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Es war eine tiefe Schlucht zwischen zwei Felswänden; durch diese Schlucht floß ein wasserreicher Bergstrom über Geröll und Steine hin. Hoch und steil ging es zu beiden Seiten hinauf, und darum war's auch auf der einen Seite ganz kahl; aber dicht neben dem Strom, so nahe, daß im Frühling und im Herbst das Wasser ihn benetzte, stand ein frischer Wald in Gruppen, schaute empor und schaute vorwärts und konnte weder hierhin noch dorthin.
»Wie wär's, wenn wir den Berg bekleideten,« sagte eines Tages der Wacholder zu der fremdländischen Eiche, der er näher stand, als den anderen. Die Eiche guckte hinunter, um dahinterzukommen, wer denn eigentlich da spräche; dann guckte sie nach oben und blieb stumm. Der Fluß arbeitete schwer, so schwer, daß er ganz schaumweiß wurde; der Nordwind hatte sich in die Schlucht hineingedrängt und heulte in den Klüften; der nackte Fels hing schwer vornüber und fror; – »wie wär's, wenn wir den Berg bekleideten,« sagte der Wacholder zur Föhre auf der anderen Seite. »Ja, wer sonst als wir sollte das wohl tun,« sagte die Föhre, griff sich in den Bart und sah zur Birke hinüber; »was meinst denn du dazu?« – Doch die Birke lugte vorsichtig an der Felswand empor; die lag so schwer über ihr, daß sie kaum atmen zu können glaubte. »Na denn in Gottes Namen, ja,« sagte die Birke, und trotzdem sie nicht mehr als drei waren, machten sie sich doch ans Werk, den Berg zu bekleiden, voran ging der Wacholder.
Als sie ein Stück Weges gegangen waren, begegneten sie dem Heidekraut. Der Wacholder wollte anscheinend an ihm vorbeigehen. »Ach, nimm doch das Heidekraut mit,« sagte die Föhre. Und er nahm das Heidekraut mit. Bald fing der Wacholder zu rutschen an; »beiß dich fest an mir,« sagte das Heidekraut. Der Wacholder tat es, und wo nur eine kleine Ritze war, steckte schnell das Heidekraut ein Fingerchen hinein, und wo es erst einen Finger hineinbekommen hatte, bekam der Wacholder die ganze Hand hinein. Sie krabbelten und krochen, die Föhre schwerfällig hinterher, die Birke auch mit. »Unser Vorhaben ist gesegnet,« sagte die Birke.
Aber der Berg begann darüber nachzudenken, was das wohl für kleines Kroppzeug sei, das da an ihm heraufkrabbelte. Und als er ein paar hundert Jahr darüber nachgedacht hatte, schickte er ein Bächlein hinunter, um nachzusehen. Es war noch obendrein zur Zeit der Frühlingsflut, und das Bächlein hüpfte so lange, bis es auf das Heidekraut stieß. »Heidekraut, liebes Heidekraut, bitte, bitte laß mich durch, ich bin ja so klein,« sagte das Bächlein. Das Heidekraut hatte es schrecklich eilig, lüpfte sich nur ein wenig und arbeitete weiter. Bächlein drunter durch und vorwärts. »Wacholder, lieber Wacholder, bitte, bitte laß mich doch durch, ich bin ja so klein.« Der Wacholder sah es wütend an; aber gut wie das Heidekraut konnte er es natürlich auch durchlassen. Bächlein drunter durch, und weiter; und kam nun dorthin, wo die Föhre prustend und schnaufend den Abhang hinaufkletterte. »Föhre, liebe Föhre, bitte, bitte laß mich doch durch, ich bin ja so klein,« sagte das Bächlein, küßte der Föhre den Fuß und tat lieb und zuckersüß. Die Föhre machte ein ganz verschämtes Gesicht und ließ es durch. Aber die Birke hob schon den Fuß, ehe noch das Bächlein fragte. »Hi, hi, hi,« sagte das Bächlein und wuchs. »Ha, ha, ha,« sagte der Bach und wuchs. »Ho, ho, ho,« sagte der Bach und warf Heidekraut, Wacholder, Föhre und Birke auf die Nase und Hals über Kopf den großen Abhang hinunter. Der Berg saß viele hundert Jahre und überlegte, ob er nicht an jenem Tage den Mund zum Lächeln verzogen habe.
Es war klar: Der Berg hatte keine Lust, sich bekleiden zu lassen. Das Heidekraut ärgerte sich so, daß es ganz grün wurde, und dann machte es sich wieder auf den Weg. »Frischen Mut,« sagte das Heidekraut.
Der Wacholder hockte auf der Erde und sah das Heidekraut an; und so lange kauerte er da, bis er wieder aufrechtsaß. Er kratzte sich den Kopf, machte sich auf den Weg und biß sich so fest, daß er meinte, der Berg müsse ihn spüren, »willst du mich nicht, so will ich dich.« Die Föhre bog ihre Zehen zusammen, um nachzufühlen, ob sie auch noch heil wären, hob dann den einen Fuß, sah, daß er heil war, hob dann den anderen, der auch heil war, und dann alle beide. Zuerst untersuchte sie, wo sie gegangen war, dann, wo sie gelegen hatte, und endlich, wohin sie nun gehen sollte. Dann zockelte sie los und tat, als wäre sie in ihrem Leben nicht gefallen. Die Birke hatte sich eklig beschmiert und stand nun auf und putzte sich ab, und nun ging's vorwärts, schneller und schneller, aufwärts und seitwärts in Sonnenschein und Regen. »Was ist denn nun schon wieder los,« sagte der Berg, als die Sommersonne draufschien und die Tautropfen glitzerten, die Vöglein sangen, die Waldmaus piepte, der Hase hüpfte und das Hermelin sich kreischend versteckte.
