina in das bescheidene Häuschen in Gallarta zurückgezogen.

Die Unternehmer, die Betriebsführer, die Chemiker – alle, die zur Oberklasse der Bergwerke zählten, zollten Aresti staunende Bewunderung, wenn sie sahen, wie gering er materielle Reichtümer achtete.

»Es gefällt ihm, unter uns zu leben«, äußerten sie stolz; »einen kleinen Happen mit Männern in Mütze zieht er jedem Bankett im Palais von Sanchez Morueta vor. Aber eine merkwürdige Schrulle, seinen Vetter so selten zu besuchen! ...«

Die in Baracken und Kantinen untergebrachte elende Herde der Bergleute glaubte blindlings an seine Wissenschaft. Er war ein Zauberer, der größten Wunder fähig, um den Mängeln der menschlichen Maschine abzuhelfen; die Bergpfade klommen zahllose Verkrüppelte hinan, die, aus entsetzlichen Katastrophen mit dem Leben davongekommen, die Meisterschaft des Chirurgen verkündeten.

»Ruft Don Luis!« ächzte der beim Sprengen verwundete Bergmann oder der im Tagebau verschüttete Junge.

Und wenn sie mit dem gläsernen Blick der Agonie den Kneifer des Doktors erkannten, seine ironischen Augen und den vorzeitig ergrauenden Spitzbart, beseelte die Unglücklichen plötzliche Zuversicht – bis zum letzten Moment des Wunders harrend, das sie retten mußte, fühlten sie das Herannahen des Todes nicht.

Die anderen Ärzte des Reviers wurden von den Kranken mit dumpfer Resignation empfangen. Don Luis! Nur den Doktor Aresti! ... Und die Damen von Gallarta, die Frauen der Unternehmer, die sich in ihren funkelnagelneuen Villen langweilten, klagten über früher nie vermutete Krankheiten, nur des Vergnügens halber, mit dem Doktor zu sprechen, der außer seiner Wissenschaft etwas von der Grandezza Sanchez Moruetas, etwas von der ersten Gesellschaft Bilbaos, in die sie eines Tages hineinzugelangen träumten, mit sich brachte. Die Ehemänner bedurften seiner nicht weniger. Sie ließen sich von ihm in ihren Familienangelegenheiten beraten oder holten ihn gleich nach beendigter Arbeit zu einer lärmenden, ihm zu Ehren veranstalteten Schmauserei ab. Manchmal entführten sie ihn auch zu ihren Ochsen- und Bohrwettbewerben, bei denen Wetten über viele Tausende von Duros abgeschlossen wurden.

In der vergangenen Nacht war es spät geworden. Da Aresti den Namenstag seines Vetters Don José in Bilbao feiern mußte, hatten alle reichen Josés in Gallarta nicht verfehlt, ihn schon am Vorabend ihres Heiligen einzuladen. Bis nach Mitternacht dauerte das Mahl, eine Folge beliebter und kräftiger Gerichte, von denen die Neureichen in ihrer Hungerperiode phantasiert haben mochten. Da gab es Waldkaninchen; Huhn, gebraten, gesotten, geschmort, gebacken; Kabeljau, auf alle mögliche Weise zubereitet, und eine endlose Reihe von Alltagsschüsseln, von der ersten bis zur letzten mit dem besten Champagner begossen. Champagner war für diese Leute das Kennzeichen des Reichtums – das einzige, worin sie die oberen Klassen hatten nachahmen können. Vom teuersten verlangten sie, und kistenweise, damit nur ja kein Zweifel über ihre Mittel möglich sei. Sie öffneten die Flaschen mit einem Hieb, lachten wie Kinder, wenn der Schaum über den Tisch sprühte, benutzten an Stelle der Kelche riesige Becher und bespritzten beim Nachtisch einander mit dem Schaum oder füllten wohl auch die Waschbecken mit dem edlen Wein, um sich das Gesicht darin abzuspülen – eine sinnlose Vergeudung, die dankbare Heiterkeit hervorzurufen nie ermangelte.

Aresti lächelte bei der Erinnerung an die kindischen Extravaganzen dieser schnell reich gewordenen Männer, die in ihrem isolierten, arbeitsamen Leben ihre Gewinnste nicht besser zur Schau stellen konnten.

Ohne den Schritt zu verlangsamen, betrachtete er eine gute Weile einen roten Hügel in der Nähe. Diese Geschwulst der Landschaft war Menschenwerk – ein Berg, Korb auf Korb angeschüttet; in seinem Schatten wurde Gallarta und der Reichtum des Reviers geboren. Es war die Schlacke der hochwertigen Erze von San Miguel de Begoña, der berühmtesten Mine des ganzen Distrikts. Hier hatten Sanchez Morueta und andere Potentaten Bilbaos den Grundstein zu ihrem Vermögen gelegt. Als einzige Erinnerung blieb die riesige Schutthalde – die Produkte befanden sich in der Stadt, und in den Eingeweiden der Erde ruhten die namenlosen Sklaven, die einen Teil ihres Lebens damit verbracht hatten, dem Boden die Erze zu entreißen.

An Aresti vorbei hasteten Frauen und Kinder nach einem Menschenknäuel, aus dem sich die schwarzen Uniformen zweier Gendarmen abhoben. Grubenjungen hetzten schreiend hinzu, in jeder Hand noch ein paar Dynamitpatronen, und knufften und stießen sich unbekümmert um den gefährlichen Stoff durch die Menge, bis sie in der vordersten Reihe ihre Neugier befriedigen konnten.

Mitten auf dem Wege stauten sich verschiedene Karren mit den kleinen, feinhufigen baskischen Ochsen, deren Joch zwischen den Hörnern ein Schaffell zierte.

Als sich die kompakte Menschenmauer vor dem Doktor öffnete, sah man im Straßengraben ausgestreckt einen Mann liegen. Seine Kleider waren in Unordnung; Schlamm und Blut bildeten eine Maske auf seinem Gesicht. Aresti brauchte sich nur zu ihm herabzubeugen, um festzustellen, daß der Tod schon seit mehreren Stunden eingetreten war.

»Entschuldigen Sie die frühe Störung, Don Luis!« wandte sich der Friedensrichter, einer der Unternehmer, die die Feier des vergangenen Abends veranstaltet hatten, an den Doktor. »Der arme Kerl erhielt einen Dolchstich ins Herz, der ihn auf der Stelle getötet haben muß. Ich kannte ihn; ein wortkarger Andalusier, überall auf der Suche nach seinem Brot – in Südamerika hat er hunderterlei Gewerbe ausgeübt, in Spanien auf allen Minen gearbeitet. Abends, wenn er heimkam, gab er den Grubenjungen Unterricht. Er war Kostgänger bei den Eltern der Tschinderassa, die allen Burschen von Gallarta den Kopf verdreht. Auch er verliebte sich in das Mädchen, und da den Eltern der solide, arbeitsame Mann gefiel, sollte in dieser Woche die Hochzeit stattfinden. Die Tochter aber hielt es, trotzdem sie ebenfalls ja gesagt hatte, weiter mit dem schlimmsten Raufbold der Gegend, der zum sonntäglichen Tanz mit einem ganzen Arsenal von Waffen im Gürtel erscheint und wegen seiner Unverschämtheit noch von jeder Arbeitsstelle entlassen worden ist. Gestern fuhr nun der Andalusier nach Bilbao, und bei der Rückkehr hat ihm ohne Zweifel sein Rivale hier am Weg aufgelauert.«

Der Arzt, dem der geschwollene Bauch des Ermordeten auffiel, gebot einem der Bergleute, die Leibbinde zu lösen. Zwei Damenhalbschuhe aus blitzendem Lackleder kamen zum Vorschein – der Traum aller jungen Mädchen in den Minen! Der arme Andalusier war in der Stadt gewesen, um dieses Hochzeitsgeschenk für seine Braut zu besorgen ...

Wieder öffneten sich die engen Reihen der Umstehenden. Man tuschelte erregt wie bei der Ankunft einer erwarteten Persönlichkeit. Die Tschinderassa! Die Hände auf die starken Hüften gestützt, trat sie heran.

»Also ist's doch wahr, daß man den da umgebracht hat?« Ein Lächeln entblößte die spitzen Zähne einer schamlosen Wölfin.

Und der Blick ihrer schwarzen, schönen, frechen Augen heftete sich auf den Arzt mit demselben Ausdruck freigebiger Geilheit, mit dem sie ihn schon oft, wenn sie ihn unterwegs allein traf, eingeladen hatte, ihr zu folgen. Kaltblütig, ohne irgendwelche Erregung betrachtete sie den Leichnam, und erst als sie die Lackschuhe bemerkte, veränderte sich ihre Miene.

»Caramba! Da hätte ich ja vergangene Nacht beinahe meine Schuhe gehabt!« Das war alles, was ihr vor dem Leichnam dessen, der ihr Gatte hatte werden sollen, einfiel. Sich mit dem Ellenbogen Platz schaffend, ging sie gleichgültig fort, vielleicht in Gedanken bei dem anderen, dem wegen seiner Liebe zu ihr das Zuchthaus drohte.

»Die Bestie!« sagte Aresti zum Friedensrichter. »Die schöne Bestie der primitiven Zeiten, die Genugtuung empfindet, wenn die Männchen sich ihretwegen zerfleischen ...«

Während die Leiche auf einen Karren gelegt wurde, trat der Doktor den Rückweg an, so in Gedanken vertieft, daß er erst kurz vor Gallarta einen Grubenjungen bemerkte, der ihn beharrlich begleitete, bald neben ihm trabend, bald einen Schritt voraus, immer seine weit geöffneten Augen flehend zu ihm erhoben.

»Was kann ich für dich tun, junger Herr?« fragte Aresti mit seiner fröhlichen Stimme, die Vertrauen unter den Unglücklichen zu verbreiten schien.

»Señor!« stotterte der Knabe. »Mein Vater ... mein armer Vater ...«

Und als könne er die so lange beherrschte Pein nicht länger unterdrücken, erstickten die Worte in seiner Kehle, und dicke Tränen kollerten über seine Backen.

Aresti blickte ihn prüfend an. Ein Einheimischer war der Junge nicht; er mußte zu einem dieser Trupps gehören, die, vom Hunger getrieben und vom Taglohn in den Bergwerken angelockt, aus Kastilien oder Léon zuwanderten. Eine blaue Hose mit aufgesetzten Stücken an Gesäß und Knien pendelte über viel zu großen, nägelbeschlagenen Schuhen, die ihre Spitzen aufwärtsstreckten. Die schwarze Leibbinde wand sich um ein rotes, nur von einer schlotternden Weste bedecktes Flanellhemd, und unter einer verblichenen Mütze quoll ein kleiner Urwald dunkler Haarkringel hervor. Er roch nach verwahrloster Jugend, nach monatelang nicht abgelegten Kleidern. Aresti kannte dieses Parfüm der Minen: den Dunst der Körper, die arbeiten, schwitzen und schlafen – immer in demselben Zeug.

»Dein Vater ... ja, ja, ich verstehe. Und was ist mit deinem Vater los?«

Die Erklärung fiel dem Kleinen schwer.

»Er ist oben in Labarga, in einer Baracke, sehr krank ... er stirbt! Als er heute früh zur Arbeit gehen wollte, brannte ihm die Haut; dann sprach er irre. Um ihn zu pflegen, bin ich in der Baracke geblieben und habe den Taglohn verloren ... ja, Herr Doktor, den Taglohn verloren ...«

Vier- fünfmal wiederholte er diesen Satz vom verlorenen Taglohn wie etwas außerordentlich Wichtiges, das den ernsten Zustand des Kranken unbedingt erhärten mußte.

Aresti wähnte, ihn mit dem Versprechen trösten zu können, daß er seinen Assistenzarzt bei dessen Rückkehr von Galdames senden wolle.

»Nein, Herr Doktor!« schluchzte der Junge. »Bitte, bitte, kommen Sie selbst. Sie verstehen mehr als alle anderen zusammen. Die Leute sagen, daß Sie Wunder vollbringen ...«

In seiner Verzweiflung bemächtigte er sich der Hand des Arztes und küßte sie wieder und wieder, als wären diese Zeichen der Verehrung besser geeignet, den Doktor zu überzeugen.

»Gut, mein Junge! Gehen wir nach Labarga, aber reibe nicht weiter dein schmutziges Näschen an meiner Hand ab.«

Beruhigt durch diese Zusage, beantwortete der Kleine die Fragen des Arztes jetzt mit größerer Leichtigkeit.

Seit drei Jahren kamen sie, sein Vater, er und sechs Landsleute, im Spätherbst aus ihrer Heimat bei Zamora nach den Minen. Sie besaßen zu Hause ein wenig Land, auf dem sie Heu und etwas Roggen ernteten. Während die Frauen sich im Winter um die Felder kümmerten, wanderten die Männer wegen der fabelhaften Taglöhne von drei Pesetas Vor dem Kriege war eine Peseta gleich 0,80 M., ein Real gleich 0,20 M., ein Duro gleich 4 M., von denen man in ihrer Heimat mit Staunen sprach, nach Bilbao. Im Sommer kehrten sie in ihr Dorf zurück, holten die Ernte ein und bestellten die neue Saat.

»Ich, Herr Doktor, verdiene täglich sieben Reales; mein Vater elf, auch zwölf. Einen Real kostet uns unser Bett und fünf Reales für jeden die tägliche Kost, denn hier gehen die Preise bis in die Wolken. Dazu noch die Ausgaben für Schuhe und Strümpfe, die in den Minen sehr leiden. Und die vielen Regentage, an denen im Tagebau nicht gearbeitet wird ... Alles zusammen bringen wir – wenn wir nichts trinken und wenig essen – nach zehn Monaten vierzig bis fünfzig Duros nach Hause.«

»Dann werdet ihr eines Tages wohl reich sein«, meinte Aresti.

»Aber nein, Señor!« wehrte der Junge naiv ab. »Nicht einmal, wenn wir das Geld behielten.«

»Verschenkt ihr es denn?«

»Ach! Die Beamten holen es. Wir bezahlen damit unsere Steuern.«

Aresti versank in Stillschweigen. Wieder einmal bewunderte er die Einfachheit, die Demut dieser Menschen, so arbeitswillig und an Entbehrungen gewöhnt und so gänzlich ohne einen Protestgedanken in ihrem sterilen Hirn. Hütte und Familie gaben sie auf, um ein Lagerleben zu führen, krumm zu liegen vor dem rötlichen Gestein, es von morgens bis abends mit einem Aufwand an Kräften zu durchwühlen, den ihre Ernährung nicht ergänzte. Jeder Tag beschleunigte den Ruin ihres Organismus. Und wozu dieses stumme, mühselige Opfer? Um ein lächerliches Eigentumsrecht auf vier unfruchtbare Handvoll Erde in ihrem heimatlichen Dorf zu bewahren – um mit Blutstropfen und Stücken ihres Lebens den äußeren Pomp aufrechtzuerhalten, mit dem sich der Staat umgibt ...

An seinem Häuschen in Gallarta ging der Arzt mit langen Schritten vorbei, aus Angst, daß Catalina ihn erblicken und ihm einen Verweis geben könnte. »Vorwärts, vorwärts, mein Junge! Sonst verliere ich den Zug nach Bilbao. Es ist schon sieben Uhr!«

Sie eilten zwischen den beiden Reihen niedriger Häuser hindurch, die, sich den Unebenheiten des felsigen Bodens anpassend, in wellenförmigem Auf und Ab die steile Hauptstraße einsäumten. Dürftige Gebäude, aus dem erzhaltigen Gestein zu einer Zeit gebaut, als es noch nicht so begehrt war: starke Mauern mit kleinen Fenstern, mit vorspringenden Balkonen, die herabzufallen drohten. Das obere Stockwerk bestand aus wurmstichigem Holz, das Dach aus losen Ziegeln, die sich gegen die Windstöße durch einen Saum von großen Steinen verteidigten. Im Erdgeschoß befanden sich die Geschäfte von Gallarta, vorwiegend Tavernen. Einige Fenster mit trüben Scheiben dienten als Auslagen und zeigten Schuhe und alte verrostete Eisenwaren – von der Stadt verschmähte Überbleibsel, aber gut genug für die Minen, wo man alles ohne Widerspruch kauft, schlecht und teuer –, während an den Fassaden der Wäscheläden vielfarbige Tücher flatterten und bauschten. Infolge des verschiedenen Niveaus zwischen Straße und Häusern stieg man zu etlichen Geschäften wie zu einem Turm auf einer außenliegenden Treppe empor, zu anderen wieder tief hinunter in eine Höhle. Mit ihren engen, finsteren Läden, den Häusern von geringer Höhe ähnelte die Straße der krummen Gasse einer arabischen Ortschaft.

An das bergige Land gewöhnt, folgte Aresti mühelos dem voraufrennenden Jungen. Je höher sie stiegen, desto stärker wehte der Wind, desto umfassender wurde der Ausblick. Aus den von Morgennebeln verhüllten Tälern strebten Berge himmelwärts. Nach der See zu hob der Serantes, der die Mündung des Nervion bewacht, seine von einer Burgruine gekrönte Masse dem bleiernen Firmament entgegen, und zu seinen Füßen dehnte sich der breite, dunkle Gürtel des kantabrischen Meeres, seine Wasser hie und da als dreieckige Buchten ins Land vorschiebend.

Auf den grünen Feldern am Fuß des Serantes zeichnete sich ein heller Fleck ab: das Dorf San Pedro Albanto; ihm gegenüber reckte sich der Gipfel des Somorrostro. Zwei Namen, die seit dem letzten Bürgerkrieg ganz Spanien kannte. Und als ob der Kampf von neuem erwachte, erklangen plötzlich auf den Höhen Hörnersignale; ein dumpfes Beben lief durch die Erde, Explosionen krachten, Wolken von rotem Staub und einen Steinregen in die Luft jagend. Weiter entfernt erfolgten neue Detonationen, und das Krachen pflanzte sich fort, bis das ganze Minenbecken von unaufhörlichem Donner erzitterte, als feuerten zahllose, in allen Bergfalten, auf allen Gipfeln versteckte Batterien.

Unwillkürlich wurden Arestis Gedanken durch das Getöse der morgendlichen Sprengungen auf die berühmte Schlacht der Encartaciones gelenkt. Er hatte sie von den einheimischen Greisen so oft schildern hören, daß er sich fast einbildete, selbst gesehen zu haben, wie vor dem weißen, von Steineichen umgebenen Häuschen am Rande des Dorfes eine wohlgezielte Granate die beiden besten Generale der Karlisten tötete. Dort auf den steilen Hängen des Somorrostro, in dessen Schluchten man noch heute Gerippe fand, hatte sich das große Gemetzel abgespielt. Die Bataillone der Regierung versuchten mit der Bravour des Stieres, der, ohne die Gefahr zu messen, mit gesenktem Kopf angreift, den Gipfel zu erstürmen. Ein verheerendes Feuer dezimierte sie. Doch da das Gewehr die Karlisten noch nicht mörderisch genug dünkte, griffen sie zurück auf die Verfahren primitiver Kriege. Der antike Kampf zwischen den barbarischen Keltoiberern und den disziplinierten Legionen Roms lebte wieder auf. Von den Grubenwagen rissen sie die eisernen Achsen samt ihren Rädern los und sandten diese Todeswagen auf den Feind. Die Abhänge hinunter, von Fels zu Fels mit schwindelerregender Schnelligkeit in die Tiefe sausend, brachen diese irrsinnig gewordenen Räder in die Massen roter und blauer Hosen, zerquetschten die Männer unter ihrer eisernen Umdrehung, ließen die Knochen knirschen, zerfetzten die Muskeln ... bis sie blutbesudelt in der Ebene strandeten, satt der Zerstörung.

»Diese Toren! Diese Toren!« murmelte der Doktor vor sich hin.

Traurig gedachte er der Tausende von Toten in diesem Berglande, der vielen, die den ewigen Schlaf schliefen um eines Familienzwistes, um einer einfachen persönlichen Frage willen, geschickt ausgebeutet im Namen des religiösen Gefühls und der heftigen Abneigung, die der Baske jeder von ihm Gehorsam heischenden Autorität jenseits des Ebros entgegenbringt.

Als Aresti weiter hinaufklomm, wurden die Erinnerungen an eine Epoche der Gewalt allmählich von den Bildern tätiger Arbeit verdrängt. Um sich herum sah er die Bewegung des täglichen Kampfes, den der Mensch führt, um sich der Bodenschätze zu bemächtigen. Auf den Kabeln der Drahtseilbahnen glitten – sich über Schluchten und Abgründe von Berglehne zu Berglehne senkend – Schnüre der mit rotem Erz schwer beladenen Körbe dahin in der Richtung zur Ebene, hinunter zu den Ladeplätzen an der Eisenbahnlinie von Triano, der Luftröhre aller Minen.

Auf dem Grunde der durch den Tagebau hervorgerufenen mächtigen Einschnitte rollten auf schwach geneigten Schienen lange Lorenzüge, von Pferden gezogen oder von Menschenhand geschoben. Bremsberge zeigten sich, auf denen an einer Kette ohne Ende die vollbeladen hinabfahrenden Wagen durch ihr Gewicht die leeren nach oben zogen. Und soweit das Auge blickte: Wagen, immer mehr Wagen. Über alle Brücken fuhren sie, aus allen Tunnels kamen sie hervor, in allen dunklen Eingängen verschwanden sie.

Die Hand des Menschen hatte die Landschaft umgewälzt. Der Bergmann vergewaltigte die Natur, kehrte das Innerste nach außen, entkleidete sie mit brutaler Faust. Alles hatte seinen Platz gewechselt: Gipfel waren von Picke und Bohrstahl in die Tiefe geschleudert, Schluchten mit roter Schlacke ausgefüllt und in Plateaus verwandelt worden. Die Berglehnen schienen von Krallen zerfetzt zu sein; was einst ein sanfter Abhang gewesen, erschreckte jetzt durch die schroffe Steile des Abgrunds. Auch die Gewässer folgten einem anderen Lauf. Sprudelnde Quellen, an denen sich die Alten erfreut und gelabt hatten, sickerten jetzt schlammig aus den engen, in die Berglehnen getriebenen Stollen. Manche ihrer roten Umhüllung beraubte Bergkuppe zeigte ein trauriges Knochengerippe aus Kalkstein. Die Wiesen vergangener Zeiten, der Humus mit seinen Maisfeldern und Eichkamps – alles war verschwunden, als bliese ein Feuerwind über diesen Landstrich. Nichts war geblieben außer dem eisenhaltigen Fels, dem rötlichen Brocken, dem von den Menschen ersehnten erzführenden Gestein, das von innen heraus verbrannt zu sein schien. Hie und da gab es zwar noch ein Streifchen Grün; wo sich umgestülpte Wagen häuften und mit morschen Hölzern von einem verlassenen Betrieb Zeugnis ablegten, wuchs Gras. In solchen Winkeln weideten kleine Herden dickbäuchiger Schafe mit langer Wolle, und der Klang ihrer Glöckchen brachte eine Note von Hirtenfrieden in diese trostlose, wie von einer geologischen Konvulsion eben erst emporgeworfene Landschaft.

Der Weg schlängelte sich um die tiefe Grube eines Tagebaus herum. War es möglich, daß derartige Tiefe von Menschenhand innerhalb weniger Jahre ausgehöhlt werden konnte? ... Gleich Schwärmen von Insekten klebten die Bergleute dort unten am Gestein; Pferde, nicht größer als ein Spielzeug, bewegten sich hin und her.

An einem Ende der riesigen Aushöhlung war das Gebirge zusammengestürzt zu einer starren Kaskade von Erdwellen und gigantischen Felsblöcken. Wie gut erinnerte sich der Doktor der Katastrophe vor vier Jahren, bei der eine Abteilung Arbeiter von dem Bergrutsch überrascht wurde! Zerschmettert, zermalmt von den Gesteinsmassen, hatten die einen sofort den Tod gefunden; andere wurden bei lebendigem Leibe in einem Stollen begraben, von der Welt getrennt durch Tausende von Tonnen Fels und Erz. Entsetzt rannten die Menschen herbei, um ihr Ohr an das Geröll zu pressen. Klangen da nicht Hilferufe, Stöhnen, Ächzen der Unglücklichen, die im Dunkel des Erdinnern einem langsamen Tode entgegengingen? ...

Die Stunden verstrichen, es verstrichen die Tage. Hunderte von Arbeitern plagten sich mit unerhörter Mühe, durch die ungeheure Steinlawine zu dringen. Aber nach einer Woche waren sie nur um wenige Meter vorwärts gekommen – man hörte nichts mehr aus der Richtung des Stollens, keinen Ruf, keine Klage ...

Von vielen der Verschütteten wußte man nicht einmal die Namen. Vor Tagen erst waren sie im Revier angekommen, und die Aufseher hatten wie üblich vorläufig nur ihre Spitznamen aufgeschrieben. Vielleicht harrte man in irgendeiner Ecke Spaniens ihrer noch immer, vielleicht wiegte man sich dort in der Hoffnung, daß die Ersparnisse um so größer sein würden, je länger die Abwesenheit dauerte!

Gallartas Frauen versicherten, daß aus dem niedergebrochenen Gestein nachts Seufzer drängen; auch sah man monatelang auf dem Wege nach Labarga weiße Gestalten mit Lichtern auf dem Kopf, die rasselnde Ketten hinter sich herschleiften. Und die Kinder zitterten in den Häusern, sobald von den im Fegefeuer schmachtenden armen Seelen der Umgekommenen gesprochen wurde. Aber seit man eines Morgens auf diesem Wege einen der größten Trunkenbolde mit gebrochenem Arm und zerschmettertem Kopf gefunden hatte, tauchten hinfort weder Gespenster auf, noch fühlte sich jemand bemüßigt, die Wirkung der Katastrophe durch Märchen von grotesken Erscheinungen zu erhöhen.

Allmählich verblaßte die Erinnerung an die Verschütteten bei allen. In diesen harten Betrieben, die das Leben von Tausenden verbrauchen, lösten die Unglücksfälle einander ab, und die jüngsten verdunkelten und verwischten das Bild der vorhergehenden. An einem Tage zerquetschten aufeinanderprallende Wagen einen Arbeiter, an einem anderen sprangen sie von den Schienen des Bremsbergs und fielen über eine Belegschaft her, die, über ihre Arbeit gebeugt, das verräterische Nahen des Todes in ihrem Rücken nicht argwöhnte. Sprengschüsse gingen vorzeitig los und warfen die Männer um wie reife Ähren; mitten in der Arbeit regnete es Felsbrocken, die auf der Stelle töteten ... Und als wäre dies alles nicht genug, gab es noch Messerstiche beim Verlassen der Taverne, Zwist während der Schicht, Streitigkeiten am Zahltage, die ganze aggressive Wildheit einer unwissenden und durch das Elend in Wut versetzten Masse, zu der auch alle diejenigen gehörten, denen bei der Entlassung aus den Zuchthäusern von Santona, Valladolid oder Burgos kein anderer Weg offenstand als der in die Minen von Bilbao. Denn weil man hier ständig kräftiger Arme bedurfte, fragte niemand nach dem Woher.

Der Tod umkreiste dieses elende Volk wie der Wolf die Herde, immer wachsam, immer griffbereit und die Zähne gebleckt. Hier ein Klauenhieb, dort ein Biß – der Feind zeigte sich unermüdlich. Ständig war im Hospital mehr als ein Dutzend Betten besetzt von krankem oder zerstückeltem Fleisch, das seufzend Don Luis um Hilfe bat. Ein ewiger Kriegszustand, eine immerwährende Schlacht gegen das blinde Verhängnis und die Barbarei der Menschen; ein Kampf, dessen Echo im Gebirge erstarb, ohne bis zu dem opulenten Bilbao vorzudringen. Das Erz schwamm flußabwärts, doch verschwendete niemand einen Gedanken daran, was seine Gewinnung gekostet hatte.

Aresti riß sich von seinen Betrachtungen los, als er die einzige Straße von Labarga betrat. Im Vergleich zu diesen erbärmlichen Baracken, diesen dünnen Bretterwänden mit Wellblechdach konnten die Häuser von Gallarta den Namen Paläste beanspruchen. Die Türen setzten sich aus zwei horizontalen Teilen zusammen: der untere blieb wie eine Barriere geschlossen, der obere bildete das einzige Fenster, das der Wohnung beim Öffnen Luft und Licht zuführte. Durch die unaufhörlichen Regengüsse waren die Hütten in Fäulnis übergegangen, die Fasern des weichen, schwammigen Holzes schälten sich los, als wollte sich der ganze Bau in Würmer verwandeln. Draußen wehten auf Stricken allerlei zum Trocknen aufgehängte Lumpen von undefinierbarer Farbe. Und die Kinder blieben an den Türen sitzen, ernst und unbeweglich, als seien sie von einer anderen Rasse als das lärmende Kleinvolk in den Dörfern der Ebene.

Beim Anblick des Arztes kamen die Frauen, sichtlich erfreut, aus ihren Hütten hervor.

»Herr Doktor, bitte sehen Sie nach meinem Kleinen!«

»Herr Doktor, bitte zu meiner Mutter!«

Aber Aresti kannte seit langem solchen Empfang, die Sucht zu erkranken, sobald sie seiner ansichtig wurden, wohingegen sie nur in äußerst schweren Fällen zum Krankenhaus hinabstiegen. Der einen zulächelnd, der anderen ein freundliches Wort zurufend, schritt er weiter hinter dem Jungen aus Zamora her, der das Gesicht nach rückwärts gewandt hielt, als fürchtete er, daß die Gevatterinnen den Doktor in Beschlag nehmen könnten.

Vor der ärmlichsten Hütte der Siedlung saß rauchend ein Mann mit langem grauem Bart. Die Augen verschwanden beinahe unter den Brauen, und sein dunkles Gesicht kniff sich jeden Moment bitterböse zusammen. Als der Arzt ihn erreichte, hob er weder die Hand an die Mütze, noch gab er seine Fakirstarre auf, scheinbar völlig vertieft in die Betrachtung des Elends um ihn herum.

»Salud, Freund im Bart!« grüßte Aresti fröhlich. »Was gibt's Neues?«

»Vieles und Schlechtes, Don Luis.«

»Und wann machen wir Revolution?«

Der Mann im Bart sah einen Augenblick düster zu Aresti empor. Dann spuckte er mit verächtlicher Geste das Nikotin in seinem Munde aus.

»Hänseln Sie mich nur, Don Luis! Sie sind daran gewöhnt, den Reichen wie den Armen sich über Schmerzen beklagen zu hören, den einen wie den andern sterben zu sehen; deswegen finden Sie die Angelegenheiten der Menschen zum Lachen. Schließlich sind wir ja auch bloß Tiere! Lachen Sie ... meinetwegen ... aber der große Donner kommt näher. Eines Tages werden alle Diebe ihr Teil kriegen ... Alle! Ihr Vetter Sanchez Morueta einbegriffen!«

»Und ich?« fragte der Doktor. »Was werdet ihr mit mir anfangen?«

»Sie sind ein Spötter, der sich über das Leben lustig macht, doch zwischen Scherz und Ernst den Armen Gutes tut und nahe ihrem Elend wohnt. Beinahe gehören Sie zu uns.«

»Meinen Dank, Freund im Bart! Bis später!«

Einige Schritte weiter stieg er die Stufen einer Baracke hinauf, an deren Tür ihn der Junge ungeduldig erwartete.

Es war eine der miserablen Herbergen, in denen sich die Arbeiter zusammenpferchten. Aresti besuchte diese Höhlen mit ihrem Geruch nach ranzigem Fett, Rauch und nassen Hunden nicht zum erstenmal. Im Eingang stand der Herd, neben ihm, auf zwei Regale verteilt, etwas armseliges Geschirr. Eine alte Frau mit magerem Gesicht und einem Körper, dem die vielen um die Brust geschlungenen Tücher und zahllose Unterröcke ein unförmliches Aussehen gaben, achtete, die Hände über der groben Schürze gekreuzt, auf den dampfenden Topf. Um sie herum strichen drei dürre Katzen mit gesträubtem Fell und lauerten auf eine Gelegenheit zum Stehlen.

»Ach, Don Luis«, jammerte die Alte, »es geht dem Kranken sehr schlecht. Ich habe ihn gern gewonnen in all den Jahren, die er bei mir wohnt! So leid tut er mir ...«

Doch aus ihren Augen sprach ein kalter Egoismus, so daß der Doktor sie brüsk unterbrach:

»Vor allem tut es Ihnen leid, einen Real täglich zu verlieren, wenn er sterben sollte.«

»Ach, Don Luis, wir sind arm! Mein Mann ist beinahe lahm vor Rheuma und verdient in der Erzwäscherei weniger als ein Bub. Gott sei Dank läßt man ihn noch mitlaufen. Aber was machten wir wohl ohne diese Kostgänger aus Zamora! ... Und das, nachdem man sein ganzes Leben gearbeitet hat!«

Aresti hob ein Gardinchen aus verwaschenem rotem Perkal, das ein lichtloses Loch mit dem Bett der beiden Alten verbarg. Er hob ein anderes und sah einen Raum, vollkommen versperrt durch eine enorme Lagerstatt – auf kleinen Schemeln ruhende ungehobelte Bretter. Hier schlief der ganze Trupp aus Zamora – sieben Männer und der Junge – Körper an Körper, in einer Luft, die nur durch die Ritzen im Dach erneuert wurde. Maisstrohsäcke bedeckten diesen Bretterboden; vier aneinander genähte Decken bildeten das gemeinsame Deckbett für die acht Menschen, und an der Wand lehnten ein paar flache Kopfkissen, deren verblichener Bezug durch die Reibung schmutziger Köpfe speckig glänzte.

Traurig vergegenwärtigte sich der Arzt die in dieser Höhle verbrachten Nächte. Zermürbt und erschöpft von der harten Arbeit, losgesprengte Blöcke zu zertrümmern und ausgelesenes Roherz in den Loren bis zum Ladeplatz zu schaffen, kamen die Bergleute heim zu einem kärglichen Abendessen aus Kartoffeln und Bohnen mit einer Spur von Stockfisch oder Speck und legten sich dann, ohne von ihrer Kleidung mehr als die Stiefel, allenfalls noch die Jacke auszuziehen, in diesem Loch zum Schlafe nieder. Die Luft, die unter einem Dach, das der ausgestreckte Arm berührte, nicht zirkulieren konnte, wurde binnen kurzem dick durch die Ausatmung so vieler Wesen, durch den Dunst verschwitzter Wäsche. Im Schutz der Dunkelheit fielen die in den Spalten der Decke, in den Fugen der Bretter, in den Löchern des Daches nistenden Parasiten blutgierig über die vom bleiernen Schlaf Übermannten her. Und wenn in Unwetternächten der Sturm durch Ritzen und Risse pfiff und die Baracke umzureißen drohte, drängten die Körper auf der Suche nach Wärme enger zueinander, vermengte sich ihr Schweiß, vermischte sich ihr Atem.

Immerhin waren die acht Menschen, die hier schliefen, wenigstens Freunde, Landsleute, durch den gemeinsamen Geburtsort und die alljährliche Reise verbunden. Aber mit Grauen dachte Aresti an andere Baracken, wo die auf demselben Lager Ruhenden sich nie gesehen hatten – wo der unglückliche, eben aus seinem Dorf angelangte junge Bursche neben einem anderen schlief, der vielleicht vom Zuchthaus kam oder wegen eines Verbrechens flüchten mußte. Die fremden Körper berührten sich unter der klebrigen Decke; Fleisch rieb sich an Fleisch, das krank, ja häufig gefährlich infiziert war. Und dieses Durcheinander – unter dem Schutz derselben Decke – von Alten und Jungen, von unschuldigen Bauernburschen und Veteranen der Landstraße, die jede Korruption kannten, vollzog sich inmitten einer erzwungenen Abstinenz, in einer Gegend, wo die Arbeitsbedingungen es mit sich bringen, daß es viel mehr Männer gibt als Frauen, und sexuelle Verirrungen aller Art begünstigen.

Aresti gewahrte den Kranken am äußersten Ende der Lagerstatt, dicht neben der Wand. Mit dem Innern der Baracken vertraut, kletterte der Doktor behende auf die hölzerne Plattform und schob sich auf den Knien bis zur Ecke, um beim Schein eines Wachsstreichholzes eine Untersuchung vorzunehmen.

Der Kranke hielt die Augen geschlossen und holte röchelnd mühsam Atem. Seine Haut brannte. Noch immer trug er dieselben Kleider, die der Regen vom vergangenen Abend völlig durchweicht hatte.

»Eine böse Lungenentzündung«, konstatierte der Arzt, während er sein Zündholz wegwarf und rückwärtsrutschte.

Als er die Baracke verließ, nachdem er dem Jungen ein Rezept ausgehändigt und der Alten noch verschiedene Verhaltungsmaßregeln betreffs des Kranken gegeben hatte, erwartete ihn mitten auf der Straße schon einer der Unternehmer, die ihren Stolz dareinsetzten, sich seine Freunde zu nennen. Dieser hier trug zu seinem Samtanzug hohe Gamaschen aus dem wasserdichten Stoff, mit dem die Dynamitkisten innen gefüttert sind; auf der Weste blinkte eine breite goldene Uhrkette.

»Holla, Mylord!« grüßte der Doktor. »Ist heute kein Gottesdienst in der Kapelle von Baracaldo?«

»Sie wissen ganz gut, Don Luis, daß unsere Religion den heutigen Tag nicht als Festtag ansieht«, versetzte der Unternehmer nicht ohne eine gewisse Salbung.

»Und Mylady? ... Schön und elegant wie immer?«

»Spotten Sie nicht! Wir sind ein paar arme Teufel, denen etwas Protektion zuteil wurde. Aber, Don Luis, da Sie sich nun einmal nach Labarga hinaufbemühten, sehen Sie sich doch bitte meinen Aufseher, den Tocino, an. Der Mann liegt seit drei Tagen fest mit Rheumatismus.«

Aresti sträubte sich unter Berufung auf seine Reise nach Bilbao.

»Eine Sekunde, Don Luis!« bestürmte ihn der Unternehmer. »Nur hinein und wieder hinaus! Sie ahnen nicht, wie mir der Mann in der Mine fehlt.«

Resigniert ließ sich der Arzt zu der noch höher gelegenen Kantine des Aufsehers führen.

Auch Arestis Begleiter, dieser sogenannte Mylord, war vormals Aufseher gewesen, bis ihn die Protektion des Direktors der englischen Gesellschaft, den er durch sein rücksichtsloses Antreiben der Arbeiter für sich zu interessieren gewußt hatte, zum Unternehmer machte, wodurch sich ihm der Weg zum Reichtum öffnete. Um dem Engländer seine Dankbarkeit zu beweisen, wurde er Protestant und schickte, in dem Bestreben, mit seinen Gönnern in noch engere Verbindung zu treten, seine mutterlose Tochter für sechs Jahre in ein englisches Pensionat, von wo das junge Mädchen mit einer äußerlichen Züchtigkeit und ziemlich leichten Sitten zurückkehrte, die ganz Gallarta amüsierten. Sonntags sah man Mylord und Mylady in Kleidung, die sie von London bezogen, nach Baracaldo zum Gottesdienst in der einzigen protestantischen Kapelle der Gegend hinuntersteigen, die außer ihnen die Familien der englischen Ingenieure und Techniker besuchten. Aresti, dem die Flirts von Mylady – man raunte von nächtlichen Besuchern, die den Weg zu ihr durchs Fenster nahmen – bekannt waren, gratulierte dem Vater ironisch zu der Politur, die sein robuster Sprößling im Auslande erworben hatte.

»Ja, die englische Erziehung!« sagte Mylord in einem Tone inbrünstiger Verehrung. »Eine große Sache! Was die Kleine nicht alles weiß! ... Es ist wahr, daß sie, an Feinheit gewöhnt, sich zwischen diesen Tölpeln hier langweilt. Aber – unter uns gesagt, Don Luis – mein Plan, mein Ehrgeiz geht dahin, sie mit einem der Gentlemen der Gesellschaft zu verheiraten.«

»Sehr richtig!« meinte der Doktor mit ernstem Gesicht. »Diese Herren sind auch die einzigen hier, die das auf sich nehmen können.«

Sie waren an Tocinos Kantine angekommen, einem alleinstehenden Haus aus Bruchstein, gekrönt von einem hölzernen Turm. Von dieser Höhe aus umfaßte der Blick den ganzen Minendistrikt bis zur Bucht von Bilbao. Die sich an beiden Ufern des Nervion drängenden Dörfer schienen eine einzige große Stadt zu bilden, hinter der sich zwischen den Bergen der Rauch der Hochöfen und Fabriken Bilbaos mit den Wolken vermengte. Und wie ein Triumphbogen aus schwarzen Spitzen hob sich an der Flußmündung die hohe Brücke Biscayas ab.

In dem Laden, der das ganze Erdgeschoß einnahm, wurden, hinter unsauberen Glasscheiben auf Regalen aufgeschichtet oder frei von der Decke herabhängend, neben den verschiedenartigsten Gebrauchsgegenständen all die Eßwaren feilgeboten, für deren Erwerb die Bergleute ihr Leben stückweise in den Gruben ließen: Bohnen, Kartoffeln, Speck. Reis kaufte man nur, wenn die Kartoffeln teuer wurden. Außerdem baumelten unter der Decke Stockfische, Stücke von amerikanischem Rauchfleisch und endlose Zwiebel- und Knoblauchgirlanden.

Das Brot lag jenseits der Theke, unter der Obhut der Inhaber, als befürchteten sie Diebstähle von seiten der Kundschaft oder einen plötzlichen Einbruch der Hungernden, von denen es draußen wimmelte. Ein Faß bereits goldig schimmernder, ranziger Sardinen duftete scharf nach Salpeter. An den Deckenbalken schwebten Kochtöpfe und andere Küchenutensilien; auf den Regalen lagerten Stoffe, Konservendosen, Eisenartikel, Hanfschuhe und Glaswaren; aber alles war so alt, so verrostet und so schmutzig, daß sowohl Nahrungsmittel als auch die anderen Waren den Eindruck machten, als seien sie nach jahrelangem Liegen in der Erde wieder ausgegraben worden.

Hinter dem Ladentisch stand Tocinos Frau mit ihrem Sohn, einem Jüngling mit gelblichem Gesicht und katzenartigen Bewegungen. Die Tocinos gaben sich als Basken aus, aber Aresti fand in ihren harten Augen, in der honigsüßen Art, mit der sie die von ihnen verachtete Kundschaft übervorteilten, etwas, das ihn an Juden denken ließ. Jeder haßte sie, und beim geringsten Anzeichen von Revolte in den Minen verriegelten sie die Haustür, um Brot oder Bohnen durch ein Schiebefensterchen hinauszureichen.

Am Ladeneingang befand sich ein hölzerner Verschlag mit einem Schalter.

»Nanu!« rief Mylord verblüfft, als er drinnen vor einem Pult den Besitzer gewahrte, eingehüllt in Decken, unausgesetzt stöhnend, ohne dabei jedoch die Durchsicht einiger Hefte zu unterbrechen, deren Striche und sonderbare Zeichen seine komplizierte Buchhaltung darstellten. »Ich denke, Ihr seid todkrank?«

»Erst das Geschäft, dann die Gesundheit!« meinte Tocino. »Der Zahltag steht vor der Tür, und vorher müssen die Rechnungen fertig sein.«

Während der Arzt ihn untersuchte, beklagte er sich über unerträgliche Schmerzen, die ihn an jeder Bewegung hinderten, und beteuerte, von seiner lamentierenden Frau unterstützt, immer wieder, daß er sich schlechter befände, als es den Anschein hätte.

»Ach was!« wehrte Aresti. »Das sind Kleinigkeiten, die mit dem Wechsel der Jahreszeit verschwinden. Du lebst zu gut, setzt zu viel Fett an mit all dem, was du stiehlst.«

»Stiehlst!« brüllte Tocino. »Stiehlst! Immer kommen Sie mir mit derselben Sache! Sie werden noch so lange auf Ihre geliebten Arbeiter hören, bis Sie schließlich all ihre Lügen glauben. Hier wird niemand bestohlen; und daß man sein Eigentum schützt, das kann einem keiner verübeln!«

Der Ärger ließ ihn seine Schmerzen vergessen. Wütend fuhr er fort:

»Stiehlst! ... Ich verkaufe meine Waren auf Kredit, nicht wahr? ... Und da ich riskiere, mein Geld zu verlieren, schlage ich ein weniges auf. Schön würde es mir ergehen, wenn ich nicht Obacht gäbe! ... Den ganzen Monat essen sie auf Kredit, und kommt der Zahltag, möchten sie gern einen Bogen um den Laden machen und in die Tavernen stürzen. Manche arbeiten auch nur eine Woche, um dann wieder zu verschwinden. Aber Gott sei Dank kann ich es als Aufseher und gleichzeitiger Ladenbesitzer einrichten, daß die Leute hier bei mir ihren Lohn empfangen und alles, was sie mir schulden, gleich abgezogen wird. Deswegen sitze ich auch heute über den Büchern.«

Aresti hatte ihn ausreden lassen. Jetzt wiederholte er ruhig:

»Tocino, du bist ein Dieb! Denn du verkaufst den Arbeitern schadhafte Ware, die in Bilbao niemand mehr will, zum doppelten und dreifachen Preise wie in der Stadt.«

»Glauben Sie auch diese Lügen, die die Arbeiter verbreiten?« schrie der Aufseher, rot vor Zorn bei der Erinnerung an alles, was in den Bergarbeiterversammlungen vorgebracht wurde.

»Tocino, du mißbrauchst das Elend. Den Bergleuten steht es nicht frei, dort zu kaufen, wo sie wollen. Wer nicht bei dir kauft, verliert seine Arbeit in der Mine.«

»Na ja! Eine Hand wäscht die andere. Was ist dabei, wenn ich nur solche Arbeiter einstelle, die von meinem Laden beziehen?«

»Du bestiehlst den Arbeiter nicht allein in seiner Nahrung, sondern auch in seiner Arbeit, denn unter irgendeinem Vorwand wird ihm immer etwas von seinem Taglohn abgezogen. Und dein Herr und Beschützer hilft dir, diese Sklaverei aufrechtzuerhalten, indem er die Arbeiter nicht wöchentlich bezahlt, wie es überall Sitte ist, sondern monatlich. So sind sie gezwungen, auf Kredit zu leben – müssen essen, was du zu geben für gut befindest, müssen Preise zahlen nach deinem Belieben.«

»Holla, jetzt geht es auf mich los«, lächelte der Unternehmer. »Don Luis, Sie sind ja noch schlimmer als die Blusenmänner. Ein Glück nur, daß Sie nicht darauf verfallen, öffentlich zu reden!«

»Mylord«, wandte sich Aresti an ihn, »euch Unternehmern genügt es nicht, daß ihr alle in kurzer Zeit durch das Eisen reich werdet. Obendrein scharrt ihr noch Kleingeld zusammen aus dem Lohn und dem Magen des Arbeiters. Die obligatorischen Läden gehören euch und euren Aufsehern, mit denen ihr Halbpart macht. Tagsüber beutet ihr die Arme aus und abends die Magen ... Schlimm ist das, sehr schlimm! Bis jetzt hat euch die große Menge landfremder Arbeiter gerettet, die ein paar Monate alles ertragen, weil sie mit ihren kümmerlichen Ersparnissen wieder fortgehen. Aber immer mehr von ihnen bleiben im Lande, und ihr werdet noch etwas erleben, wenn diese hier seßhaft gewordenen Leute euch richtig kennengelernt haben ...«

Da ihm seine Reise nach Bilbao einfiel, brach er die Unterhaltung kurz ab und verabschiedete sich. Die Frau und der Sohn lächelten ihm kriecherisch zu, doch mit einem feindseligen Ausdruck in den Augen: sie fühlten sich ernstlich beleidigt durch die Freimütigkeit des Arztes.

Mylord setzte seinen Weg zur Mine fort, während Aresti nach Labarga hinabstieg, mit seinen Gedanken bei dem Elend dieser in den Bergen verstreuten Menschenherde. Verschiedentlich hatte sie zu rebellieren versucht, ohne daß Proteste und geräuschvolle Streiks, die mehr als einmal mit Blutvergießen endigten, ihre Lage gebessert hätten. Sie brachten nur den einzigen Vorteil, daß die Achtung vor dem Menschenleben größer wurde als in den Anfangsjahren des Abbaus, in denen man wie in Alaska oder auf den ersten »placers« von Kalifornien mit der Waffe in der Hand gelebt hatte. Es gab nicht mehr diese Halunken, die bereitstanden, im Namen der Arbeitgeber mit dem Ochsenziemer auf aufsässige Arbeiter einzuhauen; es gab auch keinen Tarif mehr für menschliches Fleisch, nach dem bei Unglücksfällen »ein Arm zu zwanzig Duros, die beiden Beine zu vierzig Duros« veranschlagt wurden ... Die einheimischen Bergleute taten sich zusammen, schufen einen Kern des Widerstandes, und die Furcht veranlaßte die Besitzer, das grausame System in etwas zu mildern. Noch aber fehlte infolge des Kommens und Gehens eines großen Teils der Bergarbeiterbevölkerung – dieser Menschenwoge, die der Winter aus den Dörfern hertrieb und die zurückflutete zur Zeit der Ernte – die enge Verbindung, der Zusammenschluß aller. Die Galicier flüchteten, sobald ein Streik drohte und die Gendarmerie in das Revier einrückte, in ihre Heimat; sie wollten nur Geld verdienen und vermieden, Ausbeutung und Mißbrauch ertragend, jeden Konflikt. Mit dem harten Egoismus des Bauern sahen die Männer aus Kastilien und León den Anstrengungen ihrer angesessenen Genossen untätig zu. Was scherte sie das Geschick der Bergarbeiterklasse, da sie selbst ja doch eines Tages auf ihre Felder zurückkehrten?  ... Und diese in Bergleute umgewandelten Kleinbauern bildeten das tote, willenlose Gegengewicht, das den freiheitlichen Aufstieg derer, die ständig im Revier lebten, unmöglich machte.

Der Tagebau war der schlimmste Feind des zielbewußten Arbeiters. In den Bergwerken mit unterirdischem Abbau, der Fachkenntnisse verlangt und eine gewisse Lehrzeit, eine Vorbildung bedingt, fiel es schwer, Leute zu ersetzen. Anders in dem überaus reichen Distrikt der Encartaciones, wo das Erz ganze Berge bildete und unter freiem Himmel gewonnen wurde: man brauchte das kostbare Erdreich nur loszureißen, aufzusammeln und fortzuschaffen – graben und Schollen zerkleinern, beinahe wie auf dem Acker –, und ungelernte Handlanger strömten ständig herbei, um jeden, der gegen Mißbrauch protestierte, ohne weiteres abzulösen. Solange diese Menschenflut nicht abgedämmt wurde, solange dieser Wechsel der Belegschaft im Revier anhielt, war es für den Arbeiter überaus schwierig, seine Rechte zu erobern.

»Don Luis, einen Moment ...«

Es war der Mann im Bart, der Aresti in den Weg trat.

»Was gibt's, alter Freund?«

»Ich möchte, daß Sie darüber unterrichtet sind, was diese Spitzbuben anstellen!«

Eine tragische Geste wies nach seiner Behausung. Und als der Arzt nicht zu verstehen schien, was er meinte, zeigte der Alte mit seinem dürren Finger nach dem oberen Teil der Hütte.

»Man hat mir das Dach abgedeckt, Don Luis, um mich zum Fortgehen zu zwingen. Die Reichen von Gallarta, all diese Kerle, die so arm gewesen sind, wie ich es noch bin, hassen und fürchten mich! ... Der Eigentümer meiner Hütte weiß nicht, auf welche Weise er es fertigbringen soll, mich herauszusetzen. Acht Tage sind verstrichen, seit er das Dach abdecken ließ, so daß der Regen jetzt auf mein Bett fällt – aber ich bleibe trotzdem auf meinem Posten. Meine arme Alte heult und möchte weg, ich jedoch bin fähig, sie zu verdreschen, wenn sie sich fortrührt! Ständig sollen die Kerle mich vor Augen haben. Mich loswerden? ... Damit hat es gute Weile! ... Jetzt, Don Luis, haben sie sich etwas Besseres ausgeklügelt: den Boden unter der Hütte wollen sie weggraben, bis sie auf ihren Pfählen in der Luft steht ... Mögen sie! Ich bleibe, damit jedermann hört, wie ich ihnen ihre Räubereien ins Gesicht schleudere. Hier ist mein Posten, hier erwarte ich den Tag, an dem das ganze Gebirge in die Ebene hinuntersteigt! Und an dem Tage bleibt kein Dach auf den Villen dieses Gewürms, dieser üppig gewordenen Läuse, die auf Kosten der Armen den großen Herrn spielen.«

Ein ganzes Weilchen trottete der Alte noch neben dem Doktor her, sich in Verwünschungen und Drohungen ergehend gegen die Unternehmer, seine nächsten Feinde, und gegen die Reichen in Bilbao, die immer unsichtbar blieben: böse Gottheiten, die im Gebirge ihre Macht nur vermöge ihrer Administratoren oder der Unternehmer ausübten, je nachdem sie die Bergwerke selbst betrieben oder die Gewinnung des Erzes vergaben.

Schon nahe bei Gallarta, sah der Doktor einen Reiter auf einer weißen Eselin, fast so groß und stark wie ein Maultier, näher kommen. Wer konnte es anders sein als Don Facundo, der Pfarrer von Gallarta? ... Vor zehn Jahren war er aus einem kastilianischen Dörfchen in das Minenrevier versetzt worden – die beste Gegend der Welt, wie er stets erklärte! »Nur Frieden, Frieden um jeden Preis. Für alle gibt es hienieden Mittel zum Leben!« Er selbst lebte wirklich in einem heiligen Frieden, würdigte Aresti seiner besonderen Freundschaft und nahm die revolutionären Lehren, die dieser den Reichen von Gallarta nach ihren berühmten Schmausereien auseinandersetzte, überhaupt nicht ernst. Sogar als sich der Doktor eine Zeitlang damit ergötzte, unter den derben Unternehmern für den Buddhismus Propaganda zu machen, ereiferte er sich nicht im mindesten. »Bah! Grillen studierter Leute! ... Das geht vorüber!« Seines Erachtens drohte der wahren Religion keinerlei Gefahr, solange man Taufen, Heiraten und vor allem Beerdigungen – viel Beerdigungen! – zelebrierte.

Zur Sonntagsmesse gingen nur ein paar alte Frauen; die Kirche war immer leer. Aber desungeachtet mußte das Land sehr religiös sein, was am besten daraus hervorging, daß Don Facundo nicht einen Augenblick freie Zeit hatte und man seine weiße Eselin ständig auf den Straßen und Bergpfaden des Reviers traben sah. Diese Pfarrei wog manches Bistum auf! Die armen Leute, die sich kaum des Gotteshauses erinnerten, fanden in all ihrem Elend immer genügend Geld, damit ein Familienglied auf dem Wege zum Grabe von Don Facundos weißer Eselin eskortiert und im Sarg von der gewaltigen Stimme des Pfarrers eingewiegt wurde. Es gab Tage, an denen er bei fünf Begräbnissen an den fernsten Orten des Sprengels amtierte – eine Angelegenheit von vielen Meilen, aber kein Grund zur Besorgnis, solange er mit seinem unermüdlichen Tier rechnen konnte. Voraus schwankte stets der Sarg auf den Schultern von sechs Bergleuten, und wehklagende Frauen, die sich mit der Verzweiflung der Zigeunerinnen ihr Haar rauften, schlossen sich an; hinter ihnen ritt, in Chorhemd und Käppchen, Don Facundo, dem der Sakristan, den er seinen Stabstrompeter nannte, zu Fuß folgte. Und da die Familie des Verstorbenen Abzüge machte, wenn der Pfarrer unterwegs wenig gesungen hatte, ließ er seine Stimme unausgesetzt erschallen und wiederholte wie ein Automat die Verse des Totenamts, während er mit dem Eschenstab, der ihm zum Antreiben der Eselin diente, den Takt dazu schlug.

Ein Halt auf dem Marsch war das einzige, das ihn aus seinem Gleichmut brachte.

»Beeilt euch, meine lieben Kinder!« mahnte er die Sargträger. »Ich habe heute noch drei zu erledigen. Es wartet meiner noch Arbeit in Galdames und Arboleda!«

Bisweilen brach auch die Dunkelheit herein, ehe er seine Aufgabe, die Toten über Pfade und Halden zu begleiten, beendigt hatte. So erinnerte sich Aresti an eine Mondscheinnacht, in der er von einem Nachbarort heimkehrte. Welch düsterer Gesang zerriß da plötzlich die nächtliche Stille? ... An ihm vorbei keuchte ein Mann, gebeugt unter der Bürde eines langen, schweren, in ein Bettuch gehüllten Bündels. Sodann tauchte ein Reiter auf, im mysteriösen Schatten der Nacht zu einer Art Zentaur vergrößert ...

»Qui dormiunt in terrae pulvere evigilabunt.«

Das Psalmodieren riß jählings ab.

»Guten Abend, Don Luis!« grüßte der Pfarrer. »Mit diesem sind es heute acht. Ein Armer, der an den Blattern gestorben ist. Ich habe ihn als letzten genommen ... Und dabei sagen Sie noch, daß die Kirche nicht arbeitet!«

Und von neuem seinen trüben Singsang anstimmend, setzte er beim Schein des Mondes seinen Weg zum Friedhof fort.

In Harnisch geriet dieser Seelenhirte aber unverzüglich, wenn man der großen Ausdehnung des Sprengels Erwähnung tat und der Schwierigkeit für einen einzigen Geistlichen, ihn zu versorgen. Caramba! Er besaß die nötige Kraft, um Gott zu dienen! Vor allem, was die Begräbnisse anbelangte! ... Jedesmal, wenn er eine Verkleinerung seines Kirchspiels befürchtete, entschloß er sich zu einem Besuch der Herren am Bischofsitz – nicht ohne vorher mit Schmerzen in seine Ersparnisse gegriffen zu haben. Und als man ihm endlich zwei Kapläne zur Unterstützung sandte, wies er diesen »die geringfügigeren Obliegenheiten der Kirche« zu, indes er selbst sich die Begräbnisse reservierte.

Die erstaunlichen Vermögen, die beim Bergbau gewonnen wurden, hatten seine Geldgier gereizt. Auch er schloß mit den Señores in Bilbao Verträge zur Lieferung von Erz ab, und häufig trabte die Begräbniseselin zu den Minen, damit ihr Herr einen Blick auf seine Arbeiter werfen konnte. Aber trotzdem seine Geschäfte gut gingen und ihm der Doktor Aresti bei einem fröhlichen Mahl die Beichte entlockte, daß sich seine Ersparnisse auf vierzigtausend Duros beliefen, gedachte er mit Bedauern der vergangenen Zeiten; damals, als er seinen Fuß zum erstenmal in seinen Sprengel setzte und man noch leben konnte, wie es einem gefiel, ohne Bischöfe und allerlei Behörden! Drahtseilbahnen, Bremsberge und alle derartigen neumodischen Beförderungsmittel waren ihm verhaßt. In der guten alten Zeit wurde das Erz von Ochsenkarren, deren Räder fröhlich durch die Berge knarrten, bis zur Flußmündung gebracht. Gewiß, man exportierte weniger, aber das Geld floß in eine größere Anzahl von Händen. In jenen Tagen hatte der Pfarrer sein Gotteshaus eingeweiht, zu dessen Schutzpatron er den heiligen Antonius erkor. Noch immer schmunzelte Aresti vergnügt bei der Erinnerung an die Naivität, mit der Don Facundo seine Wahl begründete: »Es kann doch gar nicht anders sein! Sankt Antonius ist der Schutzherr der Tiere, und hier in Gallarta gibt es so viele Ochsen ...«

 

Als der Pfarrer den heimeilenden Arzt erkannte, zügelte er sein Tier.

»Nach der Mine, wie?« fragte Aresti.

»So ist's, Caballero. Ich habe eben meine Messe gelesen und will schnell mal nachsehen, was meine Leute treiben. Man muß sich außer um die himmlischen Dinge auch um die menschlichen kümmern.«

»Aber heute ist doch Festtag? ...«

»Ah, Sie Spottvogel! Ich weiß schon, was Ihr Lächeln besagen will! Gewiß ist nach den Vorschriften unserer Mutter, der Kirche, heute Festtag, und die reichen Leute sollen die Feste auch innehalten. Aber ich möchte nicht, daß meine Arbeiter einen Taglohn verlieren – außerdem muß ich ja auch meinen kontraktlichen Verpflichtungen gegenüber dem Besitzer der Mine nachkommen ... Adiós, adiós, Don Luis, ich verlasse Sie, damit Sie nach Belieben über mich spotten können. Adiós!«

Er wollte seine Eselin schon wieder antreiben, als er sich nochmals umwandte, um zu fragen:

»Ich hörte, daß man das Meisterchen umgebracht hat ... Traurige Affäre! Er war ein guter Junge, anständig und sparsam. Aber so ist die Welt ... Hott, Eselchen!«

Und zufrieden, neue Arbeit vor sich zu haben, ritt er bergan.

Im Begriff, sein Haus zu betreten, wurde der Doktor von neuem aufgehalten, dieses Mal von einem Hünen, der auf der Treppenstufe saß.

»Das Frühstück ist kalt geworden, und den Zug werden Sie wohl auch nicht mehr erreichen!« schalt Catalinas ärgerliche Stimme im Hausflur. »Diesem Schlingel da habe ich bereits gesagt, daß Sie heute keine Zeit mehr für seine Jeremiaden haben.«

Statt auf ihre Worte zu hören, blieb Aresti bei dem Besucher stehen. Welch prächtiges Tier! schoß es ihm durch den Kopf. Aber er zitterte ein wenig für seine Finger, als der Gigant ihm seine harte, schwielige Hand entgegenstreckte. Unter der Bluse verriet sich bei jeder Bewegung eine durch schwere Arbeit entwickelte Athletenmuskulatur; das einfältige, enorme Gesicht erinnerte Aresti an die Riesen, die er als Kind auf den Festen in Bilbao bewundert hatte.

»Ich komme wegen der Sache von neulich«, begann der Mann linkisch, doch dem Doktor starr in die Augen sehend, als wäre er, um seine Forderungen durchzusetzen, zum Zuschlagen bereit.

»Die Sache von neulich? ... Welche? ... So viele Menschen kommen zu mir ...«

Plötzlich jedoch huschte ein maliziöses Lächeln über sein Gesicht.

»Richtig, ich weiß wieder Bescheid! Die Sache mit dem Krankenwärter. Du bist der Ehemann. Also was nun?«

»Sie müssen das regeln, Don Luis«, sagte der Gigant energisch, »oder ich mache einen furchtbaren Skandal. Ich erzählte Ihnen schon, daß ich die beiden in meiner eigenen Wohnung ertappte. Zeugen habe ich auch. Entweder nimmt der Mensch jetzt Vernunft an, oder er geht ins Gefängnis und sie in die Besserungsanstalt.«

»Schön, mein Freund. Doch was kann ich dabei tun?«

»Die Sache in Ordnung bringen, Herr Doktor. Dieser schamlose Kerl muß seine Strafe haben.«

»Aber du forderst zu viel. Ich erinnere mich jetzt, daß du zwanzig Duros verlangtest. Das ist mehr, als der kleine Krankenpfleger im ganzen Monat verdient.«

Der Hüne kratzte sich mit ratloser Miene den Kopf.

»Na gut«, brummte er schließlich, »meinetwegen fünfzehn ... oder sagen wir zwölf, weil Sie es sind, der sich für ihn verwendet. Aber mit weniger begnüge ich mich nicht. Bei zwölf bleibt es, oder ich gehe zum Richter. Was soll ich sonst tun? ... Wenn ich den Kerl totschlage, komme ich ins Zuchthaus, und meine Kinder sterben vor Hunger. Zahlen sollen sie ... zahlen ... wenn sie den Verliebten spielen wollen! ...«

Während Aresti sein aufgewärmtes Frühstück verzehrte und sich umkleidete, beschäftigte ihn die seltsame Psychologie mancher dieser Bergleute.

In ihrer Jugend töteten sie sich wegen eines jungen Mädchens, tanzten mit dem Messer in der Leibbinde, rücksichtslos entschlossen, sich die Auserkorene mit gutgezielten Stichen streitig zu machen. Einen Rivalen – wie das unglückliche Meisterchen – räumten sie aus dem Wege. Und sobald nach der Heirat das erste leidenschaftliche, durch den Mangel an Frauen noch gesteigerte Begehren gestillt war, gaben sie sich ganz der Arbeit hin, die ihren Willen und ihre Kräfte aufrieb. Sie vergaßen die Liebe, ja kamen fast dahin, sie zu verachten. Geld, Geld – nur dies beschäftigte noch ihren Sinn, als würden sie vergiftet von dem Hauch schnell erworbener Vermögen und wunderbaren Emporkommens, der über die Minen zu streichen schien. Und sahen sie sich dann dem Ehebruch gegenüber, so begnügten sie sich entweder, die Miene zu verziehen, wie bei einer alltäglichen Unannehmlichkeit, oder versuchten bisweilen sogar, aus ihrem Unglück in der Ehe Vorteil zu schlagen.

 

Mehr als sechs Monate waren seit Arestis letzter Fahrt nach Bilbao verstrichen, und als der Zug aus der Station El Desierto dampfte, empfand er daher beim Anblick des prächtigen Panoramas der Flußmündung dasselbe verwunderte Staunen wie der Bauer, der den Umkreis von Hof und Feld nur verläßt, wenn eine Sache von Bedeutung ihn nach der Stadt ruft.

Rückwärts verschwanden die Zwillingstürme der Hochöfen – »die Feudalburgen von Sanchez Morueta« nannte die der Doktor, wenn er auf die industrielle Glorie seines mächtigen Vetters zu sprechen kam. Der Zug glitt durch einen Tunnel, um dann dem Ufer zu folgen, vorbei an den Erzladestellen, die, gleich Bollwerken aus den Bergen herausspringend, meterhoch über dem Wasserspiegel endeten. Ihre Böschungen waren, sofern sie ausländischen Gesellschaften gehörten, ähnlich den Glacis moderner Befestigungen grün bewachsen; kleine Lokomotiven huschten hurtig und blinkend auf ihnen hin und her. Die der einheimischen Besitzer dagegen zeigten ein unangenehmes Rot; aus Schlacken aufgeschüttet, zerbröckelten sie unter der Einwirkung der Regengüsse, und bei ihrem Anblick erriet man den Geist ihrer Besitzer, die unfähig waren, ihre Betriebe durch den geringsten Schmuck dem Auge gefällig zu machen.

Unter den unaufhörlich rasselnden Kränen schliefen die Dampfer; ihren Rumpf verbarg das hohe Ufer, nur Schornsteine und Masten ragten darüber hinaus. Eiserne Kiepen holten aus den Schiffsbäuchen die englische Kohle, derer sich sofort die Drahtseilbahnen bemächtigten, um sie den Fabriken zuzuführen. Auf den Ausladeschienen liefen die mit Erz gefüllten Wagen, kippten, am äußersten Ende angelangt, über, als wollten sie sich ins Wasser stürzen, und ließen das rote Erz in den Schiffsraum prasseln. Das ganze Ufer kannte nur eins: auszuspeien und zu verschlingen – die ausländische Kohle in Empfang zu nehmen und das Erz seiner Berge auszuhändigen.

Flaggen aller Nationen flatterten am Heck der Schiffe; die exotischsten und unaussprechbarsten Namen glänzten auf ihren Seiten, und zwischen den geschwärzten Schornsteinen reckten Segler die schlanken Kreuze ihrer Bemastung in den blauen Himmel.