Und so kam der Tag, da das Heidekraut mit dem einen Auge über den Bergrand gucken konnte. »Ach guck mal, guck mal, guck mal,« sagte das Heidekraut und weg war es. »Nanu, was mag denn das Heidekraut da sehen,« sagte der Wacholder und kam so weit, daß er auch hinübergucken konnte. »Ach guck doch, guck doch nur,« schrie er und war weg. »Was ist denn nur mit dem Wacholder heute los,« sagte die Föhre und machte lange Schritte in der Sonnenhitze. Bald konnte sie auf den Zehenspitzen stehend hinübergucken. »Ach guck mal,« Zweige und Nadeln sträubten sich vor Verwunderung. Sie arbeitete sich weiter hinauf, und weg war sie. »Was ist denn das nur, was alle die anderen sehen, und ich nicht,« sagte die Birke, hob ihr Röckchen zierlich empor und trippelte hinterher. Sie tauchte mit dem ganzen Kopf auf einmal über den Bergrand empor. »Nein, aber so was! – steht da nicht ein ganzer, großer Wald von Föhren und Heidekraut, Wacholder und Birken und wartet auf uns,« sagte die Birke, und ihre Blätter zitterten im Sonnenschein, daß die Tautröpfchen perlten. »Ja, so geht's, wenn man zum Ziel kommt,« sagte der Wacholder.
Oben auf Kampen wurde Arne geboren. Seine Mutter hieß Margit und war das einzige Kind auf dem Pachthof Kampen. Als sie achtzehn Jahr alt war, blieb sie einmal beim Tanz zurück; ihre Begleiter waren weggegangen, und da dachte Margit, der Heimweg sei ebenso lang, ob sie nun noch den einen Tanz abwartete oder nicht. Und so ging es zu, daß Margit noch immer dasaß, als der Spielmann, Nils Schneider genannt, mit einemmal die Fiedel zur Seite legte, wie er immer tat, wenn er einen Rausch hatte, die anderen trällern ließ, das hübscheste Mädchen ergriff, den Fuß sicher wie den Takt einer Tanzweise aufsetzte und mit dem Stiefelhacken dem größten, den er sah, den Hut vom Kopfe holte. – Ho, schrie er dabei.
Als Margit an jenem Abend heimging, spielte der Mond so seltsam schön auf dem Schnee. Als sie auf die Diele gekommen war, wo sie zu liegen pflegte, mußte sie noch einmal hinausschauen. Sie zog sich halb aus, aber blieb, ihr Leibchen in der Hand haltend, stehen. Da fühlte sie, daß sie fror, zog sich eilig aus und verkroch sich tief in ihr Schaffell. In jener Nacht träumte Margit von einer großen, roten Kuh, die in ihren Acker gekommen sei. Sie wollte sie wegjagen, aber so viel sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht vom Fleck rühren; die Kuh stand ruhig und fraß, bis sie ganz feist und satt war, und von Zeit zu Zeit sah sie mit ihren großen, schweren Augen zu ihr hinüber.
Das nächstemal, als in der Bygde wieder Tanz war, war Margit auch dort. Sie mochte an jenem Abend nicht tanzen; sie saß nur da und hörte dem Spiel zu und fand es merkwürdig, daß nicht auch die anderen viel mehr Lust dazu hatten. Doch später am Abend stand der Spielmann auf und wollte tanzen. Er ging ohne weiteres direkt auf Margit Kampen los. Sie wußte kaum, wie ihr geschah, aber sie tanzte mit Nils Schneider.
Bald wurde es wärmer, und man tanzte nicht mehr. In jenem Frühling nahm Margit sich eines kleines Lämmchens, das ihnen krank geworden war, so an, daß es der Mutter fast übertrieben vorkam. »Es ist doch nur ein Lamm,« sagte die Mutter. »Ja, aber ein krankes,« sagte Margit.
Sie war lange nicht in der Kirche gewesen; »sie gönne es lieber der Mutter, zu gehen,« sagte sie, und jemand müsse doch zu Hause sein. Eines Sonntags im Sommer, als das Wetter so schön war, daß das Heu gut einen Tag über stehen bleiben konnte, meinte die Mutter, heute könnten sie aber ruhig alle beide gehen. Diesmal konnte Margit nichts dagegen einwenden, und sie machte sich daher fertig. Aber als sie so weit gekommen waren, daß man das Glockengeläute hören konnte, brach sie plötzlich in Tränen aus. Die Mutter wurde totenblaß; sie gingen weiter, die Mutter voran, sie hinterher, sie hörten die Predigt, sie sangen die Choräle bis zum letzten mit, sprachen ihr Gebet, und erst als es ausgeläutet hatte, gingen sie. Aber als sie wieder heimgekommen waren und in der Stube standen, nahm die Mutter Margits Kopf zwischen ihre beiden Hände und sagte: »Verbirg mir nichts, mein Kind.«
Und wieder kam ein Winter; und Margit tanzte nicht. Aber Nils Schneider spielte und trank toller denn je und schwang jedesmal zum Schluß das schönste Mädel im Tanz. Damals erzählte man sich als sicher, daß er kriegen könnte, wen er wolle, von den stattlichsten Bauerntöchtern der Bygde; einige fügten hinzu, daß Eli Böen selbst für ihre Tochter Birgit, die vor Liebe zu ihm krank sei, bei ihm geworben hätte.
Aber eben zu jener Zeit wurde für die Pächterstochter auf Kampen ein Kind über die Taufe gehalten; es erhielt den Namen Arne, und man sagte, Nils Schneider sei der Vater.
Am Abend desselben Tages war Nils auf einer großen Hochzeit; dort trank er sich voll. Er wollte nicht spielen, sondern tanzte in einem fort und duldete kaum einen anderen auf dem Tanzboden. Aber als er auf Birgit Böen zukam und sie zum Tanz aufforderte, weigerte sie sich. Er lachte kurz auf, drehte sich auf dem Absatz herum und riß die erste beste an sich. Aber auch sie sträubte sich. Er guckte auf sie hinab; es war ein kleines schwarzes Ding, das ihn unverwandt angestarrt hatte und jetzt ganz blaß war. Er beugte sich leicht über sie und flüsterte: »Du wirst doch mit mir tanzen, Karen?« Sie antwortete nicht. Er fragte noch einmal. Da antwortete sie ebenso leise, wie er gefragt hatte: »Der Tanz könnte weitergehen, als ich möchte.« – Er zog sich langsam zurück, aber mitten im Saal schlug er einen Purzelbaum und tanzte dann den Halling ganz allein. Kein anderer tanzte; alle sahen ihm stumm zu.
Dann ging er hinaus in die Scheune, warf sich dort auf die Erde und weinte.