Während der Blick auf der einen Seite des Zuges das fieberhafte Treiben am Ufer umfaßte, offenbarte sich ihm durch das gegenüberliegende Fenster der Frieden der Felder, die bedächtige und ruhige Arbeit der Bauern beim Umlegen der tonhaltigen Erde. Schwitzende Mädchen mit hochgebundenen Röcken und nackten Beinen, über die Furchen gebeugt; weidende Kühe, die beim Nahen des Zuges das sabbernde Maul hoben, um gleich darauf wieder an dem kurzen Gras der Wiesen zu raufen. Am Rande der Bäche knieten Gruppen von Frauen und spülten ihre Wäsche in dem Gerinnsel von schmutzigem Blutrot – die Farbe, mit der die Erzwäschereien alle Gewässer in der Nähe Bilbaos, sogar die Fluten des Nervion, trübten. Das Wasser der wenigen kristallklaren Quellen im Gebirge scheuten die Bergleute, weil es den Appetit und die Verdauung anregte. Lieber verseuchten sie, um den Hunger zu betäuben, ihren Magen mit den Abwässern der Minen.

In der Mitte der weiten Flußmündung qualmten kleine Schlepper, jeder eine Kette von Schuten hinter sich; flinke Kutter flitzten meerwärts; große Dampfer teilten das Wasser mit unmerkbarer Bewegung, bis sie langsam an den Kais anlegten. Und über dem Wald von Schloten aus Ziegelsteinen oder Eisen schwebte der ewige Baldachin des modernen Bilbaos, der Schleier, in den es sich einhüllt, als wollte es schamhaft seine Größe verbergen – die vielfarbigen Rauchfahnen seiner Fabriken. Schwarz und wollig die einen, gleich dem Fell nächtlicher Herden; hell und von der Sonne vergoldet die anderen, oder bläulich dünn wie der Atem einer Feuerstelle auf dem Lande; dann wieder von einem knalligen Gelb, bei dem man noch das Knistern glühender Schlacke zu hören meinte. Überall kehrten sie wieder, diese Zeichen des Fleißes, eine charakteristische Note für den ganzen Landstrich rings um Bilbao. Mit den Schienensträngen liefen sie in die Schluchten der Berge, wanderten abwärts an den beiden Ufern des Mündungsbeckens, lasteten über den Schleppern und den sich drehenden Kränen.

»Bilbao ist groß geworden«, sagte sich Aresti voller Stolz. »Man muß gestehen, daß diese Leute viel geschafft haben. Schade nur, daß sie so wenig wert sind, sobald man sie aus ihren Geschäften herausholt!«

Die Docks tauchten auf mit ihren großen, trockengelegten Dampfern, an deren rotem Bauch ein Gekribbel von Arbeitern kratzte, schabte und malte. Das verlassene Kastell des berühmten Pik von Banderas glitt vorüber, das an den heroischen Weihnachtsabend Esparteros erinnerte, das Wunder der noch in aller Gedächtnis lebendigen goldenen Legende vom Liberalismus. Und dann erschien zwischen den Hügeln des linken Ufers mit einer monumentalen Großspurigkeit, die den Doktor ärgerte, die Universität von Deusto, das Werk der Jesuiten, der Herren der Stadt. Drei riesige Gebäudekomplexe mit einem grandiosen Park, der bis zu dem Gipfel, den eine Meierei krönte, aufwärts stieg. In diesem Park hatten die Jesuiten auf einer Bodenerhebung eine Bildsäule des heiligen Joseph aufgestellt, unter einen Bogen elektrischer Birnen. Während die guten Patres schliefen, gemahnte der leuchtende Halbkreis die Ortschaften an der Flußmündung und die Stadt Bilbao selbst daran, daß sich dort oben der mächtige, alles beherrschende Orden befand; immer bereit, Front zu machen, aber nie und nimmer gewillt, abzudanken oder unbeachtet zu bleiben – nicht einmal im Dunkel der Nacht. Den Doktor dünkte es ganz natürlich, daß der heilige Joseph für diese Verherrlichung ausersehen worden war; er, der resignierte, willenlose Heilige mit der grauen Reinheit der Ohnmacht. Wo fanden diese Erzieher ein besseres Modell, um die Gesellschaft der Zukunft zu formen? ...

Die Nähe der Stadt kündigte sich an. Auf der einen Seite erschienen vereinzelte Villen als Vorposten einer überquellenden, in ständiger Vergrößerung begriffenen Stadt. Auf der anderen bedeckten sich die Flußufer mit Speichern, Magazinen, Schuppen, Kränen. Schiff reihte sich an Schiff, festgelegt an den enormen Mauerringen der Kais, auf deren Steinen ein feuchter, schlammiger Streifen den Niveauunterschied zwischen Ebbe und Flut markierte. Und auf den Brettern, die Schiffe und Kai verbanden, sah man wie rastlos eilende Ameisen die Lastträger kommen und gehen: jämmerliche, ausgemergelte Frauengestalten in schmutzigen Kleidern und mit schwarzem Gesicht. Hier trugen sie auf dem Kopf die mit Kohlen gefüllten Körbe, dort schichteten sie Stockfisch – die Nahrung der Armen – zu gigantischen Massen.

Der Zug hielt, nachdem er sich noch durch einen letzten Tunnel hindurchgebohrt hatte, und eine lange Treppe brachte Aresti zu dem zentralsten Punkte der Stadt, wo sich der ganze Verkehr der Bevölkerung zu verdichten schien. Hier, neben der Arenalbrücke, hatte die industrielle Initiative, indem sie den Wassern des Flusses einen Teil seines Bettes raubte und sich nutzbar machte, drei große Bahnhöfe übereinander aufgebaut: für die Züge nach Portugalete, nach Santander und nach Madrid. Und die Brücke schied das neue Bilbao – das Gebiet der ehemaligen Republik Abando – mit seinen breiten, von schattigen Bäumen eingefaßten Promenaden, seinen sechsstöckigen Häusern und abgezirkelten Plätzen von dem Bilbao der alten Tradition, dem Bilbao der »Chimbos«, der eigentlichen Söhne des Landes, die dem Zustrom der Fremden in ihr Gebiet hatten zusehen müssen, bis sie ihnen an Zahl weit nachstanden. Hier waren die berühmten »Sieben Straßen«, der Kern der alten Stadt; hier die alten Kirchen, die überlebten Geschäfte und die bescheidenen, ehrlich erworbenen Vermögen der vergangenen Zeit. In der Neustadt hingegen reckte die Kirche der Jesuiten ihre Türme im Stil der Zuckerbäckergotik, und um sie herum gruppierten sich in strenger Geometrie die Luxushotels und die Villen der über Nacht zu fabelhaftem Reichtum gelangten neuen Kapitalisten.

Aresti ging am Ariga-Theater vorüber, das seine prätentiöse, von Karyatiden und Statuen überladene Fassade im Wasser des Nervion spiegelte, streifte mit einem Blick die Neugierigen und Bummler, die in den Kaffeehäusern des Boulevards von morgens bis abends ihre Zeit vertrödelten. Gegenüber dem Schweizer Café standen Gruppen von Börsenmaklern und lamentierten über den Rückgang der Geschäfte; die kleinen Straßenverkäufer riefen die neusten Madrider Zeitungen aus, und mitten durch das Gewühl schritten – allein, für sich – die Frauen, ihre Mantilla in die Augen gezogen, in der einen Hand das Gebetbuch haltend, während die andere den Rock so geschickt und knapp raffte, daß die üppige Schlankheit ihrer gutgewachsenen Figuren sich deutlich abzeichnete. In einem Punkt war in Bilbao alles beim alten geblieben: die Trennung der Geschlechter in der Öffentlichkeit. Der Mann besorgte seine Angelegenheiten, die Frau kannte als einzige Zerstreuung nur die Kirche oder Besuche bei ihren Freundinnen. Als daher ein Paar Arm in Arm Arestis Weg kreuzte, dachte er sofort:

»Das müssen Ausländer sein! Vielleicht auch ein von Madrid entsandter Beamter, ein Maketo, wie meine Landsleute sagen.«

Vom Turm der Sankt-Nikolas-Kirche schlug es elf, und der Doktor beeilte sich, seinen Vetter aufzusuchen. Sanchez Morueta bewohnte ein prächtiges Landhaus in der Villengegend, doch fuhr sein Wagen an jedem Tag schon frühmorgens in scharfem Tempo vor dem Büro in der Stadt vor. Wie ein Verfolgter stürmte der Großindustrielle ins Haus, mußte aber trotzdem sich häufig mit dem Ellenbogen einen Weg durch die Leute bahnen, die ihn mit wilden Geschäftsvorschlägen oder Darlehnsgesuchen vor der Tür erwarteten. Befand er sich erst einmal in seinem Arbeitszimmer, so war es äußerst schwierig, durch die Kette von Dienern und Angestellten bis zu ihm zu dringen. Auch bei der Rückfahrt setzte er den Fuß nicht früher auf die Straße, als bis der Kutscher vorgefahren war. Ein paar lange Schritte ... und kaum saß er im Wagen, so zogen zum Ärger der verblüfften Bittsteller, die stundenlang gewartet hatten, die Pferde an. Den »Oger von der Sendeja« hatten sie ihn getauft, nach der Straße, in der sein Geschäftspalast lag, und behaupteten – was den Tatsachen nicht entsprach –, daß sein Wagen nur einen einzigen Sitz besäße, um jede Begleitung auszuschließen. Ganze Monate konnten verstreichen, ohne daß das Arbeitszimmer von anderen Personen betreten wurde, als einigen Vertrauensleuten und seinen Abteilungsvorstehern. Mit den übrigen Industriellen der Stadt – manche von ihnen Jugendfreunde und Gefährten auf dem ersten Stück Wegs zum Reichtum – verständigte er sich, obwohl er das Du beibehielt, telephonisch, in einer knappen, trockenen Art, als hätte der Reichtum die alten kameradschaftlichen Gefühle erstickt.

Jetzt stand Aresti vor dem weitläufigen, altertümlichen Herrschaftshaus mit seinen schmiedeeisernen, in goldenen Knäufen endenden Balkongittern und dem verwitterten Steinwappen zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk. Das Haus gehörte einer alten frommen Dame, die sich hartnäckig weigerte, es an Sanchez Morueta zu verkaufen, weil sie ihr Vermögen unverändert der Kirche hinterlassen wollte. Mittlerweile genoß sie die Befriedigung, den reichsten Mann von Bilbao als Mieter zu haben.

Bevor sich der Arzt bei seinem Vetter melden ließ, ging er in die im Erdgeschoß untergebrachte Schiffahrtsabteilung, die einzige im ganzen Hause, bei der man nicht Gefahr lief, lange warten oder mit unnachgiebigen Portiers verhandeln zu müssen.

»Wo ist der Kapi?« fragte Aresti einen der hinter der Glaswand arbeitenden Angestellten.

»Nur herein, Planet!« rief jemand aus dem nächsten Raum.

Der Chef der Abteilung, Kapitän Matias Iriondo, kam Aresti mit ausgebreiteten Armen entgegen.

»Ich brauchte nur die Stimme zu hören, um zu wissen, wer da ist, Luisito«, sagte Iriondo mit dem lauten, etwas rauhen Tonfall eines Mannes, der gewohnt ist, sich unter dem Brüllen von Wind und Wogen verständlich zu machen. »Ei, ei, Planet! Ich finde dich etwas gealtert ...«

Für den Kapitän schieden sich die Männer in drei Klassen: solche, die ernsthaft an nützlichen Dingen arbeiteten und denen er überhaupt keinen Spitznamen beilegte; Tagediebe und Lotterbuben, die zu nichts taugten und die er Schutt benannte; und dann kamen noch die Planeten, sympathische, gute Leutchen, aber bar jedes praktischen Sinnes und nicht ernst zu nehmen: Männer von Talent, die mit ihm indes nichts anzufangen wissen; Künstler, die hübsche, nur leider unnötige Dinge herstellen; Verächter des Geldes, die alt werden, ohne aus der Armut herauszukommen. Und wer verdiente den Namen Planet mehr als dieser Arzt, der in Bilbao hätte Geld scheffeln können und sich statt dessen in den Minen vergrub! ...

»Ach, Planet!« fuhr der Kapitän fort, ohne Arestis Hand loszulassen. »Eine Ewigkeit, daß ich dich nicht gesehen habe! Und immer noch sammelst du Bücher und lernst Neues? Und immer noch ziehst du keinen Vorteil daraus, wie? Ich halte jede Wette, daß du noch keine tausend Duros zusammengebracht hast!«

Voll zärtlichen Mitleids lächelte er über seinen geliebten Planeten, der ein ewiges Kind blieb, ein unverbesserlicher Trotzkopf, den man gewähren lassen mußte.

»Kapi, du bist auch nicht mehr der Jüngste!« Aresti betrachtete den anderen mit nicht weniger Rührung. »Das Meer bekam dir doch besser.«

»Stimmt! ... Wenn man wenigstens noch häufiger mit der Flinte in die Berge könnte! Aber ich muß jede Woche fünf oder sechs Schiffe abfertigen ... Dein Vetter will die ganze Welt überschlucken, und wir arbeiten alle wie die Nigger ... Man wird alt, Luisito. Vergiß nicht, daß ich schon als Steuermann fuhr, als du noch im Garten deines Onkels spieltest!«

Trotzdem konnte Aresti nicht umhin, die Frische des Fünfzigjährigen zu bewundern. Klein und muskulös, neigte er jetzt dazu, Fett anzusetzen. Seine Haut war – wie er sagte – an allen Punkten des Äquators gebrannt worden und fast von gleicher Farbe wie sein dunkler Bart, den nur wenige weiße Fäden durchzogen. In seinen Augen, deren Blick, frank und frei, nie auszuweichen suchte, lag ein Ausdruck großer Güte. Ihm waren alle Dummheiten, die man auf dieser Erde nur zu begehen vermag, bekannt: redlich hatte er in seiner Jugend an dem Treiben der Seeleute teilgenommen, die nach Monaten der Absonderung und Enthaltsamkeit wie gierige Wölfe an Land gehen; hatte mit allen Getränken der Welt, einschließlich der teuflischen Gärungen der Schwarzen, angestoßen, hatte mit Frauen jeder Farbe, braunen und bronzenen, olivgrünen und roten, geliebelt und sich dennoch nach diesem abenteuerlichen Leben die ehrliche Einfachheit der Seefahrer, dieser Asketen der ungeheuren Horizonte, bewahrt, die beim Anlegen in den kosmopolitischen Häfen mit jedweder Fäulnis in Berührung kommen, ohne sich mit ihr zu verunreinigen, sie vielmehr sofort abschütteln, sobald sie in die Ozeaneinsamkeit zurückkehren.

Oft hatte der Doktor zugehört, wenn der Kapi, von Sanchez Morueta eingeladen, nach Tisch von seinen Reisen erzählte, sich an das Stirnrunzeln der Herrin des Hauses nicht kehrend, die jeden Augenblick eine Entgleisung des alten Seebären befürchtete. Es gab kein Meer auf dem Globus, in dem er nicht wenigstens einmal gewesen wäre. Als junger Mann betrieb er die Frachtschiffahrt zwischen Luzon und den Molukken und erfreute sich der Gönnerschaft des Sultans dort unten in einem Maße, daß dieser ihn als Zeichen seiner besonderen Huld einlud, sich unter den sechzig Frauen des Harems eine auszusuchen.

»Aber wozu? ...« meinte Matias Iriondo. »Für eine Kiste Manilazigarren hätte ich sie alle mitnehmen können, auch ohne Erlaubnis des Sultanchens.«

Später fuhr er für chinesische Händler zwischen Hongkong und San Franzisko, brachte Berge von Getreide von Odessa nach Barcelona und segelte auch verschiedentlich nach Australien und dem Kap der Guten Hoffnung. Und mit schamhaftem Lächeln streifte er seine Tollheiten in Habana in Gesellschaft einiger Kapitäne, die, freigebig wie Nabobs, tapfer und grausam wie die Konquistadore vergangener Jahrhunderte, den Gewinn ihrer afrikanischen Fracht – einen Schiffsraum, vollgestopft mit Negern – in wenigen Nächten verjubelten.

Überließ sich der Kapitän seinen Erinnerungen, so lebte in ihm auch die Sehnsucht nach dem intensiven Dunkelblau des Atlantischen Ozeans wieder auf, nach dem leuchtenden, durchsichtigen Grün des Antillenmeeres, der langen Schwellung des Pazifiks und den bleigrauen, nebelverhängten Gewässern des Nordens. Das Mittelländische Meer mit Häfen wie Alexandrien und Neapel, wahren Verwesungsstätten für allen Abfall Europas, verachtete er.

»Von Gibraltar bis Suez ... Betrüger zur Rechten und Betrüger zur Linken! Früher lagen sie dem Raub auf dem Meer ob, jetzt warten sie auf ihre Gelegenheit in den Häfen.«

Seine Neigungen kennzeichneten Matias Iriondo als treuen Sohn Bilbaos, im alten Stil. Ein großes Vergnügen bereitete es ihm, Sonntags in den Bergen Federwild zu schießen, und nicht minder gern stieg er abends zu einer der kleinen Tavernen am Wege nach Begoña hinauf, wo er sich nach biscayaischer Art zubereiteten Kabeljau gönnte, hinuntergespült mit dem säuerlichen Wein des Landes. Alle die kleinen Taverneninhaber waren seine Freunde, und wenn irgendwo ein neues Fäßchen angestochen werden sollte, schob einer von ihnen seinen Kopf in die Tür von Iriondos Zimmer und kündigte geheimnisvoll an:

»Kapitän, heute abend bei Echevarri! Lagert zwei Jahre!«

Und der Kapitän verließ fröhlich sein Büro, dessen bescheidene Ausstattung – ein alter Schreibtisch, einige Stühle und etliche Schiffsphotographien an den Wänden – nicht ahnen ließen, daß hier über Millionengeschäfte verhandelt wurde. Der einzige bemerkenswerte Gegenstand war ein riesiges, sehr schön ausgeführtes Barometer, ein Geschenk Sanchez Moruetas, das der ehemalige Seemann um so mehr in Ehren hielt, als ihn aus alter Gewohnheit das Wetter sehr kümmerte.

»Oft genug habe ich daran gedacht, mit dir einen Tag in den Minen zu verbringen«, sagte Iriondo, sich wieder hinter seinen Schreibtisch setzend. »Man geht bei euch viel auf Jagd, wie? ... Es scheint, als ob die Reichen keine andere Beschäftigung mehr haben! ... Ach, Planet, wie gut, daß du endlich mal gekommen bist! Wie wird sich Pepe Kosename für José. freuen! Vor vier Tagen sah ich ihn zum letzten Male. Du kennst ja seine Art – kommt und geht; Fragen oder Befehle teilt er mir durch dieses Sprachrohr mit. Aber ganz gut so: je weniger man mit ihm spricht, desto besser. Seine einzige Schwäche bist du ... du und der nette junge Sanabre, der Chefingenieur von der Hütte.«

»Und wie geht es meiner Kusine, der heiligen Doña Cristina? Hat sie die Soutanen schon in Haus und Hof eingeführt?«

Über das offene Gesicht des Kapitäns glitt ein Schatten.

»Ich weiß nicht ... ich ... sehe sie ja nur selten ...«

Er konnte seine Verwirrung nicht verbergen. Doch nach einem Weilchen fuhr er energisch fort:

»Weißt du, Luisito, jeder soll tun, was ihn gutdünkt. Ich habe für meine Schiffe Sorge zu tragen, und alles andere geht mich nichts an!«

Beide verstummten, als brächte die Erinnerung an Sanchez Moruetas Gattin etwas mit sich, das Worte und Gedanken erstarren ließ. Langsam stand Aresti auf, um zu seinem Vetter hinaufzusteigen.

»Warum den Umweg über die große Treppe?« meinte der Kapitän. »Benutze diese Wendeltreppe, dann bist du schneller oben. José hat mich auch eingeladen – also bis nachher! Und falls du noch keinen Appetit verspürst, so hat er Zeit genug, sich einzustellen; vor zwei Uhr wird nicht gegessen.«

Die Büros des ersten Stockwerks waren luxuriöser eingerichtet. Alles blitzte: die weiß lackierten Wände, die Schreibtische und Regale aus rötlichem Holz, die Kupferrücken der großen Rechnungsbücher. Auf den alten Kaminen standen elektrische Uhren, und an den Wänden hingen Pläne von Minen, Hütten, Hochöfen und Fabriken.

Aresti wurde sofort in das Arbeitszimmer gebeten, von dem man in Bilbao wie von einem geheimnisvollen Laboratorium sprach, in dem Sanchez Morueta nur durch Gedankenkonzentration Goldströme erzeugte.

»Wie geht es dir, Luis?«

Eine enorme, behaarte und dennoch schöne Hand streckte sich dem Arzt entgegen – die starke Hand eines prähistorischen Helden, die eigentlich zu einem viel größeren Körper gehört hätte. Trotzdem war Arestis Vetter so hochgewachsen, daß er diesen fast um die Länge seines Kopfes überragte. Und diesen Kopf mit ganz kurz geschnittenem Haar, breiter Stirn und ruhigen, klaren Augen, die ein kaltes Licht ausstrahlten, kannte die ganze Stadt. Ein patriarchalischer, die Aufschläge des Rockes bedeckender Bart milderte ein wenig die hervorspringenden Backenknochen wie auch das massive Kinn. Kopf- und Barthaar war ergraut, aber nichtsdestoweniger umgab den Mann ein Nimbus von Jugend, von überlegener Kraft, von kaltblütiger und hartnäckiger Energie. Er war schön wie die primitiven Menschen, die mit der feindseligen Natur, mit den wilden Tieren und mit ihresgleichen ohne andere Hilfsmittel kämpften als die Kraft ihrer Muskeln und ihres Gedankens und sich schließlich zum Herrn der Welt machten. Auf die beiden Herkulesfiguren anspielend, die, eine Keule in der Hand, das heraldische Schild des Baskenlandes bewachen, pflegte Aresti zu sagen: »Mein Vetter ist aus dem Wappen Biscayas herausgesprungen.«

Wie alle in rastloser Aktion befindlichen Männer war Sanchez Morueta wortkarg. Sekundenlang drückte er des Doktors Hand in der seinen – ein außergewöhnlicher Gefühlserguß –, um sich dann wieder seinem Sekretär zuzuwenden, der mit einem Wust von Papieren und Telegrammen neben dem Schreibtisch stand.

»Nimm Platz, Luis!« Seine Einladung klang wie ein Befehl. »Ich bin gleich fertig.«

Damit drehte er ihm den Rücken und vergaß ihn, während der Sekretär dem Vetter seines Chefs noch Reverenzen machte. Aresti kannte seit vielen Jahren dieses Männchen, das, als kleiner Angestellter eingetreten, jetzt den Vertrauensposten bei Sanchez Morueta bekleidete. »Doña Cristinas Hund«, nannte Iriondo den Sekretär spöttisch wegen der Protektion, die ihm von dieser Seite zuteil wurde, und des demütigen Gehorsams, mit dem er sie vergalt; und auch Aresti war er durch sein serviles Gebaren zuwider.

Während Sanchez Morueta die ihm vorgelegten Schriftstücke durchsah und dann und wann kurze Anweisungen gab, ließ sein Vetter den Blick durch das Privatkontor schweifen. Sie würden wohl alle enttäuscht gewesen sein, die sich überschwengliche Vorstellungen von dem Allerheiligsten des mächtigen Industriellen machten. Es war in Wirklichkeit ein sehr einfach gehaltener Raum: zwei große Balkonfenster mit dunklen Vorhängen; oberhalb der Holztäfelung eine Ledertapete, ein dicker Teppich und der riesige Schreibtisch mit einem Dutzend Ledersessel, so breit und so tief, als ob sie eigens zum Schlafen geschaffen wären. In einer Ecke stand der Stahlschrank, in der gegenüberliegenden eine antike baskische Truhe, deren geschnitzte Arabesken von einer urwüchsigen Kunst Zeugnis ablegten. An den Wänden hingen Reliefmodelle der modernsten Dampfer des Hauses und eine riesige Photographie des »Goizeko izarra« Morgenstern., der Jacht mit drei Masten und doppelten Schornsteinen, die das ganze Jahr hindurch in der Bucht von Axpe vor Anker lag, als hätte Sanchez Morueta seine Reiselust gänzlich eingebüßt. Nach Größe geordnet, reihten sich auf dem Kamin blank polierte Stücke von Schienen und andere Gußstahlerzeugnisse. Ein kleiner Aktenständer enthielt englische Bücher, Handelsstatistiken, Schiffahrtskataloge, Abhandlungen über Bergbau und Metallurgie; das einzige Buch, das sich einen Platz zwischen den Papieren auf dem Schreibtisch errungen hatte – mit Goldschnitt und Schließen wie ein Familienalbum ausgestattet –, war das letzte Jachtregister, bei dessen Durchblättern sich der durch seine Geschäfte an Ort und Stelle festgeschmiedete Millionär damit tröstete, wenigstens in Gedanken den Mächtigen der Erde folgen zu können, die, glücklicher als er, über die Meere schweiften. Das Mahagoniholz des Raums hatte den diskreten Glanz, wie man ihn in den Luxuskabinen der großen Überseedampfer antrifft.

»Alles in diesem Privatkontor atmet Solidität, genau wie der Chef selbst«, resümierte Aresti.

Wieder kehrte sein Blick zu den Händen seines Vetters zurück, einzigartigen Händen, die mit eigenem Leben und Denken ausgestattet zu sein schienen. Dick herausspringende Adern, deren Blutlauf dem Pulsschlag eines verborgenen Gedankens glich. Was konnte diesen prächtigen Fängen eines streitbaren und intelligenten Tiers widerstehen? ...

Mit einer energischen Bewegung schob Sanchez Morueta sämtliche Papiere zusammen, während seine kühlen grauen Augen den Sekretär aufforderten, sich zurückzuziehen.

»Don José«, sagte das Männchen, »darf ich mir erlauben, Sie noch an den Auftrag Doña Cristinas zu erinnern?«

Und da sein Herr ihn nicht gleich verstand, neigte sich der Sekretär flüsternd zu seinem Ohr.

Unschlüssig blickte der Millionär seinen Vetter an.

»Cristina bittet dich um eine Gefälligkeit – Sie möchte, daß du Don Tomas eine Visite machst, dem alten Geistlichen, der sie manchmal besucht. Tu es meinetwegen, Luis«, fügte er hinzu, als er das Unbehagen im Gesicht des Arztes bemerkte. »Ich möchte meine Frau heute, an meinem Namenstage, zufrieden sehen. Und dann handelt es sich ja nur um einen kurzen Besuch, denn der Alte ist, wie es scheint, bereits von allen Doktoren hier aufgegeben worden.«

In Blick und Stimme lag so viel Flehen, daß Aresti sich fügte, sichtlich zur Erleichterung seines Vetters. Ja, diesem von allen beneideten Manne, dem »Schoßkind des Glücks«, wie er ihn nannte, blieben im eigenen Heim Verdrießlichkeiten nicht erspart!

»Nimm meinen Wagen, Luis! Bis zu deiner Rückkehr ist auch meine Arbeit hier beendet. Goicochea wird dich begleiten. Also auf Wiedersehen!«

An des Sekretärs Seite fuhr Aresti durch die Gassen des alten Bilbao. Hier hatte sich nichts geändert. Dieselben Läden wie in seiner Kindheit. Derselbe Geruch nach neuen Lederschuhen; dieselben Baumwollstoffe von greller Vielfarbigkeit ... Mühsam kletterten die Pferde die schroffe Steigung nach Begoña Begoña ist ein berühmter Wallfahrtsort. hinan. Der Ausblick erweiterte sich: grüne Felder wechselten mit kleinen Eichenwäldern, aus denen weiße Hütten hervorlugten. Zum ersten Male brach an diesem Tage die Sonne durch und verlieh dem über der Stadt hängenden Rauch eine leuchtende Durchsichtigkeit, als wäre er aus duftigem Gold. Vereinzelte Häuser standen am Wege, über deren Tür das Zweiglein grünte, das dem Wanderer das gute einheimische Gewächs ankündigt. Daneben ein Schild mit der Aufschrift: »Hier werden Böller verkauft!«, weil ohne ihr Krachen und Knallen keine Wallfahrt vollständig ist.

Goicochea, der glaubte, es dem Vetter seines Herrn gegenüber am schuldigen Respekt fehlen zu lassen, wenn er sich schweigend verhielt, sprach von dieser Gegend mit einer gewissen Begeisterung.

»Ich komme gern hier durch, Herr Doktor, da mich alles an meine Jugend gemahnt ... an die Tage der Belagerung.«

Durch Arestis fragenden Blick ermuntert, fuhr er fort:

»Dort, am Gefängnis, zogen sich die feindlichen Linien hin. So nahe standen wir uns gegenüber, daß nachts die Schildwachen der beiden Parteien miteinander schwatzten, Zigarren tauschten und sich mit Brennholz für die Lagerfeuer aushalfen, um sich dann beim Morgengrauen gegenseitig zu töten.«

»Sie gehörten, wie mein Vetter, zu den Liberalen?«

Goicochea hüpfte in seiner Verwirrung ein wenig von den weichen Polstern hoch. Aber schnell fand er seine ruhige Demut wieder.

»Aber nein, Herr Doktor! Ich war Sergeant in einem Karlistenbataillon und führte die Rechnungen ... Jugendstreiche, Don Luis! Damals hatte ich auch noch nicht die acht Kinder, die mir das Leben schwer machen. Heute lache ich natürlich über diese Torheiten und bin auch kein Karlist mehr; und das nämliche gilt für die meisten von denen, die damals ihre Haut zu Markte trugen.«

»Was seid Ihr denn?«

»Was sollen wir wohl sein? Wissen Sie es wirklich nicht, Don Luis? ... Separatisten! ... Biscaya soll wieder werden, was es war: ein Land mit gesegneten Sondergesetzen und viel, sehr viel Religion! ... Wer hat uns denn diese schlimme Pest von Freiheit mit all ihren Gottlosigkeiten ins Land gebracht? Die Leute von der anderen Seite des Ebro, die Maketos. Und Don Carlos ist auch schon von diesen liberalen Ideen angesteckt; bedenken Sie nur dieses skandalöse Leben, das er führt, so ganz unziemlich für einen Katholiken ... Mögen die Spanier doch unter sich bleiben, Don Luis, und das ehrenwerte Bizkaya in Frieden lassen – unser Bizkaya mit einem k, nicht wahr? Denn sogar mit dem Namen unseres Landes haben sie Kuddelmuddel getrieben! ...«

Und um seinen Protest gegen die neue Orthographie Spanisch Viscaya. zu unterstreichen, malte er mit dem Zeigefinger lauter k in die Luft.

Jetzt rollte der Wagen über die Höhen von Begoña. Der Weg schlief inmitten eines klösterlichen Friedens. Auf seinen beiden Seiten erhoben sich große Gebäude neuerer Konstruktion: Klöster, die teils von den alten Mönchsorden, teils von Nonnen, deren Gemeinschaften jüngeren Datums waren, bewohnt wurden. Der Frömmigkeit der reichen Señoras von Bilbao verdankten diese Paläste, zu denen ein gut Teil der Einkünfte aus den Minen seinen Weg fand, ihre Entstehung; immer fließende Almosen nebst testamentarischen Legaten bedeckten diesen Teil des Artaganberges mit Klöstern und Kirchen. Das mönchische Schweigen hier stand im scharfen Gegensatz zu dem Summen und Sausen der Stadt dort drunten, in der zu dieser Stunde das Fieber der Arbeit seinen Höhepunkt erreichte. Bisweilen ertönte in den Türmchen aus rotem Backstein bedächtig und faul eine Glocke, unsichtbare Menschen rufend; oder es öffnete sich knarrend ein Portal und ließ eine weiße, steifgestärkte Nonnenhaube, einen schattigen Gartenwinkel sehen.

Goicocheas Geschwätzigkeit beschäftigte sich jetzt mit dem kranken Don Tomas. Ein Heiliger, zu dem früher auch Doña Cristina beichten ging! Aber wenn die Jungfrau kein Wunder tat, würde er wohl bald sterben! ...

Der Wagen kreuzte den Platz der Republik – der Republik von Begoña! –, der noch immer seinen alten Namen trug, und hielt neben der Kirche mit dem berühmten Madonnenbild. Von seinem Begleiter geführt, betrat Aresti das Pfarrhaus, wo Don Tomas in einem Sessel vor dem Herannahen des Todes zitterte. Als er den Arzt erkannte, mit dem er im Hause Sanchez Moruetas mehr als einmal diskutiert hatte, glomm in seinen Augen ein Hoffnungsfünkchen auf ... vielleicht vermochte ihn der Doktor durch diese Wissenschaft zu retten, die er bei ihren Auseinandersetzungen so sehr zu verfechten wußte ...

Aber die Untersuchung ergab ein trauriges Resultat. Das Herz war unheilbar krank, verbraucht. Und wiewohl Aresti dem Kranken durch freundliches Zureden Mut einzuflößen versuchte, erriet der Greis mit seinem durch Angst geschärften Argwohn die Fruchtlosigkeit der Kur, die ihm der Doktor, um überhaupt etwas zu verordnen, vorschlug.

»Dasselbe, was auch die anderen sagen!« seufzte Don Tomas. »O heilige Jungfrau von Begoña! ... Heilige Jungfrau von Begoña! ...«

Der verzweifelte Ton, mit dem er zu der Madonna rief, enthüllte den Egoismus des Lebens, der sich an die letzte Hoffnung klammert und mit der Illusion, daß zu seinen Gunsten alle Gesetze gebrochen und umgestürzt werden könnten, ein Wunder erfleht.

Als sie wieder draußen auf dem Platze standen, blickte Goicochea zur Kirche hinüber und zog andächtig seinen Hut.

»Könnten wir nicht einen Augenblick hineingehen, Don Luis? Sie haben wahrscheinlich die Jungfrau noch nicht gesehen, seit man sie zur Herrin von Biscaya gekrönt hat. Wie schön ist sie, Don Luis! ... Ich möchte auch für den armen Don Tomas ein Gebet verrichten.«

Aresti willfahrte ihm. Er hatte diese Kirche, zu der jetzt alle der spanischen Nationalität und dem Fortschritt feindlichen Gefühle des Landes hinströmten, zum letztenmal als Kind betreten, und es interessierte ihn, die Veränderungen zu sehen, die die Bigotterie der Reichen dort unten dem Gebäude hatte angedeihen lassen.

Wie an alle baskischen Kirchen schlossen sich auch an diese die üblichen Arkaden, wo die Einwohnerschaft vormals zusammenkam, um nach der Messe über die Gemeindeangelegenheiten zu beraten.

Durch eine Seitentür gelangten sie in das Gotteshaus, und während Goicochea schnurstracks zum Hauptaltar schritt und sich mit der Miene frommer Zerknirschung vor der Madonna auf die Knie warf, wanderte Aresti neugierig umher. Die Betstühle, Bänke und Altäre erregten sofort seine Aufmerksamkeit. Es waren Stücke aus der Pariser Kunsttischlerei des Saint-Sulpice-Viertels, die – in den Dienst der Gläubigen gestellt – Hauskapellen für elegante Damen mit demselben raffinierten Geschmack anfertigt, den andere Werkstätten des gleichen Handwerks auf ein kokettes Schlafzimmer oder Boudoir verwenden. Leider aber harmonierte der hier entfaltete künstlerische Geschmack der Jesuiten so gar nicht mit der strengen, schmucklosen Gotik der Kirche. Von den Pfeilern hingen wie Siegesstandarten die Banner der verschiedenen Wallfahrten, und die Wände verschwanden unter steinernen Gedächtnistafeln mit baskischen Inschriften oder unter schauderhaften Gemälden, denen die Aufgabe zufiel, die Krönung der Jungfrau zu verewigen.

Mehr interessierten den Arzt die grob und naiv gemalten Votivbilder, die sich in Augenhöhe längs der Wände hinzogen und die baskische Besatzungen der Madonna von Begoña, der allein sie ihre Rettung aus Seenot verdankten, gewidmet hatten. Die Malerei stellte wütende Wasserberge, mastenlose, vom Sturm umhergeschleuderte Schiffe dar, auf die aus finsterer Wolkenwand roten Regenwürmern ähnelnde Blitze herniederzüngelten. Als Kunstwerke reizten sie Aresti zum Lächeln, aber dessenungeachtet betrachtete er sie mit Respekt, weil sie von tragischen Stunden kündeten. Die ältesten, bereits stark nachgedunkelten Bilder zeigten Brigantinen und Fregatten mit zerfetzten Segeln, sich bäumend über den Wogen; die moderneren dagegen gefährlich geneigte Dampfer, deren Deck von Wassermassen gefegt wurde.

Goicochea hatte seine Gebete beendigt und gesellte sich wieder zu Aresti. Mit dem Behagen eines Mannes, der die Schönheiten seines eigenen Hauses vorführt, wies er auf die Statue.

»Schauen Sie! ... Ist sie nicht herrlich? ... Und wie gut ihr die Krone steht! ...«

Der Doktor sah sich die Statue an – den baskischen Fetisch, wie er sie seinen Freunden in Gallarta gegenüber nannte – und fand sie grotesk häßlich wie alle übrigen berühmten und wunderwirkenden spanischen Bildnisse. Ihren kleinen Kinderkopf schien eine hohe, ballonartige Krone schier zu erdrücken; bis auf die Füße senkte sich, gleich einer Krinoline, der mit edlen Steinen besäte Mantel. Der Diamanten-, Smaragden- und Perlenreichtum – mit vollen Händen dargebracht, als könnte sein Funkeln die Schönheit der Madonna erhöhen – floß sogar über auf das Kind, das sie in den Händen hielt.

»Das sind Schmucksachen, wie?« begeisterte sich Goicochea. »Aber so etwas sieht man auch nur bei uns. Hier gibt es eben Religion und Reichtum!«

Unwillkürlich dachte Aresti an die Tausende schmutziger, bedauernswerter Bergarbeiter. Ob auch sie beigetragen haben mochten zu diesen unnützen Geschenken, von Glauben und Prahlerei einiger weniger einem Stück geschnitzten Holz angehängt? ...

»Ah, wenn Sie der Krönung beigewohnt hätten!« fuhr Goicochea mit gedämpfter Stimme fort. »Noch bei der Erinnerung überläuft mich ein Schauer der Begeisterung! Weinen mußte man vor Rührung, Don Luis, weinen ... Vierzehn Bischöfe und vierzehn Tage Wallfahrt! Ganz Biscaya zog an der Jungfrau vorbei: an einem Tage die Señoras, an einem anderen die Dienstmädchen, dann die Handwerker und vor allem die Dörfer in Massen, ihre Pfarrer an der Spitze. Und überall unter freiem Himmel Predigten der Jesuitenpatres, aber gute Predigten, Don Luis! Predigten auf baskisch, in denen einem erklärt wurde, was die Krönung der Jungfrau zur Herrin Biscayas bedeutete. Beachten Sie es wohl, Don Luis? Herrin! Diese ganze Geschichte mit König und Königin ist gut für die Maketos. Unser Biskaya kannte nur Herren; sogar der liebe Gott selbst heißt bei uns »Jaungoicoa«, der Herr von oben. Vom Tage der Krönung an haben wir daher moralisch Schluß gemacht mit denen jenseits des Ebro. Trennung für ewig! ... Das Ganze war glänzend organisiert – doch gehen wir lieber, unser Sprechen stört hier ...«

Goicochea flüchtete vor den Blicken, die ihm ein paar alte, auf den Knien liegende Bäuerinnen zusandten. Aber vor dem Portal mußte er seiner Begeisterung nochmals freien Lauf lassen.

»Haben Sie auch all die Votivbilder gesehen? ... Zeugen so vieler Wunder, die sie tat! Rührt Sie das nicht? ...«

»Mich rührt«, versetzte Aresti ernst, »die Frömmigkeit der Seeleute, die barfüßig mit ihrer Gabe für die Jungfrau hierherkommen, weil sie dicht vor dem Schiffbruch standen und doch nicht Schiffbruch erlitten. Der Glaube ist etwas Großes! Aber was ihnen begegnete, begegnet fast täglich auch englischen, amerikanischen oder schwedischen Seeleuten, die meist Protestanten sind oder manchmal gar nichts – auch sie werden gerettet, obwohl sie keine Jungfrau von Begoña haben, deren Schutz sie sich empfehlen ... Und wie viele Basken sind andererseits ertrunken, nachdem sie zur Jungfrau gefleht hatten! Diese vielen, vielen haben nicht hierherkommen können, um es zu erzählen.«

Der kleine Sekretär zuckte vor Entrüstung zusammen.

»Don Luis«, mahnte er dann in süßlichem Ton, »bedenken Sie, daß Sie nicht in den Minen, sondern an der Tür zum Hause der Jungfrau sind und daß sie Sie strafen kann!«

»Spotte ich denn über den Glauben? ... Der Mensch ist von Natur aus feige in einer Gefahr, die seine Kraft übersteigt. Es genügt, daß er sich als verloren ansieht, um gleich an das Wunderbare zu glauben und es zu erhoffen. Ich erinnere mich an einen englischen Ingenieur White in Gallarta, einen aufgeklärten Protestanten, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Bilderdienst der Katholiken verspottete. Als ihm aber eines Tages ein entlassener Arbeiter einen tödlichen Messerstich beibrachte und ihm klar wurde, daß ärztliche Kunst ihn nicht retten konnte, flehte er – genau wie Don Tomas – seufzend die Jungfrau um Hilfe an, klammerte sich an den Glauben der unwissendsten Dörflerin.«

»Und kam er mit dem Leben davon?« fragte Goicochea atemlos, in der Hoffnung auf ein Wunder.

»Nein. Er starb nach wenigen Stunden, genau so, als ob er niemanden angefleht hätte.«

Um weiteren Lästerungen des Doktors vorzubeugen, lenkte Goicochea die Unterhaltung ab.

»Welch schöne Aussicht!« sagte er, auf die zu ihren Füßen liegende Stadt und die von Bergen eingerahmte Bucht deutend. »Dies ist der schönste Balkon Biscayas. Wieviel Arbeit umfaßt der Blick von hier aus! Wieviel Reichtum!« In vertraulichem Ton fuhr er fort:

»Wenn man sieht, wie unsere Heimat aufgeblüht ist, dann verstehe ich auch die Unmöglichkeit neuer blutiger Konflikte. Heute würde ein dritter Bürgerkrieg den Untergang Biscayas bedeuten. Deswegen haben wir auf unser altes Panier Verzicht geleistet, sind aber in allem, was unsere heilige Religion betrifft, um so unnachgiebiger. Und nichts von Königen! Hier gibt es nur Biscaya und seine Heiligste Herrin. Wir kennen den richtigen Weg. Ob Juan oder Alfonso in Spanien regiert, ist uns gleichgültig – uns kümmert nur Biscaya und Gott ... Und Gott – Sie wissen es – steht über König und Reich.«

»Nur weiter, Señor Goicochea!« forderte Aresti das Männlein auf, als es, durch des Arztes amüsiertes Lächeln eingeschüchtert, verstummte. »Mich interessiert das alles, denn schließlich bin ich ja ein Sohn des Landes, wenn ich auch nicht die Ehre habe, Separatist zu sein ... Wie werden wir es erreichen, daß Bizkaya – mit k – sich von dem verhaßten Joch Spaniens befreit? Lassen Sie auch nicht außer acht, daß diesem seine rotbehosten ›Guiris‹, die heute genau so schnell wie früher zum Feuern bereit sind, zur Verfügung stehen?«

Aresti ahmte beim Aussprechen dieses Spitznamens die verächtliche Betonung nach, mit der er einige Goicochea verwandte Seelen ihn auf die spanischen Soldaten hatte anwenden hören.

»Ohne Krieg wird es sich vollziehen! Es ist eine Frage der Zeit, Don Luis, der Zeit und der guten Leitung. Ganz allmählich kommen wir vorwärts. Entweder zwingen wir Spanien unsere gesunden Sitten und den reinen Glauben unserer Vorfahren auf, oder wir sondern uns ab und leben unabhängig wie jene südamerikanische Republik, die so glücklich vom Heiligen Herzen Jesu regiert wurde Paraguay, wo von 1605 bis 1750 die Jesuiten die Regierung inne hatten.

Und nach den Höhen weisend, auf denen die Universität von Deusto lag, in seinen Augen das Heiligtum aller menschlichen Weisheit, rief er aus:

»Dort sind die, die alles leiten und mit allem Bescheid wissen. Dort wird die Zukunft vorbereitet.«

»Das hat noch gute Weile, Señor Goicochea«, meinte der Doktor, indem er zum Wagen ging.

»Mag sein, Don Luis! Die ständige Einwanderung von Leuten, die alle schlechten Sitten Spaniens mit sich bringen, erschwert natürlich unser Vorhaben. Täglich nehmen sie an Zahl zu, so daß man baskische Namen in Bilbao bald mit der Laterne suchen kann. Alle heißen Martinez oder Garcia, und fast hört man in Madrid mehr baskisch sprechen als hier bei uns. Das ist eine der großen Plagen, die unser Aufschwung mit sich gebracht hat. Aber es wird schon gehen! Ich denke wie jener Moreno Unter dem Einfluß der Jesuiten stehender Präsident von Ecuador., der Ecuador beherrschte und, wie die Patres von Deusto erzählen, der größte Staatsmann seines Jahrhunderts gewesen ist. Wissen Sie, was er sagte, als er den Dolchstich erhielt, der ihm das Leben kostete? ... ›Gott stirbt niemals!‹ Ich sage dasselbe. Gott stirbt nie, und ebensowenig wird Biscaya sterben, weil es um der Liebe willen, die es der Heiligen Mutter Gottes entgegenbringt, seine Lieblingstochter ist.«

Während der ganzen Rückfahrt sprach er kein Wort mehr; Arestis ironische Blicke schienen ihn schließlich doch verletzt zu haben. Ja, ja, ein würdiger Vetter Sanchez Moruetas! dachte der kleine Sekretär; denn mit all seiner äußeren Unterwürfigkeit empfand er einen gewissen Widerwillen gegen seinen Chef, diesen schweigsamen Mann, der – ohne mit seiner Gottlosigkeit zu prahlen – außerhalb der Religion lebte und monatelang nicht zur Messe ging. Und welch tiefen Verdruß bereitete dieses Verhalten der frommen Doña Cristina! ... Seltsame Männer, diese beiden! Kaum glaublich, daß sie wirklich aus dem Baskenlande stammten, der Heimat so zahlreicher Heiliger! ...

Um zwei Uhr mittags befand sich Aresti von neuem im Wagen, in Gesellschaft seines Vetters und des Kapitäns Iriondo.

»Du ruhelose Seele!« wandte er sich an Sanchez Morueta. »Fährst du noch immer jeden Tag nach Bilbao?«

»Jeden Tag. Als ich das Landhaus baute, glaubte ich, mich dort draußen wochenlang in den Anblick des Meeres versenken zu können ohne einen Gedanken an Geschäfte. Aber morgens wandere ich von einem Fleck zum anderen, bis ich zu guter Letzt anspannen lasse. Abends ist es anders. Da sitze ich im Garten und lausche Pepitas Klavierspiel.«

»Glückliches Familienleben! ...« sagte Aresti.

Sein Vetter warf ihm einen fragenden Blick zu, als vermutete er irgendeinen geheimen Sinn dieser Worte.

»Gewiß!« bestätigte er. »Ich liebe ein schönes Familienleben. Leider nur kann es in diesem Bilbao niemand nach seinem Gefallen genießen – frei von fremdem Einfluß! Du weißt es zur Genüge, Luis!«

Er schwieg, während der Doktor, von schmerzlichen Gedanken heimgesucht, den Kopf senkte. Die Prunkvillen des Campo del Volantin flogen vorbei, dann die Gitter und Freitreppen der Universität von Deusto.

Erst als der Wagen durch Olaveaga rollte, raffte sich Aresti aus seinem Sinnen auf. Hier war ihre Heimat; in diesem Dorf waren sie geboren, er, Sanchez Morueta und der Kapitän Iriondo. Und die Jugend stieg vor seinem Auge auf, und mit der Jugend auch die Gestalt des Patriarchen der Familie, Juan Sanchez, des Vaters von Sanchez Morueta, der sie alle aus dem niederen sozialen Niveau, in dem sie geboren wurden, herausriß.

Er war kein Einheimischer gewesen, sondern aus einem Dörfchen bei Santander zugewandert; hatte sich als Schiffer in Olaveaga niedergelassen und bald darauf ein junges Mädchen aus dem Ort, Benita Morueta, geheiratet, das eine kleine Gärtnerei besaß, deren Erzeugnisse in Bilbao verkauft wurden. Beide plagten sich redlich: die Frau an ihren Beeten und er auf dem Fluß, der damals mit seinen Sandbänken und urplötzlich eintretendem Hochwasser, das ihn in einen reißenden Strom verwandelte, an Gefahren dem Meere nicht viel nachstand. Die großen Schiffe blieben weit draußen auf der Reede liegen, so daß alle Fracht auf Leichtern zur Stadt gebracht werden mußte, und eine Fahrt von Bilbao nach Portugalete war immer ein gewisses Wagnis.

Infolgedessen verdienten die Schiffer gut, besonders Juan Sanchez, den die Handelshäuser wegen seiner Umsicht bevorzugten. Er kannte die Gewässer wie seine Tasche, und wenn es einen in Not geratenen Leichter zu retten galt, rief man ihn. So legte der Tüchtige allmählich ein Vermögen zurück für seinen einzigen Sohn, den später so berühmten Sanchez Morueta. In jenen Tagen ging der künftige Millionär jeden Morgen nach Bilbao zur Steuermannsschule, denn sein Vater wollte aus ihm einen Seemann machen, aber einen Seemann, den sein Studium befähigte, alle Meere zu befahren und Handel im großen zu treiben, wie er selbst ihn im kleinen auf der Flußmündung betrieb. Und der brave Sanchez, der Eigentümer einer nicht geringen Anzahl von den Leichtern, die den Nervion furchten, teilte seine Zärtlichkeit zwischen seinem Sohne José und dem viel jüngeren Neffen Luis Aresti, dem Sohne seiner Schwägerin. Beide Töchter aus dieser Gärtnersfamilie hatten sich mit Seeleuten verheiratet. Aber die Frau von Juan Sanchez begünstigte das Glück mehr als ihre jüngere Schwester, deren Mann, Chomin Aresti, im Kantabrischen Meer der Küstenschiffahrt oblag und immer der Gefahr ausgesetzt war, in einem der berüchtigten Nordoststürme umzukommen. Nach achtjähriger Ehe trat die Katastrophe ein ... Chomin ging mit seinem Schiff unter, und die Witwe, den künftigen Doktor Aresti – damals sechs Jahre alt – an der Hand führend, kam verzweifelt zum Haus ihres Schwagers.

»Kopf hoch!« sagte Juan Sanchez. »Anderen geht es schlechter als dir, die du noch deine Schwester und mich hast. Du wirst nicht Hungers sterben, denn, wie es scheint, werde ich noch einmal ein reicher Mann sein! Und was den Jungen anbetrifft, so will ich Vaterstelle bei ihm vertreten – weißt ja, daß ich schon oft hätte aus der Haut fahren mögen, weil mir meine Frau nur ein Kind geschenkt hat!«

So war es in der Tat. Dem Schiffer wär es lieb gewesen, wenn der Kindersegen mit dem steigenden Wohlstand gleichen Schritt gehalten hätte. Er fand sich schwer damit ab, den hochaufgeschossenen Sohn nicht mehr auf dem Arm herumschleppen zu können, und stürzte sich daher mit wahrhaft väterlicher Schwärmerei auf den Knirps. Zu allen Stunden sahen ihn seine Mitbürger mit dem Bübchen an der Hand, bald auf dem Deck eines Leichters, bald am Gestade der Bucht. Auch der ernste, verschlossene José begegnete dem kleinen Vetter mit einer rührenden Liebe, die seine Eltern überraschte. Führten den Schiffer Geschäfte nach Bilbao, so trabte Luisito mit von Kontor zu Kontor, artig auf einer Bank wartend, bis alle Rechnungen erledigt waren. Abends nahm ihn der Onkel auf seine Knie und summte ihm die Liedchen der Schiffer vom Nervion vor, erzählte auch wohl Mären, denen er selbst den Wert undiskutierbarer historischer Wissenschaft beimaß. Besonders gern berichtete er über die Entstehung Bilbaos. Einige Fischer hatten an der Flußmündung ihre Hütten errichtet, ohne zu wissen, welchen Namen sie der neuen Siedlung geben sollten. Als sie eines Tages, verdrossen und trübsinnig am Ufer sitzend, darüber nachgrübelten, warf einer von ihnen zum Zeitvertreib einen leeren Krug in die Wellen. Bil, bil, bil sang das hineinströmende Wasser; doch während der beinahe gefüllte Krug versank, ließ er noch ein sonores bao hören. »Bilbao, Bilbao soll der Name sein! ...« riefen die Fischer erfreut.

Und mit Befriedigung stellte Juan Sanchez das gläubige Staunen fest, das ihm aus den weitaufgerissenen Augen des Kleinen und der beiden Frauen entgegenleuchtete.

Die Jahre vergingen, und sie brachten große Veränderungen für die Familie. José tat nach Ablegung seiner Steuermannsprüfung anfänglich Dienst an Bord eines zwischen Bilbao und England verkehrenden Dampfers. Aber sei es, daß ihm der Seemannsberuf nicht zusagte, sei es, daß er schneller voranzukommen wünschte – jedenfalls blieb er eines Tages in London, wo er als Angestellter in ein Londoner Handelshaus eintrat, das hauptsächlich Geschäfte mit seiner Heimat tätigte.

Seine Mutter starb ganz plötzlich. Noch beim Verlassen dieser Welt hielt sie die Hände ausgestreckt nach ihren Gemüsen: man fand sie mit dem Gesicht nach unten auf einer frischen Furche der lehmigen Erde liegen, die sie von Kindesbeinen an bebaute, und von der sie sich trotz des Einspruchs ihres Gatten nicht trennen mochte. Juan Sanchez fühlte sich nach ihrem Weggang noch enger mit seiner Schwägerin und seinem Neffen verbunden; sein Sohn in London schrieb ihm äußerst selten – er schien jegliches Interesse für Biscaya verloren zu haben.

Dann begannen sich die Anfänge des Bergbaues zu regen, und bald erwog man auch, ob es nicht ratsam sei, die Mündung des Nervion auszubaggern, um den Schiffen ein direktes Anlegen an den Kais der Stadt zu ermöglichen. Lebt wohl, ihr Leichter! ... Statt seine Zeit an ein Geschäft zu verschwenden, dessen Ruin er kommen sah, widmete sie der Alte, dem sein Vermögen eine sorgenlose Zukunft sicherte, hinfort lieber uneingeschränkt dem kleinen Luis.

Er zitterte vor Rührung, wenn die Professoren dem Fleiß und der Intelligenz des Knaben das höchste Lob zollten.

»Wo mag der verflixte Bengel nur den klugen Kopf herhaben? ...« äußerte er sich zu Bekannten. »Hätte es einer dem Chomin Aresti zugetraut, daß er solch einen Sohn in die Welt setzen könnte!«

Und wieder verstrich die Zeit, und eines Tages mußte sich der jetzt sechzehnjährige Luis für einen Beruf entscheiden.

»Nun sag mal frei heraus, mein Junge, was dir das liebste ist«, forderte ihn Sanchez auf. »Hier steht dein Onkel Juan mit offener Tasche, um alles zu bezahlen ... und wenn du Papst werden möchtest. Nur werde nicht Seemann; mit einem haben wir genug in der Familie! Arzt? ... Hm! Wirklich Arzt? ...« Der alte Schiffer hatte irgend etwas Glänzenderes erträumt, wenngleich er wohl kaum hätte angeben können, wohin sein Ehrgeiz zielte. »Bleibt's also beim Arzt? ... Na ja, meinetwegen. Los auf die Medizin!«

Und damit die Sache »ordentlich« erledigt würde, sandte er den Neffen auf die Universität von Madrid. Was tat's, wenn es mehr kostete? Dafür hatte er ja sein Lebtag gearbeitet. Und ein klein wenig schmeichelte ihm der Gedanke, daß eines Tages die Kinder derer, die ihn selbst barfuß und abgerissen auf dem Nervion hatten rudern sehen, seinen Neffen, den »Herrn Doktor«, konsultieren würden.

Während Luis studierte, vollzog sich die tolle Schicksalsfügung, die Sanchez Morueta aus der Obskurität herausriß. Völlig unerwartet stand er auf der Schwelle seines väterlichen Hauses. Er kam, um einen Schatz zu erobern, und kam, seine in England gemachten Studien und Beobachtungen verwertend, lange vor allen anderen. Das Bessemerverfahren, das soeben eine völlige Revolution auf dem Gebiete der Metallurgie bewirkt hatte, benötigte phosphorfreie Erze. Wer zuerst die Hand auf die Erzvorkommen Bilbaos legte, die an Reinheit alle anderen übertrafen, mußte ein Krösus werden.

»Ich brauche Geld«, forderte José Sanchez Morueta, »damit ich es in kürzester Zeit verhundertfache!«

Der alte Schiffer, obschon er kaum die Hälfte von den Ausführungen seines Sohnes verstand, glaubte an ihn. Wie sollte man nicht Achtung haben vor diesem Ernst, diesem rastlos arbeitenden Hirn? Und ohne sich zu bedenken, händigte er ihm seine gesamten Ersparnisse aus, verkaufte alle Leichter, verkaufte sogar das schöne, neue Haus, den Stolz von ganz Olaveaga.

Hiermit begann die ans Wunderbare grenzende Geschichte des allmächtigen Sanchez Morueta, bei der die fabelhaftesten Geschäfte einander jagten, bei der eine Gunst des Glücks die andere ablöste, als drängte die Zeit, diesen Mann zu bereichern, der die Millionen auf sich zurollen sah ohne das leiseste Zucken in seinem unbeweglichen Gesicht. Er wurde schnell der Herr der Berge. Dorthin, wo die reichsten Erze anstanden, streckte er seine Siegerhände: »Dies gehört mir!« – die Engländer kamen zu spät! Der Name Sanchez Morueta erklang überall, zu jeder Stunde. Während andere schliefen, hatte er vorausgesehen; als die anderen erwachten, war er bereits Millionär. Und hinter dem breiten Rücken des siegreichen Kämpfers marschierte ein Gefolge von Ingenieuren, Mechanikern, Unternehmern und verspäteten Glückssuchern.

»Dein Vetter ist verrückt geworden«, schrieb Juan Sanchez an den Studenten der Medizin in Madrid. »Und ein Skandal ist es, wie die Millionen unser Haus überschwemmen! Jetzt plant er den Bau einer eigenen Dampferflotte für den Erztransport nach England; will am Ufer des Nervion Gießereien einrichten, um Schienen zu fabrizieren, ganze Brücken, Kanonen, Kriegsschiffe und weiß der Teufel, was noch mehr! Glaube mir, Luisito, das geht zu weit, so etwas kann nicht von Dauer sein!«

Der greise Schiffer und seine Schwägerin bewohnten jetzt das prächtigste Haus Bilbaos. Ein bewegtes Leben im Überfluß, das die beiden Alten melancholisch an ihr Gärtchen in Olaveaga denken ließ, so ruhig und lieblich im Schutz der Berge gelegen, mit dem Blick auf den leuchtenden Spiegel der Flußmündung. Überdies hatte sich der Industriekönig, um dem hereinströmenden Vermögen Ehre zu machen, verheiratet. Mit einer »richtigen Señorita«, wie der ehemalige Leichterführer mit einem Gemisch von Respekt und Scheu betonte. Ihre Familie – Hidalgos, die von den Einkünften einiger Bauernhöfe bescheiden ihr Dasein fristeten, ihren Adel jedoch bis auf Juan Zuria, den baskischen Cid, zurückführten – hatte, von dem fürstlichen Reichtum Sanchez Moruetas betäubt, eingewilligt, sich mit ihm zu verschwägern. Fast unmittelbar nach der Hochzeit kehrte Sanchez Morueta an seine Arbeit zurück, unternahm geschäftliche Reisen, vergrub sich in sein Büro ... Seine Frau, eine blonde, kalte, hochmütige Schönheit, krauste die Stirn, wenn sie den beiden Alten begegnete, die zaghaft im Hause umherschlichen, und teilte ihre Zeit ein zwischen Kirchgängen und Besuchen bei den vornehmen Familien der Stadt. Der Genuß, sie mit ihrem Luxus zu überwältigen, und die Freude, den Neid ihrer Freundinnen wachzurufen, war das einzig Süße in ihrer Ehe.

Kurze Zeit darauf starb Juan Sanchez, bis zum letzten Moment hartnäckig wiederholend: »So etwas kann nicht von Dauer sein!« Als Luis in Bilbao eintraf, sah er seinen Vetter in voller Glorie, mit dem Ernst und der Wortkargheit der Starken, scheinbar gleich unempfindlich gegen Schmerz wie gegen Triumph. Nur seine leicht geröteten Augenlider und die Heftigkeit, mit der er den Vetter an seine Brust drückte, verrieten die Erschütterung über den Tod seines Vaters.

»Luis«, sagte er kurz, als wären seine Worte Gold, »beendige dein Studium. Nachher wirst du ins Ausland gehen. Scheue dich nicht vor den Kosten; von nun ab bin ich dein Vater und komme für sie auf!«

Und Aresti lebte drei Jahre in Paris, wurde Assistenzarzt in Krankenhäusern, arbeitete Seite an Seite mit den berühmtesten Chirurgen, und der Ruhm seines Könnens drang bis in seine Heimat. Als er nach dort zurückkehrte, war ihm eine glänzende Laufbahn nicht nur wegen seiner Verwandtschaft mit Sanchez Morueta, sondern auch wegen seiner erfolgreichen schwierigen Operationen sicher.

Mittlerweile hatte sein Vetter alle Pläne verwirklicht: eine eigene Flotte schwamm auf dem Meere; am Nervion qualmten seine Hochöfen, und fast die gesamten Erzlager Biscayas befanden sich in seinem Besitz.

Arestis Mutter war während seines Pariser Aufenthaltes gestorben, langsam verwelkt, wie ihr Schwager, in der Atmosphäre von Pomp und Großartigkeit, vor der sie zurückschreckte. Doña Cristina, die ihrem Mann eine Tochter geboren hatte und durch die Sorgen der Mutterschaft mehr ans Haus gefesselt war, bewillkommnete den nun völlig verwaisten jungen Arzt mit ungewohnter Herzlichkeit. Er leistete ihr manchen Nachmittag Gesellschaft, von Paris erzählend, dem großen Sündenbabel, gegen das die Kanzelredner zu Felde zogen und das sie auf ihrer kurzen Hochzeitsreise nur mit einem flüchtigen Blick hatte streifen können; er beriet sie bei der Wahl von Kleidern und Schmucksachen, brachte ihr Pariser Modejournale, lauschte geduldig ihren Bosheiten über ihre Freundinnen und versicherte ihr des öfteren, daß sie die bestgekleidete Frau der Stadt sei.

Wenn er aber über die Frömmelei der Damen Bilbaos und über die eleganten Kanzelredner, denen »die gute Gesellschaft« zuströmte, zu scherzen sich erkühnte, verzog sich ihr Mund in böse Falten. Da sah man die üblen Angewohnheiten, die ein langer Aufenthalt in einer lasterhaften, gottlosen Stadt nach sich zog! Warum konnte dieser sympathische Mensch nicht wie so viele Jesuitenpatres ein Gelehrter sein, ohne sich von der Religion zu trennen? ... Der Kopf mußte ihm zurechtgesetzt werden, und am besten geschah das in der Ehe! ...

Und mit der Zähigkeit einer Frau, die keinerlei ernsthafte Beschäftigung kennt, ließ sie vor Aresti alle heiratsfähigen Señoritas ihrer Bekanntschaft paradieren, wobei sie eingehend die Vorzüge jeder einzelnen schilderte.

Eines Tages stellte sie in sehr entschiedenem Tone fest, daß keine einzige so gut zu ihm passe wie die kleine Lizamendi, die einer der ersten Familien des Landes entstamme. Ihre Mutter war Witwe und verfügte über ein beträchtliches Vermögen.

Von nun ab traf der Doktor die Damen mit beunruhigender Häufigkeit im Salon Doña Cristinas. So schlecht gefiel sie ihm übrigens gar nicht, die kleine Lizamendi! Gewiß, sie war ein unbedeutendes Geschöpf, wie fast alle Mädchen ihrer Klasse im Kloster erzogen, ohne weiteren Horizont als Salongeplauder und täglichen Kirchgang, und ihm hatte etwas anderes vorgeschwebt. Aber konnte er ihre Seele nicht wecken, sie nach seinen Begriffen formen? ... Unglückseliger Doktor!

Ein bitteres Lächeln umflog Arestis Lippen, als er sich dieser Episode seines Lebens erinnerte. Welch Optimismus! Er seine Frau umformen! ... Er selbst war nahe daran gewesen, sich aufzugeben, zermürbt von dem langsamen, monotonen Räderwerk des grauen Lebens toter Seelen.

Sie hatten geheiratet, und da die Mutter sich nicht von ihrer Tochter trennen wollte, siedelte Aresti in ihr Haus über. Mit der Sitte Bilbaos brechend, begleitete er seine junge Frau überallhin, mühte sich, sie zum Denken zu bewegen, seine Seele mit der Seele dieser Puppe zu verschmelzen, die nichts anderes wünschte, als ihr bisheriges Leben fortzusetzen – Visiten, neuntägige Andachten zu Ehren irgendeines Heiligen, Kommunionen. Aber die Mutter und die unverheiratete Schwester bildeten einen unüberwindlichen Wall, hinter den sich die Gattin verschanzte.

Allgemach sah sich Aresti in eine neue Welt gedrängt, die ihm nicht behagte. Sein Ruf als glänzender Operateur wuchs ständig, und die Familie verfügte über ihn wie über einen Luxusgegenstand, der dem Hause ein gewisses Relief verlieh. Sobald irgendwo eine Nonne bettlägerig war oder ein Jesuitenpater über seine Gesundheit klagte, wurde Aresti von den Damen Lizamendi hinbeordert, denen es eine Gunst erschien, wenn sie den Erwählten des Herrn unentgeltlich einen Dienst erweisen durften. Und der rationalistische junge Arzt verwandelte sich mehr und mehr in einen Klosterläufer, kurierte Menschen, die ihn nach erfolgter Genesung unweigerlich ob seines Mangels an Frömmigkeit schmähten. Was war aus seinen Illusionen geworden! Hatte er nicht sein Leben der Forschung weihen wollen? ... Wo war die verständnisvolle Gefährtin, die Anteil nahm an seinem Schaffen?

In zweijähriger Ehe gewann Aresti die Überzeugung, daß seine Frau ihn nicht liebte; gleichzeitig – als einzigen Trost, sofern man dies einen Trost nennen konnte! – aber auch die Gewißheit, daß sie niemanden zu lieben vermochte. Die Kirche, die Beichte bei dem Geistlichen, der gerade Mode war, schöne Kleider und Besuche und Empfänge ausschließlich unter Frauen – fernab dem Manne, dem Berufspflicht und Geldverdienen zukam – füllten ihr Denken und Trachten. Überdies offenbarten Worte und Blicke seiner jungen Gattin dem Doktor sonderbare, von draußen kommende Einflüsse. Allein mit ihr im Schlafzimmer, fühlte er die Gegenwart unsichtbarer Phantome, die aufmerksam spähten, Kenntnis nahmen von allem, was er tat, die sich bei jedem Aufwallen der Leidenschaft zwischen seine Frau und ihn zu stellen schienen.