Daheim saß nun Margit mit ihrem Bübchen. Sie hörte, daß Nils von Gelage zu Gelage jage, sah den Knaben an und weinte, sah ihn wieder an und war froh. Das erste, was sie den Jungen lehrte, war, Papa zu sagen; aber das wagte sie nicht, wenn die Mutter, oder, wie sie von jetzt an hieß, die Großmutter, in der Nähe war. Die Folge davon war, daß das Bübchen die Großmutter immer Papa nannte. Es kostete Margit viel Mühe, ihm das wieder abzugewöhnen, und das trug wieder dazu bei, sein Fassungsvermögen früh zu üben. Er war noch nicht groß, als er schon wußte, daß Nils Schneider sein Vater war, – und als das Alter gekommen war, wo er an dem Abenteuerlichen Gefallen fand, erfuhr er auch, was für eine Art Kerl der Nils Schneider war. Die Großmutter hatte streng verboten, auch nur seinen Namen zu nennen; all ihr Dichten und Trachten stand darauf, den Platz Kampen zum Hof zu erweitern, so daß ihre Tochter mit dem Jungen sorglos leben könnte. Sie benutzte die Armut des Hofbesitzers, kaufte den Platz an, zahlte alljährlich ab und stand der Arbeit wie ein Mann vor. Denn sie war seit vierzehn Jahren Witwe. Kampen war ein großer Platz und wurde so erweitert, daß er schon jetzt vier Kühe und sechzehn Schafe ernährte und halben Anteil an einem Pferd hatte.
Nils Schneider trieb sich inzwischen in der Bygde umher; sein Verdienst hatte abgenommen, teils weil er ihn nicht mehr so eifrig zu wahren wußte, teils, weil er nicht mehr so beliebt war wie früher. Er warf sich mehr und mehr aufs Geigenspiel, und das ergab wieder öfteres Trinken, Schlägereien und böse Tage. Es gab sogar Leute, die ihn hatten klagen hören.
Arne mochte etwa sechs Jahrs alt sein, als er einmal an einem Wintertag im Bett allerlei Unfug trieb, wobei er die Bettdecke als Segel aufgespannt hatte und mit einem Kochlöffel steuerte. Die Großmutter saß drinnen und spann, hing ihren eigenen Gedanken nach und nickte bisweilen, als wolle sie das, was sie dachte, festnageln. Da wußte der Junge, er war unbeobachtet, und nun sang er, wie er gelernt hatte, die Weise vom Nils Schneider, roh und wild wie sie war:
Und falls du nicht etwa von gestern bist,
dann weißt du auch, wer der Nils Schneider ist.
Und kamst du nicht erst vor wenigen Tagen,
weißt du, wie er umschmiß Knut Storedragen.
Er schmiß ihn vom Scheunendach bei Perkriste,
»ein andermal vergiß nicht 'ne Speisekiste.«
Hans Bugge war auch ein berüchtigter Fant,
sein Name, der spukte im ganzen Land.
»Wo willst du gern liegen, du Schneidergesell?
Ich spucke und leg deinen Kopf auf die Stell.«
»Ei komm mir nur, ich haue, nicht faul,
dir gleich eins auf dein geschwätziges Maul.«
Am ersten Gang war noch nicht viel zu sehn,
die Kerle wollten durchaus beide stehn.
Beim zweiten versagte der Bugge-Hans,
»schon müde, mein Hänschen, vom heißen Tanz?«
Beim dritten lag der Hans im Grase,
»nun spucke nur, Bürschchen« – »au weih, meine Nase.«
Weiter sang der Junge nicht; es waren aber noch zwei Verse, die ihn die Mutter freilich nicht gelehrt hatte:
Siehst du den Baum dort in schneekalter Nacht,
siehst du, wie der Nils die Mädels anlacht?
Siehst du den Nils sich im Tanze drehn?
flieh, Mägdelein – eh dir die Sinne vergehn.
Diese zwei Verse konnte die Großmutter und gedachte ihrer um so mehr, als sie nicht mit gesungen wurden. Sie sagte nichts zum Jungen, aber zur Mutter sagte sie: »So ist's recht, lehr' den Jungen deine eigne Schande; vergiß nur nicht die zwei letzten Verse!«
Nils Schneider war durch den Trunk so heruntergekommen, daß er nicht mehr der Alte war. Viele meinten, bald würde er ganz fertig sein.
Da ereignete es sich, daß zwei Amerikaner die Bygde besuchten, und als sie hörten, daß in der Nähe eine Hochzeit gefeiert wurde, wollten sie gleich dahin, um die Volkssitten kennen zu lernen. Nils spielte auf. Sie gaben ihm jeder einen Taler Trinkgeld und baten um einen Halling. Keiner wollte sich dazu hergeben, ihn zu tanzen, so viel man auch bat. Die meisten baten Nils, selbst zu tanzen; er sei doch der beste. Je mehr er sich sträubte, um so heftiger drang man in ihn, zuletzt bat man ihn einstimmig, und das war's, was er wollte. Er gab einem anderen die Fiedel, nahm Jacke und Mütze ab, trat mitten in den Kreis und lächelte. Jetzt folgte ihm die alte Aufmerksamkeit, und das gab ihm auch die alte Kraft. Die Leute drängten sich so nah als möglich zusammen, die hintersten kletterten auf Tische und Bänke, einige Mädchen standen hoch über den anderen, und die vorderste von diesen, – eine hochgewachsene Dirne mit hellem, bräunlich schimmerndem Haar und blauen tiefliegenden Augen unter einer kräftigen Stirn und mit einem langgezogenen Mund, der oft lächelte und sich dann etwas schief zog, – war Birgit Böen. Nils sah sie, als er den Querbalken des Dachstuhls musterte. Jetzt wurde aufgespielt, es wurde ganz still, und er trat zum Tanz an. Er warf sich auf den Boden, schob sich nach dem Takt der Musik schräg auf der Erde hin, schlenkerte mit den Beinen, warf sie hin und wieder kreuzweise unter sich, schnellte empor, nahm Stellung wie zum Wurf und ging dann wieder schräg wie vorhin. Der Bogen wurde von einer tüchtigen Hand geführt. Die Weise zündete mehr und mehr, Nils Kopf neigte sich tiefer und tiefer hintenüber, und auf einmal stieß der Stiefelabsatz schallend gegen das Gebälk, so daß der Staub herabrieselte.