»Warum liest du immer?« fragte Antonieta bisweilen. »Ah, diese gottlosen Bücher! Mit welcher Wonne würde ich sie verbrennen!«

Wenn er dann in flammender Begeisterung Philosophie und Naturwissenschaften verteidigte, tauchten in ihrem Gedächtnis Bruchstücke von Predigten auf, die vor diesen ruchlosen und verwirrenden Wissenschaften gewarnt hatten.

Er war allein! Viel mehr allein als vor Jahren in seinem Pariser Studentenzimmerchen des Quartier Latin ... Der Unterschied der Abstammung zwischen ihm und seiner Familie wurde immer schärfer betont. Er spielte daheim die Rolle der Sklaven des alten Roms, die wegen ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Tüchtigkeit berühmt und geschätzt wurden, desungeachtet aber in Gegenwart ihrer Herren in ihre bescheidene Stellung zurücksanken und Sklaven blieben.

Als er einen schwachen Protest wagte, mußte er entsetzt von seiner Frau die Worte hören:

»Unsereins ist eben so! Man leidet wahrlich genug unter dem Zusammenleben mit Menschen einer anderen Klasse.«

Mutter und Schwester gingen noch weiter in ihrer Arroganz.

»Wir sind Lizamendis! ... Und wer bist du? Ein Dorfbürschlein, das auf Leichtern groß geworden ist!« Und ihre hochmütige Geste deutete den Abgrund an, der zwischen ihnen und Aresti gähnte und ihn zu ewiger Trennung verdammte von denen, die er als seine Familie ansah.

Wie oft hatte er – im Glauben, eine Frau zu liebkosen – seine Küsse an eine eisige Statue verschwendet, die ihn starr wie ein Automat gewähren ließ. Bis ins Schlafzimmer verfolgte ihn der religiöse Irrwahn.

»Laß mich, Luis!« wehrte seine Gattin. »Morgen gehe ich mit den Marientöchtern zur Kommunion und muß jetzt mein Gewissen erforschen.«

Oder man befand sich in den Fasten, und die Enthaltsamkeit erstreckte sich sogar auf das eheliche Leben! Aresti sagte sich voll Bitterkeit, daß seine Frau nicht ihm gehöre, daß er über weniger als die Hälfte von ihr verfüge – daß er sie in einer Art von moralischem Ehebruch mit unbekannten Leitern ihres Gewissens teile.

In Momenten des Zorns ließ sich Antonieta zu Freimütigkeiten hinreißen, die ihn erschreckten.

»Ich bin deine Frau und muß dir treu sein, wie es unsere Heilige Mutter, die Kirche, befiehlt. Aber ich sage dir offen, daß ich dir nicht gut bin ... Oh, Luis! Wie wollte ich dich lieben, wenn du alle diese sündhaften Bücher aufgäbest und wie alle anständigen Menschen zur Kirche gingest!«

Nicht selten verschwanden aus seinem Arbeitszimmer Bücher und Zeitschriften, von denen er nicht mit Unrecht vermutete, daß sie in die Hände eines neugierigen Beichtvaters wanderten, der ihn von ferne überwachte.

Was schließlich aber auch ihn aus der Ruhe brachte, war die Unverschämtheit, mit der seine Schwiegermutter, gestützt auf das feindselige Schweigen seiner Frau, den kleinsten Versuch zur Wahrung seiner Rechte zurückwies.

»Du vergißt wohl ganz, was du bist? ... Ein armer Teufel, der mir auf der Tasche liegt, denn das bißchen Geld, das du verdienst, ist nicht der Rede wert! Das einzige, wozu du taugst, ist Bücherlesen, um dann lästerliche Reden zu führen. Wenn du wenigstens noch Geld zu verdienen verstündest wie dein Vetter Sanchez Morueta! ...«

Damals war es gewesen, daß Aresti seinem Verwandten die Bitte vortrug, als Arzt in das Bergwerksrevier gesandt zu werden. Mit den Bücherkisten, die sein Vermögen ausmachten, verließ er jenes Haus so, wie er es betreten hatte ... Ach, leider nicht ganz so! Er hatte seine Zukunft geopfert, hatte zwei Jahre lang bittere Demütigungen erduldet und konnte fortan in einer Gesellschaft, der die allmächtige Kirche die Gesetze vorschrieb, nicht mehr daran denken, sein Geschick mit dem einer anderen Frau zu verbinden. Zudem ließ er die drei Damen Lizamendi hinter sich zurück, die, um die Flucht des Doktors zu erklären, überall von seinem rüden Charakter und von seiner verrotteten Moral sprachen, der Frucht ruchloser Lehren.

Die Gattin Sanchez Moruetas hätte am liebsten alle Beziehungen zu ihm abgebrochen. Wie konnte er die arme Antonieta so schnöde im Stiche lassen! entrüstete sie sich ihrem Gatten gegenüber. Diesen Engel, dieses Vorbild von Tugend und Frömmigkeit! ... Und es bedurfte der Autorität Sanchez Moruetas, die keinen Widerspruch duldete, und seiner bestimmten Erklärung, daß er seinen Vetter weiter in seinem Hause zu sehen wünschte, damit Doña Cristina sich in ihren ausfallenden Reden gegen den Doktor mäßigte. Die alte Freundschaft zwischen den beiden jedoch lebte nicht wieder auf; der Arzt vermied es, nach Bilbao zu fahren, da Antonieta, wie er wußte, viel bei seiner Schwägerin ein und aus ging.

Als Sanchez Morueta die Stadtwohnung aufgab und sein Landhaus weit draußen in Las Arenas bezog, ließ sich der Doktor wieder häufiger blicken. Pepita, das Töchterchen seines Vetters, das aus der Pension als junge Dame heimgekehrt war, interessierte ihn. Aber nach wie vor stieß er bei seinen Besuchen auf eine höfliche, doch unversöhnliche Abwehr Doña Cristinas. Sie hatte auf die Rolle der mondänsten Frau Bilbaos verzichtet, um dafür in wachsender religiöser Inbrunst an der Spitze aller frommen Gesellschaften und Gründungen zu stehen und das Geld ihres Mannes mit vollen Händen über Brüderschaften und Klöster zu streuen. Man nannte sie allgemein nur noch »die große Katholikin«.

Unwillkürlich richtete Aresti den Blick auf seinen neben ihm sitzenden Vetter. Nein, glücklich war der auch nicht! Das Glück erwartete ihn täglich an der Tür seines Hauses, begleitete ihn kreuz und quer durch die Welt – aber bis in sein Heim folgte es ihm nicht ... Nur war er nicht zu einem Bruch mit seiner Frau gezwungen, weil das Geld ihm eine unwiderstehliche Überlegenheit gab, die ihn vor Demütigungen schützte, und er mit einer Handvoll von seinem Gold, ohne Feilschen hingeworfen, den Gegner, mit dem er ein gemeinsames Leben führen mußte, in Schach zu halten vermochte. Indes allein stand auch er! Die traurige Miene, wenn er sich unbeobachtet wähnte, und die beim Anblick seines Vetters froh aufblitzenden Augen verrieten seine Einsamkeit.

Der Wagen fuhr an der Bucht von Axpe entlang, voll von Dampfern, die auf ihre Fracht warteten. In der Mitte dieser schwimmenden Stadt lagen die schmucken Jachten der Nabobs von Bilbao, die Decks von Zeltleinwand überspannt zum Schutz der Vergoldungen und kostbaren Holzarten. Die stattlichste von ihnen streifte der Millionär im Vorüberfahren mit einem melancholischen Blick, in dem Aresti Sehnsucht nach dem Meere las, nach weiten Horizonten, nach einem freien Dasein, ohne die Erbärmlichkeiten und Vorurteile des Lebens an Land.

Man näherte sich Las Arenas. Die Biscayabrücke durchschnitt den Himmel mit ihrem Netz schwankender Kabel. Am gegenüberliegenden Ufer ein Wald von Schloten, überragt von den Kolossen der Hochöfen; Gebäude neben Gebäude, in denen man das emsige Schaffen vieler Tausende von Arbeitern ahnte. Der Wind trug Lärm und Geräusche herüber: das Dröhnen der Dampfhämmer, das Zischen von Maschinen, das Brüllen der Stahlkonverter, die einen Funkenregen in die Luft jagten.

»Wie schön das ist!« Aresti stieß seinen Vetter mit dem Ellenbogen an. »Du darfst mit deinem Werk zufrieden sein.«

Sanchez Morueta blickte auf.

»Ja, ja, ich kann mich nicht über mein Schicksal beklagen«, sagte er langsam, »aber man sieht nur die Außenseite, Luis ... Was einer innen mit sich herumschleppt, weiß nur er allein ...«

 

Es war ein Festessen im engsten Familienkreise, an dem außer der Gattin und der Tochter des Millionärs keine Damen teilnahmen. Die Gäste gehörten sämtlich zum Hause; entweder Angestellte wie Kapitän Iriondo, der Privatsekretär und der Chefingenieur Fernando Sanabre, oder Verwandte wie Doktor Aresti und Fermin Urquiola. Dieser Urquiola glaubte als entfernter Verwandter Doña Cristinas dem Hause häufige Besuche abstatten zu müssen, obgleich Sanchez Morueta ihm keinerlei Sympathie bezeigte. Er war ein ehemaliger Schüler der Jesuitenpatres von Deusto, deren Befehlen er noch ebenso gehorchte wie zur Zeit, als er in den Hörsälen ihrer Universität saß, und wurde von der Jugend Bilbaos, die sich selbst als distinguiert bezeichnete, sowohl wegen seiner Muskeln als auch wegen seines Eifers bewundert, mit dem er sich als Organisator und rühriger Geist aller frommen Vereinigungen betätigte. »Die Faust gebührt der liberalen Bande«, lautete seine Parole, und bei den Wahlen sah man ihn, der gewöhnlich viel Wert auf ein geschniegeltes Äußere legte, in einer bis auf die Augen herabgezogenen alten Baskenmütze und mit einem riesigen Knüttel bewaffnet, lärmend und gewalttätig an der Spitze der Bauern aus den Nachbardörfern. Der dichte, lockige Bart, die stark gebogene Nase und die schwarzen Zigeuneraugen verschafften ihm ein großes Prestige unter den Landleuten.

»Er ist Don Carlos wie aus dem Gesicht geschnitten! ...« murmelten sie.

Und dem brutalen, bei der geringfügigsten Beleidigung nach Blut lechzenden Urquiola schmeichelte es, daß man seine Geburt mit den Liebschaften des flüchtigen Königs der Berge in Verbindung brachte.

Nachts beteiligte sich dieses Produkt der guten Erziehung von Deusto mit Vorliebe an den Orgien in den Freudenhäusern des San-Francisco-Viertels, wo ihn die Legende seiner Abkunft beinahe zu einem Prinzen machte. Aber die Patres von Deusto lächelten wohlwollend über das, was sie »seine jugendlichen Seitensprünge« nannten. Überschuß an Lebenskraft! Man mußte ihn vorteilhaft verheiraten, und er würde das Muster eines christlichen Edelmannes sein! ...

»Dieser Hohlkopf kommt zweifellos Pepitas wegen«, überlegte der Doktor, und er beobachtete seine Nichte, die es jedoch vorzog, sich mit dem Ingenieur zu unterhalten, anstatt den impertinenten Redensarten ihres Verwandten zu lauschen.

Für Aresti unterschied sich Pepita in nichts von den Töchtern anderer reicher Familien. Seit die Nonnen ihre Erziehung beendigt hatten, ließ sie sich auch in den trivialsten Dingen von ihrem Beichtvater leiten und würde die leiseste Anwandlung persönlicher Initiative wahrscheinlich als Sünde betrachtet haben. Sie hatte das schöne blonde Haar ihrer Mutter geerbt, die schlanke Figur hingegen verriet den starken Knochenbau des Vaters; besonders lag in den langen Händen, zu groß für ihre zarten Arme, viel von Sanchez Morueta. Mit ihr begann dank des Wohllebens und des Müßiggangs die erste Verfeinerung des Familienstamms; aber noch bewahrte sie Merkmale seines Ursprungs.

Von den jungen Herren, die Pepita auf ihrem Wege zur Messe oder zu den Zusammenkünften der Marientöchter sahen, gaukelte sich jeder die Möglichkeit vor, dieses große Los in der Heiratslotterie zu ziehen. Liebe? ... Niemand verfiel auf dergleichen in einem Lande, wo Ehen innerhalb der Gesellschaft auf dem Übereinkommen der betreffenden Familien basieren und Rat und Hilfe irgendeines Jesuitenpaters den Ausschlag geben ...

Aresti saß bei Tisch neben seiner Kusine. Seit langer Zeit hatte er sie nicht so liebenswürdig gesehen; nicht die geringste Anspielung auf die Damen Lizamendi, nicht ein bitteres Wort über seinen Unglauben! Wahrscheinlich fühlte sie sich ihm für den Besuch in Begoña verpflichtet ... Er umfaßte ihre Erscheinung mit einem prüfenden Blick. Dem Festtag zu Ehren trug sie ein kostbares schwarzes Kleid, doch dem Doktor entging nicht eine gewisse Nachlässigkeit, die sehr in Widerspruch stand zu ihrer früheren raffinierten Eleganz. Es umwitterte sie etwas Nonnenhaftes.

»Aha, sie streckt die Waffen«, dachte Aresti, »sie riecht nur noch nach Weihrauch!«

Neugierige Fragen setzten seinen Beobachtungen ein Ende. Für alle diese Gäste war der Doktor, der als Einsiedler in den Minen lebte, ein Original. Wie ein aus gefährlichen Ländern zurückkehrender Forscher mußte er über die Bergarbeiter erzählen, deren man nur mit einer gewissen Unruhe Erwähnung tat. Und bei dem Gedanken an die muffigen Baracken, die diese Menschenherde beherbergten, an die Näpfe unschmackhaften Bohnengemengsels, empfanden sie unwillkürlich mit größerem Behagen den diskreten Luxus der geschnitzten Eichenmöbel und dunklen Ledertapeten des Speisesaals, in dessen geöffnete Fenster die blühenden Sträucher des Gartens hineinnickten. Wohlgefällig verweilten ihre Blicke auf den Prunkstücken aus gehämmertem Silber, die matt zwischen dem Blumenschmuck der Tafel leuchteten; auf den Reihen der Gläser aller Formen und Farben, gefüllt mit den auserlesensten Weinen, angefangen vom Tokaier und Chablis. Nur die Spitzkelche standen unberührt in Erwartung des Cordon Rouge und Pomery, der zum Schluß gereicht werden sollte.

Urquiola versicherte dem Doktor mit demselben Aplomb, den er den eleganten Herrchen der »Gesellschaft vom Heiligen Luis Gonzaga« gegenüber anschlug, daß er durchaus kein Feind des Volkes sei, zumal auch die Kirche, wie die Enzykliken des Heiligen Vaters genugsam bewiesen, immer für »die von unten« einträte. Unter Volk jedoch verstand er die Bauern, die Respekt hatten vor ihrem Pfarrer und kein anderes Vergnügen kannten, als Sonntags ihr Tänzchen zu machen, und kein anderes Laster, als auf den Wallfahrten wacker zu zechen. Solche Leute träumten nicht von Revolution, nicht von Verteilung des Kapitals, sondern waren im Gegenteil bereit, für Gott und die guten Sitten zu bluten ...

Und durch die bewundernden Blicke seiner Tante angefeuert, fuhr der mutige Zögling von Deusto fort:

»Meine Bauern können weder lesen, noch wissen sie von Freiheit, von Rechten und anderem Quark, und gerade deswegen sind sie glücklich, wohingegen diese verdorbene, glaubenslose Bergarbeiterhorde, dieser Auswurf von Spanien, der unsere reine Bevölkerung mit seinen Lastern ansteckt, immer unzufrieden und auf Streiks bedacht ist und seine Lage mit dem Wohlstande anderer zu vergleichen wagt, als ob es nicht sogar im Himmel Rangstufen und Klassen gäbe! Mit Kugeln werden wir das Gesindel empfangen, wenn es versuchen sollte, nach Bilbao hinunterzusteigen und uns zu berauben ... jawohl, Señor, mit Kugeln!«

Aresti wandte sich an seinen Vetter, der schweigend weiter aß und nur dann und wann einen Seitenblick auf den Neffen seiner Gattin warf.

»José, was hältst du von den Ideen dieser Jünglinge?« Und Urquiola ins Auge fassend, sagte er mit kalter Ironie:

»Diese von Spanien – nicht wahr? – gekommene Bande, diese sündhaften Gesellen sind es, die durch ihre Arbeit Bilbaos Wohlstand begründeten. Sie sind es, die ihren Körper zerrütteten und das Erz förderten – und was wäre unser Land ohne Erz? ... Wie die Neger, die in früheren Zeiten nach Südamerika verschleppt wurden, beutet man die durch ihr Elend hierhergetriebenen Arbeiter aus. Und da wir heute die Peitsche nicht mehr gebrauchen können, bezahlen wir das Opfer, das sie bringen, mit Schmähungen.«

Urquiola bäumte sich unter den verächtlichen Worten des Arztes förmlich auf.

»Ich verabscheue diese verlorene Sippe, weil sie jeder Veredelung unfähig ist! Warum macht sie denn keine Ersparnisse, um so ihre Lage zu verbessern?«

»Ersparnisse?« höhnte Aresti. »Sparen, wenn man ein paar Reales täglich verdient und obendrein noch durch die Preise für Lebensmittel und Unterkunft betrogen wird!«

»Das stimmt nicht ganz, Luis«, mischte sich Sanchez Morueta ein. »Der Arbeiter in Spanien ist ein Opfer seines Mangels an Voraussicht, im Gegensatz zu anderen Ländern, wo er sich ein kleines Kapital für sein Alter zurücklegt.«

»Ach was! In anderen Ländern spielt sich dasselbe ab wie hier. Was den modernen Arbeiter zum Rebellen und Klassenkämpfer macht, ist die Überzeugung, daß er niemals aus dem Elend herauskommen wird – mag er noch so viel auf Kosten der dringendsten Bedürfnisse sparen. Der technische Fortschritt hat ihm den Weg verbarrikadiert. In den Zeiten rudimentärer Arbeit und der Hausindustrie konnte er davon träumen, sich selbständig zu machen; konnte mit seinen Ersparnissen die nötigen Werkzeuge anschaffen und seine Wohnung in eine Werkstatt umwandeln. Aber der moderne Arbeiter? ... Glaubst du, José, daß einer deiner Tagelöhner, und wenn er darbend Centavo auf Centavo häufte, jemals Aktionär deiner Unternehmungen werden oder auch nur ein kleines Stückchen von den Erzlagern samt dem zum Abbau erforderlichen Material erwerben kann?«

»Ausgezeichnet!« triumphierte Urquiola. »Manchmal findet der Doktor sehr passende Worte! Das beweist also, daß die alte Zeit auch die gute war und daß man um der Ruhe der Allgemeinheit willen die alten Zustände wiederherstellen sollte, ohne Wert auf den sogenannten Fortschritt zu legen.«

Sanchez Morueta warf dem jungen Mann einen Blick zu, der Doña Cristina für ihren Neffen fürchten ließ.

»Solch einen Blödsinn kann nur jemand laut werden lassen, der von der Universität Deusto kommt!« brauste der Industrielle auf. »Den Fortschritt unterdrücken, weil er Komplikationen nach sich zieht! ... Gewiß gibt es Krisen und Elend in der Arbeiterschaft, aber deshalb darf man doch nicht auf den Fortschritt, das legitime Kind des industriellen Kapitalismus verzichten. Die großen modernen Umwälzungen sind das Werk des Kapitals; sich die wissenschaftlichen Entdeckungen nutzbar machend, hat es die Erzeugnisse vervielfältigt und verbilligt, wodurch der moderne Arbeiter Annehmlichkeiten genießt, die früher kaum wohlhabende Leute kannten. Das Kapital, in den Dienst der Industrie gestellt, hat die Zivilisation in die Wildnis getragen, historische Grenzen zerstört, auf der ganzen Erde Märkte eingerichtet; das Kapital zog Schienenstränge über jungfräuliche Gebiete, wühlte die Meeresfluten auf, um Kabel zu spannen, förderte den Austausch von Waren beider Hemisphären und triumphierte über die Härten der Natur, indem es die großen Hungersnöte verhinderte, unter denen die Menschheit vergangener Jahrhunderte gestöhnt hat.

Sogar die Gewalthaber der Geschichte beugen sich ihm. Könige und Fürsten, stolz wie Halbgötter auf ihren Streitrossen, mußten um unsere Hilfe betteln, denn hinter ihren Armeen stehen die wirklichen Gebieter, die das Angesicht der Erde ändern: die große, stumme Republik der Kapitalisten, von unscheinbarem Aussehen und dennoch Herr über die Geschicke der Welt. Aber unsere kapitalistische Hierarchie unterscheidet sich von den Militär- oder Priesterherrschaften der Vergangenheit, bei denen meist die Geburt den Ausschlag gab, insofern, als der Sohn des Kapitalisten, dem es an Fähigkeit mangelt, unsere Reihen verlassen muß und ein Neuer, Tüchtigerer in die Bresche springt. Wo findet man noch eine so mächtige und gleichzeitig so demokratische Institution? ... Und da gibt es Narren, die den Tod oder die Einschränkung einer Macht fordern, die die Erde umformte!«

Arestis Entgegnung auf diese Ausführung, zu der den sonst so Wortkargen seine fast religiöse Bewunderung des Kapitals hingerissen hatte, ließ nicht auf sich warten.

»Ich erkenne die sozialen Vorteile an, die das Kapital der Menschheit gebracht hat – mit Hilfe der Arbeiterschaft. Das Kapital sah seine Dienste mit Wucherzinsen belohnt; wie aber steht es mit der Belohnung der Arbeiterschaft für ihre Anstrengungen? Befindet sie sich heute nicht fast in derselben erbärmlichen Lage wie zu Beginn der großen industriellen Umwälzung im XIX. Jahrhundert?«

»Du irrst, Luis«, protestierte der Millionär. »Die Lage der Arbeiterschaft hat sich entschieden verbessert. Die Kapitalzinsen sind erheblich gefallen, während die Löhne mit jedem Streik steigen.«

»Bah!« meinte der Doktor mit wegwerfender Miene. »Die paar Reales Lohnerhöhung! Momentane Mittel, Pflaster, die dem Kranken nicht helfen, denn sobald die Preise für Waren und Lebensmittel nur ein wenig anziehen, ist das Gleichgewicht wieder gestört! Das sind sozusagen nur Veränderungen der Positur, mit denen man die Krankheit hintergehen zu können wähnt. Das Almosen einer Lohnerhöhung nutzt dem Arbeiter nichts. Was ihm nottut, ist Gerechtigkeit – ist das Recht, den ihm gebührenden Platz einzunehmen: Herr zu sein über das, was er produziert.«

Die letzten Worte hallten nach in der Stille des Speisesaals. Niemand wagte in die ernste Diskussion der beiden Vettern einzugreifen. Nur Urquiolas Lippen kräuselte ein dünkelhaftes Lächeln, als besäße er das Geheimnis zur Lösung dieser Fragen.

Doña Cristina, die fürchtete, daß die Behaglichkeit der Tafel schließlich doch noch durch eine weitere Polemik gestört werden könnte, lenkte von dem gefährlichen Thema ab und bat den Doktor, von dem Leben in den Minen und den Exzentrizitäten der Unternehmer zu erzählen.

Ihre Beweggründe erratend, begann Aresti mit sanfter Ironie die eleganten, bizarren Villen der Neureichen zu beschreiben, die die Baskenmütze und den groben Stiefel des Arbeiters weiter beibehielten. Um die Nachbarn auszustechen, häuften sie in den Zimmern Möbel der absurdesten Formen und freuten sich über die verblüfften Gesichter ihrer Gäste. Bei manchen lag als stete Erinnerung an die Vergangenheit, als teure Weine sie ein nie erreichbares Gut dünkten, ein praller Weinschlauch unter dem Bett.

»Probieren Sie, Doktor! Der feinste Rioja, kostet eine Stange Gold!«

Andere trugen dicke Brillanten, die sie mit abergläubischer Ängstlichkeit hüteten, an den Händen. Sie wagten nicht, wie es doch ihre Gewohnheit war, sich den Kopf zu kratzen, da nach ihrer Meinung das Haar die Steine zerschrammte und ihren Glanz beeinträchtigte.

Kein Vergnügen aber kam für sie dem Wetten gleich. Es wurde mit wahrer Leidenschaft betrieben, und bei den Kraftproben im Gesteinsbohren standen enorme Summen auf dem Spiel. Unter ihren Arbeitern befanden sich muskulöse, im Gebrauch des Bohrstahls überaus geschickte junge Leute, deren Prestige dem eines großen Toreros glich. An alle Orte Biscayas ergingen Herausforderungen, und stundenlang konnten die Unternehmer den Kampf zwischen Stahl und Stein verfolgen, um beim Siege in ein frenetisches Triumphgeschrei auszubrechen, das mehr der Leistung ihres Favoriten als den gewonnenen Summen galt.

Alles diente ihnen dazu, das so schnell erworbene Geld zu riskieren. Und lächelnd berichtete der Doktor von der letzten großen Wette in Gallarta, bei der es sich darum gehandelt hatte, ob die gefräßigen Windhunde eines Unternehmers oder der Arbeitertrupp eines Kollegen – stämmige Burschen aus Kastilien mit bodenlosem Magen – die größere Quantität Milchsuppe vertilgen konnten. Bündel von Banknoten wurden gesetzt, als handelte es sich um wertlose Fetzen Papier, und während die einen auf die Hunde, die anderen auf die Burschen wetteten, krümmten sich oben in den Bergen armselige Menschen mit geschwungener Hacke vor den roten Laufgräben.

»Die Milchsuppe stand in Kübeln bereit«, erklärte Aresti, »und wurde von den Windhunden gierig heruntergeschlabbert – in einem Hui, wie ein Brief in den Kasten, verschwand sie –, wohingegen die Leute sehr bedächtig löffelten. So vergingen ...«

»Und wer gewann?« unterbrachen ihn mehrere Stimmen.

»Wer mußte unvermeidlich gewinnen? ... Die Menschen natürlich! Der Unternehmer, für den sie arbeiteten, setzte mir hinterher mit seiner pfiffigen Philosophie auseinander: ›Ich war meiner Burschen sicher. Das Tier läßt jede Nahrung stehen, sobald sein Hunger gestillt ist; aber der Mensch kann sich zum Essen zwingen, bis er platzt.‹ Auch darin behielt er recht. Zwei von den Burschen machten mir viel Arbeit, und trotz meiner Bemühungen geleitete sie einige Tage später der Pfarrer auf seiner weißen Eselin singend zu Grabe. Das traurige Finale einer sinnlosen Wette!«

 

Der Nachmittag war schon weit vorgerückt, als man von Tisch aufstand. Kapitän Iriondo verabschiedete sich, nachdem er einen Toast auf die Gesundheit seines Jugendgespielen und Chefs ausgebracht hatte; gleichzeitig mit ihm ging der Sekretär, der Arbeiten im Büro vorschützte. Die Damen, die noch Freundinnen aus Bilbao erwarteten, begaben sich in Begleitung Urquiolas und des Ingenieurs Sanabre in Doña Cristinas Salon.

»Laß uns die letzten Sonnenstrahlen draußen genießen!« schlug Sanchez Morueta, eine lange Zigarre kauend, seinem Vetter vor.

In der friedlichen Stille des Parks, fern den Geschäften, fühlte sich der Millionär zum erstenmal an diesem Tage restlos wohl. Seine schöne, große Hand vertraulich auf Arestis Schulter gelegt, sah er ihn halb fragend an, als erwartete er irgendein kleines Wort der Aufforderung.

»Schütte dein Herz aus«, lächelte der Doktor, der diesen Blick richtig deutete; »ich weiß ja, daß ich dein Beichtvater bin. Was gibt's? ... Hier hast du den Arzt deiner Seele, wie die Jesuitenfreunde deiner Frau sagen würden.«

»Nichts Besonderes, Luis. Die Einsamkeit, in der ich lebe, bedrückt mich.«

Nachdenklich hingen seine Augen an dem grünen Laub der Bäume. Er hatte geliebt und hatte gelitten wie alle, die für ein Ideal kämpfen. Er wußte, was es heißt, sich mit Fortuna messen, um sie zu überwinden und in brutaler Notzucht zu befruchten, und war arriviert wie die großen Staatsmänner und Künstler, die ihre Laufbahn tief unten begannen, das Elend kennen und ständig die Gefahr streifen. Doch jene erhofften, auch wenn sie die Höhe erklommen hatten, immer noch etwas Neues, träumten immer von dem »morgen«, dachten unruhig an die politische Kombination des nächsten Tages oder an das künstlerische Werk, das in ihrem Innern reifte, zitterten in vager Angst vor einer möglichen Ungeschicklichkeit im Moment der letzten Formgebung. Aber er ... er? Ihm blieb nichts zu tun übrig. Das ehrgeizige Streben seines Lebens hatte sich verwirklicht, kristallisiert, für immer. Er hatte Besitzer von Minen sein wollen, und fast alle gehörten sie ihm und gaben mit der Regelmäßigkeit einer unversiegbaren Quelle fabelhafte Erträgnisse. Wozu mehr? Er gründete Fabriken, und nach kurzer Zeit liefen sie von selbst, mit verzweifelter Präzision. Er baute Schiffe, und keins ging unter, um die Monotonie seines Daseins zu unterbrechen.

Das Mißgeschick war ohnmächtig gegen ihn. Denn wenn seine Schiffe auch scheiterten, was tat's? Sie waren versichert. Wenn sich die Erzlager Bilbaos erschöpften, besaß er manch andere an verschiedenen Punkten Spaniens, die nur auf die Stunde des Abbaues warteten. Er war ein Gefangener des Glücks, bewegte sich zwischen goldenen Gitterstäben, abgesondert wie ein gut gemästeter Vogel, der die Weite sieht, wo seine hungrigen Gefährten frei umherfliegen, ohne sich mit ihnen vereinigen zu können. Er liebte das Meer, und fast vor der Tür seines Hauses lag ein schwimmender Palast, dessen Bild in den illustrierten Zeitungen die Mißgunst der Unglücklichen erweckte. Aber kaum trat er eine Reise an, so riefen ihn auch schon Geschäfte zurück. Der Sklave seines eigenen Werkes war er geworden, hatte mit Titanenarmen den gewaltigen Turm seines Vermögens um sich herum aufgebaut und suchte jetzt in dessen Innern vergeblich nach Raum zum Ausstrecken und Ausruhen.

Nichts mehr erhoffte er von der Zukunft. Auch wenn ihm das Glück den Rücken wenden sollte – es war zu spät und er zu reich geworden, als daß er die Bitterkeit seiner Untreue fühlen würde. Einen Moment lang hatte er geglaubt, sich mit der Trunkenheit des Bauens betäuben zu können, und hatte darum aus dem Nichts ein neues Bilbao erschaffen, mit der nämlichen Leichtigkeit wie in den Feenmärchen auf wüsten Sandflächen ganze Stadtviertel von Palästen erstehen lassen. Doch bald deuchte es ihn kindisch, für Wesen, die er nicht kannte, Wesen, vielleicht ebenso freudlos wie er, aber wenigstens angeregt durch das bittere Vergnügen, ihn zu beneiden, Bienenkorb nach Bienenkorb zu errichten.

»Ich langweile mich, Luis«, sagte leise der Millionär. »Eine Traurigkeit ohne Hoffnung, ohne Illusion umspinnt mich.«

Sein Blick umfaßte das schloßartige Gebäude und die breiten Alleen des Parks mit seinen hohen Baumkronen, seinen Rabatten, auf denen Frühlingsblumen dufteten, und den vollen Gewächshäusern, deren Scheiben, von dem Licht der scheidenden Sonne gebadet, wie Platten von Gold leuchteten.

Aresti dachte an seine Bergarbeiter. Ah, wenn diese Männer, die ihren Magen – da ihnen die Bohnen fehlten – mit schmutzigem Wasser betrogen, gehört hätten, wie sich der große Sanchez Morueta inmitten seines Überflusses beklagte! ...

»Also bist du unglücklich, weil du alles besitzest, was die Menschen für die Quelle des Glücks halten.«

Sanchez Morueta schüttelte melancholisch den Kopf.

»Du siehst nur die äußere Seite, Luis; innerlich fehlt mir alles. Ich möchte ausruhen, nachdem ich innerhalb von Jahren eine Wegstrecke zurücklegte, zu der gemeiniglich mehrere Generationen notwendig sind. Weißt du, ich komme mir vor wie jemand, der in der Fremde sein Glück gemacht hat und bei der Heimkehr niemanden seiner Lieben mehr antrifft.«

»Und das dort?« Aresti wies nach einem der großen französischen Fenster, aus dem Flügelklänge und die von einer jungen Stimme gesungene Weise eines alten baskischen Volksliedes drangen.

Sein Vetter zuckte gleichgültig die Schultern.

»Das, was die Leute mein Palais nennen, ist für mich eine Familienpension. Ich lebe dort besser als in dem dürftigen Boarding-House, das mich während meiner Angestelltenjahre in London beherbergte – aber das ist alles.«

»Und Cristina, deine Frau?«

»Meine Frau?« wiederholte Sanchez Morueta bitter. »Ich habe keine Frau, nur eine sehr fromme, sehr tugendhafte Herrin des Hauses, die für mein leibliches Wohl sorgt und sogar ein wenig in Unruhe gerät, wenn ich erkranke. Ich bin hier weiter nichts als der Pensionär, der das Geld ins Haus bringt und dafür achtungsvoll behandelt wird. Tu nicht so unwissend, Luis ... Als ob du nicht bereits seit langem ahntest, wie wir beide miteinander leben! ... Mir mit meinen Millionen ist es genau so schlecht ergangen wie dir: Liebe hat den Weg hierher nicht gefunden.«

Im schrankenlosen Vertrauen zu diesem Mann, den er als seinen Bruder betrachtete, begann der Millionär ohne Scheu den Schleier von seinem ehelichen Leben hinwegzuziehen.

»Ich heiratete Cristina, als ich den Grundstein zu meinem Vermögen legte. Liebte ich sie? ... Ganz sicher bin ich dessen nicht, denn damals buhlte ich um das Glück, und es blieb für andere Liebschaften keine Zeit übrig. Wohl aber schmeichelte mir die Verbindung mit einer Señorita, die dem alten, ranzigen Adel angehörte, was eine gute Folie für meinen Reichtum war. Trotzdem gab es ungeachtet aller Lockungen, die in genügender Menge an mich herantraten, für mich keine andere Frau auf der Welt – also muß sie mir doch sehr lieb gewesen sein. Ein Gefühl, denke ich, in dem sich der Wunsch nach dem Weibe mit dem instinktiven Respekt des Schiffersohnes für eine Dame, deren Ahnen einst Biscaya beherrschten, mischte ... Manchmal malte ich mir aus, wie schön die Zukunft sein sollte, wenn ich an der Seite dieser Frau, der würdigen Gefährtin in meinem Aufstieg, nach Sicherstellung meines Lebenswerkes ausruhen würde. Doch als endlich der so lang ersehnte Moment der Ruhe kam, suchte ich vergeblich mein Weib. Was ich fand, war eine gute Mutter; eine ausgezeichnete Hausherrin, etwas verschwenderisch in ihren Ausgaben, aber sehr interessiert an der gedeihlichen Entwicklung der Geschäfte; eine peinlich genaue Verweserin des Heims, welche die Abrechnungen der Dienerschaft ebenso scharf prüfte wie zu der Zeit, als sie ihr verfallenes Kastell in Durango bewohnte, andererseits indes Tausende von Duros aus dem Geldschrank ihres Gatten nahm, um auf Fürsprache der Jesuitenpatres eine Kapelle restaurieren zu lassen.

Als ich damals, triumphgekrönt, die übergroße Bürde der Arbeit abwarf, lebte die Jugend in mir wieder auf. Ah, Luis! Diese Enttäuschungen, wenn ich mich Cristina zärtlich näherte! Als hätte ich sie aufs schwerste beleidigt, sah sie mich voller Empörung an. War der Zweck der Ehe nicht erfüllt? Hatten wir nicht eine beinahe erwachsene Tochter? ... Was die korrumpierten Menschen Liebe betitelten, war eine abscheuliche, widerwärtige Sünde, und ein Mann, der seiner Gattin Sinnenlust zumutete, zog sie herab auf das Niveau derer, die ihren Körper verkaufen ...

Unmöglich, dieser Frau Leben einzuflößen! Argwöhnisch fragte ich mich, ob sie vielleicht einen anderen liebte, und beobachtete eine Zeitlang jeden, für den sie eine Vorliebe zeigte oder der zu ihrem intimen Kreise gehörte. Es waren Hirngespinste: sie liebte nur mich, wenn man das lieben nennen kann – ihr Gefühl konnte eben nicht mehr hergeben. Und als ich mich überzeugte, daß ich niemals einen sich gegen die Liebe auflehnenden Willen überwinden würde, zog ich mich gänzlich von ihr zurück, ohne daß dies sie schmerzte oder verstimmte. Im Gegenteil, sie leistete dieser Art Scheidung mit einer dankbaren Freude, die sie nicht verhehlte, Vorschub.

Sie ist sehr rechtschaffen, sehr tugendhaft«, schloß Sanchez Morueta seine Beichte, »aber so viel Tugendhaftigkeit ist unerträglich. Ah, Luis, ich glaube, daß es im Leben anders zugehen muß ...«

Sie hatten sich dem Hause genähert, und wieder erklang die Stimme Pepitas. Dieses Mal sang sie das »Goizeko izarra«, und die melancholische Poesie der baskischen Berge schien auf den englischen Park herabzusinken.

»Und das?« Von neuem stellte Aresti die Frage. »Hast du nicht deine Tochter?«

»Ich habe Pepita sehr lieb.« Ein warmes Gefühl brach in den Worten des Millionärs durch. »Sie ist Fleisch von meinem Fleisch, und auf meiner Zärtlichkeit für sie basiert die scheinbare Harmonie in unserem Hause. Pepita hilft, wie eine kleine Brücke, die Verbindung zwischen mir und meiner Frau aufrechtzuerhalten ... Aber ihre Zukunft macht mir manchmal unruhige Stunden. Es widerstrebt mir, sie mit dem Sohne eines anderen Potentaten Bilbaos zu verheiraten – eine Heirat unter Millionären, in der die Liebe keinen Platz hätte. Ich möchte nicht, daß mein eigenes Unglück bei ihr fortlebt. Aber umsonst beobachte ich sie, um das kleinste Zeichen von Zuneigung für irgendeinen Mann festzustellen. Pepita ist, leider, die getreue Wiedergabe ihrer Mutter. Sie wird sich, da sie wie alle jungen Mädchen der Gesellschaft in der Ehe das Mittel zur Unabhängigkeit sieht, ohne Protest und ohne Enthusiasmus mit dem Mann verheiraten, den ihre Eltern ihr vorschlagen, ohne daß ihr Herz mitspricht. Gleich ihrer Mutter wird sie einem großen Hause vorstehen und für einen Gatten sorgen, der viel Geld verdient und bisweilen seine Geschäfte im Stich läßt, um einen Moment ihren Salon zu betreten.

Mir gleicht sie einzig und allein im Äußern; ihre Seele ist die der Mutter. Und wenn bei der Wahl eines Schwiegersohnes meine Wünsche denen meiner Frau zuwiderlaufen sollten, bin ich beinahe sicher, daß Pepita nicht mir folgen würde. Trotzdem hängt sie an mir, ist zärtlich und umschmeichelt mich, besonders, wenn sie im Auftrage ihrer Mutter etwas erbittet. Doch auch bei ihr fühle ich mich allein – immer ist mir zumute, als gehörten wir nicht zur selben Familie, als wären wir von verschiedener Rasse. Ich weiß nicht, Luis, wie ich das alles in Worten ausdrücken soll ... Eins ist jedenfalls sicher: niemals habe ich bei ihnen, die doch meine Familie sind, dieses Gefühl des absoluten Vertrauens, dieser rückhaltlosen Zusammengehörigkeit, das ich bei dir empfinde.«

Aresti nickte stumm vor sich hin. Die Weise klang ihm vertraut. Seines Vetters Lage war die vieler Machthaber dieser Erde; sie lebten von allen Annehmlichkeiten des Reichtums umgeben, jedoch in einer bitteren Armut an warmen Gefühlen. Die Ehe war eine niedrige Gemeinschaft, um Kinder – die Erben von Vermögen und Namen – zu zeugen.

Sanchez Morueta unterbrach die Reflexionen seines Vetters, als drängte es ihn, auch das Letzte zu sagen.

»Da nun die Lebensfreude durchaus nicht in mein Haus eintreten wollte, habe ich sie draußen gesucht, Luis. Keine vulgäre Liebschaft zur Befriedigung der Sinne. Ich fand echte Liebe, die mein Herz jung erhält.« Er holte tief Atem, ehe er mit bewegter Stimme fortfuhr: »Es begann in Biarritz. Ich lernte Judith, die in Frankreich als Kind jüdischer Eltern geboren wurde, dort in einem Varieté kennen. Trotz ihrer Jugend hatte sie schon die halbe Welt durchzogen und verstand fast alle Sprachen Europas. Als unsere Beziehungen enger wurden, bin ich oft von ihr geflohen und schwor mir jedesmal, beschämt über meine Schwäche, sie nie wiedersehen zu wollen. Bald darauf redete ich mir aber schon wieder ein, daß die Geschäfte meine Anwesenheit in Paris, Madrid oder wo immer sie gerade ihren abenteuerreichen Beruf als Chansonette ausübte, erforderten. Wie sie mir den Kopf verdrehte! ... Es war der Zauber der Sünde, der Reiz des Verbotenen, die Atmosphäre der Halbwelt, die wie ein Sturmwind in die Langeweile meines Daseins blies und alle Skrupel verjagte. Sogar die Gewissensbisse empfand ich als eine Lebenskundgebung, die mich aus meiner Lethargie riß.

Schließlich gelang es mir, Judith dieser umherschweifenden Existenz abtrünnig zu machen und ihr in Madrid ein Heim zu schaffen, wie einer Dame, die geruhsam von ihren Renten lebt. Einen Augenblick hatte ich sogar erwogen, ob ich sie nicht nach Bilbao bringen sollte, aber ich unterließ es aus Furcht vor unserer scheinheiligen Stadt, die den Verkehr mit Dienstmädchen und Näherinnen duldet, ihre Augen schließt oder auch wohl gutmütig lächelt über die Kaprice eines Reichen, Weiberchen aufzusuchen, die in der Verborgenheit bleiben, sich jedoch entrüstet und erzürnt über die Kokotte, die elegante Frau, aus deren Lächeln Geist spricht. Andere, tapferer als ich, haben den Versuch gemacht, diese Zugvögel in abgelegenen Vorstadtvillen zu akklimatisieren, worüber die Nachbarschaft sich so erboste, daß sie ihnen die Wasserleitungsrohre verstopfte und die elektrischen Leitungen durchschnitt ...

Oft hast du dich gewundert, Luis, wie frisch und fröhlich ich von meinen Reisen nach Madrid zurückkomme! Ihr danke ich es, Judith. Ich weiß, daß ich zu alt bin, um eine leidenschaftliche Liebe von ihr erwarten zu können; aber seit sie sich, müde ihres früheren rastlosen Lebens, in meine Arme flüchtete, bringt sie mir eine warme Zuneigung entgegen, bei der vielleicht auch ein Gefühl von Dankbarkeit mitspricht. Und das genügt für mein Glück.

Die kleine Villa bei Madrid ist mein wahres Heim, um so mehr, als ein unerwartetes Ereignis das Band zwischen Judith und mir noch enger knüpfte und weihte ... ich habe einen Sohn!«

Aresti vermochte sein Staunen und seine Bestürzung nicht zu verbergen, so daß sein Vetter hastig versicherte:

»Du bist der einzige, der es weiß, Luis ... Denk dir, ein Sohn ... ein Bübchen von drei Jahren, das mir, wenn ich komme, die Arme entgegenstreckt und ruft: ›Mein Papa aus Bilbao!‹ Was mir in meinem Hause versagt war, hat mir die Liebe gegeben. Einen Sohn! Er trägt nicht meinen Namen, aber liegt mir ständig im Sinn; eines Tages, wenn er alt genug ist, hole ich ihn zu mir und tue für ihn, was ich kann – und das wird nicht wenig sein.«

Ein weiches, glückliches Lächeln, wie es der Doktor noch nie bei ihm gesehen hatte, belebte das kalte Gesicht Sanchez Moruetas bei dem Gedanken an sein heimliches Idyll.

»Ein echtes Kind der Liebe!« fuhr er fort. »Es hat nichts mitbekommen von meiner Häßlichkeit, nichts von diesen enormen Händen und meinem Riesenschädel. Goldblond ist der Kleine und so zierlich wie ein Porzellanfigürchen.«

Instinktiv hatten sie sich wieder weiter vom Hause entfernt. Jetzt blieb Sanchez Morueta stehen und blickte Aresti fragend an:

»Luis, habe ich das Recht, glücklich zu sein? Durfte ich das Glück halten, als ich es fand?«

»Warum nicht! ... Das Leben bringt so viele Widerwärtigkeiten, daß ein Mann gut daran tut, in die grauen Konturen seiner Existenz etwas Farbe hineinzubringen. Die Frau liebt dich, wie du sagst. Das Resultat bliebe schließlich dasselbe, auch wenn es nicht so wäre. Von Wichtigkeit ist nur der Glaube, daß man geliebt wird. Die Welt lebt von Illusionen und Lügen, und das größte Unglück ist, die Augen zu öffnen.«

»Sie liebt mich, Luis, sie liebt mich«, bekräftigte nachdrücklichst der Millionär. »Wenn sie gewußt hätte, wer ich bin, könnte man zweifeln. Aber viele Monate lang hielt sie mich für einen Mann von mäßigen Einkünften. Es hat lange gedauert, ehe sie erfuhr, daß ich Sanchez Morueta bin.«

»Desto besser! Dann läuft dein Glück ja keine Gefahr«, antwortete Aresti kurz und hing dann stumm seinen Gedanken nach.

Seinem Vetter war es ergangen wie allen anderen in diesem Lande, die in ihrer Frau mehr finden wollten als nur eine sorgsame Hüterin des Hauses. Aber hatten die Männer nicht ein gut Teil Schuld an ihren Enttäuschungen, da sie ihre Gattinnen sich selbst und der ausschließlichen Gesellschaft von Frauen überließen? ... Wie hatte Sanchez Morueta seine Ehe begonnen? Eine Hochzeitsreise durch die bedeutendsten Städte Europas, die Gelegenheit gab, seinen Reichtum zur Geltung zu bringen, und auf der der junge Ehemann sich im geheimen schon wünschte, wieder an seine Geschäfte zurückkehren zu können. Vom Tage der Heimkehr nach Bilbao an vergrub er sich in sein Kontor und ging abends in seinen Klub. Was blieb der Frau? ... Die einheimischen Damen Bilbaos kannten nicht das anregende gesellschaftliche Leben, wie es in anderen Ländern die Frauen ihrer Kreise pflegen. Die Jesuitenpatres eiferten, um ihren Einfluß zu sichern, gegen Bälle, die sie als Erfindungen des Teufels bezeichneten, sahen ungern den Theaterbesuch; und aus Mangel an Zerstreuungen, voll Sehnsucht nach Musik, nach irgend etwas, das ihr sentimentales Empfinden anregte, suchten die Damen in der Kirche ihren Klub und ihr Theater. Tagaus, tagein weilten sie in der Herz-Jesu-Kirche, wo eine weichliche, mit Gold und Zinnober überladene Architektur, das Harmonium, die Stimmen der Hermaphroditen und die elektrische Lichtflut ihrem weltlichen Geschmack nicht weniger als ihrem mystischen Sehnen schmeichelten.

Aresti lächelte bitter. Gut ersonnen, dieser Belagerungsplan! Langsam die Frau überwältigen, um vermittels ihrer zur Herrschaft über den Gatten zu gelangen! Und wem war die Schuld beizumessen? Vor allem den Männern. Was konnten schwache, führerlose Wesen tun, die durch die ihrem Geschlecht eigene Gefühlsüberschwenglichkeit zu allem Absurden hingezogen wurden? ... Die Frauen waren zu einer Art Haremsleben gezwungen: immer mit ihresgleichen zusammen, sahen sie den Mann nur, wenn es ihn nach ihnen gelüstete. Und da stellte sich der gewandte Jesuit ein, um diese Vernachlässigung zu beheben! Er füllte ihre langweiligen Stunden mit einer süßlichen Frömmigkeit; er war der Eunuch, der sie bewachte, der wirkliche Herr, der die Schar christlicher Odalisken nach seinem Belieben und Gutdünken lenkte. Und so, im Dunkel verborgen, gelang es ihm zuletzt, sich des Willens der Männer zu bemächtigen, die handelten, ohne zu wissen, was die eigentliche Anregung ihres Handelns war.

Manch einer fühlte sich den Patres der Gesellschaft Jesu für die sanften Zerstreuungen, die sie seiner Gattin boten, sogar verpflichtet. Welch grenzenlose Dummheit! Wie hatten diese Eindringlinge allmählich die Frauen des Landes verändert, indem sie ihre Seele töteten und sie zu Automaten machten, die vor jeder Kundgebung der Lebensfreude und Sinnenlust wie vor einer Sünde zurückbebten! ...

Ganz im Banne seiner Empörung, die ihn jedesmal übermannte, wenn er sich dieser Zustände erinnerte, wandte sich Aresti an seinen Begleiter:

»Und du, Pepe, der du dich über das, was in deinem Hause vorgeht, beklagst, was hast du denn getan, um es zu vermeiden?«

Vor Verwunderung über diese Frage hemmte Sanchez Morueta den Schritt.

»Ich? ... Was hätte ich vermeiden können? Vermochte ich vielleicht den Charakter meiner Frau zu ändern?«

»Du hast, wie die anderen, deine Frau in der Frömmigkeit ein Heilmittel gegen ihre Einsamkeit suchen lassen«, entgegnete Aresti. »Und dann wundert es dich noch, daß Cristina sich nach und nach von dir entfernte! ... Mein Fall liegt anders: ich bin nicht reich, und in unserem Lande der Geschäfte hat der Arme keine Autorität über seine Familie. Außerdem wurden die Vorurteile meiner Frau noch unterstützt durch ihre Mutter und ihre Schwester. Aber du, dem die Macht seiner Millionen zur Seite steht, wie konntest du zulassen, daß sich jemand zwischen dich und deine Frau schob? Deine Frau gehört dir nicht mehr, klagtest du mir vorhin. José, ihre Zuneigung, die du entbehrst und deren Fehlen dein Leben aus dem Gleise geworfen hat, besitzen andere. Unter deiner Nase haben sie Cristina den Hof gemacht und sie dir genommen. Und wenn du eines Tages an Rache denkst, so suche die auf, bei denen sie beichtet.«

»Ach, die Jesuiten!« lachte der Millionär verächtlich. »Dein beliebtes Thema ... Du weißt, daß sie mir antipathisch sind. Ich bin liberal und würde noch einmal zum Gewehr greifen, wenn eine neue klerikale Karlistengefahr auftauchen sollte. Aber glaubst du ernstlich noch an die Legende von dem lichtscheuen, verbrecherischen Treiben der Jesuiten, Luis?«

Fast mitleidig blickte er seinen Vetter an.

»Höre auf, Pepe!« entgegnete der Arzt. »Ich errate, was du denkst: ein Spießbürger! Ich kenne die Phrase, die ein so prächtiger Blitzableiter für den Haß ist, den instinktiv alle gegen diese Leute empfinden! Es ist spießbürgerlich, von den Jesuiten zu behaupten, daß sie eine Gefahr bedeuten. Vornehm, zeitgemäß, einsichtig ist es vielmehr, mit geschlossenen Augen irgendeinem pfiffigen Bauernlümmel zu glauben, der – erst einmal mit der Soutane bekleidet – vulgäre Predigten hält und seine Stunden damit zubringt, sich im Beichtstuhl über das Leben des Nächsten zu informieren und das Heilige Herz Jesu anzubeten, das er über Gott stellt.«

»Nein, nein, Luis, das denke ich nicht!« wehrte Sanchez Morueta. »Ich lache sogar über ihre Ideen. Aber du wirst mit mir übereinstimmen, daß der Haß gegen die Jesuiten etwas veraltet ist. Nur die naiven und heroischen Fortschrittler vergangener Zeiten konnten die Hand des Jesuiten überall sehen und an seinen Dolch und sein Gift glauben.«

Der Doktor wurde sehr ernst.

»José, ich glaube weder an Verbrechen im Dunkeln, noch an ihre Rache. Niemand in unserem Lande wagt gegen sie so zu sprechen, wie ich es tue, und du siehst, daß mir desungeachtet nichts passiert. Seit ich das Haus, das sie beherrschten, verließ und inmitten von Leuten lebe, die sie verachten, vermögen sie nichts gegen mich. Fürchten muß man sie nur dort, wo ein geeignetes Milieu ihnen hilft. Wie soll ich dir das erklären? ... Sie gleichen den Mikroben, die an und für sich ohnmächtig sind, aber dennoch eine Epidemie hervorbringen können. Wenn sie ein zartes Wesen antreffen, bereit sie aufzunehmen, töten sie es; geraten sie an ein anderes, das kräftig genug ist, sie zurückzustoßen, so sind sie es, die umkommen. Auch die Jesuiten vermögen nichts durch eigene Kraft allein. Wer ihnen die Stirn bietet, kann ruhig sein – sie suchen ihn nicht! Aber sie rechnen mit der gewaltigen Hilfe der Blindgläubigen, die demütig bitten: ›Herrscht über uns; tut mit uns, was ihr wollt, und gebt uns dafür den Himmel!‹

Und ebensowenig glaube ich an das so oft betonte große Wissen der Jesuiten. Einige – unter Tausenden – haben sich ausgezeichnet in Wissenschaft und Kunst, aber auch diese waren nur achtenswerte Mittelmäßigkeiten. Obwohl die Gesellschaft Jesu Jahrhunderte alt ist, über immense Reichtümer verfügt und sich über die ganze Erde erstreckt, haben ihre berühmten Gelehrten die Menschheit nicht um eine einzige Entdeckung von Bedeutung bereichert. Das Talent des Ordens besteht darin, der Menge seine mittelmäßigen Größen als Genies von Weltruhm hinzustellen und die weit zahlreicheren Dutzendmenschen dort unterzubringen, wo ihre Banalität nicht in die Augen springt. Nichtsdestoweniger ist sein Einfluß innerhalb der Kirche größer als je. Das vierte Gelübde des Ordens, der unbedingte Gehorsam gegen den Papst, hat ihn zu einer unentbehrlichen Stütze des Vatikans gemacht; man geht nicht zu weit, wenn man behauptet, daß das Mönchsheer des Ignatius von Loyola die Tiara vor der lutherischen Revolution rettete. Es ist die Wiederholung der alten Fabel vom Pferd und Menschen. Das Pferd lieh dem Menschen seinen Rücken, damit er es gegen seine Feinde verteidigte; doch als sein Wunsch erfüllt war, weigerte sich der Reiter abzusteigen und verurteilte es zu ewiger Knechtschaft ... Die Gesellschaft Jesu hat den Papst gerettet, um ihn dafür auf immer zu unterjochen. Der Papst, der den Segen spendet, thront weiter im Vatikan; aber der Papst, der dekretiert und die Gewissen lenkt, ist der Jesuitengeneral.

Aber was schert mich das? ...« schloß Aresti. »Ich stehe außerhalb der Kirche, und ob der eine oder der andere regiert, ist mir völlig gleichgültig.«

Sein Vetter machte eine zustimmende Gebärde.

»Und mich kümmern die ganzen Religionsangelegenheiten ebensowenig.«

»Dich sollten sie aber kümmern«, sagte Aresti energisch. »Weil du nicht zur Messe gehst und keinen Verkehr mit der Geistlichkeit pflegst, wähnst du, daß du dich in Sicherheit befindest. Pepe, deine Stunde wird kommen! Eines Tages wirst du zur Messe gehen, vielleicht sogar in irgendeinem Beichtstuhl der Jesuiten auf den Knien liegen. Du lebst in ihrer Einflußsphäre; vermöge deiner Familie haben sie dich im Bereich ihrer Hand, und sie werden zugreifen. Denn schließlich ist der Millionär Sanchez Morueta kein schlechter Bissen!«

»Sachte, sachte! So schlimm wird es wohl nicht sein! In London würde man über dergleichen Hirngespinste lachen.«

»Aber ist Bilbao etwa London?« rief der Doktor verzweifelt. »Wir leben in Spanien, in einem Lande, das für ein Leben ohne Kirche kein Verständnis aufbringt. Vorher sagte ich, daß euch die Warnung vor den Jesuiten lächerlich klingt. Lächerlich wäre es, von einer Jesuitengefahr in London, Berlin oder New York zu träumen; aber hier? – Zum Teufel mit der Lächerlichkeit! Hier kannst du keine Bewegung machen, ohne über sie zu stolpern.«

»Sehr wahr!« bestätigte der Millionär, ernst geworden. »Hier dominieren sie. Ich weiß, daß sie andere Großindustrielle, die fremdes Kapital benötigten, hochgebracht oder auch ruiniert haben, je nachdem sie ihnen Aktionäre verschafften oder die Kapitalisten vom Zeichnen zurückhielten. Auch mir versuchten sie sich durch tausend Mittel zu nähern; sie ließen mir durch Dritte alle mögliche Unterstützung anbieten, aber ich habe mich von ihnen frei gehalten. In mein Haus kommen sie nicht hinein! Das weiß auch Cristina, und sie weiß auch, daß ich bei einem Zuwiderhandeln unweigerlich mit ihr brechen würde, ohne Furcht vor der öffentlichen Meinung. Du lächelst, Luis – hast du denn jemals hier eine Soutane gesehen? Hast du jemals sagen hören, daß die Herren aus der ›Residencia‹ zu mir kommen?«

Das ironische Lächeln um Arestis Mund verschwand nicht.

»Nein, sie kommen nicht, Pepe. Wozu auch? Wen sollten sie hier suchen? Etwa deine Frau und deine Tochter? ... Diese Mühe ersparst du ihnen ja, indem du die beiden dorthin schickst, wo sie sie erwarten. Du verschließt ihnen die Tore deines Hauses, doch vorher lieferst du ihnen deine Familie aus ...«

»Das hast du mir schon mehr als einmal gesagt, Luis. Trugbilder sind das! Ich wiederhole dir, sie kommen nicht über meine Schwelle. Und du solltest mich doch kennen!«

Aresti schien die Worte nicht zu hören. Er starrte vor sich hin.

»Vor einiger Zeit«, hub er dann langsam an, als müsse er erst seine Gedanken sammeln, »las ich ein Drama des Belgiers Maeterlinck ›Der Eindringling‹. Kennst du es?«

Der Millionär schüttelte den Kopf. Ihm ließen die Geschäfte keine Zeit für Literatur.

»Der Eindringling«, fuhr Aresti fort, »ist der Tod, der in die Häuser hineingeht, ohne daß jemand ihn sieht; aber alle spüren seinen Schritt.«

Und der Doktor erzählte die düstere Szene von der Familie, die im Halbdunkel, außerhalb des Lichtkreises der durch einen grünen Schein abgeblendeten Lampe, um den Tisch sitzt. Nebenan im Schlafzimmer liegt eine Schwerkranke im Halbschlaf; draußen wird in der Nähe des Hauses eine Sense geschliffen, und das Wetzen des Steins furcht den schwarzen Kristall der Nacht. Irgend jemand muß den Garten betreten haben ... einer nach dem anderen erhebt sich, geht ans Fenster – nichts ist zu sehen. Die Schwäne schreien erregt und bergen den Kopf unter die Flügel; Blüten fallen, verwelkt; Steine knirschen, als wuchteten riesenschwere Füße über sie hin ... und dennoch sieht man nichts. Obwohl kein Lufthauch weht, öffnet sich die Tür. Und sogar die Nacht – noch stummer – scheint verstört zu lauschen. Die drinnen versuchen den Türflügel zu schließen. Vergeblich! Ein unsichtbarer Körper scheint sich dagegen zu stemmen, jemand, der noch ungewiß verharrt, um sich zu orientieren. Dann schreitet das mysteriöse Wesen durch den Raum. Niemand sieht es, doch jeder ahnt seine Spuren auf dem Teppich, jeder fühlt, daß irgendwer vor dem grünen Lampenschirm vorbeigeht. Die Portiere zum Krankenzimmer wird von einer unsichtbaren Hand zur Seite gerafft und fällt wieder zurück, ohne daß jemand hineintritt. Ein Stöhnen! ... Die Kranke verschied.

Es war der Tod, der, alle Hindernisse überwindend, bis an ihr Lager gelangte; der Eindringling, für den es keine Türen gibt.«

Schweigend blickte Aresti auf seinen Vetter. Er sah, daß dieser ihn nicht begriff.

»In deinem Hause, José«, sagte er nach einer langen Pause, »geht dasselbe vor. Du glaubst, daß dein Feind dort nicht eingetreten ist, weil du ihn nicht in Fleisch und Knochen an deinem Tisch oder im Salon sitzen siehst. Dennoch ist er bereits lange bis in dein Schlafzimmer vorgedrungen – du selbst klagtest es mir. Jeden Tag stellt er sich von neuem ein, indem er den Schritten deiner Frau und deiner Tochter folgt, wenn sie von der Jesuitenkirche oder von den Zusammenkünften der Marientöchter zurückkehren. Ahnst du nicht die Nähe dieses unsichtbaren Feindes? Fühlst du nicht, wie er dich streift? Der letzte deiner Diener sieht es, und du bist blind. Er schaut nach dir zu jeder Stunde, er weiß von allem, was du tust. Seine Augen sind dein Sekretär und dieser junge Verwandte Cristinas, der Pepita den Hof macht, doch dabei hauptsächlich an deine Millionen denkt. Und die Hände deines Feindes sind deine Frau und deine Tochter; sie werden einen Augenblick der Schwäche und Mutlosigkeit bei dir ausnutzen, um dich sanft in die Arme des Eindringlings zu leiten.«

Sanchez Morueta brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Du bist verrückt, Luis, total verrückt! Umsonst nennt man dich ja auch nicht ein Original. Die Lektüre hat dir den Kopf verdreht. Wozu all dies Gerede von Phantasmen, Dramen, Eindringlingen und Teufeln mit Tonsur? Es rührt doch alles nur daher, weil ich meiner Familie die Freiheit lasse, sich in praktischen Religionsübungen zu ergehen und sich mit der hübschen, von den Jesuiten erfundenen Devotion zu zerstreuen. Was kann ich machen, wenn sie Vergnügen daran finden? Willst du, daß ich ihnen wie ein Tyrann aus einem Theaterstück meinen Willen aufzwinge und befehle: Schluß mit allen Beziehungen zu den Patres; hinfort gibt es nur noch die Messe, die der Pfarrer von Portugalete in unserer Hauskapelle liest! Nein, Luis, das tue ich nicht. Ich bin sehr liberal, vielleicht liberaler als du.«

Mit der Überzeugung eines Briten betonte er seinen Respekt vor der Freiheit des Individuums und seinen Abscheu gegen jeden Gewissenszwang.

»Wie viele Familien gibt es nicht in England, deren Mitglieder verschiedenen Religionen angehören, ohne daß sie sich deswegen feindlich gegenüberstehen. Nein, Luis, Gewissensfreiheit für alle!«

Aresti wurde erregt angesichts der heiteren Ruhe, mit der sein Vetter von der Freiheit sprach.

»Ich pflichte dir vollkommen bei, wenn es sich um ein Land handelt wie das, von dem du sprichst!« rief er aus. »Ein Land, das weder Andersgläubige verfolgt, noch religiöse Intoleranz gekannt hat. Wie aber kann man hier bei uns von Freiheit reden, in diesem Spanien, das der ganzen Welt als das Land der Inquisition und Heimat des Ignatius von Loyola bekannt ist! ... Seit vier Jahrhunderten lastet die klerikale Tyrannei auf unseren Schultern. Der einheitliche katholische Glaube steht keineswegs in der Verfassung, doch die Machthaber sorgen dafür, ihn als Sitte und Gewohnheit zu verewigen. Und da willst du mit britischem Phlegma von Freiheit und Achtung für andere Kulte sprechen? ... Das wird in dem neuen Spanien möglich sein, dessen Geburt wir seit Jahrzehnten erwarten, das den Kopf hebt und sich gleich darauf wieder verbirgt, immer noch unschlüssig, ob es ganz aus den Eingeweiden der Geschichte herauskriechen soll. Nein, José, ich bin nicht liberal; ich bin ein Kind meiner Zeit – so, wie mich die Zustände in meinem Lande geformt haben. Ich bin Jakobiner, ich möchte ein Inquisitor sein im umgekehrten Sinne, verstehst du? Ein Mann, der von Gewalttätigkeit träumt, von Feuer und Schwert als einzigen Mitteln, das Land von dem Elend der Vergangenheit zu reinigen.«

In Arestis Worten bebte der Haß gegen den geheimen Einfluß, der sein Leben zerbrochen, ihn in seinen Gefühlen als friedliebender Mann verletzt hatte. Gewiß war ihm die Freiheit teuer, doch eine Freiheit zum Wohle der Menschheit. Vorwärts sollte sie führen zu den neuen Idealen: Gewissensfreiheit, Schutz des Arbeiters gegen die Ausbeutung durch den Kapitalismus, sollte sich nicht reaktionär anklammern an tote Institutionen. Nein, er konnte Doktrinen, die die Verneinung des Lebens besagten, kein Existenzrecht einräumen, er konnte die Freiheit den traditionellen Feinden eben dieser Freiheit nicht zugestehen.

»Fort mit diesen Feinden des Lebens«, rief er, »die Sinnenlust als Sünde verfluchen, denen die Keuschheit der Jungfrau unendlich höher steht als die erhabene Fruchtbarkeit der Mutter, die der beschaulichen Faulheit das Lob singen. Müßiges Umherstreifen und Armut wollen sie zum Idealzustand der Menschen machen, schmutziges Elend gilt ihnen als Zeichen der Heiligkeit. Von allem, was diese Welt Schönes bietet, ziehen sie den Menschen ab, um seinen Blick auf einen erlogenen Himmel zu lenken; schmähen diese Erde das Tal der Tränen, das sie je eher, desto lieber verlassen möchten. Gut denn! Warum verfährt man mit ihnen nicht nach ihren Wünschen? Damit endlich freies Feld wird für uns Sünder, für uns Böse, die diese Welt lieben, sich mit ihren Mängeln abfinden und es dahingestellt sein lassen, ob es noch eine bessere gibt.«

Etwas wie Mordlust blitzte in des Doktors Augen.

»Luis, Luis, du bist ja schlimmer als ein Inquisitor! Wie kann ein moderner Mensch wie du solche Reden führen!«

»Glaube mir, José, das ganze neuerungsdurstige Spanien empfindet wie ich, nur hat es seine Impulse noch nicht mit dem Verstande zergliedert. Bei anderen vorgeschritteneren Völkern hat sich die große religiöse Krisis, der Übergang vom Glauben zur Vernunft, sacht und unmerklich, in völliger Freiheit vollzogen, wobei die Reformation mit ihrem Geist kritischer Untersuchung als Brücke diente. Bei uns hingegen heißt es, einen Gewaltsprung zu machen, ohne Zwischenstufe von den alten Zwangslehren ins moderne Leben hineinzutauchen. Ein brutaler Übergang, der alles, was sich entgegenstemmt, zu Boden wirft! Es ist eine Utopie, unser Volk friedlich, Schritt für Schritt, zum Ziel bringen zu wollen, denn man muß die traurige Erbschaft, die es belastet, in Rechnung setzen: seine nicht von gestern datierende Erziehung zur Intoleranz. Einige wenige Jahre modernes Leben – nicht einmal eigenes, sondern nur eine Reflexerscheinung – können nicht Jahrhunderte religiöser Wildheit auslöschen. Inquisitor, sagst du? In vergangenen Zeiten bewiesen die zünftigen Katholiken die Reinheit ihres Blutes, um darzutun, daß es weder mit jüdischem noch mit maurischem vermischt war. Aber wer in Spanien kann heute noch schwören, daß in seinen Adern nicht das Blut eines Mönches oder eines Familiars Späher des Inquisitionsgerichtes. des Heiligen Offiziums rollt? ...

Ich habe genug Versammlungen beigewohnt, um die Steigerung in den Gefühlen und die Tendenz der großen Masse zu kennen. An die Monarchie denkt sie wie an eine überkommene Kalamität, die von selbst, ohne besondere Anstrengung, früher oder später verschwinden wird. Die soziale Frage interessiert alle; doch sehen sie in der revolutionären Bewegung vorläufig nur den Vorteil einer etwas besseren Bezahlung und einer Verminderung der Arbeitszeit. Sobald man hingegen vom Jesuiten, vom Mönch oder vom Pfarrer spricht, springt die Menge unwillkürlich auf; ihre Augen funkeln diabolisch im Wunsch nach Rache für jahrhundertelange Knechtschaft; tobender Beifall bricht los; drohend heben sich die Fäuste gegen den traditionellen Feind, den schwarzen Mann, den Herrn über Spanien. Streiks um reiner Arbeitsfragen willen weichen vom Ziele ab und endigen mit Steinwürfen gegen die Kirchen; bei den Manifestationen wird jede auf der Straße auftauchende Soutane geschmäht und ausgepfiffen, und sogar Protestversammlungen gegen die Lebensmittelteuerung führen häufig genug zum Brand irgendeines Klosters.

Warum dieser Haß, könnte man fragen, für den scheinbar kein Grund vorliegt? Die Arbeiter der Städte gehen weder zur Messe noch zur Beichte, und ihre elenden Löcher sind vor den Besuchen der Mönche und Jesuiten, die die Häuser der Wohlhabenden bevorzugen, sicher. Warum also der Haß? ... Weil die Masse instinktiv in ihnen die Schranke gegen jeden Versuch zum Fortschritt ahnt. Jede Entwicklung des Landes hemmend, verschließen sie auch denen von unten den Weg. Sie sind es, die das Volk Jahrhunderte hindurch in Unwissenheit erhalten haben, die ihm predigten, daß der Arme kein anderes Recht als das auf Almosen hat, die ihm einen abergläubischen Respekt vor allen Machthabern einprägten und es das irdische Elend als eine Schickung des Herrgotts anzusehen zwangen, durch die ihm der Himmel sicher war.

Vielleicht wird die Masse unbewußt auch von dem Verlangen nach Vergeltung getrieben. Unserer vaterländischen Geschichte entströmt ein Hauch von geheiligter Roheit. Jahrhunderte hindurch verdunkelten den blauen Himmel unseres Landes die Rauchwolken der Scheiterhaufen, auf denen lebende Menschen rösteten; Könige und Granden wohnten inmitten von Lobgesängen den Autodafés mit derselben Begeisterung bei wie heute den Stiergefechten. Doch die Asche von Tausenden schrie nach Rache – von Greisen, deren einziges Vergehen es gewesen war, die Bibel zu kommentieren; von Frauen, die an nervösen Störungen krankten; von unschuldigen Mädchen, die arglos dem Glauben ihrer Eltern Treue bewahrten. Rächer der Vergangenheit, versucht das Volk bei der geringsten Revolte, Feuer an die Heimstätten der Repräsentanten dieser verhaßten Vergangenheit zu legen, und eines Tages wird es sie wirklich verbrennen, samt allem, was drinnen lebt. Brutal, aber logisch in einem Lande wie Spanien. Und worüber wollen sich die heutigen Machthaber – die Opfer von morgen – beklagen? Diese würdigen Nachkommen der Inquisitoren mit ihrer Verachtung für ein Menschenleben, von denen die Volksseele seit Jahrhunderten vergiftet worden ist? ...

Gewisse Mollusken bilden durch Ausscheidung von Körpersäften die Schale, die ihnen als Kleid und Verteidigung dient – der Spanier hatte keinen anderen Saft in sich als den der Intoleranz und der Gewalttätigkeit. So hat man ihn geformt, und so ist er! In vergangenen Epochen war die Schale schwarz, in Zukunft wird sie rot sein; doch ist es stets dieselbe Hülle. Dem Inquisitor der Vergangenheit gegenüber reckt sich der Inquisitor im Namen des Künftigen. Und erst nach dieser Evolution wird der Mensch ohne Rachsucht, ohne Angst vor traditionellen Feinden, auf dem trümmerfreien Boden das Gebäude der Zukunft aufführen.«

»Luis, du bist tatsächlich verrückt!« lachte Sanchez Morueta. »Wenn ich deine Worte ernst nähme, würde mir grausen ... Nun hör auch mich an, du kleiner, verdrehter Mediziner. Ich will zugeben, daß diese Leute nicht nur schädlich, sondern auch so gefährlich sind, wie du sagst. Aber warum Gewalt anwenden? Um ihnen ein Ende zu bereiten, gibt es kein besseres Mittel als die Freiheit; in ihrer Atmosphäre werden sie wie der Keim in einem unrichtigen Boden zugrunde gehen. Sie verfolgen und unterdrücken, hieße vielleicht sie stählen, ihnen zeigen, daß man sie fürchtet ... Viel Freiheit, viel Fortschritt – und du wirst sehen, wie die moderne Entwicklung sie an den ihnen gebührenden Platz drängt, von dem sie sich nicht mehr hervorwagen werden.«

Der Doktor wiegte in mitleidigem Spott den Kopf.

»Jetzt ist die Reihe zu lachen an mir. Mit diesen Leuten in schrankenloser Freiheit kämpfen wollen, wenn sie jahrhundertelange Vorherrschaft, die Unkultur des Landes, die Dienstbarkeit und Hörigkeit der durch die Sentimentalität der Unwissenheit an sie geketteten Frau für sich haben! Wenn sie außerdem noch auf die Unterstützung des Reichen zählen, der, von Gewissensbissen gepeinigt, in überlieferter Dummheit mit einem Teil seines Vermögens die Sicherheit, nicht zur Hölle zu fahren, erkauft! ... Solange diese Herren existieren, werden alle Anstrengungen für ein Wiederaufleben des Landes unfruchtbar sein. Sie allein profitieren von den Vorteilen des nationalen Fortschritts. Alle Bissen, die die Zivilisation im Vorbeigehen über die Hecke unseres Geheges wirft, schnappen sie, die stärksten und behendesten Hunde, fort, während die spanische Dogge mager, krank und von Ungeziefer bedeckt in einem Winkel döst.

Betrachte einmal aufmerksam die Arbeitsweise der Patres von der Gesellschaft Jesu, die als die wahren Repräsentanten des Katholizismus, sozusagen als der Generalstab des religiösen Heeres angesprochen werden müssen und allein das Geheimnis seiner Marschbewegungen und Stellungswechsel kennen. Als Barcelona, mit dem Fabrikationsaufschwung Europas gleichen Schritt haltend, aufblühte und groß wurde – sofort waren sie da. Als der Weltruhm seiner Weine Jerez mit ungeheurem Reichtum überschwemmte, reckte sich binnen kurzem über die Dächer der Bodegas die Kirche der Jesuiten. Als Bilbao seine Erzlager entdeckte, stellten sich ohne Säumen die Schüler des Ignatius ein, forderten ihren Anteil und bauten Universität und Kirche: die Fabrik zur Erzeugung von Automaten und den Laden, in dem das ewige Seelenheil verkauft wird. Nicht eine einzige Oase tauchte auf der armseligen Landkarte Spaniens auf, ohne daß sie hinzustürzten, indes die armen Regionen im Innern, zu anhaltender Dürre und afrikanischer Bodenbearbeitung verdammt, nichts von ihnen wissen. Das elende Spanien überlassen sie den ungeschliffenen Hungerleidern der Kapläne, den verächtlichen Marodeuren der Armee des Glaubens. Sie selbst aber, sie sind wie die Bienen, die in der Steppe das Vorhandensein verborgenen Wassers anzeigen; wo sie erscheinen – darüber braucht man keine Zweifel zu hegen – ist Reichtum vorhanden!

Nein, dem spanischen Klerus kann man keine Achtung entgegenbringen. Und wer der Kirche gegenüber sich auf eine pure Verteidigungsstellung beschränkt, in der Hoffnung, daß auch sie eine kluge Zurückhaltung beobachten würde, ist von vornherein besiegt. Ihre Hirten sind wegen ihrer Überzeugung, daß sie die absolute Wahrheit besitzen, gefährlich und furchtbar. Gott selbst – behaupten sie – habe sich der Mühe unterzogen, ihnen diese Wahrheit zu offenbaren, und fortgesetzt spüren sie das Verlangen, sie ihren Mitmenschen, und sei es auch durch Gewalt, aufzuzwingen und rebellische Geister, die sich gegen solche Wohltat sträuben, auszurotten ... Mit allen Irrtümern – sofern sie Früchte der Vernunft sind – kann man in Frieden leben, denn die Vernunft betrachtet sich nicht als unfehlbar und ist schnell bereit zur Richtigstellung. Wie aber soll man, in gegenseitiger Achtung, mit Männern auskommen, die all ihre Gedanken als undiskutierbare Eingebungen der Göttlichkeit hinstellen? Bei ihnen ist die Gewalttätigkeit instinktiv; grimmige Entrüstung packt sie, wenn sie gewahren, daß man auf Gott, der aus ihrem Munde spricht, nicht hört. Nein, José, ihre Verbrechen der Vergangenheit zusammen mit ihren heutigen Ansprüchen legen uns die Pflicht auf, sie zu bekämpfen. Ihren Glauben kann man achten, aber sie selbst muß man wie gefährliche Irre bewachen und in einem Dauerzustand von Schwäche halten, damit sie nicht versuchen, sich dem Volk mit Gewalt aufzudrängen.

Respekt vor der Freiheit! ...« ahmte Aresti spöttisch die Worte seines Vetters nach. »Wenn ich dich so höre, Pepe, kommst du mir wie ein verrückter Tierfreund vor, der sich im Zoologischen Garten über den Zwinger eines Panthers aufregt. Genieße deine Freiheit, armer Panther, sagt der Mann, die Gittertür öffnend. Und die Bestie zeigt dem Befreier ihre Dankbarkeit, indem sie ihn mit einem Tatzenhieb zu Boden streckt und zerfleischt.

Laß den Panther unserer Geschichte frei, und du wirst sehen, wie er deiner Einfalt eines altfränkischen Liberalismus begegnen wird!« rief der Arzt erregt.

»Und was willst du?« fragte Sanchez Morueta. »Ihn töten? Glaubst du, daß das mit einem einzigen Hieb möglich ist?«

»Was schädlich, was gefährlich ist, muß unterdrückt werden. Die Bestie ...« Er schwieg. Und erst nach geraumer Zeit fügte er aus tiefster Überzeugung hinzu:

»Die Bestie töten, wäre das Beste. Sonst soll man sie wenigstens hinter Gitterstäben verwahren, ihr die Krallen brechen, ihr die Zähne ausreißen, und haben Alter und Schwäche den Panther in einen zahmen Hund verwandelt, dann ja: alle Türen auf! Völlige Freiheit! ... Und wenn die früheren Instinkte doch noch einmal hervorbrechen, wird ein Fußtritt genügen, um ihn zur Räson zu bringen.«

 

Die zweite Etage des modernen Gebäudes, dessen Wände Ruß und Rauchwolken der Schlote, die zwischen ihm und der Flußmündung hochstrebten, geschwärzt hatten, nahm das Ingenieurbüro der Hüttenwerke Sanchez Moruetas ein, während in den unteren Stockwerken die Männer der Verwaltung saßen.

Die Feder hinter dem Ohr, plagten sie sich mit einer umfangreichen Buchhaltung über die Eingänge von Erz und Kohle, über den Abgang des bearbeiteten Stahls, der in Form von Schienen, Barren und Maschinen ganz Spanien überschwemmte, und über die Löhne einer Armee von Arbeitern. Manch zorniger Blick suchte an den Zahltagen die unteren Fenster, hinter denen man wieder einmal einen Grund für Lohnabzüge herausgeklügelt hatte. Streifte das Auge der Arbeiter aber das oberste Stockwerk, wo die Techniker – das Gehirn, das diese Welt im kleinen dirigierte – arbeiteten, so lag in ihm die Achtung der einfachen Leute vor dem studierten Mann. Ihnen, die, über ihre Reißbretter gebeugt, mit peinlicher Sorgfalt und Genauigkeit Modelle zeichneten oder endlose Ziffern und Buchstaben für ihre Berechnungen aneinanderfügten und sich darauf beschränkten, die Ausführung der Arbeiten zu leiten, fühlten sie sich viel enger verbunden als den die Löhne aushändigenden Beamten.

Chefingenieur war Fernando Sanabre, der dank eines erstaunlichen Gedächtnisses alle Arbeiter bei Namen kannte. Wenn sie ihn bei seinem Rundgang durch das Werk auftauchen sahen, dünkte sie die harte Arbeit weniger beschwerlich und ging ihnen flinker von der Hand. Der junge Mann verfügte über die großen Führern und Aposteln eigene Gabe, die Massen mit sich fortzureißen. Er flößte Vertrauen und Glauben ein. Sein einfaches Wesen, seine freundlichen Worte und das spontane Lächeln, der Abglanz eines geraden und offenen Charakters, nahmen die Arbeiter, die sonst nur dem schroffen Befehlston der Werkmeister und der hochmütigen Art der »Schreiberseelen« begegneten, gefangen.

Sehr bescheiden lebte er bei einer älteren Witwe, deren Mann im Betrieb verunglückt war und die sich ohne ihren Pensionär der Not wohl nicht hätte erwehren können. Ein großer Teil seines Gehaltes nahm den Weg nach einem Städtchen an Spaniens Mittelmeerküste, wo seine Mutter und seine Schwestern wohnten. Die alte Frau hatte versucht, in der Nähe ihres Sohnes heimisch zu werden, und sich dann doch nicht an das Klima Bilbaos gewöhnen können. Noch bewahrte mancher Arbeiter die Erinnerung an eine Dame mit glattgescheiteltem weißem Haar, die bisweilen in Begleitung ihrer beiden Töchter am Strand spazierenging, leise klagend über die endlosen Regen und die mit Qualm und Kohlenstaub durchsetzte Luft. Oh, welch ein Gegensatz zu ihrer südlichen Sonne, den immergrünen Feldern, den von einem heißen Wind durchglühten Orangenhainen! ...

Sprachen die Arbeiter über Don Fernando, so lobten sie einmütig die Hilfsbereitschaft, mit der er durch Krankheit in Not geratene Familien unterstützte. Höher aber noch rechneten sie es ihm an, daß er wegen der Verteidigung ihrer Rechte ständig auf Kriegsfuß mit der Verwaltung stand, in der der Privatsekretär Goicochea, die Protektion Doña Christinas ausbeutend, mehr als einen seiner Freunde untergebracht hatte. Die frommen Herren, die wie er selbst ausnahmslos Mitglieder der Laienbrüderschaften Bilbaos waren und die sich mehr mit der Denkart der Belegschaft als ihrer Arbeit beschäftigten, übten vermöge eines wirksamen Spionagesystems innerhalb der Werkstätten eine scharfe Kontrolle über die Arbeiter aus und klassifizierten sie nach ihrem religiösen Verhalten.

Vor wenigen Wochen erst war ein im Werk ergrauter Mann unter nichtigen Vorwänden entlassen worden, weil er – zum großen Ärgernis aller Frömmler – seinen Sohn ohne Priester, ohne Kirche beerdigt hatte.

»Was? ... Schuften wir nicht genug für unseren Lohn?« murrten die Arbeiter. »Sollen wir dafür uns auch noch vorschreiben lassen, wie wir uns in unserem Privatleben zu verhalten haben? Vielleicht mit einer Kerze in der Hand bei jeder Prozession mitlaufen, um uns lieb Kind zu machen? ...«

Zwischen Sanabre und den Verwaltungsdirektoren fand eine erregte Auseinandersetzung statt, und da sie erfolglos blieb, suchte er kurzer Hand Sanchez Morueta selbst auf. Der Millionär, von seinen Geschäften in Anspruch genommen, erfuhr herzlich wenig von den internen Begebenheiten auf seinen Werken, die er in besten Händen glaubte. Um so mehr empörte ihn die Anmaßung seiner Angestellten.

»Ich verlange von meinen Arbeitern weiter nichts als gute Leistungen. Der entlassene Mann ist sofort wieder einzustellen«, dekretierte er.

Der Chefingenieur hatte gesiegt, und die Arbeiterschaft zweifelte nicht, daß, solange Don Fernando für sie eintrat, der auf anderen Werken herrschende Geist bigotter Reinigung, dem das Lesen mißliebiger Zeitungen und die Teilnahme an sozialistischen Versammlungen ein genügender Grund zur Entlassung war, sich nicht bei ihnen breitmachen würde. Sie ahnten alle, welchen Wert Sanchez Morueta auf das Urteil des jungen Sanabre legte.

So war es in der Tat. Sanchez Morueta brachte Fernando, in dem er etwas von dem vergeblich erhofften eigenen Sohn fand, ein starkes Wohlwollen entgegen. Vor acht Jahren hatte sich der junge Ingenieur, kurz nach seinem in Barcelona abgelegten Examen, eines Tages mit einem Empfehlungsschreiben bei ihm gemeldet. Sein Vater war Soldat gewesen, denn in diesem Geschlecht vererbte sich das Schwert als einziges Arbeitsgerät von Generation auf Generation. Fernando aber gefiel als erstem seines Stammes das Waffenhandwerk ganz und gar nicht. Und als Sanchez Morueta den jungen Fremden musterte, stellte er bei sich fest, daß er auch äußerlich von seinen kriegerischen Vorfahren wenig mitbekommen hatte. Eine zierliche Figur, schlanke Hände und große schwarze Augen, vielleicht zu sanft für einen Mann; der wohlgepflegte Schnurrbart war die einzige Erbschaft seiner streitbaren Ahnen!

Es währte nicht lange, und er besaß das volle Vertrauen Sanchez Moruetas. Dieser Mann von wenig Worten wurde sofort von dem jungen Ingenieur verstanden; häufig kam er dessen Gedankengang sogar zuvor und traf Anordnungen, die sein Chef selbst noch nicht klar formuliert hatte.

Bei seinem Eintritt war der Bau des Hochofenwerks gerade beendet worden, und Sanabre wurde dem Konstrukteur, einem Engländer, zugeteilt, der bis vier Uhr nachmittags ausgezeichnete Arbeit leistete. Von dieser Stunde ab ließ ihn jedoch der während des Tages in Massen konsumierte Whisky die tollsten Extravaganzen begehen. Als er schließlich in sein Land zurückkehrte, fragte Sanchez Morueta, ein gütiges Lächeln um den Mund, seinen Schützling: »Wie ist es, mein Junge? Getraust du dich, mit dem ganzen Kram fertig zu werden?«

Und ob er sich getraute! ...

Es erwies sich bald, daß der Betrieb mit größerer Regelmäßigkeit lief und die Konflikte zwischen Verwaltung und Arbeiterschaft weniger wurden, seitdem er an der Spitze stand. Sanabre verstand es ausgezeichnet, die Riesenmaschine zu ölen und vermittelnd und begütigend einzuspringen.

»Wir müssen über die Interessen des Hauses wachen!« erklärte die Verwaltung, wenn sie nach Gründen suchte, die Löhne um einige Centimos zu drücken.

»Was bedeuten für Sanchez Morueta ein paar Pesetas?« widersprach der Chefingenieur. »Es ist seiner unwürdig, wegen solcher Kleinigkeit das Elend zu verbittern.«

Und der Millionär billigte wortlos Sanabres Standpunkt, während »die Jesuwiter der Direktion«, wie man sie in den Werkstätten nannte, ihre Niederlage mit einem scheinheiligen Lächeln quittierten.

Letzthin konnten die Arbeiter, die gewohnt waren, ihren Chefingenieur in Mütze und billigen Schuhen mit Hanfsohlen durch die Werkstätten schreiten zu sehen, eine Vorliebe für elegante Anzüge und nagelneue Hüte, die er mit gewohnter Sorglosigkeit dem Funkenregen und Qualm aussetzte, bei ihm wahrnehmen. Die ausgemergelten Frauen in der Kohlenaufbereitung, die sich in den schweren Tagen ihrer Mutterschaft an ihn um Hilfe wandten, stutzten besonders über seine weißen, steifen Kragen und buntseidenen Krawatten.

»Wie schick er aussieht, unser Don Fernando! Wer mag wohl die Braut sein?« tuschelten sie – ihr Fraueninstinkt erriet sogleich die Liebe hinter dieser plötzlichen Veränderung.

Bisweilen sah man ihn abends im Wagen fortfahren, und einmal trug er am nächsten und auch am übernächsten Morgen noch eine Blume im Knopfloch, die sein Blick dann und wann zärtlich streifte.

»Don Fernando, darf man fragen, wann die Hochzeit ist?« erkundigte sich schließlich ein von ihm sehr geschätzter, bejahrter Arbeiter.

Und der Chefingenieur antwortete durch ein glückliches Lächeln. Vor ihm her schwebte durch die lärmerfüllten Hallen die Vision eines jungen Mädchens, wie ein Sonnenstrahl alles verschönernd.

Eines Nachmittags saß Sanabre schreibend an seinem Arbeitstisch, dicht neben einem großen Fenster, das einen Teil der Bucht, ein Stückchen blauen, von Schornsteinen durchbohrten Himmel und die Bergkette am gegenüberliegenden Ufer einrahmte. Aber er benutzte nicht einen der großen Geschäftsbogen, sondern elegantes Briefpapier – und die sorgsam geführte Feder schien dem Papier schmeicheln zu wollen.

Gerade als er bei der dritten Seite angelangt war, klopfte jemand mit einem Spazierstock an die Tür, und eine laute Stimme störte die beinahe klösterliche Stille des Büros.

»Wo steckt er denn, der kleine Ingenieur?«

Den Kopf hebend, sah Sanabre ein Paar Brillengläser funkeln. Doktor Aresti! ... Der Ingenieur erhob sich von seinem Sitz, verblüfft, verwirrt ... und unentschieden, ob er seinem Besuch entgegengehen oder erst den Brief verbergen sollte.

»Das sind die Nachteile der Popularität«, begann der Arzt, während er auf einem Stuhl am Fenster Platz nahm. »Die Frau eines nach Bilbao verzogenen Unternehmers wollte sich nur von mir untersuchen lassen; ich glaube, daß die guten Damen, selbst wenn sie sich an das andere Ende der Welt verfügen, noch nach mir rufen werden! ... Bis zur Rückfahrt meines Zuges nach Gallarta dachte ich ein wenig mit Ihnen zu schwatzen; wir haben uns ja seit meines Vetters Namenstag nicht mehr gesehen. Es geht Ihnen scheinbar gut, wie? ...«

Ein freundschaftlicher Klaps auf Sanabres Schulter begleitete die Worte. Gleichzeitig hatten seine umherwandernden Augen den Briefbogen auf dem Schreibtisch entdeckt, und ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, fuhr er neckend fort:

»Das dort hat doch wohl nichts mit Technik zu tun, mein Lieber? ... Meine Nase wittert eher eine Brautschaft! Auch eine Art, die Interessen meines Vetters wahrzunehmen, Herr Chefingenieur! Und sicherlich gibt es in den Schubfächern noch anderes als Pläne und Berechnungen. Sehr schön, Señor! Sehr angebracht in einem seriösen Büro wie diesem.«

Er weidete sich an Sanabres Verlegenheit, der ihn, obwohl Aresti mit Rücksicht auf die nur angelehnte Tür zum Nebenraum leise sprach, möglichst bald draußen zu sehen wünschte.

»Wollen Sie mich auf meinem Rundgang begleiten? Einer der Hochöfen wird abgestochen.«

»Gut, sehen wir uns die industrielle Feudalburg meines Vetters an«, stimmte der Doktor zu. Doch kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, so faßte er einen Knopf von Sanabres Rock und zwang den jungen Mann zum Stehenbleiben.

»Hier riskieren wir nicht mehr, daß uns jemand hört. Also, Don Fernandito, wie weit ist die Liebesaffäre gediehen?«

Sanabre errötete unter des Doktors Blick, der mit der aufdringlichen Hartnäckigkeit Kurzsichtiger an ihm hing.

»Verflixter Ingenieur, leugnen Sie nicht! Der Kapi hat mich vergangene Woche, als er zur Jagd in Gallarta weilte, unterrichtet. Und Sie wissen, daß ihm nichts von dem, was sich in Josés Hause zuträgt, entgeht. Wann also gedenken Sie mein Neffe zu werden?«

Jetzt endlich gab Sanabre klein bei. Ohnehin sehnte er sich wie alle Verliebten danach, sein Glück jemandem anzuvertrauen. Und wem besser als dem klugen Aresti, der durch seine Verwandtschaft mit Pepita die Gloriole einer großen Persönlichkeit erhielt! ... Die schamhafte Zurückhaltung des jungen Ingenieurs wurde zu einer sich überstürzenden Redseligkeit, denn nun wollte er alles auf einmal heraussprudeln und verwunderte sich insgeheim, daß der Arzt nicht den gleichen Enthusiasmus zeigte.

Ah, dieser Nachmittag im Park von Las Arenas, an dem er Pepita seine Liebe gestanden hatte! Es war das einzige Mal in seinem Leben, daß er trunken zu sein wähnte! Trunken von der Sonne, vom Blau des Himmels, vom Grün der Bäume, unter denen sie, die Augen schüchtern gesenkt, das magische kleine Wort sagte. Wenngleich er hernach bei Tisch nur Wasser trank, war er auf dem Heimwege nicht Herr seiner Beine! An der Biscayabrücke leerte er seine Taschen und warf eine Handvoll Pesetas unter das kleine Bettelvolk, das erstaunt nach dem Caballero schaute, der, den Hut in der Hand, mit Riesenschritten vorbeistürmte. Im Zuge mußte er immerfort von einem Ende des Waggons zum anderen laufen, wobei er alle Weisen, die von Liebe und Zärtlichkeit singen, vor sich hinsummte. Welch eine Nacht! ...

Allmählich wurde sein Glück ruhiger, obschon jeder Tag noch neue Erregungen brachte. Wenn er Sanchez Moruetas Villa betrat, schüttelte es ihn jedesmal, als könnte Pepitas Vater zornig und gebieterisch erscheinen, um ihm mit stummer Geste die Tür zu weisen. Und wie schwer war es, bei den allzeit wachsamen Augen Doña Cristinas verstohlen die Briefe auszutauschen! Ein Glück noch, daß sie in Nicanora, der alten Kinderfrau Pepitas, einen Bundesgenossen gefunden hatten!

Wie er Pepitas Briefe wieder und wieder las! Manchmal, mitten auf seinem Rundgang durch die Werke, bestürmte ihn ein Zweifel, ob er ein bestimmtes Wort vielleicht falsch verstanden hätte, ob ein gewisser Absatz nicht Kühle atmete. Und gleich eilte er zurück in sein Büro, um das Briefpaket zu durchwühlen und die geliebte Schrift wie Hieroglyphen zu entziffern, wie eine kabbalistische Formel, die seine Zukunft verbarg.

»Nie hätte ich geglaubt, daß man mit solcher Kraft zu lieben vermag, Doktor! ... Ich kannte Pepita schon, als sie noch das Haar lose trug und im Park unter dem harten Blick einer knochigen Engländerin spielte, die bei dem geringfügigsten Anlaß zeterte: ›Please, my dear, don't!‹ Wer konnte damals ahnen, daß ich dieses kleine Mädchen eines Tages lieben würde? Und wie lieben, Doktor! ...«

Aresti hörte mit gutmütiger Ironie, die seinem Gesicht den Ausdruck eines wohlwollenden Mephistopheles verlieh, all die Nichtigkeiten, die im Dasein der Verliebten große Ereignisse bedeuten – Unruhe und Trauer, in die sie ein Wort, ein vergeblich erwartetes Lächeln oder sonst irgend etwas versetzt, das im gewöhnlichen Leben unbemerkt vorübergeht.

»Man sieht, daß es Ihre erste Liebe ist«, sagte er schmunzelnd. »Das haben wir allesamt durchgemacht – Masern der Jugend! Wer unter dieser Krankheit nicht litt, hat eine tote Seele. Erzählen Sie weiter, mein Sohn!«

»Sorge bereitet mir nur der enorme Unterschied im Vermögen«, fuhr Sanabre fort. »Was wird ihr Vater sagen, wenn er es erfährt? Vielleicht wird er mich für einen geldlüsternen Abenteurer halten; denn wie kommt hierzulande, wo die Millionen nur Millionen ehelichen, ein armer Ingenieur dazu, seine Augen zu keiner Geringeren als der Tochter Sanchez Moruetas zu erheben? ... Ah, welche Freude für mich, wenn sie arm wäre, wenn ich allein mit meiner Arbeit für sie sorgen dürfte!«

»Ich glaube Ihnen«, bemerkte Aresti. »Immerhin ist es nicht unangenehm, der Schwiegersohn eines Krösus zu sein. Aber das ist nur der Honig in den Waben, und die Waben sind in diesem Falle Ihre Liebe. Mein Junge, Sie gehören einer anderen Rasse an; Sie kommen aus dem Süden, aus einem Sonnenland, wo man sich weniger um das Geld schert, wo man sich aus Liebe tötet, wo man die Frau so unendlich liebt, daß man ihr manchmal Dolchstiche beibringt, um sich dann vor ihrem Leichnam die Haare zu raufen. Ihr da unten seid eben heftigere, kompliziertere und interessantere Naturen als wir. Wenn das so weitergeht, bin ich gewiß, daß Sie gelegentlich nachts mit einer Gitarre vor dem Fenster meiner Nichte Serenaden singen.«

Dann plötzlich in einen ernsten Ton verfallend, meinte er:

»Ich weiß nicht, wie es enden wird. Machen Sie sich aber immerhin auf Verdrießlichkeiten gefaßt.«

»Das tue ich auch«, sagte Sanabre traurig. »Mir bangt vor dem Tage, an dem ihr Vater es erfährt. Er wird empört sein, und das nicht ohne Grund.«

»Mein Vetter ist weniger zu fürchten. Vielleicht findet er den Gedanken, daß Sie, ein tüchtiger Arbeiter, sein Werk fortsetzen, ausgezeichnet. Von seinem Charakter kann man stets etwas Gutes erwarten ... Andere sind es, die Sie zu fürchten haben!«

Und er kam auf seine Kusine zu sprechen – die »antipathische Tugendhafte« nannte er sie – jene Cristina, die sich degradiert glaubte, weil sie den Schiffersohn Sanchez Morueta geheiratet hatte. Was würde sie, die reichste Frau Bilbaos, zu verwandtschaftlichen Beziehungen mit einem Angestellten des Hauses sagen? Doña Cristina wertete nur zweierlei als respektabel: ein großes Vermögen oder einen historischen, mit der Vergangenheit des Baskenlandes verknüpften Namen!

»Außerdem haben Sie in Fermin Urquiola einen Gegner. Auch er wirbt um Pepita – ich weiß nicht, ob aus eigenem Antrieb oder auf Veranlassung ihrer Mutter.«

Hier reckte sich Sanabre mit dem Stolz des Mannes, der sich bevorzugt weiß. »Das macht mir keine Sorge. Pepita empfindet den heftigsten Widerwillen gegen ihn. Sehen Sie denn nicht, wie geringschätzig sie ihn behandelt? Diese am Rock der Mütter groß gewordenen jungen Mädchen wissen viel mehr, als man vermuten sollte; wenn sie zusammenkommen, wird alles, was in der Stadt vorgeht, durchgehechelt. Pepita ist es nicht unbekannt, daß er nachts ein wüstes Leben führt und auch schon verschiedene Male wegen betrunkenen Skandalierens festgenommen worden ist. Nein, Doktor, dieser Mensch, der in allen öffentlichen Häusern Stammgast ist, ekelt sie an.«

»Sind Sie meiner Nichte wirklich ganz sicher?« fragte Aresti mit gemachter Gleichgültigkeit, als wollte er den Ingenieur nicht beunruhigen. Und dessen erstaunten Blick gewahrend, fuhr er fort: »Ich frage, weil ihr beide verschiedener Rasse seid. Vielleicht irre ich mich, aber gleich hier, ohne eure Briefe gelesen, ohne euch zugehört zu haben, möchte ich wetten, daß Ihr Gefühl bei weitem das stärkere ist.«

Sanabre wurde nachdenklich. Leise Zweifel wollten sich regen, doch der Wunsch, geliebt zu werden, das Bedürfnis, sich selbst mit süßen Illusionen zu betrügen, und der männliche Egoismus, immer geneigt, eine Vorliebe zu seinen Gunsten anzunehmen, bäumten sich auf.

»Ah nein, Doktor, sie liebt mich! Ich habe Beweise.«

Die Beweise bestanden aus einem Bündel Briefe, in denen Pepita beteuerte, ihn »mehr als ihr Leben« zu lieben, und die unveränderlich mit den Worten schlossen: »Dein bis zum Tod.« Für Sanabre waren diese Schwüre feierlicher und unwandelbarer als der Spruch eines Gerichtshofes.

»Dann vorwärts, mein Junge!« sagte der Doktor. »Hoffentlich sind Sie bald mein Neffe.«

Um seinen Führer auf andere Gedanken zu bringen, ergriff Aresti des jungen Mannes Arm und forderte ihn auf, ihm die Werke zu zeigen.

Gleich darauf durchquerten sie den großen Platz, schwarz oder rot, je nachdem ihn Kohlenstaub oder Erzrückstände bedeckten. Während Aresti bei jedem Schritt über Schienen und Weichen stolperte – »ein Spinnengewebe aus Stahl« stöhnte er –, erläuterte ihm sein Begleiter die mannigfachen Verkehrsmittel, die sich zu einem komplizierten Netz zusammenfügten. Direkte Doppelgleise liefen zu den Minen; andere, nur für Fertigwaren bestimmt, nach der nächsten Bahnstation; dann gab es Gleise nach den Schiffsladeplätzen und Gleise, die alle Werkabteilungen untereinander verbanden – kurz, viele, viele Kilometer Schienenstränge. Und das alles kreuzte sich auf einem verhältnismäßig kleinen Raum, wurde zur Hochbahn oder verschwand in düsteren Tunnels. Doch über diesem scheinbaren Wirrwarr hing noch ein zweites Netz in der Luft: vielfache Leitungen für Licht und Telephon, Kabel der Drahtseilbahnen, alles überragt von den zahlreichen Masten der Bogenlampen, die erloschenen Monden glichen. Ihren Karabiner umgehängt, in der Hand einen Regenschirm, patrouillierten Wächter an den Umzäunungen entlang bis zum Wasser, um Langfinger abzufassen, die für den »Plunder« – abmontierte Maschinenteile, verrosteten Draht und Blechstücke – feste Abnehmer in Bilbao hatten. »Die Bucht«, pflegte Kapitän Iriondo zu sagen, »ist schlimmer als eine Landstraße im Mittelalter.« Sobald es dunkelte, huschten ganze Banden an den Ufern umher und versuchten, aus Dampfern und Gebäuden fortzuschleppen, was nicht niet- und nagelfest war.

Voller Stolz zeigte der Ingenieur die große Halle der Motoren, die mit dem aus der Kohle gewonnenen Gas gespeist wurden. Er selbst hatte diese Verwendung des früher nicht ausgenutzten Gases durchgesetzt, wodurch das Werk ohne neue Kosten über viertausend Pferdekräfte mehr verfügte.

An den qualmenden Koksöfen zur Gewinnung von Teer und Ammoniak vorbei gelangten sie zum Werkshafen, wo ein Dampfer des Hauses gerade löschte. Infolge der Ebbe lag er so tief unter der Uferböschung, daß nur die Masten und der Schornstein mit den rot aufgemalten Initialen Sanchez Moruetas zu sehen waren.

Ein Kran schob seinen gigantischen Arm über das Wasser. Mit einer Tonne Kohlen beladen, tauchte der Korb aus den Eingeweiden des Schiffes wieder auf, kletterte auf das Ende einer Stahlbrücke und glitt rasselnd landeinwärts, um seinen Inhalt dort auf einen der Kohlenberge zu speien. Zwei schwerfällige Dampfer, die die englische Flagge zeigten, harrten schon, daß die Reihe an sie käme.

»Jeden Tag verbrauchen wir fünfzehnhundert Tonnen«, erläuterte Sanabre. Von hier führte er den Arzt zu der Aufbereitung, wo Frauen in einer dicken Wolke von Kohlenstaub, der auf ihren schweißigen Gesichtern verkrustete, sich quälten und mühten. Von wieviel Elend sprachen sie, diese grotesken, schwarzen Masken mit den geröteten Augen! ...

Auf die riesigen Werkstätten und Montagehallen für Maschinen, Brücken und Schiffe war Aresti jedoch nicht neugierig.

»Dergleichen habe ich oft genug im Ausland gesehen. Was mich interessiert, ist die Spezialität des Hauses, die Basis eurer Fabrikation. Ich will sehen, wie sich das Erz in Stahl verwandelt«, forderte er, nach den Hochöfen weisend, robusten Zwillingstürmen, durch einen Aufzug verbunden, der Erz und Brennstoff zu ihrem Schlünde brachte.

Eine vulkanische Temperatur hüllte sie ein. Den mit feuerfesten Steinen ausgelegten Boden durchzogen in geometrischer Regelmäßigkeit kleine Gräben zum Abfließen des flüssigen Metalls – ein riesenhaftes Furchengitter, in dem das Eisen zu Barren erstarrte. Die Erde brannte, so daß der Doktor ständig die Füße heben mußte, und die massiven Wände der Hochöfen strömten eine erstickende Hitze aus, die die Haut zu versengen schien ... Fernando Sanabre, an diese Umgebung gewohnt, beschrieb gelassen den interessanten Vorgang.

»Jeder Hochofen faßt zwölfhundert Tonnen Erz, vierhundert Koks und einhundert Kalkstein. Langsam, dem Verbrennungsprozeß folgend, bildet sich das Metall, das infolge seines größeren Gewichts zu Boden sinkt. Übrigens brennen die Hochöfen ununterbrochen Tag und Nacht. Ein Versäumnis bei der Arbeit, ein Streik kann diesen Giganten, die nur in ständigem Brand und rastloser Nahrungsaufnahme existieren können, das Leben kosten. Stellen die Belegschaften in den Bergwerken die Arbeit ein oder verhindert ein Eisenbahnerstreik die Erzzufuhr, so muß man sie genau wie sonst mit Kohle füttern, denn trotz ihrer plumpen Schwerfälligkeit sind die enormen Schächte aus Stein äußerst delikate Spielzeuge der Industrie. Gehen sie aus, so bleibt nichts anderes übrig als sie abzureißen und neue zu bauen: eine Sache von einer halben Million. Erkaltung bedeutet Tod für sie; ihr Anwärmen und Fertigmachen verschlingt ein Vermögen.«

Aresti hörte nur mit halbem Ohr auf Sanabres Ausführungen. Er dachte, ein wenig fassungslos angesichts der Riesenausmaße, an den Feuerkult, an der alten Rassen Anbetung des großen schaffenden und zerstörenden Elements, an die Idole, die, andere Opfer verschmähend, sich ihren feurigen Bauch mit Menschen füttern ließen ...

»Gleich wird man abstechen«, tönte Sanabres Stimme in seinen Gedankengang hinein.

Ein alter Arbeiter stocherte mit einer langen Stange an dem Mundloch des Hochofens, das durch feuerfeste Steine verstopft war. Die Stange schuf ein winziges Loch – dann erschien ein blendender Lichtpunkt, ein roter Stern, dessen scharfe Strahlen dem Auge weh taten. Die Öffnung vergrößerte sich, und ein Sturzbach, dunkelrot wie das Blut eines Stiers, schoß funkensprühend heraus.

»Ist das Eisen?« fragte Aresti.

»Nein, die Schlacke. Das Eisen kommt nach.«

Der Doktor atmete nur mit Mühe. Der Tag war heiß, und neben dieser industriellen Hölle wurde er unerträglich. Arestis Augen tränten; es schien ihm, als würden seine Augenbrauen abgesengt. In jeder Pore seiner dörrenden Haut spürte er einen scharfen Nadelstich, und die Füße hoben unausgesetzt die erhitzten Schuhsohlen vom Boden.

Wie waren die Arbeiter zu bewundern, die sich wie Salamander zwischen den Feuerbächen bewegten – dunkle Gestalten, so dürr, als hätte ihnen die Hitze nur Haut und Knochen gelassen! Fast nackt, glichen sie mit ihren großen Lederschürzen auf dem kupferfarbigen Körper ägyptischen Sklaven, die der Ausübung eines mysteriösen Kults oblagen. Mehr als einer trug die Narben schwerer Brandwunden ...

Ah, das Eisen! Das, was sich durch den feuerfesten Stein Bahn brach, war kein Stern mehr, sondern der feurige Strahlenkranz eines Hostienkelches, eine kirschfarbene Sonne mit grünen Ondulationen, deren Anblick die Augen verbrannte. In dicken Wellen ergoß sich das Metall aus dem Abstichkanal in die Gitterfurchen des Bodens.

Die glutflüssige, beim Kontakt mit der Luft hellknisternde Masse füllte den Raum mit leuchtenden Punkten, mit Flammen, die in unzählige Fragmente zerstoben. Es waren blaue und goldene Schmetterlinge, deren vibrierende Flügelspitzen sich mit schwindelerregender Schnelligkeit bewegten; grüne Stechfliegen, die einen Moment lang summten, dann vergingen, um anderen und anderen in endlosem Gewimmel Platz zu machen.

Laut gurgelnd schoß das Eisen, tief rosa gefärbt, aus dem Abstichloch. Dann quoll es träge wie Schlamm in die Kanäle, wurde rot wie geronnenes Blut und bedeckte sich beim Erstarren mit einem weißen Staub, dem Rauhreif der Kälte.

»Fort von hier, Sie Teufel!« rief Aresti. »Ich komme um.«

Noch sahen sie, wie der Kanal des Ofens, die Richtung wechselnd, jetzt seinen feurigen Sprudel in einen großen Bottich stürzte, der einem Waggon aufmontiert war. Die Lokomotive pfiff und raste fort zu den stahlerzeugenden Konvertern, hinter sich das Riesengefäß, an dessen Rändern die rote Masse bei jedem Stoß der Räder auf- und niederschwappte.

Halb blind von all dem grellen Funkeln und sprühenden Gleißen nahm der Doktor die Hand seines Begleiters.

»Führe mich, Virgil!« sagte er lachend. »Ich folge wie der Dichter des Inferno. Nur gib acht, daß wir nicht verbrennen.«

Jedesmal, wenn sie über einen der mit kochendem Metall gefüllten Kanäle sprangen, stieg ein glühender Hauch an ihren Beinen hoch.

»Endlich! ... Hier kann man atmen.« Der letzte Sprung hatte Aresti von der erhöhten Plattform auf festen Boden zurückgebracht. Eine geraume Weile blieb er noch auf demselben Fleck stehen, um seinen Schweiß abzuwischen und sich mit dem Taschentuch Luft zuzufächeln.

»Phantastisch, Fernandito, daß Sie in solcher Umgebung an Liebe zu denken vermögen«, sagte er in seiner alten, spöttischen Art. »Ich würde von einem Riesenkübel träumen, so ungeheuerlich groß wie diese Türme und mit Eiswasser gefüllt.«

»Trotzdem müssen Sie noch eine andere Hölle besichtigen, die allerdings nicht so pittoresk ist wie diese hier.«

Und Aresti ließ sich zu den Konvertern geleiten, enormen, fast in Dachhöhe aufgestellten Glocken, die von stählernen Galerien aus bedient wurden.

»Das Bessemer-Verfahren hat nicht allein den Stahl verbilligt«, belehrte Sanabre, »sondern gleichzeitig auch Bilbao reich gemacht, denn es erfordert phosphorfreie Erze, wie sie in den Bergen Biscayas vorkommen. Vor dieser Erfindung erzeugte man den Stahl vermittels eines langwierigen Verfahrens im Puddelofen, während der ganze Prozeß jetzt nur zwanzig Minuten in Anspruch nimmt. Durch die mit flüssigem Roheisen gefüllten Birnen wird Luft gepreßt, wodurch – ohne Zugabe von Brennmaterial – Silizium, Kohlenstoff sowie Mangan verbrennen und reiner Stahl zurückbleibt, nicht von der hervorragenden Qualität, die der Siemens-Martin-Ofen liefert, doch vollständig ausreichend für unser Haupterzeugnis: Eisenbahnschienen.«

Ein ungeheures Brüllen erschütterte das Dach des Gebäudes und ließ die Erde erbeben. Unter dem Einfluß der Preßluft spie das in Gärung befindliche Metall durch den Mund des Konverters einen Funkensprühregen, einen Strauß von Feuer. Aber was für Funken! Was für ein Feuer! So überwältigend war der Anblick, daß den Doktor der Abstich des Hochofens jetzt armselig dünkte.

Die Birne kreischte ohrenbetäubend auf, senkrecht schoß ein Feuerstrahl in die Luft, entfaltete sich oben zu einer roten Palme, die leuchtende Federn – blaue, rötlichweiße, orangengelbe – verstreute und dann verlöschend zusammensank. Bisweilen, wenn die Birne von unsichtbaren Händen gewendet wurde, verschwand der blendende Strahl, um sofort unter erneutem Gebrüll wieder emporzusteigen, sobald sie in die vertikale Lage zurückkehrte. Rund um ihn leckten blaue Flammen, die in alle Farben des Regenbogens hinüberspielten. Draußen war es noch taghell, die untergehende Sonne verlieh dem Boden einen goldenen Schimmer; aber die von unerhörtem Feuer geblendeten Augen sahen alles schwarz, als wäre die Nacht bereits hereingebrochen ...

Der flüssige Stahl fiel in konische Formen. Ein Kran stülpte sie um, wenn die Masse erstarrt war, und es erschien ein Zuckerhut, weißglänzend mit einem zarten, rosa Schein wie ein von innen beleuchteter Eisblock, der auf eine Lore geladen und von zwei Arbeitern langsam in der Richtung der Walzwerke fortgeschoben wurde.

Aresti spürte die erstickende Hitze nicht mehr. Er stand völlig unter dem Bann der eigenartigen Schönheit des Schauspiels.

»Hier möchte ich jene Leute sehen«, lieh er seiner Begeisterung Worte, »die nur im Staub des Antiken einen Hauch von Poesie finden und den modernen Entdeckungen jede Möglichkeit künstlerischer Erregung absprechen. Nie hat ein Dichter einen Eindruck von ähnlicher Größe gegeben, wie man ihn von dieser Erfindung erhält. Die von dem Florentiner Meister ersonnene Hölle ist ein Kinderspiel dagegen. Lohnt vielleicht noch eine lange Reise, um den Vesuv zu bewundern? Welcher Vulkan kann an Schönheit diesen hier übertreffen! ... Die Männer der Technik schaffen Poesie, ohne es zu wissen: die starke Poesie der gewaltigen Naturkräfte.«

Erst der Anblick der Arbeiter, die die weißglühenden Blöcke aus der Halle schoben, brachte Aresti in die Wirklichkeit zurück. Wie Bremsen mit giftigem Stachel zuckten winzige Stückchen des feurigen Stahls um sie herum. Sie hatten die Füße mit Lappen umwickelt, von denen sie wieder und wieder die ätzenden Funken abschütteln mußten. Ohne Zagen schritten sie zwischen den Barren umher. Und doch verwandelte das leichteste Streifen dieser Zuckerhüte das Fleisch sofort in Rauch und entblößte den Knochen. Die Berührung allein genügte, um einen Menschen zu töten, ohne daß von ihm etwas anderes übrig blieb als ein sengriger Geruch, ein wenig Rauch ... dann nichts. Und die diabolischen Barren lockten vermöge ihres Lichts und ihrer Weiße und führten irre in der Schätzung der Entfernungen.

Ganz benommen wanderte Aresti zum Walzwerk. In dieser Welt von Feuer und Brand und betäubender Gewalten hatte er den Instinkt der Selbsterhaltung verloren. Eine kindische Kaprice überkam ihn, eine Lust, diese Zuckerhüte, so hübsch in ihrem rosigen Weiß, zu streicheln.

Die Blöcke fielen, nachdem sie in den Öfen des Walzwerks erneut erhitzt worden waren, auf die Walzenstraße, und fast nackte Arbeiter zerrten und schoben sie mit enormen Zangen unter eine Serie sich langsam bewegender Zylinder – Folterbänke, die sie plattdrückten, quetschten, dünner machten, endlos in die Länge zogen. Die verräterische Bestie der rotglühenden Stahlmasse kroch nach den Füßen der Arbeiter; doch wenn sie im Begriff stand, sie mit todbringender Zunge zu belecken, überantwortete ein geschickter Zangengriff sie wiederum den Zylindern.

Wie ein dickbäuchiges, sich bäumendes Tier drängte sich der Barren schwerfällig aus dem Ofen, stieß ein Geheul aus, sobald er die Zangen spürte, und kam am anderen Ende des Zylinders als kurzer, krummer Feuerbalken heraus. Ächzend, als wollte er gegen die schmerzhafte Verrenkung protestieren, lief er durch die ganze Walzenstraße, bis er zum Schluß nichts weiter war als ein glühendes Band, das die Form einer Schiene annahm.

Allmählich wandte sich Arestis Aufmerksamkeit mehr den Arbeitern zu, die in einer Höllentemperatur außerordentlich schwere Massen bewegen mußten. Und er begriff, wie oft er ungerecht gewesen war, wenn er die Neigung der armen Menschen zum Alkohol tadelte. Wäre er selbst durch das soziale Verhängnis zu dieser Arbeit, bei der die Sinne abstumpften und das Hirn zu verdunsten schien, verurteilt worden, was würde er getan haben? ... Der ewige Durst der Verdammten folterte diese Unglücklichen. Was konnte ihnen größeres Vergnügen bereiten, als beim Verlassen ihrer Arbeitsstelle die Ruhe und den kühlen Schatten der Taverne aufzusuchen – vor sich das Glas, das den Mann für einen Moment aufheitert und ihm Trugkräfte vorgaukelt zur Fortsetzung seines Lebens als Feuersalamander!

Draußen in der frischen Luft blieb Aresti keuchend stehen. In der Ferne sah er unter langen Schuppen endlose rote Schlangen sich winden. Dort war die Drahtzieherei, eine »sehenswerte« Fabrikation, wie der Ingenieur versicherte. Doch Aresti wehrte ab.

»Ich habe genug gesehen. Es ist ein großes Schauspiel ... für den Winter.«

Unter freiem Himmel, fern dem Getöse der Maschinen, genossen sie den kühlen Hauch der Dämmerung.

»Ein hartes Leben«, sagte der Arzt, dessen Gedanken noch bei den Arbeitern weilten. »Man wird mir entgegnen, daß ihre furchtbare Tätigkeit eine Folge des industriellen Fortschritts ist. Zugegeben! Aber dem Unglücklichen, der sich auf solche Weise sein Brot verdienen muß, steht auch das Recht zu, mit seinem verfluchten Schicksal zu hadern, falls ihm bei dieser Fron noch Hirn zum Denken bleibt ... Und da gibt es Leute, die baß erstaunen, daß diese im Elend lebenden Menschen die Welt für ein schlechtes Machwerk halten!«

Sanabre nickte. Er, der die Lage der Arbeiter am besten kannte, fühlte mit ihnen und schloß die Augen gegen ihre Fehler. Doch nur dem Doktor wagte er anzuvertrauen, daß er ein wenig Sozialist war.

»Bitterer noch als Entbehrungen und harte Arbeit«, fuhr Aresti fort, »ist die Atmosphäre, in der sie leben. Bei dem ganzen um Bilbao lagernden Arbeiterheer habe ich dieses seelische Leiden festgestellt. Ob Bergleute oder Fabrikarbeiter, in jedem gärt ein dumpfer Groll, ein heißes Verlangen nach Gerechtigkeit, da er empfindet, daß er zu jeder Stunde das Opfer eines verwegenen Diebstahls und einer unmenschlichen Ausnutzung ist. Man könnte es den Protest gegen die Launen Fortunas nennen, die hier vor aller Augen vorbeikam, über den einen ihr Füllhorn ausschüttend, dem anderen den Rücken kehrend. Der Anblick des verschwenderischen Lebens ihrer ehemaligen Kameraden verbittert ihr tägliches Brot.«

»Und da irgendeine Lohnerhöhung«, nahm der Ingenieur das Wort, »die sie durch Streiks erzielen, ihre Lage lediglich für den Moment bessert, gibt es nur eine einzige Abhilfe: die Organisation der Welt ändern und soziale Gerechtigkeit als Fundamentalgesetz proklamieren. Fort vor allem mit der scheinheiligen Geste der Wohltätigkeit, die über die Grausamkeiten der Gegenwart nur eine linde Maske setzt!«

Langsamen Schrittes näherten sich die beiden, von neuem über endlose Schienenstränge wegsteigend, dem großen Hauptportal.

»Was mich bei diesen über Nacht entstandenen Vermögen empört«, spann Aresti seinen Gedankengang weiter, »ist, daß sie steril sind in bezug auf das Volkswohl und der Fähigkeit ermangeln, Gutes zu tun. Sie wissen, Sanabre, daß ich prinzipiell ein Feind des individuellen Reichtums bin; aber in anderen Ländern wird doch wenigstens etwas getan. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel geben die Leute, in deren Kassen das Geld auf eine skandalöse, direkt unanständige Weise fließt, Hunderte von Millionen aus für Universitäten, Museen, Bibliotheken. Sie schaffen also wenigstens Bildungsmittel für das Volk, das sie ihr Leben lang ausgebeutet haben. Bei uns indes behält der Reiche sein Geld oder baut, um seinen Namen zu verewigen, ein Kloster oder eine Kapelle; mit anderen Worten: wenn er sich mit der Zukunft beschäftigt, so geschieht das nur, damit die blöde Einfalt der Gegenwart in künftigen Zeiten fortdauern möge. Wissen Sie, wie ich zum Entsetzen der Gesellschaft Bilbaos den Reichen in unserem Lande definiert habe? Ein Señor, der zeitlebens dem Arbeiter das Leben möglichst schwer zu machen sucht, um das Geld in Haufen heimzuschleppen für seine Frau ... damit sie es dem Jesuiten aushändigt! Einige wenige Potentaten – wie mein Vetter – wehren sich noch gegen dessen Einfluß; aber glauben Sie mir, wenn nicht bald eine Revolution kommt, wird dieses Land ein zweites Paraguay. Ohne es zu wissen, arbeitet jeder hier für den Jesuiten.«

Nachdenklich blieb er vor dem Portal stehen.

»Außerdem verdrießt mich der traurige Stumpfsinn meiner Heimat. Ich bin sicher, daß die Menschen, als Bilbao noch ein obskures Handelsstädtchen war, ihre Tage fröhlicher verbrachten. Heute, mit dem Reichtum, ist es ein Kloster. Auf dem ganzen Weltall begrüßt man Fortuna mit Jubel; wir aber leben in einer unausgesetzten Fastenzeit. Ewig sind unsere Seelen bedrückt.

Trifft sich bisweilen die Gesellschaft in einem Salon, so bleiben die jungen Männer auf der einen Seite, die jungen Mädchen auf der anderen, als wäre der mitteilsame Frohsinn der Jugend ein Vergehen und die Liebe eine Monstrosität. Vielleicht passiert ihnen in dieser scheuen Isolierung – Behüterin der Unschuld nennen sie die Patres – dasselbe wie gewissen Kirchenschriftstellern, die, von ihrer Keuschheit mit glühenden Zangen gezwickt, unerhörte Wonnen, ungeheuerliche Verirrungen beschreiben und so der Unmoral neue Horizonte öffnen ...

Was nutzt es der Stadt, so schön zu sein? Ein prächtiger Käfig, aber von Vögeln bewohnt, die traurig den Kopf hängen lassen. Bilbaos Schönheit, mein Lieber, ist die eines wohlgepflegten Friedhofes. Es fehlt die Zufriedenheit, die Seele eines freien Volkes, das sich nach der Arbeit der Lebensfreude hingibt. Hübsch sind sie, unsere neuen, breiten Boulevards, doch entbehren sie eine Nuance: ein paar Dutzend hübscher, eleganter Kokotten müßten dort promenieren, die allein fähig wären, die an das eingeschlechtliche Leben der Jesuitenuniversität und der Bruderschaft von Sankt Ludwig gewöhnte Jugend zu erziehen.«

Der Ingenieur, schamrot wie ein Verliebter, der mitten in Idealen lebt, erhob Einspruch.

»Aber, Don Luis! ... Wie ... wie können Sie nur so etwas vorschlagen!«

»Wieso? ... Was ich predige, ist das Leben, die Jugend, die Liebe, so wie ich sie auffasse. Ich respektiere die Tugend, halte es jedoch nicht für notwendig, daß sie eine saure Miene und eine rauhe Hand hat. Ist die Stadt übrigens unter den obwaltenden Verhältnissen tugendhaft geworden? ... Man spielt nicht ungestraft mit dem Leben und seinen Instinkten; hindert man im Namen einer verrückten Moral seinen Lauf, so bricht er sich Bahn und endet im Sumpf. Ich kenne mein Bilbao. Glauben Sie mir, Fernandito, in dieser im katholischen Sinne tugendhaften Stadt blüht das Laster in seinen widerwärtigsten Formen. Auf meinen ärztlichen Visiten habe ich die Viertel kennengelernt, wo die Prostitution haust. Sogar die Vierzigjährigen laufen in kniefreiem Röckchen und langen Zöpfen herum und ahmen krampfhaft das Gebabbel der Kinder nach – da Kinder die am meisten begehrte Ware sind. Woher kommt das? ... Weil der unterdrückte Geschlechtstrieb der Männer in seiner Verirrung die grüne, nervenreizende Frucht sucht. Diejenigen, die unser Leben dirigieren, stempelten den Geschlechtstrieb zu einem Verbrechen und zwangen ihn dadurch, sich in schmutzige Winkel zu verkriechen ... Die einen schleichen nachts wie Verbrecher ins Bordell, die anderen stellen bei sich zu Hause der Näherin nach, deren Eltern zu allem Ja sagen, weil es sich um einen vermögenden Mann handelt. Die Kokotte wurde geächtet, aber man duldet, daß ein Armer mit der Prostitution seiner Tochter ein Geschäft macht, da sich alles im geheimen abspielt.

Keine Liebe, kein gesellschaftlicher Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern und keinerlei Vergnügen für die Jugend! Unser Leben ist mumifiziert. Ein schöner Friedhof, wie ich schon sagte, den die schwarzen Vögel – und sie allein sind sehr lebendig – mit ihren Flügeln bedecken. Nur unter den Arbeitern, bis zu denen der Einfluß des Klerus wenig oder gar nicht gelangt, ist mir, wenn sie am Sonntagnachmittag in den Tavernen der Umgebung zu Gitarre und Tamburin ihre baskischen Tänze aufführen, noch etwas Fröhlichkeit begegnet.

Alles andere langweilt sich zu Tode. Ich kenne vermögende Jungen, die keinen anderen Ehrgeiz besitzen, als sechsmal am Tage den Anzug zu wechseln oder in ihrem Auto planlos durch die Straßen zu fahren. Das ist die Lebensfreude einer reichen Bevölkerung, die sich alles versagt, weil sie an ein anderes problematisches Leben glaubt, gewährleistet durch eine Klasse von Menschen, die es selber nicht gesehen haben ...«

Der Doktor zog seine Uhr, und als er feststellte, daß die Abfahrtzeit nicht mehr fern war, schloß er:

»Tugend ist eine große Sache, Fernandito! Ich bewundere und verehre sie, wenn sie lächelt und sich dem Leben nicht entgegenstellt. Aber mein Land mit seiner toten Seele ist so, so tugendhaft, daß – glauben Sie es, mein Freund! – soviel Tugend nur Ekel bei mir erregt.«

 

Doña Cristina legte die letzte ordnende Hand an ihr Blondhaar und schielte gleichzeitig nach dem Spiegelbild der auf dem Marmorkamin stehenden Stutzuhr.

Es war drei Uhr nachmittags. Um vier Uhr sollte sie im Herz-Jesu-Stift einer Versammlung katholischer Damen präsidieren.

Pepita begleitete sie nicht. Sie klagte über Kopfschmerzen und schlechtes Befinden – Geschichten junger Mädchen, dachte Doña Cristina und vertraute sie der Obhut ihrer alten Amme Nicanora an.

Sanchez Morueta befand sich seit einer Woche in Madrid, sehr in Anspruch genommen von neuen Geschäften, die Monat für Monat seine Gegenwart in der Hauptstadt erforderlich machten. Seiner Gattin behagte die häufige Abwesenheit. Nicht, daß sich der Millionär ihren Neigungen widersetzt oder in ihr Leben eingemischt hätte, aber sie fühlte sich wohler, wenn sie allein war, fern von diesen kalten Augen, die nicht den leisesten Vorwurf durchblicken ließen, ihr jedoch – wie sie sich einbildete – überallhin in stummem Protest folgten.

Von einem Winkel des Zimmers aus beobachtete Pepita die Bewegungen ihrer Mutter. Und wieder einmal wunderte sie sich über die große Veränderung in deren Äußerem. Die eleganten Toiletten von einst hingen als Mottenfraß vergessen in den Schränken, ohne daß neue Kleider in Paris nachbestellt wurden. Bisweilen kümmerte sich Doña Cristina zwar noch um die Garderobe ihrer Tochter und durchblätterte mit ihr die Modejournale, aber mit dem Ausdruck herablassender Güte eines älteren Menschen, der sich mit einem Kind über dessen Spielzeug unterhält. Sie selbst ging nur in Schwarz, in ganz billigen, glanzlosen Stoffen, und Pepita gewahrte, daß sie sogar in der Wäsche bis zu den Grenzen der Hygiene salopp wurde. Alles offenbarte die bei den eifrigen Frommen übliche Verachtung und Vernachlässigung des Körpers, die Lust am Schmutz, der in dem Leben vieler Heiliger als ein Verdienst gerühmt wird, das zum Himmel führt.

Doña Cristina ging darauf aus, ihren Körper zu kasteien, so daß ihre Tochter bei Tisch oft Zeuge wurde, wie sie die besten Schüsseln und früheren Lieblingsgerichte zurückwies. Aus ihrem Schlafzimmer war allmählich alles verschwunden, was der Schönheit oder der Bequemlichkeit diente. Während im ganzen Hause ein solider Luxus herrschte, blieb bei ihr nur ein schmales, hartes Bett, das sie in einer Mansarde aufgestöbert hatte, und ein riesiger, blutüberströmter Christus, der fast eine ganze Wand einnahm; rechts und links von ihm hingen zwei Buntdrucke, auf denen Jesus und Maria ihre flammenden Herzen darboten.

Häufig fanden die Hausmädchen Doña Cristinas Bett unberührt. Ihre Wäsche zeigte Blutspritzer. Und die Tuscheleien in der Küche erreichten ihren Höhepunkt, als die Zofe eines Tages einen auf dem Bett vergessenen schrecklichen Gürtel aus stachligem Spartogras entdeckte, ein Büßerhemd, wie es die Nonnen von Begoña herstellten.

Trotz dieser Kasteiungen, von denen die Dienerschaft raunte, spielte stets ein süßes Lächeln um ihren Mund, und bei der geringsten Widerwärtigkeit hob sie die Augen zum Himmel und seufzte: »Alles zu Ehren Gottes!« Obschon sie sich in gewissen Momenten von ihrem herrischen Charakter fortreißen ließ, zog sie sich sofort wieder in den Panzer der Güte zurück und schien stumm um Verzeihung für die Aufwallung zu bitten.

Sanchez Morueta bemerkte scheinbar weder das physische Sichgehenlassen noch die moralische Wandlung seiner Frau. Seit Jahren betrat er ihr Schlafzimmer nicht mehr, und wenn er zu ihr sprach, so blickte er fort oder sah sie mit leeren Augen an. Kein Widerspruch, keine Frage seinerseits, als gefiele ihm im Grunde diese Umformung, die ihn von ihr trennte und jede Rückkehr zu dem, was gewesen, unmöglich machte.

Pepitas Blicke folgten mitleidig den hastigen Händen ihrer Mutter. Aufs Geratewohl hatte sie sich frisiert, ohne den geringsten Zug von Koketterie.

»Mama, setz das hübsche schwarze Hütchen auf; es kleidet dich so gut.«

Doña Cristina schüttelte den Kopf.

»Nein, mein Kind, das ist für mich vorbei. Und wie könnte ich in einer Versammlung prunken, die das Wohl der Religion bezweckt? ...«

»Aber es ist doch ein sehr seriöser Hut, Mama. Ganz religiös.«

»Für mich ziemt sich die Mantilla, Kind, die traditionelle Mantilla, die alle braven Frauen trugen, bevor soviel Schlechtigkeit vom Ausland zu uns kam.«

Und die noch immer schöne Frau, deren Reiz durch die üppiger gewordenen Formen nicht gemindert wurde, schien mit einer Art schmerzlicher Wollust die ersten grauen Haare in ihrem schimmernden Blond zu betrachten, den bläulichen Rand um ihre Augen und die vollen Lippen, wehmütig verzogen, als wären sie in ständigem Gebet.

»Mama, du weißt, um was ich dich bat.«

»Ich vergesse es nicht«, entgegnete Doña Cristina gütig, »obwohl ich es nicht tun sollte, denn Lügen ist immer eine Sünde. Aber schließlich, da niemand dadurch geschädigt wird ... Ich werde also für dich an deiner Kordel ziehen, damit die guten Schwestern deine Faulheit nicht erfahren.«

Pepita ahmte die unschuldige Strategie ihrer Freundinnen nach, wenn sie an den Zusammenkünften der Marientöchter nicht teilnehmen wollten. Im Salon des Stifts hing ein großer Rahmen mit den Namen sämtlicher Angehörigen der Kongregation und neben dem Namen eine kurze, blaue Kordel, die in einer kleinen Elfenbeinkugel endigte. Jede Dame zog beim Eintritt an ihrer Kordel, um so ihre Anwesenheit zu dokumentieren; manchmal indes ließ die eine oder die andere dies auch durch eine Freundin besorgen und führte die frommen Schwestern, die nach Beendigung der Zusammenkunft die Anwesenheitsliste mit kleinlicher Neugierde durchgingen, hinters Licht.

Bei dem Gedanken an diesen Rahmen sah Pepita den Salon der Marientöchter mit seinem klösterlichen Prunk und der Ordenskarte, die den Hauptwandschmuck bildete, vor sich. Eine in braunen Kandistönen gehaltene Karte von Europa und Amerika, auf der flammende Herzchen alle die Orte bezeichneten, wo der weibliche Jesuitismus Schulen errichtet hatte. Der himmelblaue atlantische Ozean war umgetauft worden und hieß nunmehr »das Meer der Güte«. Doch konnte niemand den Sinn dieser Güte erraten, den die geistliche Zeichnerin der Karte dem Ozean beilegte.