Alles lachte und schrie, die Mädchen hielten den Atem an. Die Tanzweise jubelte durch den Lärm hindurch, in immer tolleren und tolleren Rhythmen ihn aufstachelnd. Er vermochte auch nicht zu widerstehen, bog den Körper vornüber, hüpfte im Takt, richtete sich auf wie zum Wurf, machte aber allen was weis, schlängelte sich wieder am Boden hin, und grade, als es aussah, als dächte er gar nicht an Springen, donnerte der Hacken wieder gegen den Balken, und noch einmal, dann einen Purzelbaum vornüber, einen hintenüber, und jedesmal stand er wieder rank auf den Füßen. Nun wollte er nicht mehr. Die Fiedel machte noch ein paar übermütige Läufe außerhalb der Tanzweise, arbeitete sich dann in einen tiefen Ton hinunter, wo sie zitternd verhallte und in einem einzelnen langen Strich auf der Baßsaite erstarb. Die Gruppen zerstreuten sich, lebhaftes Sprechen, von Rufen und Schreien unterbrochen, löste die Stille ab. Nils stand an die Wand gelehnt; da kamen die Amerikaner mit ihrem Dolmetscher auf ihn zu und gaben ihm jeder fünf Taler. Abermalige Stille.
Die Amerikaner besprachen etwas mit dem Dolmetscher; und dieser fragte darauf Nils, ob er als Diener mit den Herren ziehen wollte; er könne fordern, was er wolle, »Wohin denn?« fragte Nils; die Leute drängten sich so nahe wie möglich heran. »In die Welt hinaus,« war die Antwort. »Und wann?« fragte Nils, sah sich mit leuchtenden Augen um, begegnete Birgit Böens Augen und ließ diese nicht wieder los. – »In einer Woche, wenn sie zurückkommen,« wurde geantwortet. – »Kann schon sein, daß ich bis dahin bereit bin,« antwortete Nils, seine zwei Fünftalerstücke wiegend. – Er hatte sich mit dem einen Arm auf die Schulter eines neben ihm stehenden Mannes gestützt, und der Arm zitterte so, daß der Mann ihn fragte, ob er sich nicht ein wenig auf die Bank setzen wolle.
»Ich, es ist gar nichts,« antwortete Nils, tat einige schwankende Schritte, dann einige sichere, drehte sich um und bat um einen Springtanz.
Alle Mädchen hatten sich vorn aufgestellt. Er sah sich auch um, lange und langsam, ging dann quer durch den Saal auf eine im dunklen Rock zu, und das war Birgit Böen. Er streckte seine Hand aus, und sie reichte ihm ihre beiden; da lachte er, wich zurück, nahm eine andere, die neben ihr saß, und tanzte ausgelassen davon. Das Blut schoß Birgit in Hals und Gesicht. Ein hochgewachsener Mann mit einem sanften Gesicht stand dicht hinter ihr; er nahm sie bei der Hand und tanzte mit ihr, dicht hinter Nils her. Dieser sah es und, vielleicht nur aus übler Angewohnheit, prallte er beim Tanz so hart gegen die beiden, daß der Mann und Birgit heftig zu Boden stürzten. Gelächter und Gejohle erhob sich rings umher. Birgit stand mühsam auf, ging abseits und weinte bitterlich.
Der Mann mit dem sanften Gesicht stand langsamer auf und ging direkt auf Nils los, der noch immer tanzte. »Halt mal ein wenig,« sagte der Mann. Nils hörte nicht auf ihn, und nun nahm ihn der Mann beim Arm, Nils riß sich aber los und maß ihn mit den Augen. »Ich kenne dich nicht,« sagte er mit einem Lächeln. »Nein, aber gleich sollst du mich kennen lernen,« sagte der Mann mit dem sanften Gesicht und versetzte ihm eins mit der Faust übers Auge. Nils, der auf so etwas nicht vorbereitet war, stürzte mit schwerem Fall auf die harte Kante des Feuerherdes, wollte sich sofort wieder erheben, aber konnte nicht, das Rückgrat war gebrochen. – –
Auf Kampen war eine Veränderung eingetreten. Die Großmutter hatte in der letzten Zeit gekränkelt, und sowie sie das merkte, war sie eifriger denn je, Geld zusammenzuscharren zur endlichen Auslösung des Hofes. »Dann habt ihr beiden, du und der Junge, was ihr braucht. Und läßt du mir dann jemanden hier herein, der es euch wieder durchbringt, dann drehe ich mich noch im Grabe um.« Gegen den Herbst hatte sie denn auch die Freude, nach dem Hauptgut hinaufhumpeln zu können mit dem letzten Rest der Schuld, und froh war sie, als sie wieder daheim auf der Bank saß und sagen konnte: »Nun bin ich fertig.« Aber zur selben Stunde bekam sie auch ihre Todeskrankheit; sie legte sich sofort zu Bett und stand nicht wieder auf. Die Tochter begrub sie, wo grade Platz war auf dem Kirchhof, und sie bekam ein hübsches Grabkreuz, auf dem ihr Name und ihr Alter stand, sowie ein Gesangbuchvers von Kingo. Vierzehn Tage, nachdem die Großmutter in die Erde gesenkt worden war, war aus ihrem schwarzen Sonntagskleid schon ein Anzug für den Jungen gemacht worden, und als er den zum erstenmal anhatte, wurde ihm so ernst zumute, als ob die Großmutter wiedergekommen wäre. Aus eigenem Antrieb ging er und holte das großgedruckte Gesangbuch mit den Beschlägen, aus dem die Großmutter jeden Sonntag vorgelesen und gesungen hatte; er schlug es auf, und drin lag ihre Brille. Die hatte das Büblein zu Lebzeiten der Großmutter nie anrühren dürfen; jetzt nahm er sie ängstlich auf, setzte sie auf die Nase und sah durch sie ins Buch. Doch alles verschwamm ihm zu Nebel, »wie komisch,« dachte der Junge: »Damit konnte die Großmutter Gottes Wort lesen?« Er hielt sie gegen's Licht, um zu sehen, was ihr fehle, und – plautz, da lag die Brille auf der Erde. Er erschrak gewaltig, und als sich in demselben Augenblick die Tür öffnete, war ihm, als müsse da die Großmutter selbst hereinkommen; aber es war die Mutter, und hinter ihr sechs Männer, die unter viel Trampeln und Lärmen eine Tragbahre hereintrugen, und diese mitten im Zimmer absetzten. Die Tür blieb lange hinter ihnen offenstehen, und es wurde kalt in der Stube.
Auf der Bahre lag ein Mann mit dunklem Haar und bleichem Gesicht, die Mutter ging weinend umher: »Legt ihn behutsam dort aufs Bett,« bat sie, und half selbst mit. Aber wie die Männer ihn hinüberschleppten, kreischte etwas unter ihren Füßen. »Ach, das ist nur Großmutters Brille,« dachte der Junge; aber er sagte nichts.