Ihrer Tochter zuwinkend, eilte Doña Cristina jetzt hinaus. Vor der Freitreppe hielt ein Automobil, ein wundervoller englischer Wagen, der Sanchez Morueta dreitausend Pfund gekostet hatte und den er nie benutzte. Er war an den Landauer aus der ersten Zeit seines Erfolges gewohnt – fast schien es, als erwachten bei dem Rütteln des Wagens über die ausgefahrenen Gleise geschäftliche Ideen und Pläne –, so daß das Automobil völlig zur Verfügung der Damen stand. Pepita schätzte es sehr, da es den Neid ihrer Freundinnen erregte; Doña Cristina hingegen betrachtete das Vorfahren im Auto vor den Türen der Jesuitenkirche als eine Huldigung dem Glauben gegenüber. Es war der Dernier cri der Devotion und tat nach ihrer Meinung kund, daß der Fortschritt sich nicht in Opposition mit dem Dogma befindet.

Während der Chauffeur geschickt durch den lebhaften Verkehr hindurchsteuerte, dachte die Gattin Sanchez Moruetas an die Wichtigkeit der heutigen Versammlung, wollte man sich doch schlüssig werden, ob es zweckmäßiger sei, die neue Wallfahrt nach Begoña, die an Pomp der Prozession zur Krönung der Madonna nicht nachstehen sollte, noch in diesem Jahre zu veranstalten oder sie auf das nächste Jahre zu verschieben. Es war an der Zeit, eine glänzende Heerschau zu halten, alle Anhänger der Tradition im Baskenlande zu sammeln und sie mit wehenden Fahnen und unter Lobgesängen den Artagan erklimmen zu lassen als Protestzeichen nicht nur gegen die Bergleute und Fabrikarbeiter, deren Sinn dem abscheulichen Sozialismus zuneigte, sondern auch gegen die »Maketos«, die sich schon als Einheimische aufspielten, Republik und Antiklerikalismus im Munde führten und die wundertätige Statue der Patronin Biscayas einen Fetisch nannten.

Um die Versammlung der Damen zu inspirieren, sollte außer dem streitbaren Pater Pauli, als Prediger und Beichtvater augenblicklich sehr in Mode, auch Fermin Urquiola an ihr teilnehmen – »mein rechter Arm«, wie der Tribun der Gesellschaft Jesu ihn benannte.

Doña Cristina bewunderte ihren Neffen, wenn sie sah, mit welchem Wohlwollen ihn die Patres behandelten und wie sie ihn teilnehmen ließen an ihren Projekten zur Förderung der Gottesfurcht. Bei den Besuchen, die er ihr abstattete, betrachtete sie ihn als den Repräsentanten der so sehr geliebten Priester, die auf diese indirekte Weise ihr Heim betraten; Fermin Urquiola war eine Verlängerung des Ordens bis hin zu ihr. Sie empfand die bittere Enttäuschung einer Verliebten, weil sie über das Sprechzimmer hinaus nicht ins Innere von Deusto vordringen durfte, und dürstete um so mehr danach, genau zu wissen, wie es in diesem geheimnisumwobenen Tempel der Gelahrtheit aussah. Und der Neffe, der sich immer häufiger in Sanchez Moruetas Villa einstellte, entzückte sie stundenlang mit Schilderungen der Stätte, deren Betreten die Ordensregeln dem weiblichen Geschlechte untersagten.

Auch Einzelheiten aus dem Leben der Patres erzählte ihr Urquiola, wobei er die Vorzüge eines jeglichen hervorhob. Der eine hatte große Reisen in wilde Länder unternommen, ein anderer beherrschte sechs Sprachen; ein dritter spielte meisterhaft Violine. Und wie bescheiden waren sie trotzdem! Schliefen in armseligen Zellen, an deren Tür sie abends Kleider und Schuhe zum Reinigen in einem Beutel aufhingen. Nirgendwo ein Zeichen des Reichtums, von dem die Gottlosen so viel redeten! Und alle demütig und liebenswürdig, obgleich es manche unter ihnen gab, die früher zu den Großen der Welt gehörten. Deshalb haftete den Patres der Gesellschaft Jesu auch etwas von bußfertigen Fürsten an, die sich unter der Soutane des Gehorsams versteckten.

Mehr noch indes interessierte Doña Cristina die Universität von Deusto. Wie schade, daß sie auch den ausgedehnten Park nicht durchwandern durfte, um den Heiligen Josef aus der Nähe zu betrachten, der – einen Thronhimmel aus elektrischen Birnen über sich – von seiner Höhe auf Stadt und Land herabsieht! Uradel und reiche Bürgerschaft internierten, soweit sie guten Prinzipien folgten, ihre Sprößlinge in Deustos heiliger Schule, wo sie nicht wie in den weltlichen Universitäten Gefahr liefen, auf revolutionäre Professoren zu stoßen. Ob alte oder neue Wissenschaft – in Deusto serviert man sie nur, nachdem sie ordentlich durch das Sieb des Heiligen Thomas von Aquin und anderer Weisen der Kirche, der einzigen Hüter der Wahrheit, gelaufen ist ... Die Anlage war in vier unabhängige Gebäude und die Schar der Studierenden in vier voneinander isolierte Zöten eingeteilt. Dank dieser Art von sanitärem Kordon wurde mancherlei Sünde und Verführung vermieden. Die vier Sektionen kamen im Laufe des Jahres nur bei einigen wenigen Festen und gelegentlich der literarischen Wettbewerbe zusammen, die in einem riesigen Saal stattfanden. Seine Fresken zeigten den Heiligen Ignatius nebst den berühmtesten Patres der Gesellschaft, auf Wolken geradeswegs zum Himmel schwebend.

Im Parterre saßen die eingeladenen Eltern – das heißt, nur die Väter – und auf den Galerien die Studierenden der vier Jahrgänge, neugierig einander musternd, etwa wie Mieter desselben Hauses, die sich selten zu Gesicht bekommen. Alle trugen, wie es sich ja für Söhne aus gutem Hause gehört, elegante Smokings, und den älteren bereitete es sichtlich Vergnügen, das Schnurrbärtchen zu zwirbeln und dabei die Ringe funkeln zu lassen. Wie im Theater tauschten sie, das Opernglas vor den Augen, ihre Bemerkungen aus: »Dieser hübsche Junge dort ist aus Salamanca, sehr reich ... Der sympathische Braune neben ihm ist ein Andalusier.« Und nach eingehender Betrachtung winkten sie sich mit der Hand zu ... Wirkliche Engelchen!

Das Programm der literarischen Wettbewerbe bestand aus der Diskussion zwischen zwei Leuchten von Deusto. Nur war der Student, der die Einwände gegen die heiligen Lehren der Kirche zu machen hatte, von seinem Lehrer vorbereitet worden. Brachte er nun einige auswendig gelernte Torheiten vor, die moderne Ideen darstellen sollten, so fiel es seinem Widersacher naturgemäß nicht schwer, diese im Handumdrehen so zu zerpflücken, daß nichts von ihnen übrigblieb. Wieder einmal siegte der Glaube über die anmaßende Zweifelsucht der modernen Wissenschaft! ...

Einmal hatte auch Urquiola in seinem letzten Semester Ruhm geerntet. Die damals nach langer Überlegung von den Patres gewählte These lautete: »Sühnten die Bourbonen dadurch, daß sie in Frankreich das Schafott bestiegen, die Freveltaten ihrer Familie gegen die Gesellschaft Jesu?«

Urquiola bejahte die Frage. Nach seinen Ausführungen war die Guillotine ein indirektes Mittel Gottes gewesen, um das Königspaar zu züchtigen, dessen Vorfahren die Jesuiten aus seinem Gebiete zu vertreiben wagten. Tod und Hölle für jeden, der die wahren Vertreter Jesu Christi verfolgt! ...

Zum größten Mißvergnügen der gesamten Universität mußten derartige Themen jedoch fallen gelassen werden, denn man verfehlte nicht, die Patres darauf aufmerksam zu machen, daß es gefährlich sei, mit solchen oratorischen Spielereien die Güte der spanischen Bourbonen zu bezahlen, die dem Orden die Pforten ihres Landes wieder geöffnet hatten.

Zu Weihnachten formte sich der Saal der literarischen Sitzungen in ein Theater um. Und sogar hierin bewunderte Doña Cristina das Talent und die Tugend der Patres. Ah, wenn alle Theater diesem glichen, dann könnten katholische Frauen sie ohne Furcht besuchen! ... Die Musik entlieh man den beliebtesten Operetten – aber fort mit dem sündhaften Text! Reimkundige Patres verfaßten einen neuen, und nach der fröhlichen Melodie:

Trinke, Liebchen, trinke schnell,
Trinken macht die Äuglein hell!

besang ein Zögling die Vorzüge des kanonischen Rechts mit solcher Hingabe, daß selbst der düstere, an der Decke schwebende Sankt Ignatius zu lächeln schien. Weibliche Rollen wurden ausgemerzt, und trat in irgendeinem Stück ein Liebespaar auf, so verwandelte es sich in zwei Vettern, Studenten von Deusto, die Hand in Hand schworen, sich immer lieb zu haben, fleißig zu studieren und ihren Lehrern gegenüber Gehorsam und Demut zu bewahren ... Himmlische Seraphime! Wer konnte es leugnen? ...

Ganz gerührt wurde Sanchez Moruetas Gattin bei der Schilderung solcher Feste. Welch ein Segen, daß ihr Neffe auf dieser Universität studiert hatte! Deswegen war er auch so sehr Kavalier, so gut katholisch, und deswegen stellte er seine Athletenmuskeln in den Dienst der guten Sache. Gelobt sei Gott, daß er anders war als die von Madrid kommenden Studenten, die mit ihren schlimmen Ideen und liederlichen Sitten das alte Baskenland verseuchten!

Hörte Doña Cristina etwas von Urquiolas Streichen, so versuchte sie zuerst, alles zu bestreiten, um ihn schließlich mit einem kleinen Seufzer zu entschuldigen: »Jugend hat keine Tugend! Und obendrein das schlechte Beispiel der jungen Leute, die nicht in Deusto erzogen worden sind! Aber das geht vorüber – sein Kern ist gut.« Zu Hohem war er ausersehen, nachdem er sich jetzt auch in den politischen Kampf mischte. Ob er nicht gar als Abgeordneter in das gottlose Madrid einziehen würde? Und sie und ihr Neffe würden genügen, um Bilbao auf den richtigen Weg zurückzuführen, vorausgesetzt daß ihnen der Rat der weisen Patres stets zur Seite stand.

Liebevoll sich in solche Gedanken versenkend, rollte die Gattin Sanchez Moruetas in ihrem Automobil, das dicke Staubwolken hinter sich ließ, zur Stadt.

Pepita verfolgte vom Fenster ihres Zimmers aus den Wagen, bis er hinter der ersten Kurve verschwand. Dann irrte ihr Blick weiter, mit der vagen Melancholie der Verliebten, die in allem, was sie umgibt, neues Leben entdecken. Niemals war ihr die von Kindheit an vertraute Landschaft so schön erschienen wie an diesem Sommernachmittag. Sogar die Menschen auf der Landstraße längs des Nervion kamen ihr sympathischer vor als sonst. Aus einem Pinienwäldchen schallten die Stimmen einer Gruppe von Arbeitern, die, durch das nahe Meer angeregt, Iparraguirres berühmtes »Hinaus auf die Wogen, Matrosen« sangen, und die Verse des baskischen Barden fanden in der Seele des jungen Mädchens solche Resonanz, daß seine Augen feucht wurden. Die Bucht leuchtete unter den liebkosenden Strahlen der Sonne; gleich zitternden Spiegelstückchen wellte das Wasser fort. Und jenseits der an Stahlkabeln aufgehängten Biscayabrücke, die unter der ununterbrochenen Reihe eleganter Fuhrwerke und Ochsenkarren auf und nieder schwankte, rollten bleigraue Wogen, brach sich am Horizont das Meer an den Wellenbrechern, deren lange Mauer es mit sprühendem Gischt krönte. Wie die Rauchfahne einer unsichtbaren Lokomotive lief diese Schaumwolke hurtig von einem Ende des Dammes zum anderen und zerstob, um einer neuen Platz zu machen.

Vom Meer wanderten Pepitas Augen landeinwärts, wo die Flußmündung ein Stück Themse, aber von einer südlicheren Sonne gebadet, darbot: aus einem Gewirr von Dächern, Plätzen und Schuppen ragten zahllose Schornsteine, deren von der Sonne zartrosa gefärbter Rauch Sanchez Moruetas Macht verkündete.

Bilbao selbst war unsichtbar. Übereinander gelagerte Berge begrenzten den Horizont nach der Stadt hin. Pepita kannte sie alle bei Namen; viele Jahre hindurch hatte sie diese Gipfel morgens, wenn sie aus dem Bett sprang, gesehen – manchmal von Nebel eingehüllt, daß kaum die Umrisse erkennbar waren, manchmal sich mit den dunklen Flecken ihrer Täler und Schluchten rot von dem azurblauen Himmel abhebend. Am nächsten lag der Pico de Banderas, den man mit ausgestrecktem Arm berühren zu können wähnte. Hinter ihm, doch in beträchtlicher Entfernung, erhoben sich die Riesen des Landes, der Manarsa und der Gorbea, und zwischen beiden der unzugängliche, schneebedeckte Höcker der Peñia de Ambote, mysteriös und sagenumsponnen. Wie gut erinnerte sich Pepita ihrer Ängste als Kind, wenn ihre Wärterin drohte, die »Dame vom Ambote« rufen zu wollen, eine böse Fee, die ihre Höhle auf dem eisigen Grat nur verließ, um das Korn zu verbrennen, den Bauern Schabernack zu spielen und unartige Kinder umzubringen.

Nicanoras Hand legte sich sanft auf die Schulter des jungen Mädchens.

»Er ist da! Geh hinunter in den Park.«

Pepitas Melancholie wich der Unruhe und Furcht. Seit langem hatte sie dieses Stelldichein mit Sanabre vorbereitet, aber jetzt, da der Moment gekommen, zitterte sie, als wäre sie im Begriff, ein Verbrechen zu begehen. Die Amme, die ihre junge Herrin immer noch mit der Vertraulichkeit der Kinderjahre behandelte, lachte über soviel Zaghaftigkeit.

»Du Dummchen! Was ist dabei, wenn sich zwei Verlobte am hellichten Tage treffen, noch dazu unter meinen Augen?«

Trotzdem vermochte Pepita ihrer Unruhe nicht Herr zu werden. Zu tief war der Respekt und die Furcht vor Doña Cristina in ihrem Herzen verankert. Sie hatte erst nach endlosem Bitten und Drängen Fernandos eingewilligt, denn den jungen Ingenieur brachte es zur Verzweiflung, daß er, abgesehen von hastig getuschelten Worten bei seinen Besuchen, nie mit ihr allein sprechen konnte.

Als Pepita unter den Bäumen des Parkes erschien, öffnete ein Diener Fernando gerade das Tor.

»Leider treffe ich Doña Cristina nicht an, Señorita«, begrüßte er sie. »Ich wollte mich bei ihr erkundigen, wann Don José zurückkehrt.«

Unschlüssig, befangen, standen sie einander gegenüber, bis die alte Nicanora energisch dazwischenfuhr:

»Los, geht spazieren! Und sprecht euch aus ohne Angst. Ich passe auf.«

Langsam folgten sie einer schattigen Allee. Beide hatten so viel auf der Zunge, daß sie nicht wußten, womit sie den Anfang machen sollten. Und diese Stille unter den hohen Bäumen, in der jeder sein Herz schlagen hörte! Bisweilen sahen sie sich an mit einem Lächeln, das beredsamer war als Worte, und allmählich machte sie die frohe Natur, ewig im Bunde mit Verliebten, zutraulicher. Das sanfte Murmeln einer Quelle, das leise Rauschen der Blätter in der lauen Sommerbrise, das Zirpen der Insekten, die wie ein goldener Funkenregen in der Sonne blitzten – alles sprach ihnen von Liebe ...

Fernando fand zuerst Worte.

»Endlich! ... Wie habe ich diesen Augenblick ersehnt! Oh, diese vielen Stunden, in denen mein Blick auf deinen Briefen ruhte, als spräche etwas Geheimnisvolles aus deiner Schrift, als winkte dein Lächeln zwischen den Zeilen ... Ich glaube, Liebling, daß ich dich immer, auch als du noch ein kleines Mädchen warst, geliebt habe, nur ohne es zu wissen. Aber klar wurde ich mir über meine Gefühle an dem Tage, als du ›Goizeco izarra‹ sangst. Du legtest deine ganze Seele in das Lied.«

»Du übertreibst, Fernando«, wehrte Pepita ab. »Wie romantisch du bist! Wie kann meine Stimme solchen Eindruck auf dich machen? ... Ich singe zu meinem Vergnügen. Und glaube mir, daß all diese schönen Verse süße Lügen sind, von den Dichtern ersonnen, um unser Leben zu erfreuen. Sehr schöne Verse, gewiß, aber schließlich doch nur Lügen.«

Wie ein eisiger Windstoß schoß durch Sanabres Hirn die Erinnerung an ein Urteil Doktor Arestis: ›die Basken haben eine schier an Narrheit grenzende Neigung zur Musik. In jedem Augenblick ihres Lebens singen sie, und ihre Lieder atmen die melancholische Trauer ihres Landes. Aber die Erregung liegt nur auf den Lippen – ein äußerliches Gefühl, das sich in der Luft verliert ...‹

Sanabre jedoch schüttelte die Erinnerung ab.

»Nein, mein Kleines. Es ist deine ganze Seele, die du unbewußt in deine Stimme legst ... Ich aber sage dir nicht, wie es am Schlusse des Goizeco izarra heißt: ›Lebe wohl für immer, lebe wohl!‹ Was würde aus mir, wenn ich dich verlieren sollte! ... Sag, Pepita, daß du mich liebst.«

Pepita, von Scham erfaßt, zögerte, das, was sie so oft in ihren Briefen beteuert hatte, mündlich zu wiederholen.

»Du weißt es doch«, wich sie aus. »Habe ich es dir nicht so viele Male schon geschrieben?«

»Trotzdem, ich möchte es so gerne von deinen Lippen hören.«

Und ihm voll in die Augen blickend, sprach das junge Mädchen ernst, als legte es in seine Worte das ganze Gewicht eines Schwurs:

»Ich liebe dich, Fernando.«

Oh, dieser Blick! ... Für den Ingenieur war er das Schönste dieser Zusammenkunft, und er verschloß ihn mit all seinem Licht ins Herz als Begleiter für die langen Stunden im Hüttenwerk, die die Erinnerung ausfüllen mußte. Und Pepita meinte aufrichtig, was sie sagte. Für sie war Fernando das abstrakte Ideal, das sich jede Frau bei ihrer ersten Liebe bildet: der aus Anmut und Kraft zusammengesetzte Mann; gefühlvoll und energisch; fähig, angesichts einer Blume weich zu werden, doch auch wie ein wildes Tier zu kämpfen – kurz, eine Mischung von verliebtem Tenor und markigem Paladin, die in Wirklichkeit nicht existiert, jedoch die Träume aller Jungfrauen beunruhigt.

»Ja, ich liebe dich«, wiederholte das junge Mädchen. »Meinetwegen brauchst du keine Angst zu haben. Ich werde dir nie Lebewohl sagen.«

»Mein Traum! Meine Sehnsucht, wie glücklich ich bin!« rief Sanabre so laut, daß es die in einiger Entfernung folgende Nicanora hören konnte. Ein wenig mitleidig nickte sie. Waren nicht alle Verliebten, ob Arbeiter oder Señoritos, gleich? Andere Worte, darin bestand der ganze Unterschied. Und dabei trugen sie sie mit einer Feierlichkeit vor, als hinge das Dasein der Welt von dem ab, was sie sagten. Ah, die Jugend! ... Nachsichtig lächelnd wie ein Veteran, der Bescheid weiß, huschte sie näher zum Haus.

Durch Pepitas Versicherung ruhiger geworden, begann Sanabre von der Zukunft zu sprechen.

»Ich werde arbeiten – und es weit bringen. Die Liebe gab mir neue Kraft. Ich brüte über einigen Erfindungen, die dem Hause Sanchez Morueta großen Gewinn eintragen sollen.«

Dann aber dämpfte der Gedanke an den Chef seine Illusionen.

»Was wird dein Vater sagen, wenn er von unserer Liebe erfährt? Du weißt durch meine Briefe, wieviel schlaflose Nächte mir diese Ungewißheit schon bereitet hat. Und deine Mutter? Sie fürchte ich noch mehr ... Ach, glichen doch alle in deiner Familie dem Doktor Aresti!«

»Ja, mein Onkel ist ein guter Mensch.« Pepita sprach von ihm wie von einem entfernten Verwandten, an den man sich nur ab und zu erinnert. »Schade, daß er diese Ideen hat. Mir ist er sehr sympathisch, aber Mama hält ihn für verrückt.«

Von neuem ließ die Sorge Sanabre über die Zukunft reden.

»Vielleicht beabsichtigen deine Eltern, dich mit einem Millionär zu verheiraten oder – wenn ihnen am Gelde nichts liegt – mit dem Träger eines alten, adligen Namens. Alle werden sie in Erwägung ziehen, nur mich nicht, der weiter nichts als seinen Verstand aufzuweisen hat. Dieser verfluchte Klassenunterschied kann uns den Weg versperren ...«

»Wie du redest!« unterbrach ihn Pepita lächelnd. »Ich will doch keinen anderen haben als dich.«

Dankbar wollte Sanabre ihre Hand küssen. Aber sie entzog sie ihm schroff und barg sie auf dem Rücken.

»Laß das bitte!« Ihre Stimme wurde ohne Übergang hochmütig und hart, als hätte der junge Mann etwas Ungeheuerliches beabsichtigt.

Wieder fiel ihm einer von Arestis paradoxen Aussprüchen ein, um derentwillen er den Ruf eines Narren trug; »Dies ist ein Land ohne Herz, wo man noch niemals die Flucht eines jungen Mädchens mit seinem Liebhaber erlebt hat.«

Sanabre war infolge Pepitas brüsker Bewegung so gelähmt, daß er stumm neben ihr her schritt. Wahrscheinlich bereute sie ihre heftige Abwehr; trotzdem aber überließ sie es ihm, die Unterhaltung wieder aufzunehmen.

»Ich habe das Gefühl, daß dich deine Mutter mit Fermin Urquiola verheiraten möchte«, meinte er schließlich.

»Den? Den heirate ich nie! Ich mag keine Männer, die sich auf ihre Schönheit etwas einbilden. Oh, dieser kalte Rechner, der verschiedenen reichen Mädchen gleichzeitig den Hof macht, um für alle Fälle gesichert zu sein. Und außerdem seine Don-Juan-Affären – von einer Schneiderin im alten Bilbao soll er sogar mehrere Kinder haben! Mich ekelt er an, mag Mama ihn noch so sehr preisen!«

Aber die Erinnerung an das von der Mutter oft gehörte Lob legte ihr eine Frage auf die Lippen.

»Fernando, bist du religiös? Oder ist es wahr, daß du so denkst wie mein Onkel? ... Sag nein, Fernando, sag nein!«

Ihre Augen, die treuherzigen Augen eines Kindes, sahen ihn flehend an ... Sanabre dachte für einen Moment an Faust in Gretchens Garten. Ein anderes unschuldiges Mädchen, wenn auch weniger leidenschaftlich als die blonde deutsche Schwester, forschte nach seiner Religion. Und obwohl er wie der Doktor Faust Lust verspürte, einen Hymnus zu Ehren seiner rationalistischen Überzeugungen anzustimmen, mahnte ihn sein Instinkt, daß es gefährlich sei, diese schlafende Seele zu beunruhigen.

»Ja, mein Leben, ich habe Religion«, antwortete er ausweichend. »Ich glaube, daß der Mensch gut sein soll und glücklich auf Erden – dafür arbeite ich.«

Pepita schien ihn nicht verstanden zu haben.

»Ich stellte dir diese Frage«, fuhr sie fort, »weil Mama neulich äußerte, du seist ein ebensolcher Freigeist wie mein Onkel. Du ahnst nicht, was ich allein bei dem Argwohn, daß es Wahrheit sein könnte, litt! Und in meinen Briefen mochte ich dir nicht davon sprechen. Jetzt bin ich beruhigt. Ich kenne doch meinen Fernando. Gut ist er ... allerdings ein bißchen romantisch wie alle, die nicht aus dem Baskenlande stammen, doch unfähig, sich die Irrlehren des großen Sünders Aresti zu eigen zu machen.«

Und sich Sanabre nähernd, als wollte sie sich ihm anbieten, fragte sie mit einer süßen Weichheit, die in nichts an die hochmütige Abwehr vorhin erinnerte:

»Warum gehst du aber nicht wie die anderen jungen Leute zur Beichte, wenn du gläubig bist? Warum sieht man dich nie in der Residenz der Patres? ... Natürlich hörst du jeden Sonntag die Messe« – nie hätte sie vermutet, daß ihr Fernando überhaupt nicht zur Kirche ging! –, »dennoch kommt es darauf an, wo man sie hört. Mir scheint Gott, trotzdem er überall ist, in der hübschen und so behaglichen Jesuitenkirche näher zu sein. Auch ist die ganze Religion dort feiner – man sieht nur Angehörige der guten Gesellschaft.«

Der Ingenieur zuckte die Schultern.

»Ich habe sehr viel zu tun und gehöre vor allem meinen Pflichten. Arbeit ist auch eine Religion.«

Doch Pepita, jetzt vom Egoismus der Liebe beeinflußt, drängte weiter.

»Du vergibst dir doch nichts, wenn du dich den guten Patres näherst, die nur für das Glück ihrer Mitmenschen tätig sind und dank ihrer Weisheit alle Wege zu ebnen wissen. Mit geschlossenen Augen muß man ihnen folgen. Ah, wenn sie unsere Verbündeten wären, brauchten wir nichts zu befürchten! ... Fernandito!« schmeichelte sie, »Fernandito, geh hin, gewinne ihr Wohlwollen. Ich bin sicher, daß dich Mama mit besseren Augen ansieht, sobald irgendeiner der Patres deiner Erwähnung tut. Wie glücklich würde ich sein! ...«

»Gut, gut, wir werden sehen«, murmelte Sanabre unschlüssig.

Ihm widerstrebte der krumme Pfad, den Pepita vorschlug. Aber wenn er zum Ziele führte? ... Warum sollte er, der sich die größten Anstrengungen zutraute, um die geliebte Frau zu erringen, Skrupel haben vor einem Mittel, das höchst wahrscheinlich den Erfolg verbürgte? ...

»Ich liebe dich«, sagte er begeistert, »und ich will alles tun, was uns helfen kann. Ich werde die Patres aufsuchen, ich werde zu ihrer Residenz gehen, ich werde in die Bruderschaft von Sankt Luis eintreten. Wie aber, wenn trotz allem deine Eltern meine Werbung nicht annehmen? Wenn deine Mutter dich mit einem anderen verheiraten will? ...«

Um dieser schicksalsschweren Frage willen hatte Sanabre hauptsächlich auf diese Unterredung gedrängt.

Pepita senkte die Augen, unschlüssig, grüblerisch.

»Sag, mein Leben!« bestürmte er sie weiter. »Und wenn sie sich unserer Liebe widersetzen, wenn sie uns trennen wollen – was wirst du tun?«

»Ich habe dich unendlich lieb, Fernando«, umging das junge Mädchen die Antwort.

»Das weiß ich, und mein Herz jubelt bei deinen Worten. Aber sprechen wir ernsthaft; lassen wir die Romantik, wie du es nennst. Ich bin arm, du bist ungeheuer reich. Wärst du fähig, ein Leben des Luxus einzutauschen gegen eine bescheidene Existenz an der Seite eines Mannes, der dich sehr, sehr liebt?«

»Du wirst arbeiten, Fernando, und dadurch reich werden.«

Sie äußerte es mit der Überzeugung des im Wohlstand aufgewachsenen glücklichen Mädchens, das nicht an die Möglichkeit der Armut glaubt ... Armut war für Menschen einer anderen Klasse reserviert und konnte weder sie noch irgend jemand, der ihr nahestand, treffen. Ohne die Vorteile des Reichtums zu leben, die ihr überall den ersten Platz sicherten, dünkte sie eine Absurdität, an die man keine Worte zu verschwenden brauchte.

»Und wenn deine Eltern dir befehlen, mich zu vergessen? ... Wirst du fähig sein, ihnen zu trotzen? Wirst du auch gegen ihren Willen meine Frau werden?«

Pepitas Augen wurden groß in namenlosem Staunen, als vernähme sie etwas Unerhörtes, als gähnte vor ihr plötzlich ein Abgrund, den sie sich nie vorgestellt hatte – etwas Ungeheuerliches, das über die Grenzen menschlicher Dinge hinausging.

»Ich liebe dich, Fernando, und werde dich nie vergessen.«

Mehr sagte sie nicht. Umsonst versuchte er, sich über ihren Mut angesichts künftiger Gefahren klar zu werden, die Stärke ihres Willens und ihrer Liebe zu ermessen. Mit gesenktem Kopf wiederholte sie nur immer wieder:

»Ich liebe dich, Fernando. Warum von all dem anderen sprechen? Wenn der Moment kommt, werden wir alles überlegen.«

Ein schmerzliches Schweigen folgte. Sie schien beleidigt zu sein, daß er sie zu gewaltsamen Entscheidungen nötigen wollte, und er dachte von neuem an den Doktor, an die Troubadourgitarre, mit der der Spötter Aresti ihn gehänselt hatte. Gehörten er und Pepita wirklich ganz verschiedenen Rassen an? ...

Der junge Ingenieur wollte gehen, da Doña Cristinas Heimkehr zu erwarten war. Gleichzeitig indes bangte ihn vor den einsamen, trüben Stunden, die seiner harrten, wenn er dieses große Gewicht der Enttäuschung mit sich forttrug.

»Sage mir wenigstens, daß du mich nie, was auch immer kommen mag, vergessen wirst«, bat er, nun doch eine Hand Pepitas ergreifend.

»Nie, nie werde ich dich vergessen, Fernando.«

Und widerstandslos überließ sie ihre Hand seinen zärtlichen Küssen, mit der Duldsamkeit, die einem unwilligen Kind zu seiner Beruhigung etwas Hübsches ausliefert.

Nicanoras Ruf riß Sanabre aus seiner Trunkenheit. Schnell, schnell, der Pförtner öffnete bereits das schmiedeeiserne Tor für Doña Cristinas Wagen! Und wie gehetzt liefen sie zum Haus zurück.

Als Sanchez Moruetas Gattin das Paar erblickte, warf sie der Amme einen strengen Blick zu, den diese mit der Arroganz greiser Dienstboten, die sich keine Vorwürfe gefallen lassen, zurückgab. Der junge Herr hatte sich mit Pepita ein wenig den Park angesehen, ständig unter ihrer Aufsicht. War da vielleicht etwas einzuwenden? ...

»Ich wollte mich nach Don Josés Rückkehr erkundigen«, begann Sanabre, sichtlich verwirrt.

»Der Mühe eines Besuches hätte Sie eine telephonische Anfrage enthoben«, unterbrach ihn Doña Cristina.

»Und mich bei der Gelegenheit auch nach Ihrem Befinden erkundigen.«

»Sehr liebenswürdig.« Kalt und hochmütig klang die Stimme der Herrin des Hauses. »Wollen Sie noch hineinkommen?«

Doch ihre Augen forderten ihn auf, sich sofort zu verabschieden.

Und Pepita mußte erleben, daß ihr Liebster sich gedemütigt entfernte. Langsam und müde stieg sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer, überzeugt, daß jeden Moment die Tür aufgehen und ihre erzürnte Mutter eintreten würde. Aber niemand kam ...

Als sie eine Stunde später ihrer Mutter im Speisezimmer gegenübersaß, bemerkte Doña Cristina kurz:

»Ich wünsche, daß du hinfort keinen Besuch mehr empfängst, einerlei ob im Hause oder im Garten. Übrigens ist es ein seltsamer Zufall, daß dieses ... Individuum am selben Nachmittag erscheint, an dem du unter dem Vorwand des Unwohlseins allein zurückbleibst.«

Ihre Augen schienen in Pepitas Seele eindringen zu wollen. Jedoch das junge Mädchen bewahrte einen ungezwungenen Gleichmut, dank der Kunst ruhiger Verstellung, die nicht erlernbar, sondern bei der Frau instinktiv ist und die mit der Liebe wächst.

 

Ein Sommermorgen ohne die kleinste Wolke am Himmel. Durch einen blutroten Glanz, der das letzte Blinzeln der Sterne auslöschte, verhieß die Sonne ihr Nahen.

Bilbao erwachte. Pfeifende Lokomotiven kündigten die Frühzüge nach Portugalete und Las Arenas an, und von überall eilten Arbeiter, ihr Mittagessen in ein Tuch gebunden, nach den Ufern der Bucht. Der über dem tiefen Bett des Nervion geballte Nebel teilte sich und gab den stahlblau schimmernden Wasserspiegel preis, an dessen Kaimauern zwei breite Schlammbänder den Rückgang der Flut bezeichneten. Jetzt erstarben am oberen Teil der Flußmündung auch die Lichter der Aalfischer, die während der ganzen Nacht wie eine Prozession unsichtbarer Büßer umhergeirrt waren. Seevögel, von dem rötlichen Schein der beleuchteten Stadt angelockt, flatterten über den Dächern, um dann die Flügel meerwärts zu entfalten, dem gewundenen Lauf der Flußmündung folgend bis zu der breiten, ungeheuren Fläche der Bai.

Die Geschäfte, in denen die Armen ihren Bedarf deckten, Kramläden und Tavernen, öffneten ihre Türen. Beharrlich riefen die kleinen Kirchenglocken zur Messe, und wie von ihnen angezogen, tauchte bald hie, bald da eine alte, schwarzumhüllte Frau auf, halb Hexe, halb Dueña, umwittert von dem modrigen Dunst antiker Kleider. Den Glocken antworteten in der Ferne die schrillen Signale der Lokomotiven, das Knarren der Ankerwinden und das Geschrei der Schauerfrauen, die sich erst einmal zankten, bevor sie, den Kopf vom Gewicht der Ballen niedergebeugt, ihr Hin und Her zwischen Schiff und Kai begannen.

In den Straßen schickten sich die Kehrwagen an, das Pflaster vom Unrat des vorhergehenden Tages zu säubern, und junge Mädchen pochten an die Türen, um die Frühstücksbrötchen auszuhändigen.

Plötzlich ertönte die Hupe eines Automobils, und sowohl die Dienstmädchen, mit ihren leeren Körben auf dem Wege zum Sankt-Antonius-Markt, als auch die Bäuerinnen, die ihre Gemüsekiepen und Milchkübel einen Augenblick abgesetzt hatten, drehten sich nach dem eleganten Wagen um, der schnell in der Richtung zur Neustadt verschwand.

»Sanchez Moruetas Frau und Tochter«, bemerkte eine der Mägde. »Diese Reichen stehen noch früher auf als unsereins. Anscheinend wollen sie zur Kirche, da beide schwarze Spitzenmantillas trugen.«

Durch die breiten Straßen der Neustadt, noch öde um diese Stunde, raste das Automobil mit vermehrter Geschwindigkeit und hielt dann brüsk vor der Kirche vom Heiligen Herzen, einem Meisterwerk der Zuckerbäckerarchitektur, in dem das Weiß der Spitzbogen sich mit dem Rosa der Mauern vermählte.

Doña Cristina betrat sie nie, ohne einen gewissen Kitzel von Wohlbehagen zu verspüren, ein Vergnügen, als setzte sie ihren Fuß über die Schwelle eines eleganten Salons, wo man mühelos und bar aller unangenehmen Begleitumstände, ja fast in wollüstiger Süße, sein Seelenheil sichern kann.

Wieder einmal mußte sie dem Talent der guten Patres angesichts des Innern der Kirche Bewunderung zollen. Sie war gotisch, jedoch ohne das rohe Weiß, ohne die nackte Nüchternheit der alten Kathedralen. Golden und zinnoberrot rieselte es die Rillen der Säulen und Spitzbogen herab, und auf den blauen Wölbungen der Decke strahlten wie bei einem Theaterhimmel viel goldene Sterne.

Und unwillkürlich dachte Doña Cristina an den Vetter ihres Mannes – wie übrigens jedesmal, wenn sie sich über irgendeine Gottlosigkeit empörte. Hatte er nicht den lästerlichen Vergleich anzustellen gewagt zwischen diesem herrlichen Bauwerk und den bei Dienstmädchen beliebten Holzkoffern, deren Inneres mit schreiend bunten Farben bemalt ist? So etwas zu sagen, wenn alles in diesem Heiligtum für die Bequemlichkeit und das sanfte Vergnügen der Gläubigen ausgedacht und angeordnet war! ...

Die stürmische und betäubende Orgel hatte dem Harmonium weichen müssen; an Stelle der gruseligen, schwärzlichen Heiligen der alten spanischen Devotion sah man lächelnde Statuen, frisch lackiert, distinguiert und korrekt, wie es dem Kult der guten Gesellschaft entspricht; elektrische Birnen in überreicher Fülle ersetzten die Kerzen, die mit ihrem starken Wachsgeruch Übelkeit bei den Damen erregten.

Langsam gingen Doña Cristina und ihre Tochter durch die Reihen der neben den Beichtstühlen knienden Bußfertigen. Für einen Sommermonat war die Kirche sehr besucht. Aber die Gattin Sanchez Moruetas erkannte den Einfluß der Saison an der Klasse des Publikums. Die »gewöhnlichen Leute«, wohlhabende Handwerkerfrauen und bigotte alte Jungfern mit problematischen Existenzmitteln, profitierten von den Badereisen der vornehmen Damen, um sich der hübschen Kirche und ihrer heiligen Priester zu bemächtigen.

Kaum waren Mutter und Tochter bei dem am meisten belagerten Beichtstuhl niedergekniet, so erhob sich ein respektvolles Raunen in der Doppelreihe der Wartenden. Zwei alte Frauen, wie alle anderen in Schwarz und Mantilla, standen auf und boten den Damen ihre Plätze an. Huldvoll nickend, ließ Doña Cristina eine Peseta in die runzeligen Hände gleiten, worauf die Greisinnen sich nach einem weniger begehrten Beichtvater umschauten. Eigentlich gefiel ihnen der Pater Pauli ohnehin nur wenig, trotz seines Rufes. Er lauschte stets mit kaum verhehlter Ungeduld, sobald durch das Gitter der muffige Geruch abgetragener Mantillen zu ihm emporstieg, und fertigte die Eindringlinge, die sich in seine elegante Herde zwängten, möglichst eilig ab.

Als Frau und Tochter Sanchez Moruetas sich jetzt nur noch durch zwei Damen von dem Beichtstuhl getrennt sahen, öffneten sie ihre Gebetbücher und warteten kniend, aber sich bequem rückwärts auf die Hacken stützend, in Ruhe ab.

Doña Cristina befiel die Erregung eines jungen Mädchens, das die Nähe des Geliebten fühlt. Der Pater Pauli war ein berühmter Mann. Welch eine Energie, welche Kampfbegierde! ... Die gute Señora sah in seiner Person etwas vom Wesen Sankt Ignatius', der Soldat gewesen war, bevor er ein Heiliger wurde, und unter der Soutane die Kühnheit des Kriegers bewahrte. Man brauchte ja nur in den liberalen Zeitungen die Skandale nachzulesen, die Worte und Handlungen Pater Paulis selbst in Madrid hervorgerufen hatten, um sich zu überzeugen, daß niemand in gleichem Maße wie er für die Sache Gottes arbeitete. Er verschmähte Deckmäntelchen und Umschweife und unterschied sich von so vielen anderen Geistlichen, die stets von Milde reden und stets das Wort »Liebet eure Feinde« im Munde führen! Pater Pauli war sozusagen der Eber der Kirche, der – sich des günstigen Bodens im Baskenlande bewußt, auf dem das Buschwerk des Glaubens und der blinden Unterwerfung üppig gedieh – zornig losraste und mit seinen Hauern nach allen Seiten stieß. »Hiebe für die Feinde der Kirche!« lautete seine Losung, der sein Laiengehilfe Fermin Urquiola gern Rechnung trug.

Kein Mittel sparte Pater Pauli, um für sein kriegerisches Vorhaben Propaganda zu machen. Seine Predigten gelegentlich der großen Wallfahrten oder der Feste der »Gesellschaft der Nachtwachen« und anderer Vereinigungen, die von ihm geleitet wurden, waren Ansprachen eines Häuptlings, in denen er gleich den Kreuzrittern die Devise vertrat: für das Heilige Herz Jesu töten oder sterben! Und seine berühmte, am Vorabend der letzten Wahlen veröffentlichte Broschüre »An die katholischen Damen« hatte sogar der Abgeordnetenkammer Anlaß gegeben, sich mit ihm zu beschäftigen.

Ein gewaltiger Streiter, der schnurstracks auf sein Ziel losging, wobei er, um die Religion zu verteidigen, die Lehren der Religion unter die Füße trat. In seiner Broschüre donnerte er gegen den Luxus der Frauen und das Geld, das sie für wohltätige Zwecke vergeudeten. »Jetzt ist weder Zeit für neue Kleider noch für Almosen. Jede Peseta muß für die Wahlen, für den Stimmenkauf, für die Beeinflussung der Leute verwandt werden, damit der Kandidat Gottes triumphiert und nebenbei die Einrichtung des allgemeinen Wahlrechts entehrt wird, das die Klassenunterschiede verwischt und die Gesetze der alten Gesellschaft umwirft.«

Doña Cristina erinnerte sich noch der Umstände des lärmenden Kampfes, in dem Pater Pauli Sieger geblieben war: die Señoras, die in den Geschäften nicht mehr zu kaufen drohten, deren Inhaber für den liberalen Kandidaten stimmen würden; das Geld, das wie ein Gift in die Arbeiterviertel strömte, die Menschen verrückt machte und sie ihre Diskussionen durch Hiebe und Schüsse beendigen ließ; die reichen Damen, die mit geöffneter Börse und einem Packen Wahlzettel in die Wohnlöcher des Elends glitten. Und diesem großen, von Pater Pauli geführten Heer sollte ein Mann von wahrhaft paradiesischer Einfalt die Stirn bieten, der Reden über die materielle Wiedergeburt der Nation und über Bewässerungspolitik hielt, der Kanäle und Staubecken verlangte, als brächte Biscaya, wo es das ganze Jahr über regnet, dem Interesse entgegen, was für die ausgedörrten Ebenen Kastiliens, über denen eine afrikanische Sonne brütet, wichtig war! Am Tage vor der Wahl ging der Liberale feierlich zur Kommunion, um seiner Kandidatur jeden antireligiösen Charakter zu nehmen. Der unglückliche Tropf! Als ob solche Kunststückchen bei der Kirche, die in dergleichen Meisterin ist, Erfolg haben könnten! Als ob die Wohlgesinnten nicht wüßten, daß jedweder, der sich nicht mit Leib und Seele ihren Befehlen unterwirft, gegen sie ist ...

In diesem erst kürzlich stattgefundenen Kampf, der dem energischen Jesuiten das Prestige eines unüberwindlichen Führers gab, zerrissen die letzten Bande rein freundschaftlicher Intimität, die noch zwischen Dona Cristina und ihrem Gatten bestanden. Die Liberalen suchten, indem sie Sanchez Morueta daran erinnerten, daß er einst in ihren Reihen im Bürgerkrieg gekämpft hatte, seine Unterstützung, worauf der Millionär ihrem Wahlfonds tausend Pesetas anwies. Am gleichen Tage aber händigte Dona Cristina dem Pater Pauli zehntausend Pesetas aus. Als man in Bilbao von diesen Schenkungen erfuhr, traf Sanchez Morueta der Spott beider Parteien, und Dona Cristina – ihr schien, als hörte sie das ironische Lachen Doktor Arestis dort oben in seinen Minen– zitterte vor dem Zusammentreffen mit ihrem Gatten, zitterte vor einer zornigen Explosion des Giganten, der sich durch eine Frau, die ihm nur noch die Verwalterin seines Hauses war, lächerlich gemacht sah. Doch die Tage vergingen ... und er verharrte in seinem geringschätzigen Schweigen.

So schwand allmählich Dona Cristinas Angst, und mit einem bescheidenen Lächeln nahm sie die Glückwünsche der Freundinnen für den erbrachten Beweis ehelicher Unabhängigkeit zur größeren Ehre Gottes entgegen. Die Anerkennung Pater Paulis entschädigte sie vollends für alle Schrecken, die sie beim Anblick der zusammengekniffenen Lippen ihres Mannes ausgestanden hatte, denn der Jesuit verglich sie in einer Zusammenkunft der katholischen Señoras rühmend mit den starken Frauen der Heiligen Schrift.

»Mit solch mutigen Damen wird das Reich Jesu Christi sehr bald wieder auf Erden regieren!«

Urquiola war ein anderer Lobhudler, der voller Behagen in den Versammlungen der katholischen Jugend den famosen Streich pries, den seine Tante dem hünenhaften Gatten mit der sauertöpfischen Miene gespielt hatte.

War es verwunderlich, daß die fromme Señora nach diesem rauschenden Triumph in die Jesuitenkirche hineinging, als wäre es ihr eigenes Haus, und sich mit den guten Patres wie durch Familienbande verknüpft wähnte? ...

Plötzlich steckte der Beichtvater den Kopf aus seinem geheiligten Verschlag, um, Gebete murmelnd, mit einem schnellen Blick die Reihe der wartenden Büßerinnen zu streifen.

Er hat mich erkannt und wird sich mit der Letzten vor mir nicht allzu lange aufhalten, dachte Doña Cristina stolz. Der gute Pater muß sich ja sagen, daß mich an diesem heißen Sommertag nur etwas Außergewöhnliches herführt!

So verhielt es sich in der Tat. Allerdings war weder das Heil ihrer Seele gefährdet, noch hatte sie eine schwere Sünde, deren Gewicht sie erdrückte, zu beichten. Aber da der Jesuit alles, absolut alles, was die Gedanken seiner Schäflein beunruhigte, wissen wollte – weil dies das einzige Mittel war, sie gut und richtig zu leiten –, bereitete sich Doña Cristina für eine seltsame; Beichte vor, seltsam für eine Gattin wie für eine Mutter.

Zuerst wollte sie einen an ihren Mann gerichteten Brief erwähnen ...

Sanchez Morueta war am vorhergehenden Tage von Biarritz heimgekommen, wo er – wenigstens ließen seine kargen Worte dies schließen – zwei Wochen lang mit französischen Millionären über neue Unternehmungen verhandelt hatte. Aber Doña Cristina zweifelte an seiner Wahrheitsliebe, seit ihr kurz vor der Rückkehr ihres Gatten beim Durchstöbern seines Schreibtisches ein grauer, parfümierter Briefbogen in die Hände gefallen war, unterzeichnet von einer Frau, einer gewissen Judith, nach ihrem Namen und ihrer Schreibart sicherlich eine Ungläubige und eine Sünderin. Viel konnte sie aus der unregelmäßigen, bizarren Schrift des Briefes, der überdies französisch abgefaßt war, nicht herauslesen; indes machten die wenigen Worte, die sie zu entziffern vermochte, und mehr noch weiblicher Instinkt ihr klar, daß es sich um einen ganz ungeniert verfaßten Liebesbrief handelte. Welcher Ekel! Die ganze Keuschheit Doña Cristinas, ihr Entsetzen vor gemeiner Fleischeslust bäumten sich auf bei der Berührung dieses Papiers. Sie hatte es an Ort und Stelle zurückgelegt. Nichts mehr von ihm sehen! ... Das Wichtigste wußte sie ja: ihr Gatte hatte eine Geliebte, um derentwillen er wahrscheinlich so viel Zeit außerhalb Bilbaos verbrachte ...

Im ersten Moment stellte sich bei Doña Cristina ein bisher unbekanntes Gefühl ein, der Wunsch zu protestieren, als sei sie das Opfer eines Raubes geworden. Sanchez Morueta fesselte ihr Interesse plötzlich mehr als in der ersten Zeit ihrer Ehe. Das Weib erwachte in ihr, erbittert über die Treulosigkeit, und beinahe hätte sie im Banne eifersüchtigen Zorns etwas wie Liebe kennengelernt. Aber das dauerte nur ein Weilchen; ihre Seele, die scheinbar erwachen wollte, drehte sich um auf die andere Seite und setzte ihren Schlaf fort.

Wenn José eine Geliebte besaß, was tat's? ... Um so besser für sie selbst. Ihre Gleichgültigkeit fand dadurch eine Rechtfertigung. Sie würde gesicherter in ihrer Keuschheit leben; sie würde sich auch stärker fühlen, da sie diesem Gatten, der mit seinem Stillschweigen zu dominieren schien, etwas ins Gesicht schleudern konnte. Gerade das hatte ihr gefehlt! Doña Cristina hatte es oft verdrossen, dem Mann nichts vorwerfen zu können, der so ruhig, ohne an Religion zu denken, dahinlebte und sein Haus den Dienern Gottes verschloß.

Die Überschrift des sündhaften Briefes »Mon gros loup chéri!« war in ihrem Gedächtnis haftengeblieben. Was mochte das wohl heißen? Und etwas Scheußliches und gleichzeitig Groteskes wie die dickbäuchigen Teufel mancher Bilder ahnend, lächelte sie mitten in ihrem Ekel bei dem Gedanken an die ein wenig lächerliche Figur, die ihr Gatte im Patriarchenbart spielen mußte, wenn er einer dieser Verlorenen den Hof machte, die doch nur über die Männer spotten, während sie ihnen das Geld aus der Tasche ziehen.

Obschon sie ihrer Entdeckung eigentlich keine große Bedeutung beimaß, wollte sie sie dennoch dem Pater Pauli mitteilen, um seinen Rat zu hören, und ihn außerdem bitten, ihrer Tochter, die sich jetzt in dem Alter der Launen und Dummheiten befand, den Kopf zurechtzusetzen. Seit jenem Nachmittag, an dem sie Pepita mit dem jungen Ingenieur im Park überrascht hatte, wurde sie eine gewisse Unruhe nicht los. Zwar hatte sie das Zimmer des jungen Mädchens genau nach Briefen, nach Anzeichen, die auf eine Liebelei schließen ließen, durchsucht und nichts von alledem gefunden; aber ihr Gefühl sagte ihr, daß da irgend etwas schwebte.

Endlich! Die vor ihr im Beichtstuhl kniende Dame erhob sich, und während Doña Cristina den Platz vor dem Gitterchen einnahm, sah Pepita über den Schultern ihrer Mutter einen Schatten, der freundlich flüsterte:

»Oh, Cristina, meine brave Tochter! Warum dieser ungewöhnliche Besuch?« Mehr verstand das junge Mädchen nicht. Doña Cristina legte den Kopf so dicht an das Gitterchen, daß ihre und des Beichtvaters Worte zu einem konfusen Gemurmel zusammenflossen.

Automatisch in ihrem Gebetbuch lesend, überdachte Pepita, was sie dem Pater zu sagen hatte. Da sie aber ziemlich nah hinter ihrer Mutter kniete, drangen bisweilen Bruchstücke des Tuschelns an ihr Ohr.

Aus ihnen ging hervor, daß die Beichtende von einem Brief sprach. Er schien sie sehr zu interessieren, denn sonst hätte sie ihn wohl nicht immer wieder erwähnt, und Pepita erinnerte sich bebend an ihre zu Hause versteckte Korrespondenz mit Fernando. Doch nun erhob Doña Cristina ein wenig die Stimme, als kostete es sie eine Anstrengung, Peinliches vorzubringen, so daß Pepita deutlich vernahm: »Mon gros loup chéri.«

Nein, das betraf nicht sie ... Aber was für ein französischer Wolf mochte das sein, den die Mama bis vor die Ohren des Paters schleppte? Und Pepita biß sich, um das Lachen zu unterdrücken, auf die Lippen, ohne recht zu wissen, warum diese Phrase, die sie in ihren französischen Lehrbüchern nie gefunden hatte, sie so sehr ergötzte.

Dann verstand sie nichts mehr. Der Beichtvater sprach, und, durch das Gitter gedämpft, kam sein näselndes und infolge der gewohnten Vorsicht verschleiertes Organ zu Pepita wie das Lallen eines kleinen Kindes: nja ... nja ... nja. Er schalt die Mama aus, nach der demütigen Haltung zu urteilen, die sie einnahm, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, als erdrückte sie das Gewicht seiner endlosen Verweise.

»Sie haben recht, mein Vater, mich trifft die Schuld«, vernahm Pepita von neuem die Stimme der Mutter. »Aber es ist eine so harte Sklaverei! Ich bin ¦nicht für so etwas geboren – Sie wissen, wofür ich eigentlich berufen war. In der Jugend täuscht man sich immer, und damals war ich noch ein halbes Kind ...«

Wieder summte während vieler Minuten das »Nja ... nja ... nja«, rhythmisch gleich einem Flügelschlag.

»Glauben Sie denn, mein Vater«, murmelte Doña Cristina jetzt, »daß ich nichts getan habe, um ihn auf den guten Weg zu bringen? Der schönste Tag meines Lebens wäre der, an dem er Gott mit dem Hab und Gut, das er seiner Güte verdankt, zu Hilfe käme, an dem er sich beraten ließe von weisen und tugendhaften Personen ... Aber Sie kennen ihn nicht, mein Vater. Unzugänglich ist er; immer empfand ich vor ihm halb Respekt, halb Furcht. Ich wiederhole es nochmals: für so etwas bin ich nicht geboren – es widert mich an.«

Das »Nja ... nja ... nja« klang diesmal so gebieterisch, daß Doña Cristina vor dem Gitter zusammensank, niedergeschmettert durch das Opfer, das ihr auferlegt wurde.

»Ich werde es tun, mein Vater, ich werde es tun ... Ah, wenn Sie wüßten, welchen Abscheu mir so etwas bereitet! Und ich lebte so ruhig! ... Doch ich werde gehorchen, da es ja kein anderes Mittel gibt. Sie sagen ganz richtig, daß ich vor der Heirat hätte daran denken sollen ... Es sind eben Opfer, die Gott auferlegt zwecks Erhaltung der Welt – Forderungen der gemeinen Materie ... Aber wieviel Überwindung kostet mich das! Mein Gott, welcher Ekel! ... Trotzdem, mein Vater, ich gehorche. Ich werde wie in früheren Zeiten mich wieder mit der irdischen Hülle beschäftigen, werde die mondänen Verführungskünste nachahmen, um Gott zu dienen.«

Ein langes Gemurmel des Beichtvaters erfolgte, das Doña Cristina mit der Frage unterbrach:

»Muß es denn gleich sein?«

»Nja ... nja ... nja ...«

»Gut denn, weil Sie es so bestimmen. Ich hoffe, daß dieses Opfer mir in einem anderen Leben vergolten wird.«

Einen Augenblick herrschte Stillschweigen.

An den zweiten Teil ihrer Beichte denkend, wandte Doña Cristina sich unwillkürlich nach ihrer Tochter um, und als sie Pepita, die reinen Auges starr auf das Gebetbuch geheftet, ganz dicht hinter sich sah, preßte sie ihren Mund noch enger an das Gitterchen, so daß kein Wort mehr zu verstehen war.

Bald darauf verließ sie den Beichtstuhl, und Pepita nahm ihren Platz ein.

»Na, du schlimmer Kunde«, wandte sich der Pater ihr zärtlich zu. »Hast du dein Gewissen schon erforscht? ... Dann her mit diesen kleinen Sünden! Wir werden die Seele wieder blank waschen, denn der Pater Pauli ist dafür da, alle guten und untertänigen Mädchen zu absolvieren.«

Und während Pepita mit automatischer Regelmäßigkeit die gewohnten Sünden aufzählte – ein wenig Lästern bei den Besuchen; Alltagslügen; ihren Hang, die Freundinnen auszustechen; Ungehorsam gegen die Mama –, betrachtete sie durch das Gitterchen den berühmten Jesuiten, sein glattes, faltenloses Gesicht, die Adlernase, das süße Lächeln, das zu liebkosen schien, ihr aber eine unbestimmte Furcht einjagte, als wäre es eine unwiderstehliche Zange, die die Wahrheit, wie tief sie auch versteckt sein mochte, herausholte.

»Gut, und was noch?«

»Das ist alles, mein Vater.«

»Such in deinem Gewissen, Töchterchen. Hat sich nichts Neues in deinem Leben ereignet, seitdem wir uns zum letzten Male sahen? ... Du, du, der Pater Pauli läßt sich nicht anführen! Zu mir kommt ein kleines Vögelchen, das mir alles erzählt, was junge Mädchen treiben, so daß ich genau weiß, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht.«

Pepita begann unter dem maliziösen Lächeln des Beichtvaters unruhig zu werden. Versicherte ihre Mutter nicht, daß er alles ahnte? ... Und ihre Unruhe wandelte sich in Angst, als sie sah, daß Pater Pauli aufhörte zu lächeln und, aufwärtsblickend, mit demselben Pathos, der auf der Kanzel seine vornehmen Gläubigen erschütterte, langsam sagte:

»Höre zu, Töchterchen. Es gab einmal eine Prinzessin, hübscher als du und reicher, denn ihre Eltern waren Könige ...«

Und nun beschrieb er diese ideale Prinzessin, sprach von ihren Gewändern, ohne eine Einzelheit auszulassen, von ihren Karossen und dem galanten Schwarm, der sie umflatterte.

»Eines Tages, als sie, schöner und eleganter als je, auf einem Fest mit dem Sohne eines anderen Königs tanzte, stießen die Höflinge einen Schreckensschrei aus. Der Kopf einer greulichen Schlange schoß aus dem Munde der Prinzessin hervor, zog sich zurück und erschien von neuem. Weißt du, wer dieses unreine Tier war? ... Eine Sünde, welche die Prinzessin ihrem Beichtvater verheimlicht hatte, und die sich in ein Reptil verwandelte, um ihren Körper nicht zu verlassen.«

Pater Paulis bebende Stimme ließ das junge Mädchen erschauern. Auch das Ende der Geschichte wirkte alles andere als beruhigend, denn die Schlange biß schließlich ins Herz der Prinzessin, und mit dem Gewicht ihrer Sünde fuhr die Unglückselige zur Hölle.

»Los, mein Kind«, ermunterte der Beichtvater nach einer Pause, jetzt wieder lächelnd. »Du bist besser als die Prinzessin und wirst deine Seele nicht ins Verderben stürzen wollen. Der Pater Pauli ist ein herzensguter Papa für kleine Mädchen, die nicht lügen, besitzt aber auch eine Rute zur Züchtigung der bösen und rebellischen ... Also los, Pepita! Tu, als sprächst du zu einer Freundin ... Du hast einen Liebsten!«

»Nein«, versuchte sie sich mit zitternder Stimme zu verteidigen, »es ist ein Freund ... ein Freund, den ... den ich anderen vorziehe ... mit dem mich Sympathie verbindet.«

»Na schön, ein Freund! Und dieser Freund schreibt dir Briefe, die du ohne Mamas Wissen beantwortest. Sage nicht nein, lüge nicht! Du schweigst? ... Wir sind uns also einig, daß Briefe existieren und daß ihr euch im Park gesprochen habt. Pepita, warum leugnen? Ich weiß doch alles durch mein Vögelchen ...«

Und der Jesuit verharrte wohlgefällig bei dieser Albernheit, als wäre sie ein ungemein fein ersonnenes Gespinst.

Als das junge Mädchen schließlich alles eingestanden hatte, nahm er einen feierlichen Ton an.

»Nun wohl, mein Kind, ich muß dir sagen, daß du eine schwere Sünde begangen hast. Aber noch hast du Zeit, sie zu bereuen und dich von ihr zu reinigen. Zweifellos begingst du sie, ohne zu wissen, was du tatest; daher hoffe ich, daß deine Reue dich wieder in die Gnade Gottes zurückführt. Ahnst du überhaupt die Schwere deines Verbrechens? Ein Püppchen wie du, eine kleine Rotznase, die angeklammert an den Rock ihrer Mutter leben sollte, weil sie nicht die geringste Ahnung hat, wie die Welt ist, will selbst ihre Zukunft regeln und hintergeht Mama, indem sie die Pläne eines Mannes anhört, von dem sie nicht weiß, ob dieser ihren Eltern und deren Ratgebern gefällt! ... Ein Tracht Prügel verdientest du, wie ungezogene Kinder, die dumme Streiche verüben.«

Hinter dem Gitter drohte ein langer, weißer Finger.

»Da du gern liest, so bitte deine Mutter um das Buch ›Der Eintritt in die Welt‹. Wenn sie es nicht besitzt, so leih es dir von deinem Vetter Urquiola, der es auswendig kann. Es ist ein Werk des italienischen Paters Aresciani, von anderen nicht minder weisen Mitgliedern unseres Ordens ins Spanische übersetzt. Wir schenken es den Zöglingen, wenn sie unsere Universität Deusto verlassen, da es eine vollständige Richtschnur ist für das, was jeder junge Katholik denken und tun soll. Lies das Buch, Pepita, vor allem die Kapitel ›Über die Ehe‹ und ›Bevor du heiratest‹, und du wirst sehen, was die katholische Jugend tun muß, um ihre Seele rein zu halten und Gott nicht zu beleidigen. Wer in den Stand der heiligen Ehe eintreten möchte, muß vorher viel meditieren, immer mit dem Gedanken an Gott und an die Heilige Jungfrau, so wie es unser seliger und glorreicher Landsmann Sankt Ignatius in seinen ›Geistlichen Exerzitien‹ anordnet. Der Ehegatte wie auch die Ehegattin soll gewählt werden nach vorangegangenem Gebet, reiflicher Erwägung und eingehender Prüfung, und besonders – merk dir das, kleine Kreatur – gemäß den Ratschlägen eures geistlichen Führers.«

Er holte tief Atem, um dann eindringlich fortzufahren:

»Und was heißt euer geistlicher Führer? ... Dasselbe Büchlein sagt es klipp und klar: Es ist ein zweiter Vater, den die Kirche euch gibt. Laßt euch von diesem treuen Freunde in allem leiten. Wenn die Eltern sich eurer Heirat widersetzen, glaubt, daß es zu eurem Besten ist. Bleibt euch ein Zweifel, so unterwerft ihn der klugen Prüfung eurer Beichtväter; widersetzen auch sie sich, so laßt ab von eurem Vorhaben, denn wenn die Dinge euch nicht nach Wunsch gehen, so ist das der Wille Gottes, der euch mehr am Herzen liegen muß. Was die Liebe anbelangt, so ist sie eine von Poeten und Romanschreibern, von Anwälten der Sünde erfundene Angelegenheit weltlicher Galanterie, die nie ein christliches Herz beherrschen kann ... So, Kleine, da hast du einen Extrakt der Weisheit, der die jungen Leute beim Verlassen unserer Aulas folgen und mit der sie glücklich sind. Und was Burschen mit stärkerem Schnurrbart als ein Grenadier achten und verehren, Jünglinge, welche die ganze Wissenschaft unserer Universität besitzen, das wirfst du einfältige Puppe über den Haufen? Du wagst es, dir ganz allein einen Gatten zu suchen und eine Liebelei zu haben, wenn Männer mit akademischen Titeln nicht die Augen auf eine Frau zu richten wagen, ohne vorher zu mir mit der Frage zu kommen: Pater Pauli, halten Sie meine Wahl für richtig? ... Pepita! Pepita! Man merkt, daß es in deinem Heim an guter Führung hapert, trotzdem deine Mama beinahe eine Heilige ist. Man merkt, daß es in deiner Familie irregegangene Männer gibt wie diesen verrückten Bergwerksarzt, der seine arme Frau unglücklich gemacht hat, und daß Leute bei euch ein und aus gehen, denen die Gottlosigkeit des Jahrhunderts anhaftet.«

Das junge Mädchen fühlte sich vernichtet, nun ihm die Ungeheuerlichkeit ihrer Sünde offenbart wurde.

»Und dieser Herr Ingenieur« – ein sanftes Lächeln spielte um den Mund des Beichtvaters –, »der dir den Kopf verdreht hat, gleicht wohl auch mehr oder weniger deinem Onkel?«

»O nein, mein Vater«, widersprach Pepita. »Er ist ein guter Katholik; er selbst sagte es mir neulich im Park.«

»Hm, hm! Wo hat er denn studiert? Sicher auf einer der Hochschulen, die nur das lehren, was sie Wissenschaft nennen. Puren Materialismus ohne einen Gedanken an Gott. Ein Katholik, und ich kenne ihn nicht? ... Ein junger Mann, und er kommt nicht hierher? ...«

»Er kommt, mein Vater. Er versprach mir, hier zur Beichte zu gehen und sich in die Bruderschaft von Sankt Luis aufnehmen zu lassen. Alles, was ich ihm befehle, will er tun. Glauben Sie mir, mein Vater, Fernando ist nicht verderbt!«

Ein boshaftes Lachen antwortete ihr.

»Ha, ha! Kein schlechter Entschluß! Wir jedoch begegnen diesen Bekehrungen in letzter Stunde, die eine Heirat als Ziel haben, mit Mißtrauen – immer zeitigen sie schlechte Resultate. Der Pater Pauli ist alt und weiß von der Welt zu viel, als daß ihn ein moderner Grünschnabel täuschen könnte. Wir wollen in unserem Garten Bäume, die wir selbst gepflanzt und von klein auf gehegt haben ... Und mit welchem Eifer du den Mann verteidigst, Töchterchen! Ich sehe, daß die Gefahr größer ist, als ich anfangs wähnte. Wenn du in dieser schlechten Leidenschaft verharrst, gegen den Willen deiner Eltern und deines Seelenhirten, so bleibst du im Zustande der Sünde, und ich kann dir keine Absolution erteilen. Verstanden? ...«

Ein erbarmungswürdiges Zittern überlief Pepita bei dieser herrischen Drohung.

»Aber du bist ein braves Mädchen, du wirst mir gehorchen.« Schon war der Ton ein anderer. »Morgen machst du aus allen Briefen dieses Mannes ein Paketchen, das du beim Portier der Residenz für mich abgeben läßt ... Und heute noch schreibst du, ohne irgendeine Ausrede, vier Zeilen an diesen Techniker. Beginne: Sehr geehrter Herr! Um meine Eltern nicht zu betrüben ... oder auch: Auf Anraten meines geistlichen Führers ... Du wirst es schon richtig machen. Wichtig ist, ihn auf eine Weise, die keinem Zweifel Raum gewährt, wissen zu lassen, daß alles aus ist und daß das Vergangene ein Fehler war, den du bereust. Verstanden?«

Pepita bewegte bejahend den Kopf. Ihre Augen standen voll Tränen, von denen der Pater nicht recht wußte, ob er sie dem Bruch mit ihrem Liebsten oder der Reue über ihre Sünde zuschreiben sollte.

»Du Dumme! Du kleines Dummerchen«, sagte er, um sie zu beruhigen. »Das alles ist doch nur zu deinem Besten! ... Wer ist denn dieser Mann? Irgendein Ingenieur, wie es viele gibt; ein besserer Arbeiter, der Protektoren wie deinen Vater benötigt, um sich sein Brot zu verdienen. Das wäre noch schöner, wenn die Tochter Sanchez Moruetas einen dieser Hungerleider heiratete, die sich für die tüchtigsten Menschen ihrer Epoche halten, weil sie mit Reißbrett und Zahlen arbeiten! Daß Prinzessinnen sich mit Hirten vermählen, sieht man nur in Lustspielen. Überhaupt bist du noch zu jung für die Ehe. Wenn deine Stunde kommt, gehorche deinen Eltern, vor allem deiner Mutter, denn Frauen verstehen von dieser Sache am meisten. Und verlaß dich ferner auf Pater Pauli, deinen Freund, deinen zweiten Vater. Wir alle zusammen werden einen Mann für dich aussuchen, der dich glücklich macht und um den man dich beneidet.«

Einen Augenblick hielt der Jesuit inne, um den entscheidenden Vorstoß zu überlegen.

»Wenn ich denke, wie viele vornehme junge Leute mit großer Zukunft aus unserer Universität hervorgehen! ... Ein Mädchen wie du verdient es wirklich, sich mit einem alten Namen zu verbinden! Und da du selbst reich bist, verheirate dich mit einem jungen Mann von Talent, dem es bestimmt ist, ein großer Staatsmann zu werden. Und solche gibt es. Da ist zum Beispiel dein Vetter Urquiola ...«

»Nein, den nicht!« wehrte Pepita ab.

»Warum denn nicht, meine Kleine? Was hast du gegen ihn? Er ist einer der Besten, die Deusto verließen. Mit einem Dutzend Männer wie Urquiola würde Bilbao ein zweites Covadonga, von dem aus wir das in den zügellosen Sitten des Liberalismus verkommende Spanien wiedererobern könnten ... Oh, ich weiß schon, weshalb du den Mund verziehst. Klatschereien deiner Freundinnen! Aber ich werde sie mir vornehmen, die Giftzungen! Weißt du, warum sie sich so viel mit Fermin befassen? Weil er sie nicht beachtet. Weil sie wissen, daß der arme Junge seit langem für dich die ehrbare und respektvolle Liebe eines guten Katholiken empfindet. Neid spricht aus ihren gehässigen Bemerkungen, Pepita.«

Nach dieser geschickten Schmeichelei, gegen die die Eitelkeit des jungen Mädchens nicht unempfindlich sein konnte, fuhr er mit gutmütiger Nachsicht fort:

»Daß Urquiola ein Heiliger ist, behaupte ich nicht. Unser Stifter Sankt Ignatius war es ebensowenig, bevor ihn die göttliche Gnade erleuchtete. Er war Soldat – und das sagt alles! So eitel und darauf erpicht, den Damen zu gefallen, daß er sich nach seiner schweren Beinverwundung bei der Belagerung von Pampelona ein hervorstehendes Knöchelchen absägen ließ, damit nur kein Höcker an seinen eleganten, hohen Stiefeln auffallen sollte ... Urquiola ist jung, schäumt über von Energie und Kraft. Und wenn er kleine Sünden begehen sollte, so mußt du dir vor Augen halten, mein Töchterchen, daß wir in der Welt nicht alle gleich sind und daß man die Sünden je nach den Umständen, unter denen sie begangen werden, werten muß. Was zum Beispiel bei einem Mann sündhaft ist, der geruhsam in seinem Heim lebt, umgeben von seiner Familie, der er ein Vorbild sein soll, braucht durchaus keine Sünde bei dem kriegführenden, durch die Welt irrenden Soldaten zu sein. Und das ist Fermin: ein Soldat, ein Kämpfer für die gute Sache, dem man manches nachsehen muß, weil die Notwendigkeiten der Kampagne ihn zwingen, mit anderen Schichten der Bevölkerung eng zu verkehren ...

Warte ab, wie solide er sein wird, sobald eine tugendhafte Gattin ihm zur Seite steht. Willst du noch einen Grund wissen, weshalb deine Freundinnen sich so viel mit ihm beschäftigen? Fermin wird bei den nächsten Wahlen Abgeordneter! ... Wer kann sagen, wie weit er noch gelangt, wenn das Geschick dieser Nation sich ändert! Und ändern wird es sich, falls Gott uns nicht vergißt! ...«

Pepita hörte ihm stumm zu, ohne das geringste Zeichen von Widerspruch oder Zustimmung zu geben. Und da der Jesuit fürchtete, daß er vielleicht zu weit gegangen sein könnte, lenkte er ein:

»Glaube jedoch nicht, daß mich eine Heirat mit Urquiola besonders interessiert. Vielleicht sagt er deiner Mutter viel mehr zu als mir, weil er mit ihr verwandt ist. Meinetwegen kann es auch ein anderer sein; es gibt genug Würdige unter der brillanten Jugend, die aus den Hörsälen von Deusto hervorging. Ich will nur eins: daß du deine Wahl so triffst wie alle katholischen Mädchen, das heißt, ohne Verdruß für die Eltern und nicht gegen den Willen deines Seelsorgers. Nimm dir deine Eltern als Beispiel; sie verbanden sich mit Zustimmung ihrer Familien, und wie lächelte ihnen das Glück!«

Ernst und ohne mit der Wimper zu zucken, rühmte der Pater das eheliche Glück Sanchez Moruetas.

»Und nun genug für heute«, schloß er. »Ich habe deiner Mutter empfohlen, dich häufiger hierher zu senden, damit wir von dem reden, was sich für dich ziemt. Dein Seelchen ist ein bißchen außer Rand und Band geraten, so daß man es sorgsam behandeln muß ... Also abgemacht: du schickst mir alle diese Briefe; sonst könnte es dir einfallen, sie gelegentlich nochmals zu lesen, was eine neue Sünde bedeuten würde.«

»Ja, mein Vater.«

»Du schreibst auch heute noch dem Señor, daß die törichte Kinderei zu Ende ist?«

»Ja, mein Vater.«

»Gut. Gehen wir über zur Absolution.«

Und seine lateinischen Formeln murmelnd, segnete Pater Pauli das junge Mädchen und reichte ihm dann über das Türchen des Beichtstuhls hinweg die Hand zum Kuß.

 

An der Bucht entlang, die unter dem Sturzbach glühender Sonnenstrahlen Feuer auszustrahlen schien, fuhr das Automobil nach Las Arenas zurück.

»Pepita, wie gut haben wir unseren Morgen verwandt«, lächelte Doña Cristina zufrieden.

Doch beim Betreten des Hauses verdüsterte sich ihr Gesicht, als stünde ihr etwas Schlimmes bevor ...

Ihre Tochter schloß sich sofort in ihr Zimmer ein und verbrachte Stunde um Stunde damit, nervös an dem Federhalter zu kauen und einen Briefbogen nach dem andern zu zerreißen, ohne daß ihr die passenden Worte einfielen. Schließlich aber übergab sie ihrer Amme doch einen Brief mit der Bitte, ihn nachmittags persönlich zu Don Fernando zu tragen. Alle Fragen der alten Bäuerin, die sich über das blasse Aussehen ihres Lieblings ängstigte, waren umsonst. Pepita verharrte in ihrem übellaunigen Schweigen.

Doña Cristina blieb bis zum Mittagessen unsichtbar, dagegen sah man ihre Zofe verschiedentlich mit einem Armvoll Wäsche und Kleidern über den Korridor hasten. Unter der Dienerschaft erhob sich ein erstauntes Wispern ... was war geschehen, daß Doña Cristina ihre so lange vergessene Garderobe hervorholte?

Auch Pepitas Augen weiteten sich vor Überraschung, als sie, schweren Herzens, das Eßzimmer betrat.

»Oh, Mama, wie hübsch du aussiehst! Wirklich elegant!«

Hübsch, zweifellos! Mit ihrem wohlfrisierten goldblonden Haar und dem sorgfältig behandelten Teint, der ihrer etwas üppigen Reife die Frische der Jugend verlieh. Aber elegant? ... Die Farben des hellseidenen Kleides waren ein wenig verblaßt und verstaubt. Vier Jahre lang – seit sie den Nichtigkeiten der Welt den Rücken zu kehren begann – hatte das entzückende Modell aus der Rue de la Paix im Schrank gehangen.

Mittlerweile war sie bedeutend stärker geworden, die arg gespannte Seide schien bei jedem Heben des Busens platzen zu wollen, und der ursprünglich weite Rock saß wie ein Panzerhemd um die Schenkel.

»Gefalle ich dir?« fragte die Mutter, sich wie ein kleines Mädchen vor Pepita drehend, die bei dem unerwarteten Anblick dieser entschwundenen Mode ein Gefühl der Verwunderung überkam, wie es das Auferstehen historischer Trachten verursacht.

Bei jedem Schritt Doña Cristinas hörte man das verführerische Frou-frou ihrer seidenen Unterwäsche, und um sie herum verbreitete sich der Duft des mit ein wenig indiskreter Verschwendung versprühten Parfüms.

Sanchez Morueta, der, ohne von der Gegenwart seiner Frau Notiz zu nehmen, eine Zeitung las, ließ endlich das Blatt sinken.

»Wie findest du mich, Pepe?« fragte sie mit einem Lächeln, das zu ihren zitternden Lippen nicht recht passen wollte.

»Nicht übel.« Und schon versenkten sich seine Augen von neuem in die Zeitungsspalten.

»Ich werde mich wieder elegant kleiden und das Leben genießen, bevor das Alter kommt. Unsere Tochter wird in mir eine Rivalin haben. Was sagst du dazu, Pepe?«

»Gut so.«

Er las weiter, ohne zu wissen, was er las – weit, weit fort wanderten seine Gedanken.

Die Stimmung bei Tisch war beklommen. Sanchez Morueta hatte von seiner letzten Reise eine Melancholie mitgebracht, die jählings in seltsam nervöse Ausbrüche umschlug.

Er, der immer wie ein Nachtwandler sein Haus durchschritten, sich nie um häusliche Einzelheiten gekümmert hatte, schalt mit der Dienerschaft, und irgendeine Antwort genügte, um ihn die Fäuste ballen zu lassen, als wollte er zuschlagen.

Pepita unterbrach das lastende Schweigen mit Fragen nach Biarritz. Sie war die einzige, vor der seine schlechte Laune nie standhielt, und bereitwillig schilderte er ihr das Leben und Treiben in dem eleganten französischen Seebade. Er vermied es jedoch, seine Frau anzusehen, denn in ihren Augen hatte er einen Ausdruck wahrgenommen, dessen stumme, halb bittende Zärtlichkeit ihm Unbehagen verursachte.

Nach beendigter Mahlzeit verschwand er in seinem Arbeitszimmer. Noch wartete Doña Cristina. Als ihr aber die ersten Akkorde anzeigten, daß Pepita am Flügel saß, ging sie mit resolutem Schritt ihrem Gatten nach.

Zitternd klopfte sie an Sanchez Moruetas Tür.

Oh, diese erstaunte, abweisende Miene, als er sie statt des vermuteten Dieners eintreten sah!

Doña Cristina entging nicht die instinktive Bewegung, mit der seine großen Hände einige Briefbogen von verschiedener Farbe zu verbergen suchten. Diese Briefe kannte sie. In ihrer Erinnerung stieg die Überschrift »Mon gros loup chéri« wieder auf, und sie verspürte eine kindliche Lust, vor dem Giganten mit dem imposanten Äußern die Anrede seiner Kokotte zu wiederholen, diese Worte, die irgendein magisches Geheimnis zur Eroberung der Männer einschließen mußten.

»Was gibt's? Was wünschest du?« fragte er.

Wünschen? ... Nur zu gut sagten es ihm ihre vom Schwarzstift vergrößerten Augen, die weiblicher Instinkt mit dem Feuer füllte, das Leidenschaft ihnen nicht zu geben vermochte; nur zu gut sagten es ihm auch diese weichen Schritte einer brünstigen Katze, mit denen sie unter dem schmeichelnden Rauschen ihrer Unterkleider näher kam.

Als sie neben ihm stand, wußte sie weder, was sie sagen, noch wie sie anfangen sollte ... In ihrer Not ging sie zur Tat über, und den Kopf des gefürchteten Werwolfes in ihre vollen, weißen Arme schließend, seufzte sie zärtlich:

»Pepe ... Pepe!«

Ihr Mund bahnte sich durch den Patriarchenbart einen Weg zu heißen Küssen. Erstickt durch die ihn überfallende Woge weiblichen Fleisches, durch das aufreizende Parfüm, das von ihm ausströmte, durch diese weichen Lippen auf seinem Mund, zögerte der Hüne.

Aber es war die Schwäche eines Augenblicks; sie verging mit der Schnelligkeit des Windstoßes. Seine mächtige Hand schob die Frau zur Seite, und sie fühlte sich verloren vor diesen kalten Augen, die sie nicht zu sehen schienen, als ginge die Aufmerksamkeit, der Gedanke und die Seele Sanchez Moruetas über sie hinweg weit, weit in die Ferne.

Und dann hallte durch das Schweigen des großen Zimmers eine Stimme, lakonisch, ernst, monoton: »Es ist zu spät, Cristina! Zu spät!«

 

Der Señor Goicochea, der in seinem dem Arbeitszimmer des Chefs benachbarten Büro eifrig der Erfüllung seiner Pflichten oblag, sprang höchlichst überrascht von seinem Stuhl auf, als er am frühen Vormittag Sanchez Morueta bei sich eintreten sah.

Vor drei Tagen war der Millionär nach Biarritz abgereist, nachdem er dem Sekretär ausdrücklich erklärt hatte, daß er vor zwei Wochen nicht zurückkehren würde. Und jetzt stand er ganz unerwartet da, mit einem Gesicht, das Grund zur Furcht gab. Welches Geschäft hatte eine solche schlechte Wendung genommen, daß Sanchez Morueta darüber seinen würdevollen Ernst so ganz verlor? ...

Seine bebende Stimme klang schneidend scharf. Eine wahre Stimme des Zorns! Seine Gesten waren zerfahren, und am meisten bestürzte den Sekretär, daß sein Chef der für ihn so charakteristischen knappen Bestimmtheit ermangelte, daß er seine langsamen Gedanken in einem Strom von Worten ertränkte.

»Goicochea, veranlassen Sie, daß das Gepäck unten nach Haus gebracht wird. Und dann ... was wollte ich doch sagen? ... ach ja, telephonieren Sie, ich würde auch bald nachkommen. Nein, doch nicht ... sagen Sie, man soll nicht mit dem Essen auf mich warten. Ich fahre erst abends hinaus. Aber warum stehen Sie denn wie festgenagelt und glotzen mich einfältig an? ... Hallo, so warten Sie doch! ... Ich wünsche den Kapi zu sehen ... Also rufen Sie Don Matias, aber auf der Stelle. Fix!«

Das Männlein eilte fort, zitternd bei dem Gedanken an den Tag, der ihm bevorstand. Es kannte den Charakter des Giganten. »Wenige Böen, aber gute!«, wie dieser von sich selbst sagte. Nur in ganz vereinzelten Fällen hatte Goicochea ihn die Ruhe verlieren und in Wut geraten sehen; nichtsdestoweniger bewahrte er eine lebhafte Erinnerung an diesen Jähzorn.

Als der Kapitän eintrat, lief Sanchez Morueta, die Hände auf dem Rücken, in seinem Arbeitszimmer hin und her, hastig, fast sprunghaft, einem wilden Tier im Käfig nicht unähnlich. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er den an der Tür stehengebliebenen Iriondo bemerkte.

»Pepe, was hast du?« fragte der Seemann in dem besorgten Ton eines alten Kameraden.

»Nichts! Privatsachen, die dich nichts angehen ... Telephoniere mit den Minen: man soll meinen Vetter Luis suchen und ihm bestellen, daß er sofort hierherkommt.«

»Das kann aber vielleicht etwas dauern. Luis wird sicher unterwegs sein auf ...«

»Ich sagte, daß er sofort kommen soll«, brauste der Millionär auf. »Laß ihm mitteilen, ich wäre krank, ich läge im Sterben ... irgend etwas, wie es dir beliebt. Aber er soll sofort kommen! ... Und er wird kommen, weil er mir aufrichtig zugetan, weil er mein einziger Freund ist.«

»So, so!« murrte der Kapitän. »Alle anderen sind nur falsche Hunde.«

Achselzuckend verließ er den Raum, während Sanchez Morueta seine Wanderung wieder aufnahm, den Kopf gesenkt, als wollte er gegen die Pläne und Modelle an den Wänden anrennen.

Plötzlich machte er in der Tür zum Nebenzimmer halt, um den zu seiner Arbeit zurückgekehrten Sekretär mit wildem Blick zu betrachten.

»Señor Goicochea, haben Sie die ... die außerordentliche Güte, sich unverzüglich fortzuscheren! Gehen Sie im Sonnenschein spazieren, wenn es Ihnen gefällt. Gehen Sie meinethalben auch zum Teufel! Aber fort mit Ihnen – ich muß allein sein.«

Mehr noch als die Worte ließ sein Blick den Sekretär befürchten, daß er das Opfer von Handgreiflichkeiten werden würde, falls er mit der Ausführung des Befehls nur ein wenig zögerte. Und seinen Hut ergreifend, huschte Goicochea stumm hinaus.

Die Büroräume schienen verlassen zu sein. Alle Angestellten saßen mit krummen Rücken über ihren Papieren oder Büchern und zuckten jedesmal zusammen, wenn sie durch die Vorhänge die wütende Stimme vernahmen, die ihre Befehle mit Kernworten und Flüchen unterstrich – seltsame Ausdrücke fürwahr im Munde einer so seriösen und selbstbeherrschten Persönlichkeit.

Überall verbreitete sich die Stille eines Krankenhauses. Nur in einem Zimmer gingen schwere Schritte hin und her, unermüdlich hin und her ... Erst nach einer Stunde sank Sanchez Morueta in einen tiefen Klubsessel und drückte auf einen elektrischen Knopf.

»Kaffee«, befahl er dem scheu eintretenden Diener, »aber sehr starken.«

Als der schwarze Extrakt kam, rauchte der Industriefürst eine der enormen Zigarren, die in Kuba für ihn speziell angefertigt wurden und auf ihrer Binde Bild und Namen Sanchez Moruetas trugen. Wie stolz waren die kleinen Börsenmakler und Bergwerksunternehmer, wenn sie mit einer solchen Zigarre bedacht wurden! ...

Eine weitere Stunde verfloß, ohne daß der Millionär ein Lebenszeichen von sich gab. Dann ertönte die Klingel von neuem.

»Noch einen Kaffee!«

Nach den beiden Stummeln auf dem spiegelblanken Parkett zu urteilen, rauchte er die dritte Zigarre. Die Balkontüren waren sämtlich geschlossen, wie er sie bei seiner Ankunft vorgefunden hatte, und die Luft wurde blau von Rauch, stickig und schwer. Doch er merkte davon nichts.

Gegen ein Uhr, als die Angestellten sich geräuschlos davongemacht hatten, um zu Mittag zu essen, rief die Klingel den Diener wieder ins Arbeitszimmer.

»Sag dem Kapitän, er möchte zu mir kommen.«

»Don Matias ist zu Tisch, Señor.«

Zum erstenmal an diesem Tage fiel es Sanchez Morueta ein, nach der großen Standuhr auf dem Kamin zu blicken. Wie die Zeit vergangen war! Und mehr aus Gewohnheit als aus Bedürfnis wollte er essen, weil es doch alle zu dieser Stunde taten.

»Geh zum Schweizer Restaurant und hole etwas zu essen. Nimm, was man dir gibt oder wähle selbst aus. Vergiß aber nicht: vor allem einen guten Kaffee.«

Als der Diener ein großes Tablett voll von Geschirr und blitzenden Kasserollen hereintrug, war die Atmosphäre im Zimmer noch dicker geworden. Der Millionär rauchte weiter seine riesigen Havannas, den Blick vage und wie verloren auf einen fernen, sehr fernen Punkt gerichtet.

Er berührte die Gerichte kaum, trank einen Schluck Wein, kostete eine Frucht und machte sich dann über den Kaffee her, als wäre der sein einziges Nahrungsmittel.

»Nimm alles fort, mein Junge.« Seine Stimme klang unerwartet sanft. »Und laß es dir gut schmecken.«

Allein geblieben, zündete er eine neue Zigarre an und versank in die frühere Unbeweglichkeit – er schien mit offenen Augen zu träumen.

Ob er schließlich eingeschlafen war, hätte Sanchez Morueta schwer entscheiden können. Es war ein süßes Dämmern, das sein Hirn und seine Augen aber nicht hinderte, alles, was ihn umgab, wahrzunehmen. In diesem Zustand verfloß die Zeit unbemerkt, und er spürte das Wohlsein dessen, der an nichts denkt.

Beim Einbruch der Nacht riß ihn Doktor Arestis Ankunft jäh ins Leben zurück.

»Aber das ist hier ja ein reiner Backofen!« rief der Arzt. »Man kann ja nicht atmen! ... Caramba, ein Rauch wie bei einer Feuersbrunst!«

Flugs ging Aresti zu den Balkons und sperrte sämtliche Türen weit auf.

»Was gibt's, Pepe?« fragte er, sobald die Rauchwolke, in der sein Vetter saß, sich etwas gelichtet hatte. »Was ist mit dir los? Bist du krank? Komm ans Licht und laß dich mal ansehen! ...«

Aber nach einem prüfenden Blick in des anderen Gesicht wurde er ernst. Wirklich, da mußte sich etwas Schlimmes ereignet haben! Mit den vorspringenden Backenknochen und eingesunkenen Augen, mit dem trostlosen Ausdruck schien Sanchez Morueta auf einen Schlag um zehn Jahre gealtert zu sein. Außerdem verriet sich eine übergroße physische Erschöpfung, als hätte er nächtelang nicht geschlafen.

»Erzähle doch, Pepe, erzähle!«

Unter peinvoller Qual brachen verborgene Wunden wieder auf; schmerzliche Gedanken, die das wohlige Dämmern vorher eingelullt hatte, erwachten von neuem.

»Ah, Luis!« Der Riese ergriff mit einer fast kindlichen Bewegung beide Hände des Arztes. »Meine Lebensfreude ist vernichtet ... mein Glück, alle meine Hoffnungen sind dahin ...«

Er schwankte und stützte sich schwer auf den viel kleineren Arzt, der nicht ohne Mühe das Gewicht ertrug.

»Mut, Pepe! Was heißt denn das? ... Willst du vielleicht wie eine Señorita ohnmächtig zusammenklappen? Steh fest, zum Teufel! Fehlt nur noch, daß du wie ein Baby zu heulen anfängst ... Hier, setz dich, und jetzt schütte dein Herz aus. Warum also glaubst du, das Kind Fortunas, daß für dich alles zu Ende ist?«

Der Millionär wollte zu sprechen beginnen, als ihn sein Vetter nochmals unterbrach:

»Ehe ich es vergesse: draußen wartet dein Chefingenieur. Ich traf ihn auf dem Bahnhof von El Desierto, und als er von deiner Heimkehr hörte, fuhr er mit. Wie er sagt, hat er dringend mit dir zu reden.«

»Er soll warten.« Sanchez Morueta machte eine wegwerfende Bewegung. »Was kann es schon sein? Irgendeine technische Frage – aber was kümmern mich noch Hochöfen, Minen und Schiffe? Mag alles zur Hölle gehen! Was habe ich von dem Dreck? ...«

Und seine wütenden Augen glitten über Pläne und Modelle, als verfluchte er seine Macht, als wäre sie verantwortlich für sein Unglück.

In diesem Augenblick verabscheute er auch den jungen Menschen, der in irgendeinem Büro seines Rufs harrte. Ah, diese Jugend! Die alberne, antipathische Jugend! Außer dem Gehalt, das es von ihm empfing, besaß dieses Ingenieurchen keine Existenzmittel. Weder Reichtum noch Macht! Und dennoch war es möglich, daß seine Jugend und sein Milchgesicht mit dem Bärtchen Sanabre vor dem bewahrten, was er mit all seinen Millionen nicht hatte verhindern können. Verdammt! Wozu diente das Geld?

Aresti wurde ungeduldig.

»Schon gut, Menschenskind, laß den Jungen in Frieden! Und wenn du ihn nicht gleich sehen willst, muß er eben warten. Aber erzähle doch endlich, Pepe, was geschehen ist.«

»Es handelt sich um Judith. Du weißt doch, wen ich meine?«

»Natürlich. Diese Französin oder Jüdin, oder was sie sonst ist, über die du mir einmal mit solcher Begeisterung sprachst ... die Mutter von deinem schönen Kinde ... dem ›Kind der Liebe‹. Du siehst, ich weiß Bescheid. Und was hat diese Judith gemacht? Irgendeine Schweinerei? Hast du sie mit irgend jemandem ertappt? Ist sie geflüchtet? ... Sprich, erzähle alles ohne Scheu. Du weißt, daß ich dein Beichtvater bin.«

Sanchez Moruetas Worte kamen langsam, als litte seine zerrissene Seele Folterqualen beim Aufrühren der Erinnerungen. Doch allmählich wurde er lebendig, entzündete sich, berauschte sich an der Bitterkeit seines Elends.

»Meine Nervosität in der letzten Zeit und das Aufbrausen, das meinem Wesen eigentlich gar nicht liegt, hatten einen geheimen Grund ... Eifersucht quälte mich. Verschiedene anonyme Briefe – vielleicht von einer neidischen Seele, vielleicht von einer boshaften früheren Kollegin auf den Brettern geschrieben – bezichtigten Judith der Untreue. Und ich, Sanchez Morueta, dem viele Tausende von Armen gehorchen, dessen Flotten die Meere befahren, dem die Millionen wie einem Hirten folgen, degradierte mich monatelang zu einem Leben der Spionage und elender Kniffe!

Ah, die Liebe, Luis! Wie sie uns klein macht, wie sie uns erniedrigt, wenn sie spät kommt, in einem Alter, in dem wir ohne die Gewißheit, geliebt zu werden, lieben! ... Jetzt schäme ich mich bei dem Gedanken an das, was ich tat. Und wenn das alles wäre ...

Anfang des Sommers übersiedelte Judith wie immer in eine kleine Villa, die ich ihr in Biarritz gekauft habe. Und dort überzeugte ich mich, daß die anonymen Briefe nicht logen. Sie wußten viel zu erzählen von einem Monsieur Jules, jung, sehr hübsch, elegant – ein Abenteurer, der sich den Winter über in den Kasinos von Nizza, Mentone und Monte Carlo als Croupier betätigt und den Sommer in den vornehmen Badeorten der Pyrenäen verbringt, der aus seiner Schönheit einen Beruf macht und an all diesen Stätten, wo man sich amüsiert, die Damen sich um die Ehre streiten läßt, ihn durch jedwede Art von Konzessionen und Opfern in Beschlag zu nehmen.

Nach Empfang des ersten Briefes erinnerte ich mich, seinen Namen von Judith gehört zu haben; sie erwähnte seiner wie eines alten, guten Bekannten. Dann teilte man mir mit, daß Monsieur Jules manchmal Monate in Madrid weilte und meinen Platz einnahm, sobald ich nach Bilbao zurückgekehrt war. Nun wurde mir klar, warum Judith ständig größere Geldforderungen an mich stellte, woher diese wachsende Habgier, diese Sorge, ›ihre Zukunft zu sichern‹, stammte!«

Seine Freigebigkeit reute den Millionär nicht. Was machte es aus, daß er das Gold mit vollen Händen über sie ausgestreut hatte! Aber die Erinnerung an seine lächerliche Stellung stachelte seine Wut auf. Er, der große Führer der Industrie, ein Mann in voller Kraft, war zu dem grotesken Typ des zahlenden Alten geworden, der ewigen Figur aller Pariser Lustspiele! Heimlich ausgelacht von dem verliebten jungen Paar, wenn es seine Banknoten einheimste! ...

»Carajo! Und obendrein zwang mich noch die Rücksichtnahme auf meine Familie und pure Angst vor den verfluchten Schicklichkeitsbegriffen der Gesellschaft, den Kerl nicht umzubringen!«

»Aber setz dich doch, Pepe!« bat der Arzt seinen wie ein Irrsinniger umhertobenden Vetter. »Laß die Möbel in Ruh! Ich weiß ja, daß du den Tisch mit einem Faustschlag demolieren kannst ... Du hast niemanden getötet und tatest recht daran. Du bist weder der erste gewesen, noch wirst du der letzte sein, den ein solches Pärchen zum Narren hält. Also weiter!«

Aber es dauerte noch eine geraume Zeit, bis Sanchez Morueta sich einigermaßen beruhigt hatte. Als er seine Erzählung endlich wieder aufnahm, ging er brüsk zur Schilderung seiner letzten Unterredung mit Judith in der kleinen Biarritzer Villa über.

»Ich kam abends ganz unerwartet an. Die Überraschung glückte insofern nicht ganz, als ich Monsieur Jules nicht zu Gesicht bekam. Indes erriet ich seine überstürzte Flucht aus der Unordnung im Schlafzimmer, vor dessen verschlossener Tür mich Judiths Zofe mit nichtigen Vorwänden minutenlang hinhielt.

Dann gab es einen scheußlichen Auftritt. Ah, das schlechte Weib! Wie grausam ihre Aufrichtigkeit war! ... Und dieser Drang, Schluß zu machen, mir schamlos das Anormale und Ekelhafte der Situation ins Gesicht zu schleudern! Sie hätte mich weiter hintergehen, noch einmal leugnen und mich in meiner Blindheit belassen können. ›Wir leben von Lügen: nur die Illusion ist süß‹, pflegte sie zu sagen, wenn sie in meinen Armen bisweilen an ihre abenteuerliche Vergangenheit dachte. Doch jetzt wollte sie nicht mehr lügen. Sie war wahnsinnig verliebt in ihren Jules und maßlos eifersüchtig, da andere Frauen ihn ihr abspenstig zu machen versuchten. Und um ihn durch eine Heirat für immer an sich fesseln zu können, zögerte sie nicht, mir das Herz durch ihre zynische Offenheit zu brechen, mich unter die Füße zu treten. Ha, wie sie den gerissenen Hund liebte, nur weil er jung und hübsch war!«

Sanchez Morueta zuckte zusammen bei dem Gedanken an die Unverschämtheit, mit der sie ihre Leidenschaft verkündet hatte ... Wieder sah er ihre geilen Augen und hörte sie in ihrem komischen Spanisch, das ihn bisher so entzückt hatte, sagen:

›So ist es, mon vieux. Ich schätze ihn, ich liebe ihn. Mit der Liebe spaßt man nicht. Wenn du mich anbeten und verehren willst – bitte, meinetwegen! Aber du darfst mich nicht mit Eifersucht quälen, sondern mußt Jules' Freund werden. Paßt dir das nicht ... dort ist die Tür! Du kannst gehen, und das wird wohl überhaupt das beste sein. Voilà.‹

Der gemeine Vorschlag trieb dem Giganten das Blut ins Gesicht und ließ ihn die Faust heben. Doch sie, die verfluchte Hure, besaß die eisige Gelassenheit, die freche Verwegenheit der Weiber, die geboren werden, um durch Mord zu enden.

›Richtig, schlag zu!‹ höhnte sie und blickte ihn herausfordernd an. ›Töte mich! Das ist echt spanisch ... Los, Don José – wir sind beim letzten Akt von Carmen. Wo hast du dein Messer? ...‹

Er hatte gefühlt, wie seine Empörung urplötzlich zusammensackte, hatte sich Rechenschaft gegeben von seiner Schwäche, seiner Bedeutungslosigkeit gegenüber dieser durch die Gefahren eines unsteten Lebens abgebrühten und gehärteten Frau. Gefleht und geweint hatte er, ihn nicht zu verlassen ...

»Ich glaube, daß ich in meiner Verzweiflung, den geliebten Körper zu verlieren, dessen warmer Duft durch die Hülle des Batistes drang, sogar vor ihr niederkniete und ihre Beine umschlang.«

Sanchez Morueta sprach mit gesenktem Kopf wie ein Verbrecher, der sein Vergehen bekennt und nur mit geschlossenen Augen die notwendige Kraft aufbringt, den Grund seiner Seele zu zeigen.

Ein erbärmlicher Feigling war er gewesen. Und die Erinnerung an seine Schwäche, an die Tränen, mit denen er den Hals der gefühllosen Frau benetzte, ekelte ihn jetzt an.

Der Schmerz des Riesen, die verzweifelte Miene des armen Patriarchen hatte sie gerührt. Mit dem mütterlichen Erbarmen, das jede Frau angesichts eines weinenden Mannes überkommt, hatte sie seinen Kopf an ihre Schulter gebettet und den ergrauten Bart gestreichelt.

›Ah, gros coco! Man muß sich mit dem Leben abfinden, ohne unmögliche Dinge ertrotzen zu wollen. Für dich kam die Stunde der Liebe, als du den Höhepunkt deines Lebens überschritten hattest. Warum also wundert es dich, daß ich – eine junge Frau – dem männlichen Zauber Jules' verfiel? ... Jeder will aus der Armut heraus, jeder arbeitet, ohne sich viel um sein Herz zu scheren, für eine gesicherte Zukunft. Aber dann stellt sich mit dem Wohlstand die süße Torheit der Liebe ein. So war es auch bei dir: deine Jugend verbrachtest du mit der Jagd nach Reichtum, um dich in einem Alter, in dem andere keine Illusionen mehr haben, wie ein Jüngling zu verlieben. Warum soll ich auf die wahre Liebe mit all ihren Leiden und Freuden verzichten, nachdem ich mich so oft im Leben mit gleichgültigen Männern habe abgeben müssen? ... Ah, mon vieux, nimm das Leben mit philosophischer Heiterkeit hin! Warum können wir nicht dasselbe tun wie so viele andere? Ein Glück zu dritt, im schönsten Frieden ...‹

Der Doktor unterbrach die peinlichen Erinnerungen an jene Nacht mit der etwas ironisch gefärbten Frage:

»Aber dein Söhnchen? Das echte Kind der Liebe?«

Sanchez Moruetas Augen flehten um Mitleid.

»Spotte nicht, Luis. Auch dieser Traum ist zerstoben. Nichts bleibt ... nichts. Jene Frau läßt nicht die geringste Spur in meinem Leben zurück. Alles, alles hat sie mit sich genommen.«

Und er erzählte, wie ihn zum zweiten Male die Mordlust überkam, als ihm Judith lachend eingestand, daß der Kleine nicht sein Kind sei, daß er die zarte Schönheit von seinem Vater Jules ererbt habe.

»Halb von Sinnen stürzte ich aus dem Haus und irrte den ganzen Tag wie ein Schlaftrunkener in Biarritz umher. Abends befand ich mich, ohne zu wissen wie, von neuem vor ihrer Tür. Ich schellte, ich klopfte ... Vergeblich! Mit ihrem Geliebten und ihrem Kind war sie entflohen ...«

»Das ist die beste Lösung«, meinte der Doktor.

Ein langes Stillschweigen. Der Millionär war in seinem Sessel zusammengesunken, kraftlos, zerschmettert, als machte sich erst jetzt, nachdem er das schmerzhafte Gewicht der Erinnerung abgeladen hatte, die Erschöpfung der schlaflos verbrachten vierundzwanzig Stunden geltend.

»Und was gedenkst du zu tun?« erklang endlich die Stimme Arestis.

»Das fragst du mich? ... Wie soll ich das wissen! Ich kann nicht denken. Rate mir, denn du kennst das Leben besser. Seit gestern abend habe ich nur den einen Wunsch, dich zu sprechen.«

Das Achselzucken seines Vetters bemerkend, fuhr er fort:

»Ich kenne mich, Luis. Die Sache ist für mich nicht zu Ende – ich werde an den Folgen noch schwer zu tragen haben ... Was soll ich tun? Was rätst du mir?«

Wie ein Blinder, der sich nicht zu bewegen wagt und einen Führer sucht, streckte er ihm die Hände entgegen.

»Keine leichte Frage«, entgegnete der Arzt. »Gedenkst du diese Frau aufzustöbern?«

»Nein, das nicht, Luis. Wozu auch? ... Vergessen ist unmöglich – der Haß, mit dem ich an sie denke, beweist mir, daß sie in meiner Erinnerung fortleben wird. Ich will versuchen stark zu sein, und in Momenten der Mutlosigkeit wird mir der Gedanke an die lächerliche Rolle, die ich spielte, neue Kraft geben. Aber wie die einsamen Jahre der Zukunft mich schrecken! Diese Einförmigkeit eines Lebens ohne Illusionen!«

»O lala, Pepe, sei kein Kind. Du bist weder allein, noch fehlt es an Menschen, die dir gut sind. Mein Rat geht dahin: wende deine Augen auf dein Heim; versuche, enger mit deiner Familie zu leben. Erdichte dir ein Glück wie jenes, das dich an die Seite einer Unbekannten kettete. Bilde dir ein, daß deine Frau dich anbetet – wenn das auch nicht stimmt, so wird dieser Wahn doch immerhin keine schmerzlichen Folgen haben, da du bei ihr keine Untreue oder Eifersucht kennenlernen wirst.«

Sanchez Morueta schüttelte traurig den Kopf.

»Auch dieser Ausweg ist versperrt. Die Entfremdung zwischen Cristina und mir hat sich letzthin noch vergrößert.« Und mit der Skrupellosigkeit, die dem Schmerz eigen ist, erzählte er Aresti von dem Annäherungsversuch seiner Frau und der Kälte, mit der er sie zurückgewiesen hatte; von der dann folgenden ungestümen Auseinandersetzung, bei der sie ihm empört seine Untreue vorwarf, die er nicht leugnete, aber als eine Folge ihrer moralischen Scheidung bezeichnete.

»Cristina? Wie, Cristina bot sich dir an?« fragte der Doktor gedehnt. »Dann kehre doch zu ihr zurück; sie wird sich finden lassen ... Entweder kam sie zu dir, weil in ihr eine plötzliche Zuneigung erwachte – aber erlaube mir zu sagen, daß das etwas sehr, sehr Ungewöhnliches wäre –, oder weil es ihr von irgendeiner Seite befohlen wurde. Wie dem auch sei, sie wird dich nicht abweisen.«

Da Sanchez Morueta unschlüssig vor sich hinstarrte, drängte der Arzt:

»Tu, was ich dir sage. Es ist die einzige Lösung. Ich verhehle mir durchaus nicht, daß dabei für ein Liebesbedürfnis, wie du es trotz deiner Jahre empfindest, wenig übrigbleibt; aber nimm es als Mittel, um die Leere deines Lebens, vor der du so bangst, auszufüllen. Wenn ich in deiner Haut steckte, wüßte ich allerdings andere Wege, mich zu betätigen. Ach, wenn ich über deine Macht verfügte! ...«

Der Millionär, der die Gedanken seines Vetters erriet, machte eine abweisende Geste.

»Ich weiß. Mein Leben denen da unten widmen! Eine Art weltlicher Heiliger sein, der sein Vermögen nicht für unfruchtbare Almosen, sondern für die geistige Emanzipation der Parias der Arbeit verwendet, indem er sie mit dem Brot der Bildung versorgt! Pah, als ob mir das Befriedigung und Freude verschaffen könnte! ...« In dem tiefen Egoismus des Menschen, der nur haben will, der keine anderen Ideale kennt als die, die mit seiner eigenen Person eng verknüpft sind, lachte er verächtlich. »Mögen sie doch krepieren, diese Arbeiter, deren bedauernswerte Lage dir so nahegeht! Warum soll ich diesen Hungerleidern Freude bringen, wenn ich mit all meinen Millionen unglücklich und elend bin?«

Wiederum herrschte Schweigen in dem schon vom Dämmerlicht erfüllten Raum. In der Ferne rief die Dampfpfeife eines zur Ausfahrt bereiten Schiffes säumige Passagiere, und unwillkürlich dachte der Doktor bei dem mahnenden Ton an Sanabre, der seit zwei Stunden wartete ...

»Pepe, dein Ingenieur draußen ... Und damit du nicht zu sehr überrascht bist, will ich dich im voraus über die Natur seines Anliegens aufklären. Er kommt, dich um seine Entlassung zu bitten. Er möchte sogar sehr schnell fort, sobald du einen Nachfolger für ihn gefunden hast. Wir sprachen unterwegs darüber; wie es scheint, war es ein schwerer Entschluß für ihn.«

»Sanabre will fort? Warum denn?«

»Eh, was weiß ich! Vielleicht krankt er auch an der Liebe, was bei seinem Alter ja nicht verwunderlich wäre. Jedenfalls bildet er sich ein, nicht länger hier leben zu können.«

Sanchez Morueta, zu müde, zu zermürbt, fragte nicht weiter, trotzdem die Miene des Arztes verriet, daß er mehr wußte.

»Laß ihn bitte hereinkommen, Luis«, war das einzige, was er sagte.

Fernando wollte sich nicht setzen, hatte es eilig, zum Werk zurückzukehren, nachdem er bereits so lange Stunden abwesend war. Er sprach, ohne seinen Chef anzusehen, als fürchtete er, daß man in seinen Augen sein Geheimnis lesen könnte.

Ha, ha, auch den hat also die schlimme Bestie gebissen, dachte Sanchez Morueta, das bleiche Gesicht und die Schatten unter den Augen des jungen Mannes betrachtend, mit einer Art Schadenfreude.

»Hatten Sie Ärger im Betrieb? ... Oder wollen Sie mehr Gehalt? Wenn es sich um Geld handelt, bitte!«

Der Ingenieur bewegte verneinend den Kopf. Weder das eine noch das andere. Er hatte nur Sehnsucht nach anderen Ländern ... vielleicht war der unruhige Geist der Andalusier auch in ihm erwacht. Er dachte an Asturien, Katalonien, möglicherweise auch Südamerika, irgendein Land, dessen Klima ihm erlaubte, seine Mutter mit sich zu nehmen ...

Bei Sanchez Morueta brach das alte Wohlwollen durch.

»Sie wissen, wie lieb Sie mir sind, Fernando. Wenn ich Ihnen am Ort Ihrer demnächstigen neuen Tätigkeit von Nutzen sein kann – Sie dürfen jederzeit auf mich rechnen. Und wenn Sie einmal nach hier zurück möchten, so werden Sie mir stets willkommen sein. Verabschieden wollen wir uns heute nicht. Sie werden an einem der nächsten Tage noch einmal mein Gast draußen in ...«

Sanabre hob mit plötzlich erwachter Lebhaftigkeit den Kopf.

»Mir wäre es lieb«, unterbrach er, »wenn Sie mir gestatten würden, Ihnen hier im Büro Lebewohl zu sagen. Und Ihre Befehle bis zur Übergabe an meinen Nachfolger bitte ich, telephonisch in Empfang nehmen zu dürfen.«

Sanchez Morueta stutzte bei diesem unzweideutigen Wunsch, einem Besuch in Las Arenas zu entgehen, aber er widersetzte sich nicht.

Voll Herzlichkeit streckte er dem Jüngeren die Hand entgegen.

»Also dann auf Wiedersehen hier, mein Junge.«

Als sich die Tür hinter Sanabre geschlossen hatte, ließ sich der Industrielle erschöpft in einen Sessel fallen.

»Alle gehen fort, Luis. Auch dieser Junge stand meinem Herzen nahe. Es wird leer um mich ... Und du? Wirst du mich ebenfalls verlassen?«

»Nie, Pepe. Aber ich kann dir wenig nützen, denn was du brauchst, vermag dir nur eine Frau zu geben. Lebensfreude – in deinem Sinn – kannst du allein in deinem Hause finden. Eins weiß ich allerdings zur Stunde noch nicht: um welchen Preis du sie dir erkaufen mußt ...«

 

Der große Mann war krank.

Ein Monat verstrich, ohne daß Aresti ihn aufsuchte, da er bei seinem Vetter nicht die Erinnerung an die peinliche Beichte wachrufen wollte. Gelegentlich hörte er von den Bergwerksunternehmern das eine oder das andere unbestimmte Wort über den Zustand Sanchez Moruetas. Danach schien es, als litte der Kranke, der das Palais in Las Arenas nicht mehr verließ, vor allem an Appetitmangel und ungemeiner Mattigkeit. »Nichts Ernsthaftes«, meinten die Leute, »er nahm sich immer zu viel vor, und die geschäftlichen Aufregungen haben seine Gesundheit untergraben.«

Das ist die Krisis, die er fürchtete, dachte der Arzt; aber wenn er mich nicht ruft, hat er sicher seine Gründe dafür ...

Da begegnete ihm eines Tages in Bilbao der Kapitän Iriondo, der mit seinem Erstaunen nicht zurückhielt, daß Aresti dem Kranken noch keinen Besuch abgestattet hatte.

»Es geht ihm wirklich schlecht, Luisito. Ich weiß nicht, welche böse Mücke ihn vor einem Monat gestochen hat – er ißt nicht, hockt melancholisch den ganzen Tag im Sessel und läßt sich wie ein Kind von seiner Frau päppeln. Nicht einmal der Schatten von dem, was er war! Dagegen habe ich Doña Cristina nie so froh gesehen. Sie ist wieder jung geworden, geht mit herrischer Miene umher, als fühlte sie sich erst jetzt wirklich berechtigt, das Haus zu leiten, und wetteifert an Eleganz mit ihrer Tochter. Verschwunden sind die billigen, schwarzen Kleider, die ihr das Aussehen einer Betschwester gaben. Und während sie Pepe verzieht und verhätschelt, folgen ihr seine Augen, ganz groß vor lauter Dankbarkeit, auf Schritt und Tritt. Wie gesagt, liebster Planet, zwei ganz andere Menschen!«

Aresti schmunzelte.

»Demnach ist also das Haus meines Vetters jetzt ein Liebesnest?«

»Das ... das würde ich nur begrüßen«, versetzte der Kapitän zögernd. »Aber manches geht dort vor, was mir durchaus nicht gefällt. Zum Beispiel stolpert man zu jeder Stunde über diesen aufgeblasenen Urquiola. Er spreizt sich in den Salons, als wäre er bereits Herr im Hause, und Doña Cristina tut nichts, ohne ihn um Rat zu fragen. Erinnerst du dich übrigens an Nicanora, Pepitas alte Amme? ... Sie ist in ihr Dorf abgeschoben worden, mit einem Stück Geld, um sich ein Häuschen und ein paar Kühe zu kaufen. Wie ich hörte, hat Doña Cristina sie nach einer heftigen Szene nicht mehr im Hause dulden wollen ... Pepita scheint allerdings einen Widerwillen gegen Urquiola zu hegen, doch die Mutter bringt sie Tag für Tag zusammen, und du wirst sehen, daß die Sache mit einer Heirat endigt. Zum Teufel, diesen Säugling von Deusto soll ich eines Tages Chef nennen? Dafür setzte ich im Bürgerkrieg mein Leben aufs Spiel? ...«

»Und was sagt Pepe?«

»Pepe? Der hat keinen Willen mehr. Er ist noch wortkarger und nickt zu allem, was seine Frau anordnet, mit dem Kopf. Möglich, daß er innerlich anders denkt, aber er wagt nicht, ihr zu widersprechen oder dem frechen Grünschnabel mal gehörig die Leviten zu lesen ... Wirklich, du solltest dich mal nach ihm umsehen!«

»Ich? Er hat mich doch nicht gerufen. Und überdies lockt mich dieses Bild zärtlichen Familienlebens nicht im geringsten. Nein, Kapi, dort entbehrt man mich nicht.«

»Doch, Menschenkind. Ich bin sicher, daß Pepe dich sehen möchte. Jedesmal, wenn ich bei ihm zu tun habe, erkundigt er sich nach dir. Wer weiß, wie oft er den Wunsch schon auf der Zunge hatte, aber ihretwegen unterdrückte, denn – unter uns gesagt – man hat Angst vor dir. Der tüchtige Urquiola brachte es sogar fertig, einen Arzt aus seiner Clique ins Haus zu schmuggeln ... Geh hin. Mach Pepe doch die große Freude. Was ist daran gelegen, wenn Doña Cristina dein Kommen mit scheelen Augen ansieht?«

Aresti schien sich zu bäumen. Ach, so stand die Sache? Man hielt seinen Vetter in sanfter Haft und rief obendrein einen fremden Arzt? ... Nun aber hin! Ungesäumt hin! Mit ingrimmigem Behagen malte er sich die verblüfften Gesichter aus, wenn er wie eine Bombe ins Haus platzen würde. Haha! Und lachend verabschiedete er sich von dem Kapitän, um sich auf den nächsten Straßenbahnwagen zu schwingen.

Als er gegen fünf Uhr Sanchez Moruetas Villa betrat, fand er in einem der Salons Doña Cristina und ihre Tochter in Gesellschaft des unentbehrlichen Urquiolas.

Doch während der Diener ihn anmeldete, hatte drinnen eine halbunterdrückte Stimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam, heftig protestiert:

»Ich will ihn nicht sehen! Ich will nicht.«

Dann rauschten forteilende Röcke.

Wer war das, der sich so gegen ein Zusammentreffen mit ihm wehrte? ... Und plötzlich wußte er es, wußte, daß er die Stimme Antonietas, seiner Frau, gehört hatte.

Der Empfang war eisig. Doña Cristina gab sich nicht die geringste Mühe, ihre Abneigung zu verschleiern. Ihre blauen Augen, die den Doktor verächtlich musterten, schienen zu fragen: Was willst du hier? Wer hat dich gerufen? ... So ganz fühlte sie sich als Herrin des Bodens, daß sie jetzt scharf die Grenze zog zwischen sich und den ihrigen auf der einen Seite und diesem hassenswerten Fremdling auf der anderen. Was bedeutete Verwandtschaft, wenn zwischen den Seelen eine Trennung bestand!

Aresti tat, als bemerkte er nichts von dieser Feindseligkeit. Weder das unverschämte kleine Lächeln Urquiolas, noch die ängstliche Miene seiner Nichte, die ihn anstarrte, als sei er ein Spuk.

»Ich weiß nicht, ob du Pepe sehen kannst«, beantwortete Doña Cristina mit verkniffenem Mund seine Frage nach dem Kranken. »Er ist sehr empfindlich und scheut jeden Besuch.«

»Bah! Für Ärzte stehen alle Krankenzimmertüren offen.«

Er ging, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, nach der zu Sanchez Moruetas eigenen Räumen führenden Tür, und sobald er den schweren Teppich zurückschlug, ertönte ein leiser Freudenschrei.

»Luis! Mein lieber, kleiner Luis!«

Sanchez Morueta hielt ihm beide Hände entgegen, ohne sich indes von seinem Sessel zu erheben.

Aresti erschrak. War das sein Vetter, dieser abgemagerte, weißhaarige, hohläugige Mann, aus dessen eingesunkenem Gesicht die Backenknochen so seltsam scharf vorsprangen, während die Nase noch wuchtiger und größer als sonst erschien? ...

Er hatte in einem Büchlein gelesen, das er nach dem ersten Moment freudiger Aufregung hastig in seiner Tasche verbarg, als möchte er seinem Verwandten den Titel verhehlen.

Aresti ließ sich alle Symptome der Krankheit eingehend schildern. »Ich kenne derartige Fälle«, lautete seine Diagnose, »eine starke seelische Erschütterung, die sich dann auch im Organismus auswirkt. Was du brauchst, ist Ruhe, keinerlei Erregung, Sanftheit.«

»Eine seelische Erschütterung!« wiederholte die Señora, die ihm auf dem Fuße gefolgt war, bitter. »Möge deine Zunge nur immer solch wahre Worte sprechen! Pepe führte ein zu ... zu bewegtes Leben. Gott sei Dank ist er jetzt in guten Händen und wird gesunden. Ruhe und Sanftheit – jetzt weiß er, wie man beides haben kann.« Und um den ihr lästigen Besuch abzukürzen, fuhr sie fort: »Wir lassen dich besser wieder allein, Pepe. Das viele Sprechen strengt dich zu sehr an.«

»Aber nicht mit Luis«, wendete der Gigant ein. Doch er wagte nicht, seine Frau dabei anzusehen. »Mit ihm zu plaudern, tut mir wohl. So lange war er nicht hier! Und du weißt doch, Cristina, er ist der letzte, der mir von meiner Familie blieb.«

Der demütige Ton schien die Gattin wegen dieses Gefühls, das sie nicht teilte, um Verzeihung zu bitten. Überhaupt offenbarte sein ganzes Wesen, daß er jeglicher Autorität entsagt hatte, wie dies nicht selten ist bei Ehemännern, die mit dem Gewicht eines Fehltritts zu ihrer Frau zurückkehren und jeden Augenblick fürchten, von ihr an die Vergangenheit erinnert zu werden.

Pepita erschien an der Tür und machte ihrer Mutter mysteriöse Zeichen, woraufhin beide das Zimmer verließen. Zweifellos wollte Doña Antonieta die günstige Gelegenheit benutzen, um sich zu verabschieden.

»Wie findest du dich ab mit dem häuslichen Leben, Pepe?« fragte der Arzt, der ahnte, daß man sie nur kurze Zeit allein lassen würde, und sich inzwischen über den wahren Zustand seines Vetters zu unterrichten wünschte. »Bist du zufrieden?«

Statt aller Antwort wußte Sanchez Morueta nur von seiner Frau zu reden.

»Sie ist ein Engel ... ein wirklicher Engel. Du müßtest sehen, wie sie mich pflegt, mit welcher Zärtlichkeit sie mich umgibt, mir alles fernhält. Diese Ruhe hat keinen Preis, Luis! Ich komme mir vor wie jemand, der sich von einem Gewaltmarsch erholt – ich wage nicht, mich zu rühren.«

Doch trotz dieses Glücks verriet er eine große Zaghaftigkeit. Argwöhnte er die Zerbrechlichkeit des ihn umhüllenden Friedens? Fürchtete er, ihn durch die geringste Bewegung zu gefährden?

»Und die Sache mit Judith?« flüsterte Aresti. »Ist das ganz und gar vergessen?«

Der Hüne hob die Hände, wie um seines Vetters Worte abzuwehren. Eine Entgegnung machte der Wiedereintritt Doña Cristinas unmöglich, die diesmal ihre Tochter und Urquiola mitbrachte. Wahrscheinlich dünkte sie ihr Vorsatz, dem Arzt die Türen des Hauses für immer zu verschließen, in Gegenwart der beiden leichter ausführbar.

Der Millionär warf seinem Vetter einen frohen Blick zu, als die drei sich eng um seinen Sessel gruppierten. Nun, umgab man ihn nicht mit rührender Zärtlichkeit und Fürsorge? ... Sogar Urquiola, der die entfernte Verwandtschaft mit Doña Cristina auf Sanchez Morueta ausdehnte, den er tunlichst oft »lieber Onkel« nannte, umfaßte seine Dankbarkeit. Konnte er diesem großen Jungen gegenüber gleichgültig bleiben, dessen Streben dahinging, die kleinsten Wünsche des Kranken zu erfüllen, und der ihm heimlich die vom Arzt untersagten Zigarren zusteckte? ...

Doña Cristinas Auge ruhte fest auf dem dienstbeflissenen jungen Mann. Doch der schien unschlüssig und nicht recht zu wissen, wie er seine Aufgabe anfangen sollte, bis ihm das aus der Tasche des Kranken hervorlugende Buch zu Hilfe kam.

»Solche Lektüre sagt dir zu, nicht wahr, lieber Onkel? Ein tiefes Buch. Trotzdem ist der zweite Band noch besser.« Und ohne eine Entgegnung abzuwarten, wandte er sich an Aresti. »Es sind ›Antworten auf die landläufigen Einwendungen gegen die Religion‹ von Pater Segundo Franco, einem ungeheuer begabten italienischen Jesuiten. Alle gegen den Katholizismus erhobenen Lügen sind in diesem Buch zuschanden gemacht worden: diese ganze sogenannte Wissenschaftlichkeit, die nur den Namen geistiger Hochmut verdient, und die Verleumdungen gegen die Inquisition wie auch gegen andere große Glaubensakte, die man heute als Verbrechen darzustellen beliebt. Die Logik – und zwar eine turmhohe Logik, deren nur die Jesuiten fähig sind – beweist, daß die Kirche immer richtig gehandelt hat ... Sie sollten es lesen, Doktor«, schloß der aus Deusto hervorgegangene Jurist mit unverschämtem Grinsen.

Aresti kannte es. Er erinnerte sich, das monumentale Opus geistiger Beschränktheit, das die absurdesten Vorgänge mit den Gründen irgendeiner alten Betschwester beweisen wollte, im Hause der Lizamendis durchblättert zu haben.

»Junger Mann«, lautete seine gelassene Antwort, »seit vielen Jahren lese ich, was mir passend erscheint, und benötige keinen Rat.«

Wieder drängten Doña Cristinas Augen den Jesuitenzögling, mit jenem Mann zu diskutieren und ihn derart zu provozieren, daß er niemals wieder den Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen konnte.

Das nach des Doktors Zurechtweisung eingetretene peinliche Schweigen brechend, begann Urquiola die große Wallfahrt zur Jungfrau von Begoña, die Bilbaos Gesellschaft für den Monat September vorbereitete, zu erörtern.

»Ihre Organisation hat sehr viel gekostet, doch wird sie sich dafür auch zu einer großartigen, gewaltigen Demonstration des religiösen und rechtschaffenen Biscayas gestalten, das zu den Zeiten seiner alten Größe zurück will.«

Aresti, der die Absichten seiner Feinde witterte, hatte sich vorgenommen, eine kluge Zurückhaltung zu bewahren; aber seine rebellische, kampflustige Natur gewann die Oberhand, so daß er ironisch fragte:

»Und welche Zeiten waren das?«

Beglückt, vor Pepita und ihrer Mutter die lärmende Rhetorik entfalten zu können, der er seine Erfolge bei den literarischen Veranstaltungen von Deusto verdankte, ging Urquiola ungestüm zum Angriff über.

»Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß ein Sohn der baskischen Erde eine solche Frage stellt! Natürlich jene Zeiten, als das unabhängige Biscaya von seinen klugen und tapferen Geschlechtern regiert wurde, als die spanische Pest noch nicht in die heilige Scholle des Baums von Guernica Unter der Eiche von Guernica, von Iparraguirre in der baskischen Nationalhymne besungen, fanden einst die Notabelnversammlungen statt. eingedrungen war, als Basken bei Padura, bei Gordeyola und Otxandio die Spanier ins Gras beißen ließen. Und wie oft haben die Nachkommen dieser glorreichen Kämpfer noch in unserer Epoche die rotbehosten Guiris verjagt, die Madrid aussandte, um uns unsere Sonderrechte zu nehmen und unseren religiösen Geist zu brechen!«

Des Doktors Mund kräuselte sich zu einem verächtlichen Lächeln.

»Glückseliges Land, dem es so sehr an historischer Vergangenheit gebricht, daß es sich eine erfinden muß, indem es erbärmliche Bandenkämpfe zu Schlachten nationalen Ruhms aufbauscht! Drei zum größten Teil mit Knüppeln und Steinwürfen ausgetragene Raufereien, kaum ernsthafter als die gelegentlich irgendeiner Wallfahrt vorkommenden! Nein, Biscaya hat sozusagen keine Geschichte, und gerade deswegen steckt in ihm die Energie junger Völker. Seine Glorie ist frisch. Sie liegt im Mündungsbecken des Nervion, im Hafen, in den Minen und Fabriken, in den Schiffen, die auf allen Meeren Bilbaos Farben zeigen; sie ist die gewaltige Anstrengung zweier Generationen, die den Boden umgewälzt haben, um sich zu Herrn seiner Schätze zu machen. Die Biscayer, die ehedem in ihren Nachen auf die Walfischjagd fuhren, taugen in meinen Augen mehr als die langmähnigen, ungeschlachten Helden, die bei Pandura mit ihrem ›Sabelian sabelian sarrtu‹ einander anfeuerten, den Spaniern die Spieße in den Bauch zu rennen ... Unser Land hatte bisher nur Bischöfe und Seeleute erzeugt; jetzt erst kommen die einzig bemerkenswerten Männer zum Vorschein, die diese Rasse vermöge ihrer Sonderbeschaffenheit hervorzubringen vermag. Sehen Sie sich meinen Vetter an: der träumt weder von historischem Ruhm, noch kümmert es ihn, wie ihn die Zukunft beurteilen wird. Das ist der wirkliche Held, der moderne Paladin! Mit seinen industriellen Unternehmungen hat er für den Ruf Biscayas mehr getan als all diese schmuddligen, bärtigen Edlen.«

Urquiola schwieg, in Verwirrung gebracht durch die Lobrede auf den lieben Onkel. Würde dieser eine Entgegnung nicht als Attentat gegen seine Schöpfung auffassen?

Aus diesem Dilemma befreite ihn Doña Cristina:

»Gib dir keine Mühe, Fermin; den Doktor interessiert unsere Tradition nicht. Was ihn aber verdrießt, ist, daß ganz Biscaya der heiligen Schutzpatronin huldigen will, an die er selbst nicht glaubt.«

»Verdrießen?« Aresti zuckte die Achseln. »Nicht ein einziges derartiges Fest verdrießt mich! Sie sind für mich kuriose Schauspiele, bei denen ich den Hang zum Außergewöhnlichen, die Sucht nach heimlicher Protektion studiere, zu der Charakterschwäche und Ignoranz ihre Zuflucht nehmen. Ich taxiere die Demonstration im September ihrem wahren Wert entsprechend ein. Die große Masse wird den Artaganberg mit dem egoistischen Wunsch hinaufsteigen, sich die Madonna zu Dank zu verpflichten; aber die Drahtzieher – die Herren Jesuiten – veranstalten diese Heerschau als Gegengewicht gegen die sozialistische Propaganda und den antireligiösen Geist der Arbeiterschaft.«

Als das Wort Jesuiten fiel, schoß Urquiola von seinem Sessel hoch, als griffe man seine eigenen Familienmitglieder an. Ah, jetzt fühlte er festen Boden unter den Füßen! Und sein Blick lud die beiden Damen ein, Zeuge zu sein, wie er diesen Gottlosen abführen würde.

»Was haben Sie gegen die Jesuiten zu sagen? Es sind gute und weise Priester, die sich aufopfern, um die Menschen auf den Weg der Tugend zu leiten. Als Nachfolger ihres glorreichen Stifters Sankt Ignatius haben sie der höllischen Propaganda Luthers Einhalt getan und den romanischen Völkern den großen Dienst geleistet, sie vor der Seuche einer religiösen Revolution zu bewahren. Sie sind es, die als rechter Arm des Papstes den Katholizismus in seiner ganzen Reinheit aufrechterhielten. Und so klug, so gebildet! ... Ich kenne in Deusto einen Pater, der fünf Sprachen spricht ...«

Kurzerhand fiel ihm Aresti ins Wort:

»Ich kenne Hotelportiers, die sogar noch mehr Sprachen beherrschen. Und dennoch rühmt die undankbare Welt ihr Wissen nicht!«

Sein Gegner, durch diesen Sarkasmus verwundet, machte eine Bewegung, als wollte er über den Arzt herfallen. Doch der Gedanke, daß er hier als Apostel gegenüber einem Ungläubigen fungierte, dessen Wissenschaft leider so viele verblendete, hielt ihn im Zaum. Äußerlich ruhig, fuhr er fort, den Jesuitismus zu verherrlichen, wobei er mit der Gründung des Ordens anfing, als wäre sie ein Ausgangspunkt für die Geschichte der Menschheit ... Gewiß, auch ihm war bekannt, was man dem Orden vorwarf. Lügen der Freimaurer, die vor den Söhnen des Heiligen Ignatius in Angst und Wut erzittern! Man sprach von der Raffgier, der Habsucht der Jesuiten, von ihrem Hang, Geld aufzuspeichern? ... Schwindeleien ruchloser Subjekte oder gewisser eifersüchtiger Mönchsorden, denen es nicht zum Bewußtsein kam, daß sie durch Angriffe auf die Jünger von Sankt Ignatius das stärkste Bollwerk des Katholizismus unterminierten.

»Wo sind denn diese Schätze?« ereiferte er sich. »Wer hat sie gesehen? ... Und selbst wenn die Jesuiten sie besitzen sollten, was beweist das? Wie ein Angehöriger der vorbildlichen Gesellschaft Jesu in einem seiner Bücher sehr treffend sagt, würde es, da der Orden sein Geld vor allem zur Gründung höherer Schulen verwendet, der Welt darum nicht schlechter ergehen. Man wirft ihnen des weiteren vor, ausschließlich mit den Reichen und Mächtigen zu verkehren, sich nur mit der Erziehung der Söhne vornehmer Eltern zu befassen. Und was beweist das? ... Die Gleichheit ist ein Mythus der Gottlosen! Sogar im Himmel gibt es Rangstufen! Mit Recht erblicken die Patres ihre Aufgabe darin, den Geist derjenigen zu bilden, die durch ihre Geburt oder ihr Vermögen zur Führerrolle bestimmt sind, und überlassen die große Masse der Fürsorge der niederen Geistlichkeit. Indem sie sich am Stamm anklammern, sind sie sicher, daß ihnen auch die Zweige gehören; indem sie die privilegierten Klassen in der Furcht Gottes erziehen, halten sie den religiösen Geist in den ausschlaggebenden Körperschaften aufrecht, bei den Gesetzgebern, bei den Kapitalisten, bei den Führern der Industrie. Sichern sie so die Zukunft nicht besser, als wenn sie das dumme, unbeständige Volk suchen, das immer geneigt ist, sich von einer blöden, freiheitlichen Propaganda einwickeln zu lassen? ...«

Ah, das Volk! Mit Ekel sprach Urquiola von der willenlosen, durch betrügerische Aufklärer mitgeschleiften Masse. Am meisten empörte ihn die Blindheit dieser Herde, die sich, in ihren Konflikten mit dem Elend, gegen die Kirche und besonders gegen die Jesuiten wandte. Was hatten die Patres mit höheren Löhnen oder kürzerer Arbeitszeit zu schaffen? ... Sie konnten, weil sie weder Bergwerke noch Fabriken besaßen, den Arbeiter ja gar nicht ausbeuten. Warum ließ man also die Geistlichkeit nicht in Frieden und hielt sich einzig und allein an die reichen Besitzer? Warum verquickte man Religion und Arbeiterfragen? ...

Der Advokat, der nicht inne wurde, daß er bei dem heißen Bemühen, seine Lehrer zu verteidigen, nun doch Sanchez Morueta angegriffen hatte, betrachtete Aresti mit anmaßender Überlegenheit. Er war sicher, den Gegner durch seine Argumente erdrückt zu haben. Und angesichts seiner hochtrabenden Miene, vereint mit der schrankenlosen Bewunderung, die aus den Augen der Damen sprach, zerstoben Arestis letzte Skrupel von Klugheit und Vorsicht. Wenn man es darauf anlegte, ihm die Tür zu weisen, dann ging er lieber von selbst! Aber nicht, ohne vorher rücksichtslos seine Ideen verfochten zu haben. Und mit einer Ruhe, mit einer Milde, die von der Vermessenheit seiner Gedanken merklich abstach, begann er:

»Mich wundert es nicht, daß das Heer des Elends sich bei seinen Protestkundgebungen gegen die Jesuiten wendet. Sind sie es doch, die die oberen Klassen führen und nach ihrem Belieben modeln! Die Schüsse der Unglücklichen gehen also doch nicht in verkehrter Richtung. Im ersten Augenblick erscheinen sie launisch und verrückt, aufs Geratewohl abgefeuert – in Wirklichkeit aber treffen sie den wahren Feind. Mit dem Instinkt der Verzweiflung ahnen die Enterbten, wo die Ursache ihrer Drangsal liegt. Die Gesellschaft stützt sich auf die christliche Moral, die in ferner Vergangenheit angebracht gewesen sein mag, die jedoch beim Kontakt mit dem modernen Leben Schiffbruch erlitt ...

Der Mensch von heute muß sich mit der Lösung seiner Aufgabe hier auf Erden beschäftigen und ringt unablässig nach einer Verbesserung seiner natürlichen und sozialen Bedingungen; den Christen hingegen dürften solche Interessen eigentlich nicht kümmern, weil sein wahres Leben doch erst jenseits des Todes anfängt. In zwanzig Jahrhunderten hat die christliche Moral alles, was in ihr steckt, hergegeben – ihr Ruin ist überall ersichtlich. Sie will nichts von Gerechtigkeit auf Erden wissen, sondern reserviert sie für den Himmel; hienieden schreitet sie gleichgültig über das Recht der Unterdrückten hinweg, die sie mit der Hoffnung auf Vergeltung ihrer Leiden in einem anderen Leben, von dem niemand weiß, tröstet. Ihr einziges klares Gebot lautet: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‹ Nichtsdestoweniger findet sie sich mit dem Krieg ab, segnet den Starken, erklärt, daß der Mensch von Natur schlecht und verdorben ist und sich nur reinigen kann, wenn Gott ihm seine Gnade gewährt; nennt ihn, falls er außerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen lebt, ein Kind der Sünde, ein teuflisches Wesen, das verfolgt und ausgerottet werden muß.«

Doña Cristina wechselte entsetzte Blicke mit Urquiola.