Es war zur Herbstzeit, wie bereits gesagt. Acht Tage nachdem man den Nils Schneider bei Margit Rampen ins Haus getragen hatte, ließen die Amerikaner ihm sagen, er möchte sich fertig machen. Er wand sich gerade in furchtbaren Schmerzen, und die Zähne zusammenbeißend, schrie er: »Laß sie zum Teufel reisen!« Margit blieb stehen, als ob sie keine Antwort bekommen hätte. Da merkte er es, und nach einer Weile wiederholte er langsam und matt: »Laß sie – reisen.«
Gegen den Winter hin erholte er sich wieder so weit, daß er auf sein konnte; aber seine Kraft war für immer zerbrochen. Das erstemal, als er ordentlich auf war, holte er die Fiedel heraus, stimmte sie, kam aber in solche Erregung, daß er wieder zu Bett mußte. Er war sehr einsilbig, aber doch umgänglich, und nach einiger Zeit fing er an, den Jungen zu unterrichten und Arbeit ins Haus zu nehmen. Heraus kam er nicht, und mit denen, die nach ihm sahen, sprach er nicht. Anfangs erzählte Margit ihm, was in der Bygde passierte, danach wurde er aber stets so finster, daß sie damit aufhörte.
Gegen den Frühling hin saßen er und Margit einmal länger als gewöhnlich nach dem Abendessen und besprachen etwas. Der Junge wurde zu Bett geschickt. Nach einiger Zeit wurden sie in der Kirche aufgeboten und dann in aller Stille getraut.
Nils arbeitete mit auf dem Felde und war in allem, was er tat, verständig und besonnen. Margit sagte zum Jungen: »Wir haben doch wirklich Nutzen und Freude an ihm. Nun mußt du aber auch gehorsam und artig sein, damit du dein bestes für ihn tun kannst.«
Margit hatte sich mitten in all ihrem Kummer doch immer hübsch rundlich erhalten; sie hatte ein blühendes Gesicht und recht große Augen, die durch dunkle Ringe, die sie umgaben, noch größer erschienen. Sie hatte volle Lippen, ein molliges Gesicht, und sah frisch und gesund aus, obwohl sie nicht gerade große Kräfte hatte. In dieser Zeit sah sie hübscher denn je aus und sang, wie es ihre Art war, stets bei der Arbeit.
Da an einem Sonntag Nachmittag geschah es, daß Vater und Sohn aufs Feld hinausgingen, um zu sehen, wie die Saat in diesem Jahre stände. Arne sprang lustig um den Vater herum und schoß mit Pfeil und Bogen, die Nils selbst für den Jungen verfertigt hatte. So kamen sie allmählich zu dem Weg hinauf, der von der Kirche und dem Pfarrhause in die sogenannte Breitbygde hinabführte. Nils setzte sich auf einen Stein am Wege und fiel in Gedanken, der Junge schoß in der Richtung nach der Kirche zu und lief dann hinter dem Pfeile her. »Nicht zu weit laufen,« sagte der Vater, wie der Junge im besten Spielen war, hielt er plötzlich lauschend inne. »Vater, ich höre was spielen.« Dieser lauschte auch; sie hörten Geigenklänge, die hin und wieder von Rufen und wildem Lärm übertönt wurden, während Wagengerassel und Hufschlage als stetes Nebengeräusch mitklangen. Es war ein Brautzug, der von der Kirche heimkehrte. »Hierher, Junge,« rief der Vater, und Arne hörte am Klang der Stimme, daß er schnell kommen müsse. Der Vater war aufgesprungen und hatte sich hinter einem großen Baum versteckt. Der Junge hinterher; – »nein dorthin, dorthin!« Der Junge hinter ein Erlengebüsch. – Schon bog die Wagenreihe aus dem Birkenwald heraus, sie kam in rasendem Trab näher, die Pferde waren schaumbedeckt, betrunkene Leute schrien und jodelten. Vater und Sohn zählten Wagen nach Wagen, es waren im ganzen vierzehn. Im vordersten saßen zwei Spielleute, und weit schallte der Brautmarsch durch die klare Luft. Hintenauf stand ein Bursch und kutschierte. Dahinter kam die Braut mit der Krone, hoch und leuchtend im Sonnenschein; sie lächelte, und dabei zog ihr Mund sich ein wenig schief; neben ihr saß ein Mann im blauen Anzug mit einem sanften Gesicht. Dahinter kam das Brautgeleite, die Männer auf dem Schoß der Weiber, hintenauf kleine Buben, Betrunkene, zu sechsen auf Einspännern, im letzten Wagen der Tafelmeister, der ein Branntweinfaß auf dem Schoß hatte. Mit Gejohle und Gesang zogen sie vorbei, jagten kopfüber den Berg hinab; das Geigenspiel, das Geschrei, das Wagengerassel klang in einer Staubwolke hinter ihnen her, bald trug der Wind nur noch vereinzelte Schreie herüber, dann nur noch ein dumpfes Dröhnen und zuletzt nichts. Nils stand regungslos da; da raschelte es hinter ihm, und er drehte sich um; es war der Junge, der aus dem Busch hervorkroch.
»Wer war denn das, Vater?« Aber der Junge fuhr zusammen, denn des Vaters Gesicht hatte einen häßlichen Ausdruck. Arne stand still und wartete auf Antwort; dann stand er still, weil er keine bekam. Nach langem Warten wurde er ungeduldig und wagte schüchtern: »Wollen wir nicht gehen?« Nils stand noch immer, als sähe er dem Brautzug nach, nahm sich aber zusammen und ging; Arne ihm nach. Er legte einen Pfeil auf den Bogen, schoß ab und lief hinterher. »Tritt nicht aufs Gras,« sagte Nils barsch. Der Junge ließ den Pfeil liegen und kam zurück. Nach einer Weile hatte er es aber vergessen, und als der Vater einmal stehen blieb, warf er sich hin und schoß Kabolz. »Zerdrück mir das Gras nicht, Junge, so hör' doch;« er fühlte sich am Arm gepackt und emporgezerrt, als sollte der Arm aus dem Gelenk, von nun an ging er still hinter dem Vater her.