»Und die Barmherzigkeit?« schrie der Jurist. »Die erhabene Barmherzigkeit der christlichen Moral?«

»Diese Barmherzigkeit?« Bitter lachte Aresti auf. »Diese Barmherzigkeit ist das Mittel, die Armut aufrechtzuerhalten, zu nähren, zu verewigen. Die Unglücklichen hassen sie instinktmäßig und vermeiden, soweit angängig, um sie zu betteln, da sie sie als eine entwürdigende Institution endloser Sklaverei empfinden. Auch sie ist ein Unstern der christlichen Moral.

Jesus hat gesagt: ›Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, denn daß ein Reicher in das Himmelreich gelangt.‹ Trotzdem gelüstet es die Christen, uneingedenk seiner Worte, nach den Gefahren des Reichseins; trotzdem riskieren sie furchtlos die Flammen der Hölle, um irdische Güter anzuhäufen. Und ausnahmslos üben sie Barmherzigkeit in der Weise, daß sie nur das abgeben, was sie als überflüssig erachten. Die Barmherzigkeit hat den Fortschritt der Menschheit nicht gefördert, eher ist sie ein Hindernis gewesen. Sie unterdrückte weder die Sklaverei, noch berichtigte sie die Organisation des Eigentums, rechtfertigte vielmehr die Scheidung zwischen Reich und Arm. Die Unglücklichen begehen in ihren Rebellionen keinen Irrtum, wenn sie eine Religion hassen, die von ihnen fordert, sich in ihr Schicksal zu ergeben, und die von den Reichen nur ein Almosen verlangt, über das diese selbst die einzigen Richter sind und das sie je nach ihrem Egoismus abstufen können. Dem Volk entgeht es nicht, daß dieselbe Religion, die bei den unteren Klassen im Abnehmen begriffen ist, ihre Verteidiger in den Reichen findet, trotzdem ihr Gott diese verdammt hat.

Die privilegierten Stände bedienen sich dieser Religion als Schild. Gerechtigkeit für alle auf Erden? ... O nein! Die Gerechtigkeit ruht in den Händen Gottes; man muß ins andere Leben eingehen, um sie zu finden. Mittlerweile kann das Volk auch im Elend zufrieden sein, winkt ihm doch nach dem Tode das Paradies, dieser höchste Trost, den ihm gewissenlose Revolutionäre rauben wollen ...

Das ist die Sprache aller, denen daran liegt, im schützenden Schatten religiöser Ideen unentwegt dieselben Zustände auf Erden fortbestehen zu lassen. Warum sollen sich die Enterbten nicht gegen einen Glauben auflehnen, der ihnen hienieden den Weg zu ihrem Recht sperrt, um sie mit der Trughoffnung auf eine göttliche Gerechtigkeit abzuspeisen, die die Reichen durch Gaben an die Priester bestechen können?

Das Christentum betrügt den Armen, indem es ihn zwischen die Hoffnung auf den Himmel und die Drohung mit der Hölle stellt. Es ist eine Art geistiger Kerkermeister, der seit zwanzig Jahrhunderten das Ende einer Kette hält. Ist es verwunderlich, daß die Menschen im Augenblick der Empörung geradeswegs auf ihn losgehen, auf diesen säkularen Feind, unter dessen Schutz alle Mißbräuche und Ungerechtigkeiten blühen? ... Haß gegen jede Religion macht sich instinktiv dort geltend, wo die Arbeitermassen erwachen, denn Gott ist für sie der oberste Gendarm; ein unsichtbarer Wächter der Bourgeoisie, dem sie seine guten Dienste vergilt, indem sie ihr Geld mit vollen Händen unter die ausstreut, die sich seine Vertreter auf Erden nennen.«

Doña Cristina fächelte wütend ihre hochroten Wangen. Welche Greuel diese sanfte Stimme von sich gab, die zu schmeicheln schien, während sie tiefe Kratzwunden verursachte! Sie bereute, den Gottlosen herausgefordert zu haben, und gebot ihrem Neffen durch Zeichen, nicht mehr zu antworten. Doch der Schüler von Deusto, den es kränkte, vor Pepitas Augen als Besiegter dazustehen, brannte darauf, noch einen Pfeil zu versenden.

»Kritisieren ist leicht«, wandte er sich an den Doktor. »Da Sie die christliche Moral so unzulänglich finden, nennen Sie uns doch bitte die Ihrige.«

Aresti blickte ihn mitleidig an. Es bestand die Möglichkeit, daß der junge Mann ihn nicht begriff ... dergleichen Dinge wurden ja nicht in Deusto gelehrt. Außerdem fabriziert man eine Moral mit all ihren Vorschriften und Geboten nicht zwischen Abend und Morgen, wie die Patres ihre Predigten. Der moderne Gedanke hatte in weniger als einem Jahrhundert genug geschafft und befand sich doch noch in der ersten Etappe auf seinem Marsch zum Unendlichen. Aber auch so begann seine Moral – eine irdische Moral zum Besten der Menschheit, ohne himmlische Sanktionen – Form anzunehmen.

»Was mich betrifft«, sagte Aresti schlicht, »so bete ich die soziale Gerechtigkeit als Ziel an und glaube an die Wissenschaft als Mittel.«

Urquiola brach in ein freches Gelächter aus.

»Ah, die Wissenschaft! Die moderne Wissenschaft der Revolutionäre und Gottlosen! Nehmen Sie den Katechismus des Paters Ripalda und schreiben Sie für jedes Ja des Katechismus ein Nein, für jedes Nein ein Ja, so haben Sie im Handumdrehen Ihre berühmte moderne Wissenschaft.«

Wie er sich spreizte, wie er sich brüstete vor Stolz auf eine Erklärung, die einen Katechismus zum Zentrum aller menschlichen Gedanken machte! Und Doña Cristina, im Wahn, daß diese aus Deusto stammende Definition ihres Neffen Geistesprodukt sei, bewunderte wieder einmal seine Gaben.

»Also die moderne Wissenschaft soll der Moral als Mittel und Werkzeug dienen?« wiederholte der junge Mann, der seinen endgültigen Triumph nahen sah. »Auch in Deusto lehrt man, obwohl Sie es nicht glauben, etliches von ihr; genug, um ihren groben Materialismus zu würdigen, der unvereinbar mit irgendeinem Ideal, aber ein passendes Instrument der Demoralisation in allen ihren Formen ist.

Für diese Wissenschaft ist der Mensch ein Tier, bei dem Instinkt die Seele ersetzt. Nichts von einem allmächtigen Gott, nichts von einer ewigen Seele nach dem Vergehen der Materie! Die einzige Bühne ist diese Erde – nach dem Tode kommt ein wenig Verwesung, dann Staub, dann nichts! Da es kein anders Leben gibt, kann jeder seinen Instinkten ohne Furcht vor dem Zorn Gottes folgen. Also das freie, durch nichts gezügelte Biest! Wenn keine Strafen zu gewärtigen sind, warum auf die Befriedigung des Appetits verzichten? Warum sich aus Achtung vor seinesgleichen Entbehrungen auferlegen? ... Machen wir uns doch lustig über unsere Vorfahren, diese Hohlköpfe, die vermöge ihrer Hoffnung auf den Himmel oder ihrer Angst vor der Hölle ihre Passionen zügelten! Laßt daher künftig den Starken den Schwachen zerquetschen, dem ja List und Schlechtigkeit zur Verfügung stehen, um sich zu retten. Wir haben niemanden gebeten, in die Welt zu kommen, und niemand wird uns Rechenschaft abverlangen, wenn wir uns wieder mit der Erde vermengen. Laster ist dasselbe wie Tugend; Verbrechen und Güte gelten gleich– leben und genießen ohne irgendwelche Skrupel, so heißt die Parole! Das ist Ihre Moral, Doktor, nicht wahr?«

Die Augen der beiden Damen strahlten über diese glänzende Abfertigung. Sogar Sanchez Morueta, der bisher mit gesenktem Kopf dagesessen hatte, peinlich berührt durch die Polemik, von der er vielleicht ahnte, daß sie zu einem unlauteren Zweck entfesselt worden war, warf Urquiola einen erstaunten Blick zu. Dieser Knabe drückte sich ja gar nicht schlecht aus! Sollte das Urteil Cristinas, die seine Eigenschaften immer hervorgehoben hatte, doch richtig sein?

Der Doktor ließ Urquiolas Ausführungen gleichmütig über sich dahinbrausen.

»Wenn die Religion«, antwortete er endlich, »einen Damm gegen Zügellosigkeit und Gewalttat bildet, warum sind dann die größten Verbrechen der Weltgeschichte immer zu Zeiten begangen worden, in denen die religiöse Begeisterung besonders heftig glühte? ... Für die Wissenschaft ist mangelnde Moral und Verbrechen lediglich das Resultat von Unkultur oder das Resultat eines defekten Gehirns. Wie kommen Sie zu der ungeheuerlichen Behauptung, daß der Mensch, wenn er die ewigen Strafen einer durch Gott sanktionierten Moral nicht zu fürchten brauchte, seine Mitmenschen unter die Füße treten würde? Nur geistig Arme, aus denen sich die Masse der Gläubigen aller Religionen zusammensetzt, können so denken, Menschen, die über ihre egoistische Individualität hinaus nichts in der Welt sehen, die die Tugend nur als Paß zum Eintritt in das ewige Leben lieben und, wenn sie etwas Gutes tun, sich von der Idee leiten lassen, daß sie damit einen Wechsel auf die Zukunft ziehen, der mit einem Platz im Himmel honoriert wird. Einen Menschen mit beschränktem Hirn kümmert einzig seine eigene Person oder höchstens seine Familie. Er faßt das Leben auf, als wäre seine Individualität das Zentrum des Universums, und ist von der Wichtigkeit seiner Person derart überzeugt, daß er ihr Fortbestehen nach dem Tode für notwendig erachtet, wozu der von den Religionen erfundene Himmel unerläßlich ist.

Den durch die Wissenschaft emanzipierten Menschen hingegen beschäftigt das Los der Menschheit ebensosehr wie sein eigenes. Er weiß, daß er ein Bestandteil einer ungeheuren Familie ist; er fühlt die Solidarität, die ihn mit seiner Art verknüpft, und ist sicher, daß sein Gedanke auch nach dem Verwesen seines Hirns weiterleben wird. Befriedigung seiner Sinne genügt ihm nicht – in seiner Intelligenz, stärker entwickelt als seine tierischen Organe, findet er seine höchste Freude. Und gerade weil er nicht zweifelt, daß sein materieller Organismus für immer untergeht, fühlt er die Notwendigkeit, eine Spur seines Wegs auf Erden zurückzulassen, indem er ein wenig Gutes tut. Anstatt wie die Frommen die Unsterblichkeit in einem himmlischen Wohlsein zu suchen – eine egoistische Vorstellung, die den anderen keinerlei Nutzen bringt –, will er lebendig bleiben in der Gattung. Sie, die ewig ist, bemüht er sich, durch die Arbeit seines Lebens glücklicher zu gestalten. Welche Moral ist großzügiger? ... Den individuellen und egoistischen Traum von einem falschen, nutzlosen Himmel ersetzt der moderne Mensch durch das kollektive Ideal, das sich in Übereinstimmung befindet mit seiner Vernunft und ihm die höchste moralische Genugtuung verschafft.

Ohne Hoffnung auf Belohnung noch Furcht vor Strafe seinesgleichen Gutes erweisen, wie wir modernen Gottlosen es tun, wir ›Materialisten‹, heißt idealer handeln als der Fromme, der durch Gebete, die kein Übel der Erde kurieren, seinen Teil am Paradiese erkauft. Das ist die Moral der Heroen der Menschheit gewesen, der großen Märtyrer und Genies. In früheren Epochen noch vereinzelt, wird sie in dem Maße, wie die Dogmen dem Tode erliegen, mehr und mehr Allgemeingut als eine Bestätigung des Kollektivgewissens.«

Doña Cristina gab sich nicht mehr die Mühe, die Worte des verhaßten Verwandten zu verstehen. Warum sich mit dieser ›deutschen Philosophie‹, diesem konfusen Zeug abquälen, wenn es so klar und einfach war, den Lehren der Kirche zu folgen? Ah, wäre doch Pater Pauli anwesend, der von der Kanzel herab den Philosophen so meisterhaft Streiche zu verabreichen wußte! ...

Urquiola hingegen verbarg seine Unbehaglichkeit und Verwirrung unter dem Lächeln verächtlicher Überlegenheit – von alledem war nie in Deustos Hörsälen etwas verlautet! Und wütend über das, was er als eine Niederlage betrachtete, wünschte er nichts sehnlicher, als diese Diskussion nach Art der Aussprachen in seinen Wählerversammlungen beenden zu können. Er stöhnte innerlich über die Anwesenheit Sanchez Moruetas, auf den man Rücksicht nehmen mußte. Wie gern hätte er die Meinungsverschiedenheit ins Persönliche gedreht, um im Namen der unsterblichen Seele und der christlichen Moral diesem Gottlosen ein paar Fausthiebe zu geben, die gleichzeitig den Damen von seinen Apostelmuskeln Zeugnis abgelegt haben würden.

Aresti, von seinem Enthusiasmus fortgerissen, konnte nicht schweigen.

»Der religiöse Sophismus, der die Ungerechtigkeit auf Erden ohne anderen Trost als die Hoffnung auf eine bessere Welt duldet, ist zu plump für eine moderne Intelligenz«, spann er seinen Gedanken weiter aus. »Die Moral besteht nicht, wie das Christentum proklamiert, darin, sich zu demütigen, in sich selbst zu verkriechen, die natürlichen Instinkte zu amputieren, sich klein zu machen, um den schmalen Weg zur himmlischen Herrlichkeit passieren zu können, sondern darin, das Leben in seiner ganzen Fülle zu lieben. Ein moderner Mensch kann seine Zeit nicht an die Frage nach dem Ursprung des Übels oder an die Frage, ob er durch die Erbsünde verdorben wurde, verschwenden. Ihm genügt es, das Übel in stetem Streben nach Verbesserung zu bekämpfen.

Menschenlos ist es, aus sich heraus alles zu tun, ohne Hoffnung auf phantastische Protektion. Die Arbeit ist sein Gesetz. Und in der rühmlichen und harten Aufgabe, Mensch zu sein, darf er nur mit einer Hilfe rechnen: der Wissenschaft. Das immer größere positive Wissen, verbunden mit der unaufhörlichen Evolution der menschlichen Gesellschaft, modifiziert die Auffassung über Leben und Lebenszweck. Dank seinem kritischen Geiste hat der moderne Mensch eine richtige Idee von den Grenzen seiner Kenntnisse. Weder Hoffart noch mutlose Bescheidenheit! Er behauptet nicht, daß er das Absolute oder den Ursprung der Dinge kennt. Aber wissen die Religionen mehr als er? Sind die Erklärungen derer vernünftiger, die an eine die Ungerechtigkeit schützende Vorsehung und an einen von nomadisierenden Semiten ausgetüftelten Schöpfungsplan glauben? ...

Demgegenüber erkennt der Mensch die Welt, die ihn umgibt, durch die Wissenschaft immer besser. Wenn ihm auch die primäre Ursache vieler Phänomene unbekannt geblieben ist, so hat er doch ihre Eigenschaften sich nutzbar gemacht; anstatt Sklave der Natur zu sein wie zu Zeiten der religiösen Barbarei, zwingt er sie heute, für ihn zu arbeiten. Hindernisse, die ewig schienen, fallen; die Technik kennt keine Entfernungen mehr – der Planet scheint kleiner zu werden.

Nein, der Mensch will seine Moral nicht mehr auf das Unbekannte stützen, auf die Idee von Gott, dem gütigen oder schrecklichen Bild aus den Kindheitsjahren der Menschheit. Ihm widerstrebt die auf Resignation und Enthaltsamkeit aufgebaute christliche Moral, diese Kunst, das Leben zu verstümmeln unter dem Vorwande, es in seiner höchsten Form, der spirituellen, zu bewahren.

Unsere Moral«, schloß der Arzt mit Nachdruck, »ist einfach und tapfer: Sicher, daß die Engel nicht existieren, beschränkt sie sich auf die Menschen, so, wie sie sind. Anstatt das Leben mit Beten und Betrachtungen der Vollendung in der Ewigkeit zu verbringen, geht sie allem, was schlecht und häßlich ist, zu Leibe. Sie schaut nicht zum Himmel – denn sie weiß, daß es keinen gibt –, sondern prüft die Erde, die Wirklichkeit; sie legt nicht ständig die Hände zum die Seele rettenden Gebet zusammen, sondern packt die Werkzeuge der Arbeit, schuftet, kämpft, schwitzt in ihrem ewigen Kampf zur Vervollkommnung und Verschönerung, weil sie sich sagt, daß die Anstrengungen und Beschwerden der Gegenwart der zukünftigen Menschheit zugute kommen. Unsere Moral hat schwielige Hände, nicht die einer Nonne, weiß und weich, über der Brust gefaltet!«

Sanchez Moruetas Blicke ruhten in warmer, schrankenloser Anerkennung auf seinem Vetter. Sein zaghaftes, treibendes Denken fühlte sich von neuem durch die Worte des Arztes fortgerissen. Diese Apologie der universellen Tätigkeit begeisterte ihn, der selbst ein Priester in dem Tempel der Arbeit war, und ungeachtet der Verwünschungen und Schreie, die, wie er wußte, die Gläubigen der neuen Religion, die Massen in den Minen und Werken, gegen ihn ausstießen, ungeachtet ihres Wunsches, ihn aus diesem Tempel zu vertreiben, gefiel es ihm, daß man Worte des Lobes für sie fand.

Seine Gattin hingegen biß sich auf die Lippen, wurde blaß, als sie die haltlose Verwirrung ihres Neffen gewahrte, und mit dem aggressiven Trieb der Frommen riß sie jetzt die Diskussion an sich.

»Ich verstehe diese Moral nicht; aber das bekümmert mich wenig – sie ist wohl nur Gelehrten vorbehalten ... wie dir. Wir anderen, wir Dummen, begnügen uns mit dem Katechismus. Nur eins möchte ich wissen. Wenn dir das Wohl der Menschheit so am Herzen liegt, warum erinnerst du dich nicht deiner armen Frau? ...« Ihre Stimme wurde hart und zornig. »Dahin führt also eure gepriesene Moral, ein zartes, reines Geschöpf, eine gütige, engelgleiche Seele unglücklich zu machen!«

Der Doktor schwieg; er war wie betäubt durch die Ungerechtigkeit dieses Angriffs. Er, der Henkersknecht eines Engels! ... Und Cristina tat, als hätte er wirklich ein Verbrechen begangen, trotzdem sie so oft Zeuge der demütigenden Behandlung gewesen war, die ihm die Lizamendis hatten angedeihen lassen ...

Abweisend zuckte er mit den Schultern. Was sollte er antworten auf diesen Ausfall? ...

Aber Sanchez Moruetas Gattin war nicht willens, sich zufrieden zu geben. Einmal im Zuge, empfand sie ein nervöses Bedürfnis, ihn zu beleidigen, ihn zu reizen, Anlaß zu einem Bruch zu schaffen, der ihm das Wiederkommen verbot.

»Da du unsere Religion verwirfst«, begann sie nach einer Weile mit einem beängstigend süßen Lächeln von neuem, »so glaubst du wohl auch nicht an Jesus. Was bedeutet er denn in deinen Augen, unser himmlischer Erlöser?«

Mit welchem Genuß Aresti seine Worte wählte! Er sprach langsam, gedehnt, schneidend, als wünschte er, daß jede Silbe wie eine Ohrfeige in dieses Gesicht träfe, dessen blaue Augen ihn voll grenzenloser Verachtung anblickten.

»Jesus? – Er war ein großer Dichter der Moral. Ich liebe die Erinnerung an ihn, und ein zärtliches Mitleid überkommt mich angesichts der Nutzlosigkeit und der bitteren Ironie seines Opfers. Seine Nachfolger haben seine Lehren auf den Kopf gestellt, in Wort und Tat. Seine Ermordung war das Werk einer Verschwörung der damaligen Gewalthaber: Regierende, Reiche und Priester – dieselben, die ihn heute verherrlichen und die Erinnerung an ihn ausbeuten.«

Doña Cristina sprang ungestüm auf. Sie hatte seine Ausführungen über Moral angehört und eine leidliche Ruhe dabei bewahrt, trotzdem sie Angriffe auf ihren Himmel ahnte. Aber jetzt wandte sich Aresti gegen Jesus! Und daß er ihn einen Dichter nannte, empörte sie mehr, als wenn er seine Existenz kurzweg geleugnet hätte. Der Sohn Gottes ein Dichter! Für die Millionärin war dies die raffinierteste aller Beleidigungen.

»Hast du gehört, Pepe?« kreischte sie. »Und du duldest in deinem Hause derartige Scheußlichkeiten?«

Scheu flatterten Sanchez Moruetas Augen von einem zum andern.

»Ich gehe fort«, tobte Doña Cristina weiter, als sie die Unentschiedenheit ihres Gatten bemerkte. »Komm mit mir, meine Tochter. Du hast genug Greuel gehört. Danke deinem Vater, der gestattet, daß du unter seinem Dach solch entsetzliche Dinge vernimmst!«

Auch Urquiola hatte sich erhoben. Das war der Moment, als Schirmherr des Glaubens aufzutreten, Aresti mit der Faust das Wort Dichter heimzuzahlen, das ihn nicht weniger empörte als Doña Cristina. Aber die Furcht, Pepitas Vater zu mißfallen, ließ ihn den beiden Damen folgen.

Eine ganze Zeit blieb es still im Zimmer, als hätte der Zwischenfall sie beide vernichtet.

»Leb wohl, Pepe«, sagte der Doktor schließlich resigniert, während er von seinem Sessel aufstand und seinem Vetter die Hand hinstreckte. »Ich frage nicht wie Cristina: ›Und du duldest so etwas?‹ Sie ist ja deine Frau, und du mußt mit ihr leben.«

»Geh noch nicht«, flehte Sanchez Morueta, »geh nicht in dieser Empörung. Zürne wenigstens nicht mit mir. Cristina ist nun einmal so ... was soll ich tun? Du selbst hast mir gesagt: Familie ... häuslicher Friede ... Sie hat diese Ideen, und bei Frauen muß man sie wohl respektieren. Übrigens bist auch du ein wenig weit gegangen ...«

»Leb wohl, Pepe«, wiederholte Aresti, jene große Hand loslassend, die nun schwach und willenlos niederfiel. »Sei glücklich!«

»Aber wir sehen uns doch wieder, Luis? Du wirst mich im Stadtbüro besuchen, ja? ... Der Sturm hier geht vorüber wie andere Male, wenn ihr miteinander strittet ...«

»Adiós! Adiós!«

Und der Doktor Aresti ging, ohne auf die weiteren Worte seines Vetters zu achten, mit der Überzeugung, daß er seine ganze Vergangenheit hinter sich tot zurückließ. Zerrissen ein brüderliches Band! Verloren der letzte seiner Familie ...

 

Mitte August setzte eine starke Bewegung unter den Bergarbeitern ein. Die Unternehmer von Gallarta klagten bei den geselligen Zusammenkünften über zunehmende Aufsässigkeit im ganzen Revier. In Pucheta, wo die gefürchtetsten Heißsporne saßen, war es am letzten Zahltage schon zu Messerstichen gekommen, da die Belegschaft gegen den bisherigen Zwang aufbegehrte, ihre Lebensmittel zu Überpreisen aus den Läden der Aufseher beziehen zu müssen.

Als die Unternehmer nun auch die Forderung der wöchentlichen Löhnung ablehnten, loderten Flammen aus der glimmenden Glut. Die gesamte ansässige Bergarbeiterschaft beschloß, in einer Versammlung, die auf der Plaza de Toros von Bilbao stattfinden sollte, über den Generalstreik abzustimmen. Derweile bereisten intelligente, redegewandte Führer aus Bilbao das ganze Minenbecken, um die marxistischen Ideen zu verbreiten und gleichzeitig die Massen zu organisieren.

Mylord beunruhigten besonders die jugendlichen Arbeiter, die ausnahmslos ein Messer im Gürtel trugen und bei jedem Streik die lärmende Vorhut der revoltierenden Arbeiterbataillone bildeten. Sogar die alten Häuer vermieden tunlichst Konflikte mit dieser Satansbrut, aus Furcht vor ihren hinterlistigen Racheakten. Daß sie die Gendarmen mit Steinen bombardierten, wenn diese an kritischen Tagen ihre Dreispitze auf den Bergpfaden spazieren führten, mochte noch hingehen. Aber das Dynamit, das ununterbrochen aus den Depots verschwand? ...

»Mein Gott! Das kann diesmal ja schön werden!« stöhnte Mylord.

Außer der Dreistigkeit dieser Burschen war noch die Wut der Frauen in Rechnung zu ziehen. In allen Dörfern, in allen Siedlungen des Reviers verkündeten sie, daß sie sich reihenweise auf die Schienen legen würden, um jeden Verkehr zu unterbinden, damit der Streik auch die Hochöfen, die Gießereien und den ganzen Hafen in Mitleidenschaft zöge.

Ein Beweis für das Heikle der Situation war ferner das Verhalten der galicischen Arbeiter, die samt und sonders in ihre Heimat zurückkehrten. Ein Streik roch diesen Leuten, denen zu Hause ein paar Felder gehörten, nach Politik, also einer gefährlichen Sache, in die sich kleine Leute besser nicht hineinmischten. Und da sie wußten, daß sich ihre Kameraden für gewalttätige Zusammenstöße rüsteten, zogen sie vor, den nächsten Zug zu nehmen, um wiederzukommen, wenn alles vorüber war, und dann von eventuell erzielten Vorteilen zu profitieren.

»Aber ihr verdammten Esel«, brauste Aresti, der mit den Unternehmern nicht eben zart umging, auf, wenn Mylord und seine Kollegen über ihre Sorgen stöhnten, »die Forderungen der Arbeiter sind doch durchaus gerechtfertigt! Zum mindesten können sie doch verlangen, daß man ihnen den Lohn wöchentlich bezahlt und sie dort einkaufen läßt, wo es ihnen paßt!«

Die Unternehmer verzogen ein wenig das Gesicht und verschanzten sich hinter Ausflüchten, die das Althergebrachte betonten. Wollte man mit ihm brechen, so kam es wohl in erster Linie den Herren in Bilbao zu, damit den Anfang zu machen.

»Wir werden nicht von der alten Gewohnheit abweichen«, erklärte Mylord, der für die übrigen das Wort führte. »Was schadet es uns eigentlich, wenn die Arbeit zeitweise ruht? Das Erz verschwindet ja nicht inzwischen. Ob wir es nun erst im nächsten Monat fördern oder im übernächsten – zu leben haben wir, während der Hunger diese Sozialisten doch schließlich zur Arbeit zurücktreiben wird.«

Auch Don Facundo, der Pfarrer, kochte vor Zorn, allerdings mehr in seiner Eigenschaft als Hirte der rebellischen Herde denn als Unternehmer.

»Es gibt keine Religion mehr!« wetterte er. »Immer lauer wird der Glaube dank der teuflischen Propaganda dieser Schürer aus Bilbao, die jetzt sogar unsere netten, geduldigen Bergbewohner umgarnen. Neuerdings sterben die Menschen, ohne mich zu rufen. Immer weniger Begräbnisse! Da lassen sie sich von ihren Freunden zum Kirchhof bringen und nennen das ein ziviles Begräbnis! Señores, wer hätte gedacht, daß wir so etwas noch mal erleben würden? ...«

Und der Pfarrer konnte sich nicht beruhigen über solche Begräbnisse, als wären sie von allen der Religion feindlichen Handlungen die skandalösesten, diejenigen, welche seine Scham als Priester am meisten verletzten ...

In diese Epoche dumpfen Gärens platzte jäh ein großes Ereignis.

»Chiquito«, der Champion im Gesteinsbohren, hatte von einem Unbekannten aus Guipuzcoa eine Herausforderung erhalten. Die dortigen wohlhabenden Bauern sparten, wie man wußte, nicht an höhnenden Bemerkungen, daß die Bergwerksunternehmer sich wohl nicht getrauen würden, mit ihrem Helden zu kommen.

»Und ob wir kommen! ...« brüllten Gallartas Honoratioren. »Was? Mit unserem Chiquito, dem Stolz des ganzen Reviers, wollen sie anbändeln? ... Für jede Peseta, die diese kümmerlichen Agrarier riskieren, werden wir einen Duro setzen.«

Briefe wurden ausgetauscht, sogar Eilboten gingen hin und her, und schließlich einigte man sich, daß der Wettbewerb am nächsten Sonntag auf der Plaza von Azpeitia, dem Zentrum aller baskischen Feste, vor sich gehen sollte.

Was bedeutete noch Unzufriedenheit, was bedeutete noch drohender Streik? Alles wurde durch diesen Kampf, der ebenso viel Geschicklichkeit wie Kraft verlangte, in den Schatten gestellt. Gar manche Wette waren diese Männer in ihrem Rausch, das so leicht errungene Geld zu wagen, schon eingegangen – diese aber sollte die größte werden! Denn jetzt handelte es sich nicht allein um Lokalpatriotismus, sondern um Klassengeist: Bergleute gegen Ackerbürger, die einen Burschen, der vielleicht über einige Erfahrung im Bohren von Kalkstein verfügte, gegen einen wahren Künstler in seinem Fach antreten zu lassen sich erkühnten!

Der große Sonntag rückte näher, und übermütig präsentierten die Unternehmer einander die Banknotenbündel, mit denen sie diese armen Teufel von Azpeitia zu zermalmen gedachten. Wie eine Diva wurde der Chiquito verhätschelt – er durfte nicht mehr arbeiten und wohnte Abend für Abend den Gelagen seiner Protektoren bei.

»Wie steht's?« fragten sie ihn, während sie seine Armmuskeln und den gewölbten Brustkasten betätschelten und wie ein angenehmes Parfüm den Schweißgeruch seiner Achselhöhle einschnüffelten.

Der Chiquito ließ sich mit Gunstbezeugungen überhäufen und quittierte sie mit dem starren, unentwegten Lächeln eines Idols. Natürlich würde er siegen, wie immer! Und in Erwartung des großen Tages stopfte man ihn voll mit Leckerbissen und gab ihm Champagner zu trinken, sehr viel Cordon Rouge, als garantierte der teure Wein von vornherein ihres Champions Überlegenheit über jenen Rivalen, der sicher nur den süßlichen Apfelwein seiner Berge kannte.

Und Doktor Aresti? Wieder und wieder beteuerten ihm die Unternehmer, daß ihr Sieg ohne seine Gegenwart nicht vollkommen sein würde, so daß der Arzt ihrem Quälen schließlich nachgab und mitzukommen versprach.

Er war der einzige, der an ihrem Triumph zweifelte.

»Seid vorsichtig«, erklang seine warnende Stimme. »Ihr wißt nichts vom Gegner. Hingegen müssen die Leute von Azpeitia die Leistungsfähigkeit des Chiquito kennen, sonst hätten sie nie diese Herausforderung ergehen lassen. Ich wittere in dem Ganzen eine Falle.«

Ein unbändiges, wieherndes Gelächter war die Antwort.

»Was? Unser Chiquito sollte unterliegen? ... Mehr als fünfzigtausend Duros wollen wir auf ihn setzen, sofern die von Azpeitia genug Mumm haben, unsere Wetten zu halten. Ha, diesen Bauern wird die Lust vergehen, uns Bergleute noch einmal herauszufordern ...«

Die Fahrt am Sonntagmorgen nahm den Charakter eines Triumphzuges an. Chiquito war bereits am Tage vorher in Begleitung der jüngeren Unternehmer aufgebrochen, um gut ausgeruht anzutreten. Mit Doktor Aresti folgte nun Gallartas Elite, die auch den Lebensmitteltroß der Expedition mit sich führte: riesige Körbe voll Delikatessen aus den ersten Restaurants Bilbaos, Kisten und Kisten mit Champagner sowie Zigarren, Obst und dergleichen gute Dinge mehr.

»Aufgeschmissen wären wir, wenn wir nicht die Umsicht gehabt hätten, das da zu besorgen«, erklärten sie Aresti und musterten wohlgefällig den unerschöpflichen Proviant. »Zu essen versteht man nur in Bilbao. Wohin man sonst auch gehen mag, trifft man auf Wilde, bei denen unsereins, selbst mit der dicksten Brieftasche, vor Hunger oder Ekel stirbt ...«

Ihre Ankunft in Azpeitia verglich der Arzt im stillen mit einem Einbruch in Feindesland. Schon hatte das Fest mit dem Wettkampf der Ochsen begonnen, und kompakte Reihen, meistens Landleute, drängten sich auf der Plaza und in den einmündenden Straßen. Diese Männer in langen Blusen, durchweg mit einem derben Knotenstock ausgerüstet, blickten in unverhohlenem Staunen – als sähen sie eine andere Rasse – auf die arroganten Bergleute, die, um sich Platz zu verschaffen, die Hilfe des Alguazils in Anspruch nahmen, der einzigen behördlichen Gewalt bei diesem ungeheuren Menschengetümmel, in dem er lediglich vermittels eines weißen Stäbchens die Ordnung aufrechterhielt. Nüchterne und bescheidene Menschen, gewohnt an den kärglichen Ertrag ihres Berglandes! Und zwischen sie mengten sich jetzt die feisten Unternehmer in ihren feinen Anzügen und funkelnagelneuen Mützen, mit schweren goldenen Uhrketten auf dem Bauch und enormen Brillanten an den dicken, abgestumpften Fingern.

Das also waren sie, die Fremden, die ein Vermögen mitbrachten! Um sich von ihrer Bedeutung ein Bild zu machen, brauchte man nur die Blicke zu beobachten, mit denen sie Menschen und Gebäude streiften, hoheitsvoll wie Magnaten, die sich herablassen, an einem Volksvergnügen teilzunehmen ... Unter Vorantritt des Alguazils stiegen die meisten zu den von Frauen besetzten Balkonen empor, der Rest drängte sich durch bis in die vorderste Reihe hinter dem Seil, das ein Rechteck der Plaza für die Wettspiele freihielt. Bisweilen wurde der Druck der Menge jedoch so stark, daß eine Lawine die Seile zu zerreißen drohte. Aber ein Heben des weißen Stäbchens genügte, um die Menge erstarren zu lassen.

Von der Höhe eines Balkons aus sah der Doktor vier Massen dunkler Baskenmützen um den freien Raum, auf dem zwei Ochsengespanne riesige Blöcke hinter sich her schleiften, größer als Mühlsteine, die trotz des harten Bodens der Plaza tiefe Spuren eingruben. Mühselig – ihre Stirnen schienen unter dem Joch zu zerspringen – zogen die Ochsen, angetrieben von den Stachelstichen ihrer Führer, und jedesmal, wenn ein nervöser Ruck den Block einige Schritte vorwärts gebracht hatte, brauste über die Plaza das ungestüme Geschrei der Zuschauer. Jede Brust weitete sich angstvoll, als wollte sie den bebenden Tieren die eigene Kraft mitteilen.

Es war die Zerstreuung einer primitiven Rasse, eines im Kindheitsstadium befindlichen Volkes, das Kraft als höchste Offenbarung wertet. Die harte Notwendigkeit, sich das tägliche Brot durch physische Arbeit zu erwerben, ließ sie aus der Stärke einen Kult machen, und um jeder Muskelanstrengung bei der täglichen Müh und Plage einen festlichen Anstrich zu geben, nahmen sie in ihre Feste auch den Ochsen auf, den zahmen und duldsamen Gefährten ihrer ländlichen Misere.

Aresti erinnerte sich angesichts dieser rohen Vergnügungen unwillkürlich an die Feste der Griechen, die olympischen Spiele, die im Laufe der Jahrhunderte der Zauberstab der Kunst verschönt hat.

Nun ja, dachte er, sie ähneln sich, aber wie der Hahn des Geflügelhofes und der Adler, deren Ähnlichkeit sich auf das Federkleid beschränkt ...

Von dem monotonen Schauspiel auf der Plaza ermüdet, studierte er, um sich zu zerstreuen, seine Umgebung. Er sah Azpeitia zum erstenmal, diesen schönen, von Eisenbahnschienen noch unberührten Winkel des Baskenlandes, wohin sich Geist und Tradition der Rasse geflüchtet zu haben schien. Hier war der Boden des Heiligen Ignatius. Nur wenig entfernt lag im Mittelpunkt des Tals Loyola mit seinem ungeheuren Kloster. Dieses Mutterhaus, nach dem, wenn es einen neuen Ordensgeneral zu wählen galt, aus allen Punkten der Welt die Delegierten des Ordens strömten, schien seinen Schatten über die Berge und das Tal zu werfen und seine Bewohner nach des Stifters Bild zu formen.

Viele Gesichter in der Menge trugen die Züge des Sankt Ignatius. Die harten, unbeweglichen Züge von eisiger Festigkeit, von denen man wähnte, daß sie charakteristische Merkmale einer berühmten Persönlichkeit seien, waren Gemeingut einer ganzen Rasse.

Den Frauen – üppigere Figuren als in Bilbao – haftete etwas Weiches, Wollüstiges an, das den Beinamen »baskische Andalusierin«, wie die Frau des Guipuzcoalandes oft genannt wird, rechtfertigte; aber in ihren Augen lag ein mannhafter, energischer Ausdruck, der an die fanatischen Heldinnen der Vendée gemahnte. Der Haß gegen den Guiri, den spanischen Soldaten, von fernen Provinzen gekommen, um den legitimen König zu vertreiben, vererbte sich von Generation auf Generation.

Eibar mit der radikalen und wenig religiösen Arbeiterschaft seiner großen Waffenfabriken lang ganz nahe und dennoch wie fern, wie fern! Als ob die Berge zwischen den beiden Städten unübersteigbar wären ...

Sämtliche Haustüren Azpeitias zierten große Plaketten mit dem Heiligen Herzen Jesu. Das war aber auch das einzige äußerliche Zeichen von Religiosität. Man paradierte weder mit dem Glauben, noch zeigte man provozierenden Enthusiasmus – dergleichen ziemt sich für Orte, wo die Frömmigkeit nachläßt, wo die göttliche Wahrheit auf Feinde stößt. Im ganzen Tal schien noch der ruhige und vertrauensvolle religiöse Geist des Mittelalters zu leben, der Epoche, die sich, weil der Zweifel sein Haupt noch nicht erhoben hatte, am wenigsten um den Glauben sorgte. Revolutionäre Ideen an der Geburtsstätte des gesegneten Ignatius! Die Vorstellung war so absurd, so unfaßbar, daß die schweigsamen Einheimischen, die so stolz darauf waren, der Welt einen Heiligen von universellem Ruhm gegeben zu haben, milde gelächelt hätten.

Das Mittagsläuten unterbrach die Vorführungen auf der Plaza.

Die Unternehmer aus Gallarta speisten mit Aresti im Kasino, und das Knallen ihrer Sektpfropfen schuf unter den Landeskindern irgendwie eine Atmosphäre der Unruhe. Als die Unterhaltung immer lärmender, die Tabakswolke immer dichter wurde, flüchtete der Doktor, um einen Gang durch das Städtchen zu unternehmen.

Auf allen Straßen begegneten ihm neue Festteilnehmer. Karren, vollgepackt mit der ganzen Familie, während der Bauer, seinen langen Treibstachel in der Hand, vor dem Ochsengespann einherschritt; Gruppen von Knechten und Erntearbeitern mit geschultertem Stock, an dessen Ende Rock und Mütze hingen.

Nahe der Plaza wurde Aresti durch eine feste Mauer Neugieriger aufgehalten, die nach dem Balkon einer Taverne starrten. Als dort oben ein alter Mann erschien, wurde es mäuschenstill in der Straße: der ›Versolari‹ begann seinen Vortrag. Mit schrillem Ton endete die letzte Strophe, und ehe sich noch der Beifall gelegt hatte, ließ sich auf einem benachbarten Balkon ein anderer Versemacher mit der Replik auf das erste Lied hören. Solch baskische Troubadoure stellten sich zu jedem Fest ein. Sie konnten zwar nicht lesen, diese klobigen Burschen, besaßen aber Mutterwitz und die Gabe der Improvisation. Bei diesem Sängerkrieg begann einer von ihnen mit dem Thema, sicher, daß es sein Rivale sofort aufgreifen würde; und so spannen sie, immer neuen Stoff und neue Schnurren heranziehend, einen endlosen Gesangsfaden zum stundenlangen Ergötzen einer Zuhörerschaft, die die schnell gereimten Antworten bestaunte.

Von Streit und Liebe, von der Trauer des Abschiednehmens und von froher Heimkehr, von Eifersucht und Verzweiflung wußten sie zu singen; auch gepfefferter Spott über die lieben Nächsten fehlte nicht. Hingegen erwähnten sie mit keinem Wort die Schönheit ihrer Landschaft oder die majestätische Heiterkeit des Himmels. Vielleicht war ihnen die Empfindung dafür abhanden gekommen, weil diese Natur sie tagtäglich umgab; vielleicht waren sie auch blind für die Schönheit des heimatlichen Bodens, weil sie ständig mit ihm kämpfen und sich abmühen mußten, damit sein Schoß ihnen Nahrung gewährte.

Mittlerweile waren es vier Versolaris geworden, die sich ihre Entgegnungen zuschleuderten, wobei die Köpfe des Publikums jedesmal mit einem Ruck nach dem betreffenden Balkon herumfuhren. Den Vogel schien der Alte, ein zahnloser Sakristan mit boshaftem Gesicht, abzuschießen, denn ihm reichte man am häufigsten einen bauchigen Weinkrug zur Kräftigung.

Plötzlich gellten in diesen Wettstreit die irrsinnigen Skalen einer Flöte, unterstrichen vom dumpfen Wirbel des Tamburins. Zur Plaza, zur Plaza! Und Hals über Kopf stürmte alles davon, denn jetzt begann der reizvollste Teil des Festes.

Die blitzenden Äxte geschultert, betraten zuerst Holzhacker den abgesperrten Raum, schleuderten Mützen und Hanfschuhe beiseite und kletterten auf ein paar riesige Stämme, die durch eingerammte Pfähle am Hin- und Herrollen gehindert wurden.

Auf und nieder sausten die Äxte, auf und nieder ... Späne stoben ... und jeder Hieb verbreiterte die Kerbe zum Keil. Die Zuschauer errieten den Fortgang der Arbeit, ohne hinzusehen. Ihnen, die sich ihr Brennholz im Walde selbst schlugen, war das verschiedene Klingen der Axt eine Stimme, ihnen kündigte der Ton des berstenden Holzes an, wieviel zum Durchhieb noch fehlte. Ein Krachen, ganz unverkennbar in seiner Art, jagte eine Welle der Bewegung durch die Masse: ein Stamm war durchgeschlagen. Jubel, Schreien, Toben, während sich alles auf die Zehen reckte, um den Sieger zu sehen.

Wieder gellte die Chistu, wieder wirbelte das Tamburin. Der aufregende Moment, das große Ereignis, das die vielen Menschen nach Azpeitia gelockt hatte, nahte.

Und dann Totenstille. Die Stille der Arena vor dem entscheidenden Degenstich des Matadors. Nur das Tamburin dröhnte noch wie in einem einsamen Tal.

Dem pausbäckigen, glotzäugigen Champion Azpeitias war es sichtlich unangenehm, das Ziel aller Augen zu sein. Chiquito hingegen – eitel, als wäre er ein berühmter Pelotaspieler – brüstete sich mit seinem Bohrstahl und äugelte nach den Frauen auf den Balkonen.

»Olé! Olé unser Junge!« schrien die in der ersten Reihe stehenden Unternehmer, purpurrot und schwitzend bei der Verdauung des überreichlichen Mahles. »Nun, wer riskiert's? He, wer setzt noch?«

Wortkarg, beinahe ängstlich schlossen die Einheimischen die letzten Wetten ab, während die beiden Rivalen zwei flache Steinungetüme erstiegen, auf denen kleine Kreise die verschiedenen Bohrlöcher bezeichneten. Wer sie zuerst fertigstellte oder nach zwei Stunden – länger sollte der Kampf nicht dauern – seinem Gegner voraus war, hatte den Sieg davongetragen.

Jeder hockte jetzt auf seinem Stein, zwischen den nackten Füßen, deren Hacken sich berührten, den ersten kleinen Kreis. In diesem von den Füßen gebildeten Winkel würde sich der Bohrstahl heben und senken. Ein kleines, versehentliches Abweichen konnte sie verwunden, verkrüppeln. Aber es lag kein Grund zur Besorgnis vor: die Arme der beiden Männer waren gewohnt, sich mit der Präzision einer Maschine zu bewegen.

Nun gab der Leiter des Wettkampfes das Zeichen. Die hoch erhobenen Fäustel sausten nieder, und über den Platz fegte ein Geschrei, wie es das Abgehen der Pferde beim Rennen begleitet. Dann wurde es ganz still ...

Die beiden Konkurrenten waren von einigen Freunden, den sogenannten Paten, eskortiert, deren Oberkörper alle Bewegungen der Arbeitenden mitmachten. Beugten diese, das schwere Fäustel auf den Kopf der Bohrstange schmetternd, den Oberkörper nach vorn, so knickten auch sie in der Taille ein, um sich mit dem Heben der Arme wieder aufzurichten. Pendel, die das Tempo der Arbeit regulierten! Gleichzeitig feuerten sie ihre Kameraden an.

»Haup!« ... brüllten sie aus vollem Halse, »Haup!« ... bei jedem Schlage. Und die Paten mit den untätigen Armen, doch schwer arbeitenden Lungen ermüdeten weit eher als ihr Schützling, so daß sie des öfteren ersetzt werden mußten.

Der Kreis der Zuschauer verharrte in erwartungsvollem Schweigen. Nichts war zu hören als das metallische Klirren der Schläge und das regelmäßige »Haup! ... Haup!«, bisweilen unterbrochen von dem »krrt« der Rivalen, wenn sie keuchend ihren Zorn auf den feindlichen Stein auszuspucken schienen.

Chiquito arbeitete schneller als sein Gegner. So behende flitzte sein Oberkörper vor und zurück, daß seine Freunde ihm kaum folgen konnten. Nach einer Weile hielt er inne, wechselte den Platz – ein Zeichen, daß er sich anschickte, das zweite Loch in Angriff zu nehmen.

»Bravo, Chiquito!« klang es in den Reihen der Unternehmer, und die mit Ringen beladenen Hände klatschten stürmisch Beifall.

Haup! ... Haup! ... ging es monoton auf beiden Seiten weiter.

Ungestümer Schwung und intelligente Gewandtheit im Kampf gegen zähe Beharrlichkeit und ruhige Muskelkraft – Pferdemensch gegen Ochsenmensch! faßte Aresti, den wohl der Ausgang interessierte, aber die Einförmigkeit des Ganzen zu langweilen begann, sein Urteil über die beiden Rivalen zusammen.

Chiquito, hitzig in seiner Arbeitsweise, ließ den Feind von Anfang an hinter sich; der aber lag seiner Aufgabe ob, ohne etwas von seiner Umgebung zu gewahren, ohne sich zu beeilen, ohne zu verzagen ... Ihn schien das Haup, Haup, das man ihm in die Ohren brüllte, überhaupt nicht zu kümmern. Er war es, der seinen Paten die Bewegung vorschrieb, und nichts vermochte ihn zur Beschleunigung des Tempos zu veranlassen. Noch hatte er im Gegensatz zum Chiquito, der bisweilen haltmachte, um einen selbstzufriedenen Blick um sich zu werfen oder in die Hände zu spucken, nicht ein einziges Mal ausgesetzt.

Eine Stunde verfloß, ohne daß irgendein Zwischenfall den Verlauf des Kampfes änderte. Chiquito war noch immer mit einem Bohrloch im Vorsprung, und die Unternehmer fuhren fort, sich in beleidigenden Freudenausbrüchen zu ergehen.

»Wir nehmen auch jetzt noch Wetten an«, reizten sie die Einheimischen; »einen Duro für jede Peseta, die ihr für euren armen Teufel riskieren wollt.«

Und sie verhehlten nicht ihr Erstaunen, als die Leute von Azpeitia auf den Vorschlag eingingen. Welche Einfaltspinsel! Wie sie ihr Geld verlieren würden! ...

Die zweite Stunde des Schweigens.

Allgemach aber lähmte die Einförmigkeit des Schauspiels und das endlose Warten auch die Menge. Und diesem Umstande war es zuzuschreiben, daß sich keinerlei Tumult erhob, als die Überlegenheit des langsameren, doch unermüdlichen Azpeitianers über Chiquito, der den Stein unter seinen eiligen Schlägen erzittern ließ, offenbar wurde.

Nun streute Gallartas Champion nicht mehr triumphierende Blicke um sich, sondern schielte in Angst und Sorge nach seinen Protektoren. Die kurzen Pausen mehrten sich, indes das »Haup! Haup!« seiner Paten sich verlangsamte. All ihr Bemühen, ihn anzufeuern und mit sich fortzureißen, versagte jämmerlich.

Doktor Aresti beobachtete nicht ohne Unruhe die bleichen, schweißüberströmten Gesichter der Rivalen, ihre unbeweglichen, scheinbar versteinerten Beine und die angeschwollenen Arme. Bereits öfters hatten dergleichen brutale Kraftproben mit einem Herzschlage geendigt ...

Derweile schauten die Unternehmer fassungslos auf den bohrenden Gegner. Was, verschnaufte sich dies Vieh denn nicht ein einziges Mal? ... All die guten Sachen, die sie von Gallarta hergeschleppt und mit Cordon Rouge befeuchtet hatten, schienen sich plötzlich in ihrem Magen umzudrehen. Die Möglichkeit einer Niederlage begann in ihrem Geiste zu dämmern. Sie schienen sie zu wittern in der Stille, die über der Plaza lastete, in den ernsten Gesichtern ihrer Widersacher.

Habgier verdrängte die bisher zur Schau getragene Großmannssucht. Zum Teufel, sollten etwa achtzigtausend Duros in den erdigen Händen dieser Ackerbürger bleiben? ... Carajo! Wie würden die sich ins Fäustchen lachen! ...

Die Wütendsten sprangen über das Absperrseil, zogen die Röcke aus, drängten Chiquitos Paten zur Seite, um trotz aller Fettleibigkeit an deren Stelle das unaufhörliche Hinundherpendeln mitzumachen. Was die Lungen hergeben wollten, legten sie in ihr »Haup ... Haup«, als könnte Brüllen den Bohrstahl tiefer in den Stein eindringen lassen.

Als der Chiquito seine Gönner so nahe sah, riß er sich zusammen und arbeitete, von einer nervösen Energie angespornt, mit irrer Hast und furiosen Schlägen. Aber die erschöpften Muskeln gewannen wieder die Oberhand – Minuten später klirrte der Stahl kläglich im Bohrloch.

»Los, du Drückeberger! Los, du Tagedieb!« tobte es um ihn herum. »Hau zu, du Schwein! Ich sch..... auf deine Mutter!«

Und ihr Haup ... Haup verbrämten Gallartas Notabeln mit einer Auswahl drohender Schimpfworte und unflätiger Flüche, unter denen sich ihr Champion wie ein kraftloses Tier unter der Peitsche aufbäumte.

Der Kampf näherte sich dem Ende. Chiquito hatte sein vorletztes Loch kaum zur Hälfte gebohrt, während sein Rivale schon mit dem letzten begann. Nun endlich hob auch dieser vierschrötige Bursche einmal den Kopf. Er schaute um sich mit dem melancholischen Blick eines müden Ochsen, der den Horizont betrachtet, um zu wissen, ob die Sonne noch nicht untergeht und er in den Stall zurückkehren kann.

Wenige Minuten fehlten noch, und die niedergeschmetterten Unternehmer ersehnten eine Katastrophe, ein Erdbeben, irgend etwas, das ihnen die Flucht erlaubte und sie den Augen ihrer Gegner entrückte. Das Schweigen, mit dem diese ihren Sieg aufnahmen, belästigte sie mehr als die ironischen Zurufe einiger Fremden, die – das frühere Protzen der reichen Bergleute nachäffend – gegen jeden auf Chiquito gesetzten Real einen Duro 4 Mark = 1 Duro = 5 Pesetas = 20 Reales. zu halten sich erboten.

Als der letzte Schlag ertönte, durchbrach die Menschenwoge die trennenden Seile, um den Sieger auf den Schultern in die nächste Taverne zu tragen.

Umsonst sah sich Aresti nach seinen Gefährten um. Alle waren verschwunden, so geschwind und so lautlos, als hätte die Niederlage sie in Dunst aufgehen lassen. Erst im Kasino, wo sie das Vorfahren ihrer Wagen erwarteten, erblickte er sie wieder.

»Was sagen Sie dazu, Doktor?« fragten sie verzweifelt.

Der Arzt hob lachend die Schultern.

»Der Ausgang war zu erwarten. Anstatt euer Idol stetig seiner regelrechten Arbeit nachgehen zu lassen, habt ihr es wochenlang mit Champagner vollgepumpt.«

»Aha, du Canaille, hörst du, was der Doktor sagt?« schnaubten sie den auf einer Bank liegenden Chiquito an, über den mitleidige Hände eine warme Decke gebreitet hatten. »Deine verdammte Liebe zum Champagner! Wahrscheinlich warst du besoffen! Und deswegen verlieren wir über achtzigtausend Duros ... Du schamloser Strolch! Laß dich nur nicht in Gallarta blicken, sonst befördern wir dich mit Fußtritten ins Jenseits.«

Jeder mußte noch einmal seine Wut dem heulenden, kläglichen Menschen entgegenschleudern. Dann aber hatte man es eilig, fortzukommen, ohne sich um die Kollegen zu kümmern; ohne bei dieser wilden Flucht, die alle Freundschaft verwischte, auch nur daran zu denken, Doktor Aresti für die Rückfahrt einzuladen.

»Don Luis! Ach, Don Luis!« winselte der unselige Chiquito, als er sich mit dem Arzt allein sah.

Seine Stimme hatte denselben Klang kindlichen Flehens wie das Seufzen der Bergleute, wenn sich Doktor Aresti im Spital ihren Betten näherte. Vorbei die üppigen Mahlzeiten, die zuvorkommende Behandlung, der Verkehr mit den Reichen, vorbei alles, was ihm den Neid seiner Kameraden eingetragen hatte. Ein Held war er gewesen, und jetzt ... ein erbärmlicher Tagelöhner! Oh, Don Luis!

»Wie werden sie mich verhöhnen!« klang das Wimmern weiter. »Ich muß fort ... mit dem nächsten Dampfer fahre ich nach Südamerika.«

Ein Trupp Einheimischer unterbrach ihn.

»Nicht traurig sein, Chiquito! Wir haben gesehen, daß du deine Sache verstehst. Ein andermal gewinnst du. Komm zur Taverne, wo dein Rivale dich erwartet, um in guter Kameradschaft mit dir anzustoßen. Komm, komm!«

Und sie führten ihn fort, respektvoll, wie man eine dem Feinde abgenommene Fahne behandelt.

Gemächlich schlenderte Doktor Aresti zur Plaza zurück. Die mehr und mehr trunkenen Versolaris verkündeten jetzt den Triumph ihrer Heimat und flochten in ihre Strophen saftige Witze über die trostlosen Schmerbäuche aus den Minen. Langsam sank die Dämmerung. An den Türen der Tavernen schlürften die Landleute den Abschiedstrunk, bevor sie ihre Karren heimwärts lenkten.

Auf der Plaza erklang die Flöte und das Tamburin. Hier hatte sich die gesamte Jugend zum Arresku, dem großen baskischen Tanz, eingefunden. Mit feierlichem Schritt ging der Vortänzer auf den Alkalden zu, um dessen Erlaubnis einzuholen, näherte sich dann in einer Serie peinlichst genau ausgeführter Wendungen und außerordentlich gewandter Sprünge der Dame, die er zur Ballkönigin erkoren hatte. Keine Baskin, so hoch auch ihre Stellung sein mochte, würde diese Ehre zurückgewiesen haben. Selbst die Damen vom ältesten Adel hielten es nicht unter ihrer Würde, sich mit Bauern und Matrosen dem zeremoniösen Arresku hinzugeben, bei dessen vielfachen Figuren man sich kaum mit den Fingerspitzen berührte. Die Tänzerin hatte das Bild nur zu vervollständigen, in dem ihr Partner zu den Skalen der rastlosen Flöte mit der kriegerischen Mimik primitiver Völker wunderbare Sprünge und unerhörte Proben gymnastischer Behendigkeit vollbrachte.

Bei Einbruch der Nacht nahm Doktor Aresti ein Zimmer in einem Gasthaus, das hauptsächlich Leute zu beherbergen pflegte, die zur geweihten Stätte Loyola pilgern wollten; auch er beabsichtigte, ihr am folgenden Morgen einen Besuch abzustatten – einer Kuriosität, die ihn für seine Reise entschädigen würde. Der Raum, in den man ihn führte, hatte geweißte, mit Heiligenbildern geschmückte Wände und ein Kruzifix über dem Bett. Ein Vorzimmer zum Kloster ...

Um sechs Uhr morgens verließ er das Städtchen und folgte dem schnurgerade durch das Tal laufenden Wege. Während der Nacht war ein sanfter Sommerregen gefallen, der die Felder erfrischt und den Staub der Wege niedergeschlagen hatte. Auf den Bergspitzen saß eine Nebelkapuze, doch an den Abhängen tauchten zwischen dünner werdenden Schleiern bereits die kupfrigen Flecke der Steineichenwäldchen neben dem Weiß der Meierhöfe auf. Die Herden wurden ausgetrieben, und die dickwolligen Schafe hoben sich wie große, helle Steine von dem Grün der Wiesen ab.

Es schlug sieben, als Aresti das Kloster erreichte. Sein monumentaler Anblick, seine feierliche Häßlichkeit stach scharf ab von der Einsamkeit und Stille der Felder. Sperlinge jagten sich auf der doppelten Freitreppe der Kirche, flatterten weiter von Zypresse zu Zypresse und setzten sich schließlich auf die Marmorstatue des Sankt Ignatius. Rechts und links der zum Kloster führenden breiten Auffahrt boten zwei laubgedeckte Gänge, zwei Tunnel aus Schlingpflanzen, ihren grünlichen Schatten an.

Staunend betrachtete der Doktor die riesigen Dimensionen des Gebäudes. Einen gewissen Charakter konnte man ihm nicht absprechen. Die Jesuiten besaßen eben eine nur ihnen eigene Kunst, die durch Pomp und Mangel an Geschmack gekennzeichnet wurde. Es gab kein ihnen gehöriges Bauwerk, dem sie nicht, als wollten sie schon von weitem erkannt werden, diesen Stempel aufdrückten.

Den säulengetragenen Fassadegiebel der Kirche schmückte ein gigantisches Wappenschild. Enorme, in Kugeln endigende Zinnen krönten die Balustrade, hinter der die Kuppel des Gotteshauses gen Himmel strebte, ebenfalls von Zinnen und Kugeln umsäumt, wodurch es Ähnlichkeit mit einer chinesischen Pagode erhielt.

An die Kirche schlossen sich die beiden Flügel des Klosters mit ihrer dreifachen Fensterreihe an, zwei mächtige rote Backsteingebäude, bar jeglichen religiösen Merkmals. Ohne die Kuppel hätte man das Kloster gut und gern für eine Kaserne des achtzehnten Jahrhunderts halten können.

Auf der einen Seite rauschten unter einer eisernen Brücke die Wasser der Urola; auf der anderen stand ein großes Haus mit vorgebauten Arkaden, wo die Damen, die zu geistlichen Übungen herkamen, im Kloster aber nicht übernachten durften, komfortable Gastlichkeit fanden.

Aresti trat in die Kirche, einen marmorbekleideten Rundbau. Ah, welche Heiterkeit, welchen Frohsinn atmete dieser Tempel! Die Altäre waren hübsch und gefällig wie die kunstvollen Aufbauten bei einem Bankett. Und überall Marmor! Marmor, braun wie Karamel oder honiggelb; Marmor von dem Grün kandierter Früchte oder sanft erdbeerfarben; Marmor von der zarten Weiße einer Baisertorte. Alle Statuen – blitzblank, als kämen sie aus einem Porzellanladen – lächelten freundlich. Und aufwärtsblickend entdeckte man in den Sektoren der Kuppel die Wappen derjenigen Nationen, in denen der Orden am tiefsten Wurzel geschlagen hatte: die Wappen der »Provinzen der Gesellschaft Jesu«, wie er in seinem Traum von Universalherrschaft diese Länder betitelte.

Die ersten Gläubigen, schwarzgekleidete Damen in Mantilla, knieten vor dem Hauptaltar nieder und vertrieben Aresti.

Im Vorhof näherte sich ihm mit der unterwürfigen Dienstbeflissenheit aller Parasiten, die im Schatten eines vielbesuchten Monumentes leben, ein alter Bettler, und gleichzeitig liefen aus einem Pavillon neben der Freitreppe, in dem man Photographien und fromme Sächelchen feilbot, zwei Jungen herbei. Wünschte der Señor vielleicht das Haus des Sankt Ignatius zu sehen?

Über diese Konkurrenz geriet der Bettler in Zorn.

»Packt euch fort! Ergattert ihr vielleicht nicht genug mit euren Rosenkränzen und Heiligenbildchen?«

Und er war es, der den Arzt durch einen breiten, hallenden Korridor zu einem offenen Patio führte und dort an einer Kette zog. Eine verborgene Glocke ertönte, ein Schubfensterchen tat sich auf, und der Alte sprach hinein. Dann versicherte er, die Hand ausgestreckt, um ein paar Kupfermünzen in Empfang zu nehmen:

»Der Bruder Pförtner wird sofort erscheinen.«

Doch der Doktor verbrachte lange Zeit in dem Patio, wo das Regenwasser der vergangenen Nacht noch auf den Fliesen stand. Eine ganze Seite nahm die Front der alten Burg Loyola ein. Als sich das Kloster vergrößerte, hatte es dieses Kastell umklammert und in seine Neubauten einbezogen.

Die kleine Feste, die noch winziger erschien, seit das Kloster sie verschlungen hatte, war das Schönste in diesem ganzen Krempel pretentiösen Maurerhandwerks. Sie offenbarte diese Periode des Übergangs im 15. Jahrhundert: die Verschiedenheit übereinander geschichteter Geschmacksrichtungen eines katholischen Spaniens, auf dessen Gebiet noch Mauren wohnten. Der untere Teil, der größte und stärkste, bestand aus behauenen Steinblöcken mit wenigen Fenstern, und diese waren klein und tief wie Schießscharten. Ein wahrer Wall, um geschützt vor Überfällen zu leben. Der obere hingegen war leicht, aus roten Ziegelsteinen aufgeführt, und seine beiden Stockwerke umgürteten zwei Bänder mit arabischen Motiven. In den vier Ecken schlanke Türme, vier Minaretts, die den Zinnen des Gebäudes das Aussehen einer lustigen Krone gaben. Unten – erzählend von düsterem Alarm, von ständiger Angst vor Banden, die das Baskenland verheerten – die Fensterchen für Arkebusen; oben – den Arabern nachgeahmte Zierlichkeit, die Freude eines künstlerischen Volkes am Bauen verkündend – graziöse Bogenfenster, wie geschaffen, um bei Sonnenuntergang, nach der Lektüre eines Ritterromans, zu träumen ...

Aresti glaubte in dem Gebäude etwas von dem Dualismus zu erkennen, den der Charakter des Caballero Iñigo de Loyola in seiner Jugend aufweist. Hernach allerdings, als sich sein Trachten kristallisiert, als sein Wille endgültige Formen annimmt, geht in seiner Seele das maurische Schlößchen mit der lustigen Krone in Rauch auf, und nichts bleibt übrig als die steinerne Basis mit ihrem finsteren Aussehen von Kerker und Festung zugleich.

»Einen gesegneten Tag!« sagte da mit honigsüßer Stimme der Bruder Pförtner, während seine Augen im selben Moment, als der Kopf sich zum Gruß neigte, den Besucher mit einem raschen Blick abschätzten.

Es war ein junger Mann, der durch seinen dünnen Hals, der den Schädel noch größer erscheinen ließ, und durch die Form seiner Ohren, fächerähnlich geöffnet, als ob sie fortflattern wollten, unbedingt die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Hinter den seltsamen Ohrmuscheln blühte auf der Haut eine Unzahl von Schorfen und Grinden, die einen schon getrocknet, die anderen eiternd, so daß sie die Fliegen anlockten.

Unter der Kutte guckten ein Paar Tuchpantoffeln hervor, die es ihm wie den anderen dienenden Brüdern ermöglichten, lautlos durch die Klostergänge zu gleiten, ohne die Meditationen der Patres zu stören.

»Alles zur größeren Ehre Gottes!« murmelte er demütig, als seine Babuschen in den Pfützen des Patio naß wurden.

Über eine Treppe, die auf jedem Absatz mit Bildern geschmückt war, geleitete er Aresti in das zur Kapelle umgewandelte frühere Schlafzimmer des Heiligen. Als erstes mußte dem Fremden die ungemein niedrige Decke auffallen, die ein ausgestreckter Arm berühren konnte. Mit der Schwere ihres ungefügen, ganz in Gold gehaltenen Gebälks, dessen tiefe Felder Blumenornamente zeigten, schien sie den Besucher erdrücken zu wollen.

Voller Stolz erläuterte der Bruder die Herkunft der Gemälde und kostbaren Wandbehänge: Geschenke von Königinnen oder Prinzessinnen als Dankesbezeigungen dem Orden dargebracht, weil er sich ihrer Gewissen angenommen hatte. Im Hintergrund stand der Altar, in dessen unterem Teil die Andächtigen hinter einer Vitrine ein wahres Wachsfigurenkabinett bewundern konnten. Ein Ritter, ausgestreckt auf einem Kissen, las dort in einem Buche; er trug Kniehosen und eine pelzverbrämte Pelerine, genau wie ein Liebhaber der klassischen Theaterstücke. Versteckt angebrachte elektrische Birnen beleuchteten diesen Jahrmarktszauber.

Obgleich der Bruder jahraus, jahrein die Besucher belehrte, vibrierte seine Stimme vor Bewegung bei der Erklärung, daß diese Figur Don Iñigo de Loyola sei, als er noch keineswegs daran dachte, ein Heiliger zu werden oder den Orden zu gründen. Sie stellte ihn dar, wie er als Verwundeter – das Bein durchschossen von einer Kugel, die ihn bei der Belagerung von Pamplona traf – sich auf dem Krankenbett mit der Lektüre des Lebens der Jungfrau Maria beschäftigte, was den Anlaß zu seiner Bekehrung gab.

»Die göttliche Gnade senkte sich auf ihn herab, so daß er seinem früheren Leben den Rücken kehrte, trotzdem er ein sehr galanter und weltlicher Ritter war. Denn unser heiliger Vater Ignatius war Soldat – verstehen Sie? – Soldat! ...«

Soldat! Das Wort schwoll, blähte sich im Munde des Bruders. Kränklich und zaghaft, betete der arme Mensch die Kraft, die Verwegenheit, die in die Augen stechenden bunten Uniformen an, und bei dem Gedanken, daß der Ordensstifter Soldat gewesen war, lächelte er verschmitzt. Malte er sich kecke, frivole Abenteuer eines Söldnerführers aus, die zweifellos auch dem Heiligen einst begegnet waren? ... Loyolas Adel und seine Kavaliersvergangenheit erfüllte ihn mit ungeheurem Stolz. Die anderen Orden? Sie nannten elende Eremiten, verlauste Heilige, die aus den untersten Schichten stammten, ihre Stifter! ...

Während der Bruder sprach, betrachtete Aresti die auf dem Kissen ruhende Wachspuppe und dachte nach über den düsteren Mann, diesen Basken mit dem komplizierten Charakter, dessen einzelne Lebensphasen in heftigem Widerspruch zueinander stehen.

Zuerst tritt der anmaßende, elegante Soldat auf den Plan, der seinen Körper martert und verstümmeln läßt, um schön zu sein und die ursprüngliche Derbheit zu verlieren. Als er sich dann überzeugt, daß ihm im weltlichen Treiben keine Triumphe mehr winken, steigt in ihm der Fanatismus seiner Rasse mit der ganzen Stärke eines mächtigen Willens auf ... Der Wahnsinn der Heiligkeit nimmt von ihm Besitz. Er ist gleichzeitig demütig und wild; verwandelt sich in einen Eisenfresser zu Ehren der Madonna, will auf einen Mauren, der ihren heiligen Namen lästert, mit Dolchstößen los und läßt sich kurz darauf von den Kindern Salamancas, die ihn wegen seiner frommen Extravaganzen, mit denen er Franz von Assisi nacheifert, für irre halten, widerstandslos mit Steinen bewerfen.

Aber mit dem positiven, praktischen Charakter eines Basken verträgt sich weder des einsamen Francescos poetische Süße noch seine träumerische Heiligkeit. Wenn ein Baske sich schon Gott widmet, so soll es zu einem irdischen und unmittelbaren Zweck sein. Gut ist die Heiligkeit – doch sie muß zu etwas Sichtbarem, zu etwas Greifbarem dienen. Die Instinkte des Streiters erwachen wieder in ihm. Er sieht, daß die von Luther bekämpfte Kirche Hilfe benötigt, und führt in die Religion die Disziplin des Kriegslagers ein, indem er keinen Orden, wohl aber eine Kompagnie Der Jesuitenorden heißt auf spanisch »Compañía de Jesus«. aufstellt, ein schwarzes Heer organisiert, das er den Päpsten anbietet und dessen Soldaten er in der Form seines eisernen Willens gießt – ohne Familienbande, ohne eigenes Denken, mit der Starrheit von Automaten und der Unempfindlichkeit, die unbesiegbar macht. Der Asket wird zum Anführer, und in dieser dritten Phase seines Lebens nimmt der von den Kindern gesteinigte Vagabund die Allüren eines Vizepapstes an, läßt sich von den Seinigen General nennen, residiert in Rom unter Fürsten, mischt sich in die verwickelten europäischen Intrigen und stirbt befriedigt im Gefühl seiner Macht und im beruhigenden Bewußtsein, den Katholizismus für den Augenblick gerettet zu haben, indem er ihm die romanischen Völker erhielt ...

Alles in allem: ein vollendeter Typ seiner Rasse! lautete Arestis Urteil. Unfähig, sich lange Zeit über immaterielle Dinge Illusionen zu machen, instinktiv Macht und Reichtum aus der asketischen Heiligkeit ziehend, die so viele andere mit gegeißeltem Körper durchgemacht haben, ohne anderen Besitz als den Strick, der ihre Lenden gürtete.

Er war ein bewunderungswürdiger Praktiker auf dem Gebiete der Religion gewesen, der rechtzeitig genug auftauchte, um den Laden Roms vor dem drohenden Bankerott zu retten, der Ordnung in die Geschäfte brachte, neue Ziele angab, seine Kompagnie rekrutierte und für den Katholizismus einen Stab von Reisenden drillte, die auf der ganzen Welt menschliche Leidenschaft und menschliche Schwäche zur größeren Ehre Gottes ausbeuten.

Der Bruder Pförtner riß den Arzt aus seinen Reflexionen.

»Dieser goldene Reliquienschrein im oberen Teil des Altars birgt das Herz des Heiligen, das einzige, was wir hier von unserem Stifter bewahren, denn sein Leib ruht, wie die ganze Welt weiß, im Gesu zu Rom.«

»So ist's. Ich habe das Grab gesehen.«

Ohne sich über die Beweggründe im klaren zu sein, fühlte Aresti das Bedürfnis, den simplen Laienbruder, der es für so selbstverständlich hielt, daß sich die gesamte Menschheit für die Ordensangelegenheiten interessierte und wußte, wo die Gebeine des Ignatius ruhten, durch eine Flunkerei zu blenden. »Ah, der Señor ist in unserem Rom gewesen!« rief der Pförtner mit einem huldigenden Blick.

»Ja. Gelegentlich der letzten Wallfahrt.«

Worte und Gesten des Bruders änderten sich. Jetzt war Aresti nicht mehr einer von den vielen, die nur Neugierde herzog – häufig genug Häretiker aus Ländern, die den Orden mißachteten. Er gehörte zur Familie, man konnte sagen, beinahe zum Hause. Und im Bestreben, ihm alles aufs beste zu zeigen, erging er sich in einem Wortschwall, wie er den zu langem Schweigen verurteilten Menschen eigen ist.

Vor einer kleinen Tür, unmittelbar neben dem Altar, trat er zur Seite, um dem sympathischen Señor den Vortritt in ein kleines, nur mit einem Altarblatt geschmücktes Gemach zu lassen.

»Hier lag unser heiliger Stifter krank«, verkündete seine süßliche Stimme, »und hier vollzog sich seine Bekehrung. Er bat seine Familie um ein Buch mit ritterlichen Abenteuern; aber da Gott sein Auge auf ihn gerichtet hatte, fand man keins, trotzdem solche Bücher überreichlich im Hause vorhanden waren. So las er denn die Geschichte der Jungfrau Maria und entschied sich sofort, auf die Welt zu verzichten.«

Des Bruders Zeigefinger wies auf einen langen Riß in der Wand.

»Schauen Sie sich das an, Señor. Von draußen kann man sehen, daß der Spalt bis zum Erdboden durchgeht. Der Teufel verursachte ihn. Im selben Moment, als der Ritter sein Leben Gott zu widmen beschloß, bebte der Boden, zitterte das Haus ... So nahm der Böse den Entschluß des Heiligen auf.«

»Wahrscheinlich aus Wut«, sagte Aresti mit unerschütterlichem Ernst.

»Aus Wut und aus Angst. Vielleicht schlotterte der Teufel, weil« – der Bruder Pförtner bewies echte Bescheidenheit! – »weil er ahnte, daß Don Iñigo unseren Orden gründen würde.«

Da der nächste Raum auf der anderen Seite der Kapelle lag, mußten sie am Altar vorbeigehen, und der Doktor konnte nochmals die Art bewundern, wie der Laienbruder sein kurzes Gebet verrichtete. Sein Oberkörper blieb stocksteif, die Hände waren auf der Brust gefaltet, während der Hals sich nach oben verlängerte wie bei einer Giraffe, die das Dach berühren möchte.

»In diesem Zimmer kam unser Stifter zur Welt«, nahm die Erklärung des Führers ihren Fortgang. »Und hier war es auch, wo der Pater Garrido seiner wunderbaren Offenbarung teilhaftig wurde. Sie werden sicherlich davon erfahren haben ...«

Als der fremde Herr stumm blieb, fuhr er etwas ungeduldig fort:

»Aber Sie wissen doch wenigstens, wer Pater Garrido war?«

»Natürlich«, antwortete der Doktor, obwohl er den Namen zum erstenmal hörte.

»Das dachte ich mir. Wie könnte auch jemand wie Sie unseren Pater Garrido nicht kennen! Die Kanonisationskommission in Rom hat sich vorgenommen, ihn, sobald die hierfür nötige Frist abgelaufen ist, heilig zu sprechen. Also in diesem Zimmer erschien ihm in der Ekstase die Jungfrau Maria und kündigte ihm zweiundzwanzig Monate vorher den Sturm auf die Klöster an, der in den ersten Regierungsjahren von Isabella II. stattfand.«

»Und infolgedessen fiel von den rechtzeitig gewarnten Patres der Gesellschaft Jesu niemand den Unruhen zum Opfer«, ergänzte Aresti.

»Leider war es nicht so, Señor. In Madrid wurden mehrere getötet, denn Pater Garrido verschwieg aus Bescheidenheit seine Gesichte und gab sie erst bekannt, als die Nachricht von dem Morden hier eintraf.«

Die Besichtigung des Geburtshauses von Sankt Ignatius war nunmehr beendigt. Doch da es dem Bruder Pförtner offenbar leid tat, sich so schnell von dem angenehmen Begleiter zu trennen, sagte er mit einer kleinen Verbeugung:

»Ich möchte Ihnen auch das Kloster zeigen.«

Diese Einladung ließ er durchaus nicht an jeden ergehen. Aber mit dem frommen Herrn, der eine Wallfahrt nach Rom gemacht hatte, lag die Sache anders ...

In der überdachten Galerie, die Burg und Kloster verband, arbeitete ein halbes Dutzend Schreiner und Maurer in Hosen und Blusen von demselben Himmelblau wie der Mantel der Madonna. Man sah es den stämmigen Burschen aus den Bergen an, wie froh sie waren, die ewige Plackerei der Feldarbeit mit dieser geruhsamen Arbeit vertauscht zu haben, die ihnen obendrein noch das Heil ihrer Seele verbürgte.

»Wollen Sie zur Bibliothek hinaufsteigen?« fragte der Pförtner. »Es gibt dort zwar nicht viel Sehenswertes; fast alles in ihr ist alt.«

Und ohne mit der Wimper zu zucken, versetzte Aresti:

»In der alten Zeit war alles besser.«

»Ach, wenn doch jeder so dächte! ... Aber die Menschen von heute lesen nur noch Romane und schlechte Bücher gegen die Religion.«

Die Bibliothek lag im obersten Stockwerk. Ein großer Saal, durch dessen Fenster der Blick bis zu den grünen, jetzt nebelfreien Bergen schweifte. Auf einigen der ringsum laufenden Bücherbretter standen in Pergament gebundene Ausgaben griechischer und lateinischer Klassiker, daneben theologische Autoren. Auf dem ganzen übrigen Platz machte sich Literatur über den Orden breit; jedes gegen oder für den Orden geschriebene Buch konnte man hier finden. Tatsächlich, diese Bibliothek war alt, sie roch nach Gruft.

Ein Stockwerk tiefer mußte Aresti auf Wunsch des Bruders eine der Zellen betreten, in denen die Weltkinder während ihrer zehntägigen geistlichen Übungen wohnten. Am Fenster ein Tisch und zwei Strohstühle. Das eiserne Bett hinter einem Verschlag, den eine rote Gardine absperrte.

»Ärmlich, aber sauber. Bankiers, Generale, sogar Minister kommen hierher. Und alle fühlen sich glücklich in dieser Dürftigkeit, weil sie ihre Seele reinigen.«

Die Kreuzgänge schmückten alte Gemälde, die zwar keinen Kunstwert repräsentierten, doch immerhin von einem gewissen historischen Interesse waren. In langer Reihe sah man hier alle durch Abenteuer und Gefahren berühmt gewordenen Patres der Gesellschaft. Schrittmacher des Jesuitismus, die bei der ersten Expansion des neu gegründeten Ordens sich über den größten Teil der Erde verstreut und sich biegsam und geschickt dem Geschmack und den Gewohnheiten der Länder, wo sie sich niederließen, angepaßt hatten. Da gab es Langbärte in Pelzmänteln, Pelzmützen und hohen Stiefeln, deren Tätigkeitsfeld der hohe, eisige Norden Europas gewesen war, neben anderen, die das blumendurchwirkte Seidengewand der chinesischen Aristokratie trugen, Mandarinen geworden waren und den Söhnen des Himmels hatten Rat erteilen dürfen. Und zwischen den vom Glück begünstigten Reisenden hingen die Märtyrer, umgekommen unter den Pfeilen der Tataren und den Schwertern der Japaner. Asien mit seinen riesigen, im Starrkrampf befangenen und unempfindlichen Reichen hatte diese Propagandisten der Autorität und des automatischen, unterwürfigen Lebens am meisten gereizt.

Doktor Aresti sah auch noch das gesamte übrige Kloster: das Refektorium mit dem Pult des Vorlesers; den Vorraum mit dem Springbrunnen aus dunklem Marmor, an dessen vier Wasserstrahlen bejahrte Laienbrüder Geschirr und Gläser spülten; die den geistlichen Übungen gewidmete Kapelle, an deren Tür die Patres ein Tablett stellten, damit die Weltkinder in einem verschlossenen Umschlag ihre Gesuche an die Madonna darauf niederlegten; die geräumige Küche, wo man ihm das unabänderlich aus drei soliden Gerichten zusammengesetzte Menü pries, und endlich den Spiegelsalon, den einzigen Raum, in dem Laien wie Patres eine Zigarette rauchten. Denn obwohl das Rauchen in den anderen Klosterräumen nicht direkt verboten war, wurde es doch von den Superioren nicht gern gesehen.

»Jetzt bleibt uns nur noch der Garten«, bemerkte Arestis williger Führer.

Ein von hohen Mauern umschlossenes Idyll. Alleen von Obstbäumen, in deren Kronen jubilierende Vögel wenig Rücksicht auf das klösterliche Schweigen nahmen; farbenprächtige Blumenrabatten mit Gemüsebeeten wechselnd. Und in der Mitte ein kleiner Meierhof mit Milchkühen und grunzenden Schweinen ...

Am Ende des Weges, dem sie folgten, ging ein Klostergast spazieren.

Aresti sah nur den Rücken des Einsamen und beeilte seinen Schritt, als hätte ihn plötzlich ein Zweifel befallen, den er zu klären wünschte.

»Das ist ein sehr, sehr reicher Herr«, tuschelte ihm der Bruder zu. »Seit sechs Tagen weilt er bei uns, um sich den geistlichen Übungen zu unterziehen. Ich glaube, er ist aus Bilbao und ...«

Doch bevor der Name fiel, drehte sich der Spaziergänger, der das Geräusch ihrer Schritte vernommen haben mochte, um.

»Pepe! ...« schrie der Doktor.

»Luis!« Mehr konnte auch Sanchez Morueta in seiner Überraschung nicht hervorbringen.

Doch sobald der erste Eindruck abgeebbt war, machte er eine verdrießliche Geste, etwa wie ein Schlafender, der jäh geweckt worden ist.

Der Bruder Pförtner hatte sich schon diskret nach rückwärts verzogen, denn dieser Nabob, den sämtliche Patres ungemein entgegenkommend behandelten, der in seiner Zelle rauchen, zu jeder Stunde den Garten aufsuchen durfte und noch andere ebenso unerhörte Privilegien genoß, flößte ihm tiefen Respekt ein. Auch der sympathische Señor wuchs in seinen Augen zu einer Person von immenser Bedeutung, da er mit dem anderen auf so vertrautem Fuße stand.

Die beiden Vettern sahen sich minutenlang schweigend an.

»Du hier? ...«

Der Ton von Arestis Frage verriet sein ungeheuerliches Staunen.

Sanchez Morueta lächelte – auf eine Art, die sein Vetter nie bei ihm wahrgenommen hatte. Es war ein Ausdruck resignierter Demut, eines absoluten Willenverfalls. Ganz einfach, als wäre seit ihrem letzten Zusammensein gar nichts Außergewöhnliches mit ihm vorgegangen, berichtete er:

»Cristina und Pepita begleiteten mich. Sie wohnen in der Dependance. Auch andere Familien aus den besten Kreisen Bilbaos sind hier, um den geistlichen Übungen obzuliegen ... Mir fehlen noch vier Tage.«

»Und du fühlst dich wohl? Dir sagt dies Leben zu?«

»Ja«, antwortete der Millionär. »Du brauchst mich nur anzusehen, um zu wissen, wie wohl es mir tut.«

Wirklich erinnerte nichts an den Kranken, den Aresti bei seinem letzten Besuch in Las Arenas vorgefunden hatte. Sein Blick war ruhig und fest, die Haut wie früher blutdurchpulst.

Mit sichtlicher Genugtuung begann er seinem Vetter von den vielen Beschäftigungen zu erzählen, die jeder Tag ihm brachte.

»Um halb sechs stehe ich auf und muß von sechs bis halb sieben in der Kapelle Anregung aus diesem Buche schöpfen, das mich ständig begleitet. Die nächste Stunde ist der Meditation gewidmet. Anschließend höre ich die Frühmesse, frühstücke und ruhe mich aus oder gehe hier im Garten spazieren. Zwei Stunden – von zehn bis zwölf – sind wieder mit Meditation ausgefüllt. Mittags besucht mich regelmäßig der Leiter meiner geistlichen Übungen. Dann bete ich im Klostergang den Kreuzweg und gehe gegen ein Uhr zu Tisch, um hinterher bis vier Uhr auszuruhen. Gleich darauf wohnen alle im Kloster befindlichen Laien dem Vortrag eines Paters über das christliche Leben bei. Um sieben Uhr folgt die Anbetung des Heiligsten Altarsakraments, der Rosenkranz, die Erinnerung an die Schmerzen und Wonnen des Heiligen Joseph und als Abschluß die Gewissenserforschung, bei der ich meinen ganzen Tageslauf durchzugehen habe, alles, was ich tagsüber dachte. Pünktlich um neun Uhr wird das Abendessen serviert, und ein wenig später gehe ich zu Bett.«

Der Mann, der in der Welt Tausenden befehlen konnte, empfand ein sonderbares Behagen, sich zu fügen, einem anderen Willen, der ihn unterjochte, blindlings zu gehorchen. Die armselige Zelle nicht minder als die derbe Kost des Refektoriums lösten nach den vielen Jahren üppiger Lebensführung in seinem Palais eine seltsame Befriedigung in ihm aus. Anfänglich war es hart für ihn gewesen; nun aber gab er sich ganz dem Zauber hin, ein Nichts zu sein, gelenkt zu werden, jede Willensregung zu bekämpfen und – ganz klein geworden – nur noch an den Tod zu denken, das Siegel menschlicher Nichtigkeit.

Bilbao, von dessen fieberhaftem Hasten nach Gewinn so gar nichts in diesen stillen Winkel drang, schien für ihn auf einem anderen Planeten zu liegen.

»Mir geht es besser als je, Luis. Die Zufriedenheit, die aus den Augen meiner Frau und meiner Tochter leuchtet, geht mir zu Herzen, und ich bin sicher, daß wir von nun ab eine wahrhaft christliche Familie bilden werden im Sinne von ...«

Er hielt inne, als schämte er sich, vor seinem Vetter den Namen laut werden zu lassen, an den er dachte. Doch gleich darauf dieses Zögern als Sünde bereuend, fuhr er energisch fort:

»Im Sinne von Pater Pauli. Jawohl, Luis, mein Glaube an die Schlechtigkeit der Jesuiten war ein grober Irrtum. Ah, wenn du doch auch mit diesen ausgezeichneten Menschen in Verbindung treten wolltest! ... Wenn ich keine Familie hätte, würde ich für immer hierbleiben. Hier ist das wahre Leben! Außerhalb dieser Mauern gibt es – du weißt es ja – nur Kummer und Verwünschungen.«

Aresti beobachtete seinen Vetter die ganze Zeit über mit gespannter Aufmerksamkeit, als hätte er einen ganz besonders interessanten Krankheitsfall vor sich.

»Und was trägst du da bei dir?« fragte er plötzlich, nach dem Buch in Sanchez Moruetas Hand greifend.

Ein Blick auf den kleinen Pappband mit dem groben, gewöhnlichen Druck der Erbauungsbücher zeigte ihm, daß des Industriefürsten ständige Lektüre die »Geistlichen Exerzitien des Heiligen Ignatius« waren, erläutert vom Pater Claret, dem bekannten Erzbischof von Trajanopolis, unter dessen allmächtigem Einfluß Isabella während ihrer letzten Regierungsjahre stand.

Verschiedentlich hatte Doña Antonieta das Büchlein auf den Schreibtisch ihres Gatten geschmuggelt, und Aresti erinnerte sich sofort des eigenartigen Stils, bei dem Frömmigkeit so kriegerische Töne anschlägt. Zwei Banner nennt es: »Das eine Banner von unserem Herrn Jesus Christus, dem Oberbefehlshaber – das andere von Luzifer, dem Todfeind unserer menschlichen Natur.« Und des heiligen Ignatius wie auch des Paters Claret Beredsamkeit entflammt sich nun bei der Beschreibung der Hölle. Das Feuer an diesem Orte der Verdammnis war so heftig, daß »ein einziger Funke einen Mühlstein in Staub verwandelt; fällt der Funke auf eine Bronzekugel, so schmilzt diese, als wäre sie aus Wachs; fällt er jedoch auf einen zu Eis erstarrten See, so bringt er ihn im selben Moment zum Sieden.« Den Verdammten aber verbrennt dieses Feuer »Gehirn, Zunge, Zähne, Kehle, Leber, Lunge, Eingeweide, Bauch, Herz, Adern, Nerven, Knochen, Mark, Blut und sogar die seelischen Kräfte«. Und nach dieser grausigen Aufzählung fragt Sankt Ignatius die Seele des Sünders, wem sie zu folgen wünsche. Gott oder dem elenden Luzifer, der mit plumper Verschlagenheit kurze irdische Freuden um den Preis ewiger Feuerqualen bietet! Konnte die Antwort zweifelhaft sein? ... Gott folgte, nach den heiligen »Geistlichen Exerzitien«, die Seele.

Auch Sanchez Morueta sprach schon wieder von ihnen. Die ersten Tage im Kloster waren der Meditation über die Todsünde, über den Tod und die Hölle gewidmet. Nach dieser Vorbereitung dachte man mit Hilfe dieses Büchleins über die ewige Gnade und Barmherzigkeit Gottes nach.

»Wie, Pepe? Du glaubst ernstlich an diese wirren Phantasien von Hölle und Paradies, wie sie dein Buch schildert?«

Arestis fester Blick brachte Sanchez Morueta ein wenig aus der Fassung.

»Ernstlich glauben? ... Das kann ich nicht so kategorisch behaupten. Mich bestürmen schon mancherlei Zweifel, über die ich aber schweige, um meinen geistlichen Führer nicht zu betrüben. Doch das Ganze verschafft mir ein gewisses Wohlsein. Die Ruhe der Kinderjahre kehrt zurück ... manchmal ist mir sogar, als summte man mich wieder mit alten Kindermären in den Schlaf.«

Der Arzt lächelte, und sein Vetter beeilte sich hinzuzufügen:

»Lassen wir das! Ich fühle mich so jedenfalls glücklicher als früher. Überdies behandeln diese Betrachtungen etwas, das auf mich tiefen Eindruck macht und das weder du noch irgend jemand leugnen kann: den Tod! Wir werden alt, Luis – er kommt, und durch keinerlei Mittel, nicht durch Reichtum und nicht durch Flehen, läßt er sich erweichen. Seitdem ich nun nichts mehr begehre, seitdem nichts mehr vor mir liegt, was ich erobern kann, fürchte ich ihn.«

Die verzweifelte Angst vor dem Unbekannten, dem Unvermeidlichen, dem ewigen Schatten, verzerrte Sanchez Moruetas Züge, und Aresti fiel die dem Tode gewidmete Seite des Büchleins ein, eine Seite von brutalem Realismus, die die Frauen vor Entsetzen weinen ließ. »Seht, was in jenem Körper vor sich geht: vor kurzem noch schön und vergöttert, jetzt tot, begraben, verfallen ... Schmeißfliegen, Käfer, Kröten, alles schmutzige Gewürm nähert sich ihm, um in dem üblen Geruch, in dem fauligen Eiter, der bereits zu laufen beginnt, zu schwelgen. Dann kommen die Ratten, durchnagen die Kleider oder das Totenhemd, verwickeln sich in den Haaren, schlüpfen in den Mund und fangen an, die Zunge zu fressen. Hiermit fertig, tauchen sie wieder auf, um zwischen Haut und Kleidern alles zu untersuchen. Mittlerweile schreitet die Verwesung immer mehr fort. Es wimmelt von zahllosen Würmern – sie verzehren das Fleisch vom Bauch, vom Gesicht, vom ganzen Körper ... Die Mahlzeit ist beendet; die Würmer lassen nichts mehr zurück als ein paar nackte Knochen; auch diese zerfallen mit der Zeit. Daher, erinnere dich, o Mensch, daß dein Leib Staub ist und wieder zu Staub werden muß.«

»Lies das!« rief der Millionär, das Buch an einer Stelle öffnend, die er, als könnte er von ihr nicht los, angezeichnet hatte. »Der Tod! Der Tod! Oft und oft spricht man von ihm, ohne sich indes vorzustellen, wie er in Wirklichkeit ist, ohne ihn aus der Nähe zu betrachten ... Entsetzlich! Das ganze Leben kämpfen, um dem Fleisch Befriedigung zu verschaffen und so den Weidegrund der Würmer vorzubereiten ...«

Seine Stimme sank zu einem Flüstern.

»Irgend etwas muß es nach dem Tode geben. Ich bin nur nicht unbedingt sicher, ob es so sein wird, wie die hier drinnen oder wie die anderen sagen. Doch was verliere ich, wenn ich mit geschlossenen Augen glaube? ... Vor allem gewinne ich damit meinen häuslichen Frieden, und für den Fall, daß es noch ein anderes jenseitiges Leben geben sollte, ist es gut, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.«

Aresti konnte sich eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren angesichts dieses Krämergeistes, der ein künftiges Leben mit schnöder Berechnung ins Auge faßte, als taxierte er die Möglichkeiten eines Geschäftes ab.

Jetzt, ja jetzt war es unwiderruflich, daß er seinem Vetter für immer Lebewohl sagte. Sanchez Morueta war gut eingewickelt worden: man hatte bei ihm die Furcht vor dem Tode und den Egoismus, die beiden Schwächen der Glücklichen dieser Welt, auszubeuten verstanden ...

»Du solltest hierbleiben, Luis, oder bisweilen herkommen. Die Patres sind ein so angenehmer Umgang. Selbst wenn du nicht gläubig bist, so kannst du es verschweigen und glücklich sein. Wozu nützt dir alles Studium? Bist du sicher, daß das, was du glaubst, Wahrheit ist? Und wenn du nach dem Tode inne wirst, daß du dich in einem ungeheuren Irrtum befandest, daß doch ein Jenseits existiert? ...«

Aresti drückte ihm die Hand, höflich, ohne Wärme. Wie Fremde würden sie sich hinfort gegenüberstehen!

Der Bruder Pförtner schien es plötzlich eilig zu haben, ihn aus dem Kloster hinauszugeleiten; wahrscheinlich hatte er doch einen Teil der Unterhaltung erlauscht.

An der Gartentür drehte sich Doktor Aresti ein letztes Mal um nach seinem Vetter, dessen Blick ihm folgte und noch einmal eindringlich zu sagen schien: »Der Tod, Luis! ... Denk an den Tod!«

 

An einem Septembersonntag traf Doktor Aresti um zehn Uhr vormittags in Bilbao ein. Der Zug war vollgepfercht mit Arbeitern aus den Bergwerken und den Fabriken an der Flußmündung, die es alle nach der Plaza de Toros drängte, wo der seit zwei Monaten drohende Generalstreik erklärt werden sollte. Schon die Frühzüge hatten große Massen gebracht, und die Bürger der Stadt sahen nicht ohne Unruhe diese Menschenflut durch ihre Straßen wogen.

Jedoch nicht alle lenkten ihre Schritte zur Stierkampfarena. Den Waggons entstiegen auch kleine Gruppen von Landleuten, die nachmittags an der großen Wallfahrt zum Heiligtum von Begoña teilnehmen wollten.

Die große Manifestation der Arbeiterschaft und das von den Jesuiten organisierte Fest fanden an demselben Tage statt, und eine kriegerische Atmosphäre, die die Nerven aufpeitschte und Blick und Wort hart machte, schien auf der Stadt zu lasten.

Schon unterwegs hatte Aresti die Verfassung der Gemüter abschätzen können. Beide Parteien maßen einander feindselig; doch vorläufig streichelten die Bauern nur unruhig ihre eisenbeschlagenen Knüppel. Sie schwiegen, weil sie sich auf dieser der Industrie untertanen Eisenbahnlinie erheblich in der Minderzahl befanden. Aber wehe, wenn man sie in einem der Durangozüge verhöhnt hätte, auf denen die gläubige Herde in geschlossenen Massen, Fahnen und Kapläne an der Spitze, anrollte ...

Auf dem Bahnsteig hörte der Arzt, daß jemand ihn rief.

Es war Kapitän Iriondo, in einem abgetragenen Jagdanzug, die Flinte auf dem Rücken. Hinter ihm schnüffelte neugierig sein Hund.

»Du kommst wohl, um dir den Tumult anzusehen, Luis? ... Und ich drücke mich. Mir ist ein Jagdtag in den Bergen lieber als das Durcheinander hier. Es riecht nach Pulver, lieber Planet, es wird Prügel setzen. Sozialisten und Republikaner sammeln sich in der Arena, während die anderen sich in den Sakristeien ihre Revolver zeigen. Der Pater Pauli predigt seit Monaten, daß man für seinen Glauben auch zu sterben imstande sein muß, und dieses Großmaul Urquiola stachelt alles, was in Deusto studiert hat, auf, im Namen Gottes zu töten ...«

»Dann ist es also allerhöchste Zeit«, versetzte der Doktor, »daß sich Bilbao gegen den Feind erhebt, der sich in seine Eingeweide einschlich, nachdem er zweimal – damals unter der weißen Karlistenmütze – vor unseren kümmerlichen Schützengräben dezimiert wurde. Und ich will zugegen sein, wenn die Arbeiter und die kleinen Handwerker der Stadt sich zum erstenmal an den Jesuitismus wagen.«

»Darin hast du recht, Luis«, sagte Kapitän Iriondo, sich ereifernd. »Was ist aus unserem Bilbao geworden! ... Man kann keinen Schritt mehr tun, ohne auf einen Pfaffen zu stoßen. Dieselben Leute, die die Stadt vor Jahren vergeblich bombardierten, stolzieren umher, als wären sie die Herren. Tausende sind herbeigeströmt, um der Jungfrau zu huldigen; dabei blicken sie aber, die Waffe in der Tasche, jeden derart unverschämt an, als könnten sie es nicht abwarten, Sozialisten und liberale Hunde zu massakrieren. Besser, ich mache mich aus dem Staub, Luis – wenn ich bleibe, kann ich nicht untätig zusehen. Schließlich bin ich nur ein Angestellter, abhängig von Sanchez Morueta. Stell dir vor, was Doña Cristina tun würde, wenn sie mich meine Fäuste gebrauchen sähe! Und Pepe, der nicht mehr unser alter Pepe ist! ... Es ist ohnehin für mich nicht leicht, mich meiner Haut zu wehren, denn wenn ich es den beiden recht machen wollte, müßte ich heute nachmittag mit nach Begoña wallfahrten!«

Seit der Begegnung im Kloster von Loyola hatte Aresti nichts mehr von seinem Vetter gehört. Auf seine Frage, wie es in dem Palais von Las Arenas stände, erhielt er die ausweichende Antwort:

»Ich sage es dir ja: er ist ein anderer Mensch geworden.«

Vielleicht fürchtete Iriondo eine Indiskretion zu begehen, wenn er mehr sagte. Aber die Freimütigkeit des alten Seemanns siegte über die Vorsicht des getreuen Untergebenen.

»Ach was, zum Teufel! Warum soll ich gerade vor dir ein Geheimnis daraus machen? Lieber Planet, das ist kein Haus mehr, das ist ein Kloster! Pater Pauli und Sanchez Morueta sind unzertrennlich. Und alle beherrschen ihn; seine Frau, seine Tochter und sogar dieser widerwärtige Urquiola, der ihm ganz patzig zu sagen wagt: ›Onkel, tu dies‹; ›Onkel, das darfst du nicht tun.‹ Ehe das Jahr vorüber ist, wird er ihn Papa nennen. Auch im Stadtbüro läßt sich diese Kreatur schon häufig blicken, um herrisch Befehle zu erteilen. Selbst mit mir, Pepes altem Freund, bändelt er an. Carajo, nach einem langen Leben gewissenhafter, selbständiger Tätigkeit soll ich der Lakai dieses Schoßhündchens von Deusto werden? ...«

Der Ärger würgte ihm die Kehle zu.

»Wie man den Pepe umgemodelt hat!« fuhr er etwas ruhiger fort. »Eines Tages erzählte er mir begeistert, daß er in einer Generalbeichte Pater Pauli alle Sünden von Kindesbeinen an aufgezählt hätte und sich seitdem so leicht und froh fühle, als lebte er in einer anderen Welt. Wie konnte dieser Mann von Erz nur so zusammenbrechen? ... Kennst du übrigens den letzten Streich Urquiolas? Die ganze Stadt spricht davon.«

»Bis in die Minen dringt dergleichen doch nicht!« lächelte der Arzt.

»Also hör zu. Das saubere Früchtchen sollte Vater werden. Da ihm dies Ereignis so kurz vor seiner Hochzeit mit der größten Erbin Bilbaos nicht in den Kram paßte, gab er dem armen Mädel mit roher Gewalt ein Abtreibungsmittel ein, das es an den Rand des Grabes brachte. In ihrer Empörung machten die Nachbarn dem Staatsanwalt Mitteilung. Und was meinst du, was geschieht? ... Schon springen die Patres ihrem Schützling bei, mit dem Resultat, daß die Affäre vertuscht wird.

Und Pepe weiß von nichts. Oder stellt sich wenigstens so, als wüßte er von nichts. Es genügt Pater Paulis Wort, daß Urquiola ein großer Mann werden wird, damit dein Vetter widerstandslos das Gewäsch und die Bravaden des künftigen Staatsmannes anhört. Ah, Luis, wie schnell diese Leute ihre absolute Herrschaft aufrichten!«

Und erbittert beschrieb der Kapitän, wie sich ihr Einfluß auf alles, was Sanchez Morueta unterstand, ausdehnte: auf die Fabriken, die Gießereien und sogar auf die Schiffe. Ohne auf seine Stellung als Leiter der Schiffahrtsabteilung Rücksicht zu nehmen, zwangen sie ihn, seit vielen Jahren im Dienst des Hauses stehende Kapitäne und Steuerleute zu entlassen und durch junge Männer zu ersetzen, die, sobald sie ihre Kajüte betraten, schleunigst ein Bild vom Herzen Jesu über dem Bett annagelten. Ebenso hatte man ihm in der vergangenen Woche Befehl erteilt, keine Schauerleute mehr einzustellen, die während der Arbeit fluchten oder sozialistischer Gesinnung verdächtig waren.

»Was bildet man sich denn ein?« polterte Iriondo. »Soll ich alter Esel vielleicht noch als frommer Bruder herumlaufen und ausgerechnet den Schauerleuten vom Nervion Katechismus und sittsame Worte beibringen? ... Im Hochofenwerk ist es noch schlimmer. Gute Arbeit und Ehrlichkeit haben für die Direktoren nur noch relative Bedeutung. Wer nicht zur Messe geht und sich nicht in den katholischen Arbeiterbund aufnehmen läßt, fliegt an die Luft. Die Werkstätten sind voll von Frömmlern. Aber wehe, wenn die Arbeiterschaft zur Besinnung kommt! Dann wird dein Vetter eine böse Nuß zu knacken haben ...

Haha, diese famose Generalbeichte! Als hätte ein Kind einen neuen Anzug bekommen, in dem es keine Bewegung mehr zu machen wagt aus Angst, ihn zu beflecken, so sitzt auch Pepe da und wagt nicht zu mucksen! So oft ich ihn sehe, habe ich das Gefühl, daß ein Mönch vor mir steht. Von nichts weiß er zu reden als vom Tod und von dem, was wir im jenseitigen Leben antreffen; und gleich kommt er wieder auf sein Steckenpferd zurück. Tod, Tod und nochmals Tod! Dabei hat der Pfiffikus rote Pausbacken und ist kräftiger als je. Wenn ich mir getrauen dürfte, so frank und frei mit ihm zu sprechen, wie du es darfst, so würde ich ihm sagen: Was soll das Gewimmer? Ich weiß sehr gut, daß wir alle einmal sterben müssen. Nette Entdeckung das! Aber bis der Tod kommt, wollen wir doch jeden nach seinem Geschmack leben lassen, ohne den Mitmenschen immer den Heiligenschein unter die Nase zu reiben, womit sich die, die zu jeder Stunde an ihre Seele denken, mit Vorliebe beschäftigen.«

Es fehlten nur noch einige Minuten an der Abfahrtszeit, und der Kapitän verabschiedete sich.

»Auf Wiedersehen, Luis. Vielleicht bringt dir der Nachmittag noch eine Überraschung; vielleicht wirst du Pepe unter den Wallfahrern entdecken!«

Aresti ließ sich in seiner Verblüffung zu einem derben Fluche hinreißen. Was? Pepe sollte fähig sein, sich bei dieser Farce öffentlich zur Schau zu stellen? ...

»Genaues weiß ich nicht, aber mir schwant nichts Gutes. Das Thema beschäftigt die ganze Familie seit acht Tagen. Doña Cristina hegt den Wunsch, ihren Gatten barhäuptig mit dem Skapulier durch die Straßen Bilbaos schreiten zu sehen. Welch ein Triumph für die Religion! Welch Prestige würde die Teilnahme eines solch mächtigen Mannes der heiligen Sache geben! ... Vor einigen Tagen sträubte sich Pepe noch, raffte die letzten Überbleibsel seines alten Charakters zusammen und setzte sich zur Wehr, weil er das Lächerliche dieser Demütigung ahnt. Aber alle fallen über ihn her und hämmern auf die morsche Schale seines weich gewordenen Willens. Frau und Tochter flehen; Pater Pauli spricht verächtlich von Feiglingen, die Gott nur zu Hause lieben, sich jedoch scheuen, es öffentlich zu dokumentieren, und der kleine Raufbold Urquiola verspritzt seinen Spott über die Zagen, die aus Furcht vor den Sozialisten sich nicht auf die Straße wagen ... Adios, Luis. Sei vorsichtig! Am Horizont steht Sturm!«

Der Doktor stieg die lange Treppe zum Ausgang hinauf und nahm von hier seinen Weg über die Nervionbrücke. An mehreren Balkonen hingen Inschriften zum Preise der Jungfrau von Begoña. Doch was bedeutete dieser Schmuck gegen die Dekoration im Stadtviertel der »Sieben Straßen«, der charakteristischen Altstadt! Hier war Haus bei Haus beflaggt, und zwischen den Fahnen wehten immer wieder bunte Wimpel mit Inschriften, die, an der Tradition festhaltend, der »Herrin von Biskaya« huldigten.

Über eine Stunde wanderte Aresti schon durch die aufgeregte Stadt, als er auf einen langbärtigen Arbeiter in arg mitgenommenen Kleidern stieß, der die Hand mit einer gewissen Heftigkeit an die Mütze führte.

»Sie wissen, Doktor, daß Sie der einzige Bourgeois sind, den ich grüße.«

Es war Barbas, der Einsiedler von Labarga, der droben seine Mußezeit damit verbrachte, wie ein Prophet des Schreckens reglos auf dem Boden zu hocken und Drohungen gegen die Kapitalisten auszustoßen. Vor Monaten hatte man seine Baracke durch Weggraben des Untergrundes zum Einsturz gebracht. Seine alte Gefährtin war vor Elend gestorben, und er irrte seitdem in den Minen umher, schlief unter freiem Himmel, lebte von dem, was ihm die Arbeiter gutmütig abgaben. Diese kleinen Almosen vergalt er ihnen mit Grobheiten, denn sobald in seiner Nähe ein Sprengschuß erdröhnte, schrie er, als begingen sie ein Verbrechen, mit wilden Augen:

»Ihr Schafsköpfe! Habt das Dynamit in eurer Hand und verwendet es zu keinem besseren Zweck? ...«

Aresti beantwortete freundlich seinen Gruß, und der Alte berichtete, daß er schon mit dem ersten Frühzug gekommen wäre. Selbstverständlich ohne Fahrkarte! Er hatte es den Kameraden verboten, für ihn zu bezahlen, und sich unter der Bank versteckt. Er sich vom Staat ausräubern lassen? ...

»Und die große Versammlung, Barbas? Gehst du nicht hin?«

Der Mann im Bart schnitt eine wegwerfende Grimasse.

»Mit solchen Albernheiten verliere ich keine Zeit. Man weiß im voraus jedes Wort, das dort gequasselt wird. Sie werden höhere Tarife verlangen und im Ton eines demütigen Bettlers um größere Berücksichtigung des Arbeiterstandes bitten. Als ob damit geholfen wäre! Breiumschläge machen sie, die Führer. Breiumschläge!« Und er legte in dies Wort seine ganze Verachtung für diejenigen, die, gestützt auf eine starke und disziplinierte Organisation, die notwendigen Reformen zum Besten der Arbeiter allmählich herbeiführen wollten. »So bei kleinem möchten sie die Gesellschaft umbilden. Aber der Arbeiter wird von so viel Verständigkeit und kluger Politik eines Tages genug haben. Dann folgt er mir und meinen Freunden, und in vierundzwanzig Stunden ist alles geregelt – oder alles zu Ende. Wir wollen Gerechtigkeit, aber nicht stückweise, und wollen um sie auch nicht feilschen. Man erzwingt sie, wie man kann, und sollte die Welt dabei zugrunde gehen.«

»Ja, was hat dich denn hierhergeführt?« fragte Aresti erstaunt.

Ein grimmiges Lächeln umspielte Barbas Mund.

»Einzig und allein die Hoffnung, daß es heute nachmittag den Kapitalisten trotz all ihrer Heiligen an den Kragen geht.«

Er schnupperte wie ein altes Streitroß, das Pulverdampf riecht.

»Aha! ... Der erste Zusammenstoß!«

Durch die große Avenue der Neustadt jenseits der Brücke galoppierte eine Schwadron der Guardia civil auf einen ungeheuren schwarzen Fleck los, über dem ein roter Fahnenwald flatterte – die aus der Arena herausströmende Menge, die jetzt vor den vornehmen Villen haltmachte, um gegen die Wimpel zu Ehren der »Herrin von Biskaya« zu protestieren. Gellendes Gepfeife, Steinhagel und klirrende Fensterscheiben ...

»Drauf! Drauf!« brüllte Barbas und raste fort.

Über die Nervionbrücke wälzte sich die gewaltige Woge zum Zentrum der Stadt, und die Kavallerie, unfähig, diese Masse im Zaum zu halten, mußte sich darauf beschränken, ihr in klugem Abstand zu folgen.

»Hoch die soziale Revolution! Hoch die Republik!« brauste es zum Himmel Und da die Arbeiter in den der »Herrin von Biskaya« huldigenden Inschriften eine verblümte Beleidigung der nationalen Einheit erkannten, hörte man auch den Ruf: »Es lebe Spanien!«

Die größte Wirkung aber hatte die Losung: »Nieder mit den Jesuiten!« Ein einhelliges Beifallsgebrüll, ein Jauchzen, ein Toben! ... Mit der Behendigkeit von Affen klommen die Jungen an den Fassaden der Häuser empor und warfen Fahnen und Wimpel und Schilde der Jungfrau auf die Straße, wo sie unter Hohn und Spott in Fetzen zerrissen wurden.

Plötzlich ritt die Guardia civil in Karriere ab. Und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, daß die Nachhut der Demonstranten zur Jesuitenkirche abgeschwenkt sei und mit Hilfe von Petroleum Brand angelegt habe. Aresti fühlte in seiner Seele einen Begeisterungstaumel, der dem Taumel des Barbas fast gleichkam. Endlich ging sie in Flammen auf, die verabscheuungswürdige Brutstätte! Bilbao erwachte! ...

Aber schon lauteten die Nachrichten anders. Nur die schweren Türen waren vernichtet worden. Die Polizei hatte die Brandstifter zerstreut und das Feuer gelöscht.

Die Mittagsstunde war längst vorbei, als der Arzt sich in dem überfüllten Schweizer Restaurant zu Tisch setzte. Auch hier drehte sich das Gespräch der Gäste nur um das, was der Nachmittag bringen würde. Um drei sollte die Wallfahrt von dem Arenal aus beginnen. Vorher jedoch gingen von sämtlichen Pfarrkirchen Prozessionen aus, die erst nach einem Umzug durch die verschiedenen Stadtviertel auf dem Arenal zusammentreffen würden. Unverkennbar lag diesem Plan die Absicht zugrunde, Aufsehen zu erregen, die ganze Stadt zu besetzen, dem Feind zum Trotz eine großspurige Parade zu veranstalten.

Es zirkulierte das Gerücht, daß der Gouverneur seinen Einfluß geltend gemacht habe, um die Organisatoren der Wallfahrt von ihrem Vorhaben abzubringen, und an einigen Tischen erörterten die Gäste bereits laut und vernehmlich, wie bedauerlich es sei, wenn ein Ereignis, das Bilbaos graues, monotones Leben doch etwas »aufheitere«, nicht stattfinden würde. Ihre Sorge war grundlos: Pater Pauli berief sich auf die Freiheit des Staatsbürgers und setzte allen Gründen des Gouverneurs, den Urquiola nichtachtend »den spanischen Konsul« nannte, ein kategorisches Nein entgegen.

Auch im Restaurant erhitzten sich die Gemüter mehr und mehr; das Für und Wider wurde mit wachsender Erregung diskutiert, und es fehlte wenig, daß man sich von Tisch zu Tisch die Teller an den Kopf geworfen hätte.

Um halb drei kehrte Doktor Aresti zum Arenal zurück. Der riesige Platz war schwarz von Menschen, eine unruhig hin und herflutende Masse, die ihre Fühlhörner bis in die benachbarten Straßen ausstreckte. Nur die Mitte des Arenals lag verlassen da, und jeder hielt sich instinktiv diesem leeren Fleck fern, der für den Zusammenstoß der beiden Parteien bestimmt zu sein schien.

Plötzlich fühlte sich Aresti durch einen gewaltigen Druck der Menge nach vorn gerissen – der Feind nahte! In den einmündenden Straßen erhob sich ein rasendes Geschrei, unterbrochen von dem Geknatter der ersten Schüsse. Über dem wogenden Meer von Köpfen schwankten die Banner der ersten Prozession näher und näher. Hinter der Geistlichkeit marschierten die Frauen, mit harten, fanatischen Augen die Menge musternd; gewichtige Knüttel in der Hand, folgten die Reihen der Männer. Eine Hymne zum Preis der »Herrin von Biskaya« erscholl, ging aber unter in dem Dröhnen der Internationale.

Die Gläubigen ballten sich vor dem Portal der Sankt-Nikolaus-Kirche zusammen, während die Menge langsam gegen sie vordrang. Schmaler und schmaler wurde der Zwischenraum; Stöcke hoben sich drohend. Doch auf einmal kam die Bewegung zum Stehen. Alle Köpfe wandten sich einer neuen Prozession zu, die von der Brücke her nahte. Sie hatte sich an der Jesuitenresidenz gesammelt und war die Elitetruppe des frommen Heeres: die reichen Familien von Bilbao, die stolzen Adelsgeschlechter, die Separatisten, die Zöglinge von Deusto.

Die bekanntesten Patres marschierten an der Spitze der katholischen Arbeitervereine, vermöge derer sie der wachsenden Religionslosigkeit im Volke Einhalt zu tun gedachten. Die rechte Hand in der Hosentasche, deren Falte die Waffe verriet, reckten sich die Leute, damit man auch ja das Abzeichen der Madonna auf ihrer Brust gewahrte, und warfen provozierende Blicke auf die Menschenmauer links und rechts. Auch die Señoras hatten einen kriegerischen Schritt, ohne sich durch die feindselige Haltung der Menge einschüchtern zu lassen, wie stolze Damen, die von der unwirschen Miene ihrer Dienerschaft keine Notiz nehmen. Wie sie dieses Gesindel verachteten, das sein Leben von dem fristete, was ihre Männer ihm zu gewähren geruhten!

Ein Sturm brauste über den Arenal ... Tobende Schreie, Beschimpfungen. Doktor Aresti sah Urquiola, der, den Revolver frei in der Hand, an der Spitze der Studentenschaft von Deusto und einer Leibgarde von Bauern vorbeizog – ein Häuptling, stolz darauf, in Bilbao das verwirklichen zu können, was seine Vorfahren vergeblich in dem Guerillakrieg der Berge versucht hatten.

»Es lebe unsere Herrin von Biskaya! Tod den Sozialisten!«

Einige Zöglinge der Jesuitenuniversität, denen der Enthusiasmus ihres Führers nicht weit genug ging, ließen ein Vivat zu Ehren der »Katholischen Union« erschallen, das die Bauern, obgleich sie den Sinn nicht verstanden, begeistert nachbrüllten.

Auch Frau und Tochter Sanchez Moruetas kamen an Aresti vorbei. Und dann die Damen seiner eigenen Familie, den Rock eng gerafft, mit arroganter Miene. Als sie seiner gewahr wurden, lächelten die Mutter und die älteste Tochter befriedigt, daß sie sich nicht getäuscht hatten. Natürlich war er da, der schlechte Mensch; an einem Platz, wohin er gehörte! ... Antonieta hingegen warf einen Blick, in dem sich Resignation und Mitleid mischten, zum Himmel, als wollte sie um Erbarmen flehen für die verlorene Seele ihres Gatten.

Mehr konnte Aresti nicht sehen. Denn jählings war es, als wankte der Boden, als stieße jeder mit jedem im Paroxysmus des Sturms zusammen. Stöcke und Knüppel splitterten, die Rücken hallten unter den niederprasselnden Schlägen dumpf wider wie leere Koffer; mit blutüberströmten Gesichtern brachen die Menschen – ein Hindernis für flüchtende Füße – in die Knie. Und auf allen Seiten klangen jetzt scharf wie Peitschenknallen die Revolverschüsse.

Die Señoras flüchteten sich in die Sankt-Nikolaus-Kirche, während die Neugierigen, von den Kugeln gehetzt, die Spiegelscheiben der Cafes eintraten, um sich Hals über Kopf in Sicherheit zu bringen.

Der weite Platz, mit Stöcken, Hüten und Mützen besät, leerte sich. Verwundete, deren Blut auf den Boden sickerte, schleppten sich fort; andere wurden zur nächsten Apotheke getragen. Trotzdem ging zwischen den Entschlossensten beider Parteien der Kampf weiter.

Vom Portal der Kirche krachten Salven aus den billigen Revolvern, die die Organisatoren der Wallfahrt besorgt hatten, doch die ungeübten Hände der Schützen schickten die Kugeln meist in den Sand oder in die Platanen. Die Schlacht hatte sich in Einzelgefechte aufgelöst. Die Arbeiter, fast alle waffenlos, griffen im Vertrauen auf ihre Fäuste in kleinen Gruppen oder Mann gegen Mann an. Aber der Wirrwarr wurde so groß, daß Freund und Feind sich kaum noch zu unterscheiden vermochten.

Aresti war mitten auf dem Platz stehengeblieben, ungeachtet der Kugeln, die neben ihm einschlugen. Als hätte sich die strahlende Sonne plötzlich verdüstert, sah er alles wie durch einen grauen Nebel. Er versuchte fortzugehen, doch seine Füße stolperten über weiche Körper, von denen Seufzen und Stöhnen ausging.

Ein Bild aber nahm sein von Schleiern umwogtes Hirn deutlich in sich auf: ein riesenhafter Geistlicher, die Soutane mit der linken Hand gerafft, feuerte ununterbrochen auf einen Arbeiter, der wie ein Wiesel den Schüssen auswich.

»Du wirst verrecken!« schrie der Bergmann, in dessen Hand jetzt ein Messer blitzte.

Von neuem legte der Pfarrer an, aber kein Knall wurde hörbar – das Magazin war leer. Im selben Augenblick sprang der Arbeiter mit wildem Lachen auf ihn los, riß ihn zu Boden und versenkte sein Messer so ungestüm in des Hünen Brust, daß die Klinge abbrach.

Gleich darauf wähnte Aresti, daß ein Baumstamm auf seine Schulter niedersauste. Und der Hieb, der ihn von hinten getroffen, riß ihn aus seiner Betäubung, ließ ihn aufbrüllen vor Zorn. Die ironische Güte des überlegenen Geistes wich dem Instinkt der Bestie. Er hob den Stock und fing an, Schläge auszuteilen, blindlings, nur in der Gier, andere niederzuschlagen. Ein Rücken fiel gegen seine Brust und hemmte sein Vorwärtsdringen; ein junger, schwächlicher Mensch mit allen Kennzeichen der Rachitis, wie sie Arbeit, der die jugendlichen Kräfte nicht gewachsen sind, hervorruft. Taumelnd, als wäre er betrunken, wischte der Mann mit den Händen das Blut aus seinen Augen. Doch als er sich wieder aufzurichten versuchte, krachte zum zweiten Male eine enorme Faust in sein Gesicht und ließ ihn zusammenbrechen.

An den Füßen durch den leblosen Körper des jungen Arbeiters behindert, holte der Arzt aus, denn wieder reckte sich – aber jetzt gegen ihn selbst – diese wie ein Bleigewicht rammende Faust.

Doch Luis Arestis Arm blieb in der Luft hängen, als er den Angreifer erkannte.

»Du! ...« röchelte er dumpf, und seine Stimme schien seine Kehle zu zerreißen. »Du? ...«

Vor ihm stand mit zerzaustem Bart Sanchez Morueta. In den blutunterlaufenen Augen glühte das Verlangen, die gottlosen Canaillen, vor denen Damen in der Kirche Zuflucht suchen mußten, mit Stumpf und Stiel auszurotten. Als er Aresti erkannte, senkte er die Faust, und dann, wie schamerfüllt, den Kopf. Im selben Augenblick traf seine Backe etwas Weiches, etwas Laues, das langsam in seinen Bart lief ...

Sein Luis, sein Bruder hatte ihm ins Gesicht gespien!

Es war der Haß, der keine andere Form fand, zu verletzen, da der Respekt vor dem Einst hindernd die Hände band. Es war die Verachtung dafür, daß er ihn mit der Kraft des wohlgenährten Tieres auf dieses Häufchen Elend, das jetzt reglos im Staube lag, hatte einhämmern sehen.

Der Millionär schaute seinen Vetter mit sanften, ausdruckslosen Augen – Kuhaugen, die um Erbarmen flehten – unverwandt an, während seine Rechte gleichzeitig den Bart vom Speichel des Hasses säuberte.

Er wollte sprechen, doch er kam nicht mehr dazu. Ein schwarzes Phantom, dessen bauschige Soutane gleich Unglücksschwingen im Winde flatterte, zog ihn am Arm.

»Gehen wir, Don José. Nach Begoña! Nach Begoña!«

Und mit wahrhaft väterlicher Fürsorge bahnte Pater Pauli dem Industriellen – der Hauptstandarte seiner Wallfahrt – einen Weg.

Der Doktor rührte sich nicht. Erst Stoßen und Drängen in seiner Nähe riß ihn aus seinen Gedanken. Die Kavallerie hatte blank gezogen und begann den Platz, von dem man die Verwundeten hastig forttrug, zu räumen.

Die Wallfahrer standen dicht gedrängt vor der Sankt-Nikolaus-Kirche, in weitem Kreise um sie herum die Masse des Volkes. Ein Steinhagel knallte gegen die Fassade, der sofort durch Salven von den beiden Kirchtürmen beantwortet wurde.

Die waffenlose Menge, die man von der Höhe herab ungestraft verwunden konnte, brüllte auf und machte sich heroisch bereit, die Kirche zu stürmen. Zu spät! Eine blau und rote Barrikade, in der Gewehrläufe blitzten, schob sich zwischen die beiden Parteien.

Drei Kompanien Infanterie bildeten einen Schutzwall vor der Kirche. Das verhaßte Spanien, der Hort antireligiöser Ideen, der Gegner der Wiedererstehung der alten Biskaya, machte Front gegen die Volksmasse. Aber die Blicke, mit denen die Soldaten die Wallfahrer maßen, verrieten zur Genüge, gegen wen sie lieber vorgegangen wären. Die geifernden, waffentragenden Geistlichen, die Bauern, robust und unterwürfig wie ihre Tiere, die Señoritos, die sich zu gern als politische Führer gebärdeten – sie alle waren der ewige Feind, der vormals ihre Brüder in den Bergen niedergemetzelt hatte und auch heute noch den Kampf aus dem Hinterhalt führte. Nur die Pflicht, die wie ein eisernes Gewicht unwiderstehlich auf ihnen lastete, hielt die rot und blauen Reihen in Bann.

Ein Offizier taumelte, der Säbel klapperte auf das Pflaster. Sein Gesicht verzog sich; doch schmerzte die Wunde ihn weniger als das bittere Bewußtsein, sich ruhmlos vor einer Kirchentür geopfert zu haben, von der Kugel eines Sakristans oder eines dieser katholischen Epheben getroffen, deren Weiberstimmen auf dem Turm Religion und Jungfrau hochleben ließen ...

Voran eine Schwadron und auf beiden Seiten von der Guardia civil gesichert, traten die Wallfahrer mit ihren zerfetzten Fahnen den Aufstieg nach Begoña an.

»Es lebe die Jungfrau!« schrie der mit seinem Revolver fuchtelnde Urquiola, und voll Jubel, weil ihr Plan doch noch zur Ausführung gelangte, nahm Bruderschaft nach Bruderschaft den Ruf auf.

»Es lebe die Jungfrau!«

»Nach Begoña. Nach Begoña! ...«

Die feindliche Volksmenge, der die Soldaten das Nachrücken verwehrten, hörte die Rufe sich entfernen, schwächer und schwächer werden, verhallen ... Noch vereinzelt ein paar Schüsse in der Ferne, dann wurde es still.

Einsam lag der Platz um Sankt Nikolaus da. Nur die von Polizisten bewachten Toten blieben auf dem Arenal zurück. Dicht an den Hauswänden entlang stahlen sich einige Geistliche heimwärts, die es vorzogen, ihre Wunden heimlich zu verbinden, anstatt unbequeme Fragen beantworten zu müssen.

Zwei Stunden lang wanderte der Doktor von Apotheke zu Apotheke, von Café zu Café, immer wieder von Leuten, die ihn kannten, irgendwohin gerufen, wo ein Verwundeter lag. Und ohne einen Unterschied zu machen, stand er den einen wie den anderen bei; einerlei, ob sie das Skapulier der Jungfrau von Begoña auf der Brust trugen oder ihre Schmerzen durch ein Hoch auf Freiheit und Republik zu lindern suchten. Das zerstückelte Fleisch, das auf den Pflastern der Bürgersteige geronnene Blut füllte ihn mit unendlicher Trauer und ließ ihn mitleidig an die ewige Kindheit der Menschen denken. Sich gegenseitig umbringen wegen eines grob geschnitzten Stück Holzes, das dort oben unter Kerzen und Blumen stand, während in der Welt solch furchtbaren Feinde wie der Hunger und die Ungerechtigkeit existierten, deren Bekämpfung das vereinte, brüderliche Bemühen der ganzen Menschheit erforderte!

Derweil Menschen sich für den Ruhm der Jungfrau von Begoña töteten, fuhr der Holzwurm, weiser als sie, mit seiner Zerstörungsarbeit im Innern dieses lächelnden Fetisches fort; vielleicht benagte gerade jetzt eine Maus im Schutze des edelsteinbesetzten Rockes die Füße des wundertätigen Idols ...

Erschöpft von den Aufregungen des Nachmittags und der anstrengenden Behandlung der Verwundeten, die er ständig vor den Augen lästiger Neugieriger vornehmen mußte, atmete Aresti tief auf, als der letzte Verband angelegt war.

Am Ufer des Nervion spazierengehend, dachte er zurück an die Begegnung mit seinem Vetter. Die Sanchez Morueta angetane Beleidigung peinigte ihn; dieser Speichel schien auf seine Seele gefallen zu sein. Ah, der Eindringling! Der verfluchte Eindringling! ... Wie er sich zwischen sie eingeschoben hatte, wie er durch die frostige Macht des Todes eine ganze Vergangenheit brüderlicher Zuneigung auslöschte! ... Sie hatten nicht Mann gegen Mann gekämpft wie vormals in den Bürgerkriegen oft Bruder gegen Bruder – aber die Seele hatten sie sich bis aufs tiefste verwundet. Es gab keine Familie mehr: Aresti stand allein auf der Welt ...

Scharen junger Leute liefen schreiend am Ufer entlang. Frauen kreischten und bekreuzigten sich: das bedeutete nicht mehr und nicht minder als das Ende der Welt! ...

Ein paar ruchlose Gesellen, noch gereizt durch den Kampf auf dem Arenal, waren in das Sieben-Straßen-Viertel eingebrochen und hatten aus den Hausnischen die Schutzpatrone des alten Bilbao geraubt; unter Fußtritten der Menge, die an den bunten, vergoldeten Körpern das vergossene Blut der anderen aus Fleisch und Bein rächen wollte, wurden sie zum Ufer geschleift. »Ersäuft sie! In den Fluß mit ihnen! ...«

Und mit dem Kopf voran flogen Madonnen samt Glückseligen ins Wasser; doch das alte, ausgetrocknete Holz tauchte hurtig wieder auf, um dann gemächlich stromabwärts zu treiben.

Die Menge gab ihnen am Ufer das Geleit und freute sich über ihr sanftes Schaukeln, während kleine Gruppen von Frauen, die sich als Märtyrinnen fühlten, die Gottlosen mit Schmähungen überhäuften und ihnen mit den Fäusten drohten.

Eine Statue der Jungfrau von Begoña erregte die meiste Aufmerksamkeit. »Sie hat schuld an allem! ...«

Man pfiff sie aus, man verspottete sie, die auf dem Rücken abwärts schwamm und mit dem vergoldeten Leib und dem Puppengesichtchen aus dem Wasser hervorlugte.

Ein Schiffer, der in seinem Kahn den Fluß überquerte, nahm plötzlich Kurs auf die Statue, als wollte er ihr den Weg abschneiden. Ah, der fromme Mann! Er würde sie retten!

Aber die Freude der Gläubigen am Ufer war verfrüht, denn nahe genug herangekommen, ließ er das Steuer fahren, hob eins der schweren Ruder und versetzte, nach einem Blick auf beide Ufer, der Jungfrau einen gewaltigen Hieb, so daß sie in einem Wasserwirbel verschwand, um nicht mehr hochzukommen.

»Das von heute ist gar nichts«, redete ein Mann zu der Menge. »Als Anfang mag's nicht schlecht sein, daß das Volk Hand an die legt, die es so lange betrogen haben. Aber nun gilt es, mit den anderen, den Dieben, die Rechnung zu regeln. Heute zogen wir zu Felde gegen den Heiligenfirlefanz, morgen kommt die Schlacht ums Brot. Alle, die durch ihre Arbeit den Reichtum dieser Diebe hier geschaffen haben, werden von den Bergen niedersteigen und ihren Anteil verlangen. Und Schluß dann mit ordnungsmäßigen Petitionen, Schluß mit höheren Löhnen und anderen Almosen! Fort mit den Breiumschlägen! Jedem, was ihm gebührt; und für den, der sich widersetzt, Dynamit! Ja, zum Teufel, Dynamit! ...«

Aresti entfernte sich rasch, ehe Barbas – er war der Fanatiker – ihn entdeckte.

Die eben gehörten Worte ließen vor ihm das Bild der Minen mit ihrer erbärmlichen Bevölkerung aufsteigen, zermürbt vom Darben und der Verzweiflung, die nach Gerechtigkeit lechzt. Von jenen roten Gipfeln, die Picke und Bohrstahl umgewälzt hatte, spähte lauernd eine neue Gefahr hinab auf die üppige Stadt. Dem durch herrschsüchtigen Fanatismus provozierten Zusammenstoß folgte der Generalstreik, die gebieterische Forderung der Not.

Ein feindliches Heer verbargen die Berge des Horizonts, eine hungernde Horde, die eines Tages über die Stadt herfallen würde wie in vergangenen Zeiten die Banden des Absolutismus. Bilbao drohte eine dritte Belagerung, bei der jedoch der Feind nicht vor improvisierten Schützengräben draußen haltmachen, sondern den Reichtum in seinen prächtigen Stätten selbst blockieren würde. Wiederum ein Krieg, doch anstatt im Namen der Vergangenheit ein Krieg zur Sicherung der Zukunft. Elend würde auf den Fahnen der neuen Belagerungsarmee stehen, Recht auf Leben ihr Kampfgeschrei sein!

Was hatten die Schätze der Minen genutzt? ... Das Aussehen der Stadt hatte sich verschönert; die rauchenden Schornsteine von Fabriken und Schiffen verkündeten die Größe moderner Industrie. Aber das Volk lebte dürftiger, trauriger als früher. Und als Fortuna diesen Winkel der Welt berührte, waren flugs auch die schwarzen Männer gekommen, die sich der Gewissen bemächtigten und damit auch auf die materiellen Güter Hand legten. Sie nisteten sich an der Seite der vom Glück Begünstigten ein, um ihnen gegen eine Beteiligung an der Beute den Himmel zu bieten.

Die Plünderung der Natur, das Wühlen in den Eingeweiden der Erde hatte lediglich einige wenige mit Glücksgütern überschüttet, hingegen dem geheiligten Parasiten, der sich hinter ihnen verbarg, erlaubt, zum wahren Besitzer von allem zu werden und den religiösen Fanatismus mit neuer Kraft aufleben zu lassen, während die verelendende Masse durch die irrsinnige Anhäufung von Reichtum immer mehr verbitterte ...

Die Agonie des Tages begann. In der Ferne, nach dem Meere zu, kroch die Sonne hinter den Gipfel des Serantes. Einsam schwamm auf den rosagefärbten Fluten des Nervion die Statue des letzten Heiligen.

Und Aresti träumte von der letzten Götterdämmerung. Ah, wenn diese Nacht, deren Schatten sich langsam ankündigten, eine ewige Nacht für die alten Idole werden möchte! Wenn die Sonne des nächsten Morgens die Erde befreit sähe von allen Legenden, die menschliche Schwäche – stammelnd und zitternd vor dem düsteren Geheimnis des Todes – geschaffen hatte ...

Gedankenverloren betrachtete er die Flucht des Götzenbildes auf dem Wasser, um dann weiterzuträumen von dem glorreichen Tag menschlicher Erlösung, an dem sie alle verschwunden sein würden, diese Götter und Halbgötter mit dem weibischen Lächeln, deren Priester die Menschen jahrhundertelang in Sklaverei gehalten hatten, indem sie ihnen das Lied von Demut und Lebensabscheu sangen und sie mit der Apologie einer feigen Resignation gegenüber der irdischen Ungerechtigkeit einwiegten.

Nein, zu lange hatten diese Idole, diese Kuppler der Ungerechtigkeit, die Menschheit betrogen – sie mußten sterben. Noch hatten sie zwar lange Tage vor sich, aber immerhin war das Ende abzusehen. Die Menschen begannen, sie zu verfluchen und in der höchsten, der erhabensten Rebellion des Sakrilegs feindselig die Hände nach ihnen auszustrecken.

Sie würden von ihren Altären herabsteigen, wie die heidnischen Götter – trotzdem sie schöner gewesen waren – einst herabstiegen, als ihre Stunde geschlagen hatte, und würden, ohne in ihrer vulgären Häßlichkeit die Bewunderung zu genießen, mit der man vor der harmonischen Nacktheit der Antike steht, unter anderen Gottheiten der Vergangenheit in den Museen ruhen. Irgendwo, unter den grotesken Fetischen der primitiven Völker, konnten sie verstauben ...

Und die Menschheit, fortan unfähig, ihr Trachten und Sehnen in plumpe Form einzuhüllen, würde die beiden einzigen Gottheiten der neuen Religion anbeten: Wissenschaft und soziale Gerechtigkeit.

 


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