In der Tür wartete Margit auf sie; sie kam grade aus dem Kuhstall, wo sie wohl tüchtige Arbeit gehabt haben mußte, denn ihr Haar war zerzaust, ihr Hemd und auch das Kleid unsauber; aber sie stand mit lachendem Gesicht in der Tür: »Ein paar Kühe hatten sich losgerissen und Unfug getrieben; jetzt sind sie aber wieder gebunden.« – »Du könntest dich am Sonntag doch wohl ein bißchen zurechtmachen,« sagte Nils und ging an ihr vorbei in die Stube. »Ja, jetzt ist es Zeit, sich zurechtzumachen, wenn die Arbeit getan ist,« sagte Margit und ging hinterher. Sie fing gleich damit an und sang, während sie sich putzte. Nun hatte Margit zwar eine hübsche Stimme, aber sie war zuweilen ein bißchen heiser. »Hör doch auf mit dem Gekrähe,« sagte Nils, der sich rücklings aufs Bett geworfen hatte, Margit hörte auf. Da kam der Junge hereingestürmt: »Du, Mutter, ein großer, schwarzer Köter ist uns auf den Hof gelaufen gekommen, ein garstiges Vieh!« – – »Halt den Mund, Bengel,« sagte Nils auf dem Bett und setzte das eine Bein herunter, um auf den Boden zu stampfen. »Muß denn der Teufel den Bengel immer reiten,« murmelte er hinter ihm her und zog das Bein wieder herauf. Die Mutter drohte dem Bübchen mit dem Zeigefinger. »Du siehst doch, daß der Vater nicht bei Laune ist,« meinte sie. »willst du nicht ein bißchen starken Kaffee mit Sirup haben?« fragte sie, um ihn damit wieder gutzumachen. Das war ein Getränk, das die Großmutter und auch die anderen sehr liebten. Nils mochte es durchaus nicht, aber hatte es doch den anderen zuliebe oft mit getrunken, »willst du nicht ein bißchen starken Kaffee mit Sirup?« wiederholte Margit, denn sie hatte noch keine Antwort bekommen. Nils erhob sich auf beiden Ellenbogen und schrie sie an: »Bildest du dir ein, ich werde das Schmierzeug saufen?« – Margit war sehr erstaunt, nahm den Jungen bei der Hand und ging hinaus.
Sie hatten draußen allerlei zu tun und kamen erst zum Abendbrot wieder herein. Da war Nils fort. Arne wurde aufs Feld geschickt, um ihn zu rufen, konnte ihn aber nirgends finden. Sie warteten, bis das Essen fast kalt war, dann aßen sie, und noch immer war Nils nicht da. Margit wurde unruhig, schickte den Jungen zu Bett und setzte sich, um zu warten. Kurz nach Mitternacht kam Nils. »Aber wo bist du denn nur gewesen?« sagte sie. »Geht dich nichts an,« antwortete er und setzte sich schwer auf die Bank. Er war betrunken.
Von da an war Nils oft in der Bygde, und immer kam er betrunken heim. »Ich halt's hier zu Haus bei dir nicht aus,« sagte er einmal, als er nach Hause kam. Sie suchte sich sanft zu verteidigen, aber er stampfte auf den Boden und hieß sie schweigen; wenn er betrunken wäre, so sei es ihre Schuld, wär' er bös, auch ihre Schuld, wäre er ein Krüppel und ein unglücklicher Mensch fürs ganze Leben, so wäre es auch ihre Schuld, ihre und ihres verteufelten Bengels. »Weshalb bist du mir auch immer nachgelaufen und hast dich mir angehängt?« sagte er und weinte. »Was hatte ich denn böses getan, daß du mich nicht in Frieden lassen konntest?« »Gott helfe mir,« sagte Margit, »ich wär' dir nachgelaufen?« – »Ja, du,« schrie er sie an, sprang auf und fuhr schluchzend fort: »Jetzt hast du ja endlich deinen Willen gekriegt. Ich schleppe mich hier von Baum zu Baum, Tag aus Tag ein und gucke mein eigenes Grab an. Und dabei hätte ich in Herrlichkeit und Freuden leben können mit dem schönsten Bauernmädchen der Bygde zusammen, und reisen hätt' ich können, so weit die Sonne scheint, wenn nicht du mit deinem verfluchten Bengel dich mir in den Weg gestellt hättest.« Sie versuchte wieder, sich zu verteidigen; der Junge sei doch jedenfalls nicht daran schuld. »Schweig, oder ich haue dich!« Und er schlug sie.
Wenn er dann am anderen Tage seinen Rausch ausgeschlafen hatte, schämte er sich und war besonders zu dem Jungen sehr nett. Aber bald war er aufs neue betrunken, und dann schlug er sie; zuletzt schlug er sie fast jedesmal, wenn er betrunken war; das Büblein weinte und jammerte, und dann schlug er auch ihn. Bisweilen ergriff ihn eine so heftige Reue, daß er hinaus mußte. In dieser Zeit erwachte die Tanzlust wieder in ihm. Er fing wieder an aufzuspielen wie ehedem und nahm den Jungen mit, der ihm den Kasten tragen mußte. Da sah der Junge gar mancherlei. Die Mutter weinte, weil er mit mußte, aber wagte nicht, Einspruch zu erheben. »Halte dich nur zu Gott und lerne nichts Häßliches,« bat sie und liebkoste ihn. Aber auf dem Tanzboden ging es lustig zu, und daheim bei der Mutter ging es gar nicht lustig zu. So kam es, daß er sich mehr und mehr von ihr ab- und dem Vater zuwandte. Sie sah es und schwieg. Auf dem Tanzboden lernte er allerlei Lieder, und die sang er dann nachher dem Vater vor; das amüsierte diesen, und bisweilen konnte der Junge ihn sogar zum Lachen bringen. Aber das schmeichelte dem Jungen so, daß er sich von da an Mühe gab, so viele wieder wie möglich zu lernen. Bald merkte er sich, welche Sorte der Vater am liebsten mochte und bei welchen Stellen er lachte. Wenn nun in den Liedern nicht solche Stellen vorkamen, legte der Junge sie, so gut er konnte, selbst hinein, und das gab ihm frühzeitig Übung, Worte zu bekannten Melodien zu setzen. Am liebsten mochte der Vater Spottlieder und solche, in denen häßliche Dinge standen über Leute, die zu Macht und Wohlstand gekommen waren, und die sang der Junge.
Die Mutter wollte ihn des Abends durchaus immer mit sich in den Kuhstall nehmen; er suchte allerhand Ausflüchte, um dem zu entgehen; aber wenn nichts half und er doch mit mußte, dann sprach sie zu ihm so wunderschön von Gott und allem Guten und nahm ihn zuletzt unter heißen Tränen in die Arme und bat ihn, flehte ihn an, daß er kein schlechter Mensch werden möge.
Die Mutter unterrichtete ihn, und der Junge war ganz außerordentlich gelehrig. Darauf war der Vater besonders stolz, und er erzählte ihm, namentlich wenn er betrunken war, er habe seines Vaters guten Kopf.
Auf dem Tanzboden pflegte der Vater, wenn der Rausch ihn unterkriegte, Arne aufzufordern, den Leuten etwas vorzusingen. Da sang er denn unter Gelächter und Lärm ein Lied nach dem anderen; der Beifall schmeichelte dem Sohn fast mehr als dem Vater, und zuletzt konnte er eine endlose Reihe von Liedern. Besorgte Mütter, die das mit anhörten, kamen selbst zu Arnes Mutter und erzählten es ihr, weil der Inhalt der Lieder oft durchaus nicht so war, wie er sein sollte. Die Mutter nahm den Knaben vor und verbot ihm bei Gott und allem Guten, solche Lieder zu singen, und nun kam es dem Jungen vor, als ob die Mutter gegen alles wäre, was ihm Spaß machte. Er erzählte zum erstenmal dem Vater, was die Mutter gesagt hatte. Dafür mußte sie dann, als der Vater wieder einmal betrunken war, viel leiden; bis dahin pflegte er nämlich immer alles aufzusparen. Aber da wurde dem Jungen auch klar, was er getan hatte, und er bat in tiefster Seele Gott und sie um Verzeihung, da er es nicht über sich gewinnen konnte, es offenkundig zu tun. Die Mutter war ebenso lieb zu ihm wie sonst, und das schnitt ihm ins Herz.
Einmal aber vergaß er es doch. Er hatte ein Talent, Leute nachzuäffen, besonders ihre Art zu sprechen und zu singen. Eines Abends, als der Junge den Vater grade damit unterhielt, kam die Mutter herein, und als sie wieder gegangen war, kam der Vater auf den Einfall, der Junge solle mal den Gesang der Mutter nachmachen. Er weigerte sich anfangs; aber der Vater, der auf dem Bett lag und sich vor Lachen schüttelte, bestand darauf; er solle nachmachen, wie die Mutter sang. Sie ist ja fort, dachte der Junge, und kann es nicht hören, und nun ahmte er sie nach, wie sie bisweilen sang, wenn ihre Stimme heiser und tränenerstickt war. Der Vater lachte so, daß es dem Jungen fast unheimlich wurde, und er verstummte von selbst. Da kam die Mutter von der Küche herein, sah den Jungen lange und traurig an, holte eine Milchsatte von der Borte und ging wieder hinaus.
Er fühlte sich glühend heiß am ganzen Körper; sie hatte alles gehört. Er sprang vom Tisch, wo er gesessen hatte, herunter, ging hinaus und warf sich hin, als wolle er sich in die Erde hineinwühlen. Doch die Unruhe ergriff ihn, er sprang auf und wollte noch weiter fort. Er ging an der Scheune vorbei, und sieh, da saß die Mutter und nähte an einem neuen feinen Hemd, grade für ihn. Sie pflegte sonst, wenn sie so bei der Arbeit saß, gern ein Kirchenlied zu singen; aber heute sang sie nicht. Sie weinte auch nicht, sie saß nur ganz still und nähte. Da konnte Arne es nicht länger aushalten; er warf sich dicht vor ihr ins Gras, sah zu ihr auf und schluchzte so, daß er am ganzen Körper bebte. Die Mutter ließ ihr Nähzeug fallen und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. »Armer Junge,« sagte sie und lehnte ihren Kopf an seinen. Er versuchte nicht zu sprechen, sondern weinte nur, wie er in seinem Leben noch nicht geweint hatte. »Hab's wohl gewußt, du bist im Grunde gut,« sagte die Mutter und streichelte ihm die Haare. »Mutter, ich hab' eine Bitte, aber du darfst nicht nein sagen, willst du?« war das erste, was er hervorbringen konnte. – »Du weißt ja, daß ich nicht nein sage,« antwortete sie. Er versuchte, seiner Tränen Herr zu werden, und dann stammelte er, den Kopf in ihren Schoß gepreßt: »Mutter, – sing mir was vor!« – »Ach, mein Junge, ich kann ja nicht,« sagte sie leise. – »Mutter, bitte, bitte, sing,« flehte der Junge, »sonst kann ich dir, glaube ich, meiner Lebtag nicht wieder in die Augen sehen.« Sie strich ihm übers Haar, schwieg aber. »Mutter, bitte, sing doch, sing, hörst du?« bettelte er, »bitte, sonst gehe ich fort, weit, weit fort, und komme nie wieder zurück.« Und während nun der große, fünfzehnjährige Junge mit dem Kopf im Schoß der Mutter lag, fing sie an, über ihn gebeugt, ganz leise zu singen:
Herr, o schütze mit starker Hand
meines Kindes Leben,
wolle als Spielgefährten am Strand
deinen Geist ihm geben.
Tief ist das Wasser, der Grund ist glatt,
doch, wenn dein Arm es ergriffen hat,
kann es nicht untersinken,
bis deine Gnaden ihm winken.
Mutters Herz ist so trüb und schwer,
fleht und lauschet mit Bangen,
findet ihr Kindlein nimmermehr,
weiß nicht, wohin es gegangen.
Doch sie denkt, wo es auch sei,
Gott der Vater ist stets dabei;
Jesus, sein Spielkamerad,
führt es auf sicherem Pfad.
Sie sang noch mehrere Verse; Arne rührte sich nicht; ein glückseliger Friede kam über ihn, und er fühlte eine erquickende Müdigkeit. Das letzte, was er deutlich hörte, war etwas von Jesus; das nahm er mit sich hinüber in eine große Helligkeit, und da war es auf einmal, als ob ein Chor von zwölf, dreizehn Stimmen sänge; aber der Mutter Stimme übertönte alle. Nie hatte er eine so schöne Melodie gehört, er fragte, ob er nicht auch mitsingen dürfe. Es dünkte ihm, wenn er nur ganz, ganz leise sänge, müsse es gehen, und nun sang er leise, wieder und immer wieder, immer leiser und leiser, und schon fing es an, fast himmlisch zu klingen, als er vor lauter Freude darüber mit voller Stimme drauf los sang, und da verschwand es. Er erwachte, sah sich lauschend um, hörte aber nichts als das ewige Brausen des Wassers und dicht neben sich den kleinen Bach, der mit leisem, stetigem Plätschern an der Scheune vorbeifloß. Die Mutter war fort; sie hatte ihm das halbfertige Hemd und ihre Jacke unter den Kopf gelegt.
Als nun die Zeit kam, daß das Vieh draußen im Walde weiden sollte, wollte Arne gern Hirtenbub sein. Der Vater war dagegen; er hatte doch bis jetzt noch nie das Vieh gehütet und ging schon ins fünfzehnte Jahr. Aber er bat so hübsch, daß er zuletzt seinen Willen bekam, und so war er den ganzen Frühling, Sommer und Herbst nur zum Schlafen daheim; sonst war er den lieben langen Tag mit sich selbst allein im Walde.
Seine Bücher nahm er mit herauf. Er las und schnitt Buchstaben in die Baumrinde; er schlenderte umher und dachte und sann und sehnte sich und sann; aber wenn er abends heimkam, war der Vater oft betrunken und schlug die Mutter und verwünschte sie und die ganze Bygde und prahlte damit, daß er einmal hätte weit wegreisen können. Da stieg auch in dem Knaben die Wandersehnsucht auf. Hier war alles so traurig, und die Bücher zogen ihn hinaus, und bisweilen war es, als ob selbst die Luft ihn hinauszöge über die hohen Berge.
Da geschah es, daß er an einem Mittsommertag mit Kristian, dem ältesten Sohn des Hauptmanns, zusammentraf, der mit einem Knecht in den Wald gekommen war, um Pferde zu holen und nach Hause zu reiten. Er war einige Jahre älter als Arne, leichtlebig und lustig, unstät im Denken, aber trotzdem stark in seinen Vorsätzen. Er sprach schnell und abgebrochen, am liebsten von zwei Dingen auf einmal, ritt ungesattelte Pferde, schoß die Vögel im Fluge, fischte mit der Fliege und schien Arne der Inbegriff aller Vollkommenheit. Er war auch voll von Reiselust und erzählte Arne von fremden Ländern, so daß es rings um sie her strahlte. Als er von Arnes Lesegier erfuhr, brachte er ihm alle die Bücher mit, die er selbst gelesen hatte; sobald Arne das eine aus hatte, bekam er ein neues; Sonntags saß er selbst neben ihm und wies ihn in der Geographie und auf der Landkarte zurecht, und Arne las und las den ganzen Sommer und Herbst, bis er zuletzt ganz blaß und mager wurde.
Im Winter durfte er auch zu Hause weiterlernen, teils weil er im nächsten Jahr konfirmiert werden sollte, teils weil er immer gut mit dem Vater umzugehen verstand. Er fing an, die Schule zu besuchen aber dort war ihm am wohlsten, wenn er die Augen schließen und sich zu seinen Büchern daheim hinträumen konnte; er hatte ja auch unter den Bauernjungen keinen Kameraden mehr.
Mit den Jahren mißhandelte der Vater die Mutter immer mehr und mehr, auch nahmen seine Trunksucht und seine körperlichen Leiden zu. Und wenn Arne sich dann trotzdem zu ihm setzen und ihn unterhalten mußte, nur um der Mutter einen Augenblick Frieden zu verschaffen, und dann oft Dinge sagen mußte, die er jetzt aus tiefster Seele verachtete, erwachte allmählich ein Haß gegen den Vater in ihm. Den verschloß er tief in sein Inneres, ebenso wie die Liebe zur Mutter. Wenn er mit Kristian zusammen war, drehten sich ihre Gespräche stets um große Reisen und um Bücher; selbst ihm verschwieg er, wie es zu Hause stand. Doch manch liebes Mal, wenn er von diesen weitfahrenden Gesprächen kam und heimwärts ging und daran dachte, was er nun wohl zu Hause wieder erleben würde, weinte er und flehte zum lieben Gott hoch oben über den Sternen, er möchte doch dafür sorgen, daß er bald fort dürfe.
Im Sommer wurde er und Kristian konfirmiert. Kurz darauf setzte der Freund seinen Plan durch. Der Vater mußte ihn ziehen lassen, damit er zur See gehen könne; er schenkte Arne seine Bücher, versprach, ihm fleißig zu schreiben – und reiste.
Nun stand Arne allein.
In jener Zeit bekam er wieder Lust, zu dichten. Jetzt flickte er nicht mehr an alten Liedern herum, sondern machte neue, und all sein Herzweh legte er hinein.
Doch sein Gemüt wurde zu schwer, und sein Kummer zerstörte ihm die Lieder. In langen schlaflosen Nächten wurde es ihm zur Gewißheit, daß er es nicht länger aushalten könne; fort wollte er, weit fort, Kristian suchen – und niemandem ein Wort davon sagen. Er dachte an die Mutter, und was dann aus ihr werden sollte, und konnte ihr fast nicht mehr in die Augen sehen.
Da saß er eines Abends noch spät auf und las. Wenn es ihm zu schwer ums Herz wurde, nahm er seine Zuflucht zu den Büchern und merkte nicht, daß sie das Gift nur vermehrten. Der Vater war auf einer Hochzeit, wurde aber noch am Abend zurückerwartet; die Mutter war müde und fürchtete sich vor ihm und hatte sich darum zu Bett gelegt. Da fuhr Arne plötzlich auf; denn er hörte draußen auf dem Flur einen schweren Fall und etwas Hartes gegen die Tür poltern. Es war der Vater.
Arne machte ihm die Tür auf und sah ihn an. »Bist du's, mein kluger Junge? Komm her, krieg deinen Vater auf.« Arne hob ihn auf und lehnte ihn gegen die Bank, dann nahm er den Geigenkasten, trug diesen hinter ihm hinein und schloß die Tür. »Ja, guck mich nur an, du kluger Bengel; hübsch bin ich nicht; vom alten Nils Schneider ist nichts mehr übrig. Das sage – ich dir, damit du – damit du nie – nie Schnaps trinkst; das ist – der Teufel, die Welt und unser eigen Fleisch, – – Er widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen schenkt er Gnade. – – Ach jemine, ach jemine, – wie weit ist es doch mit mir gekommen.«
Er saß ein Weilchen still, dann sang er mit weinerlicher Stimme:
Herr, mein Erlöser, Jesus Christ,
hilf mir, wenn mir zu helfen ist.
Lieg' ich auch tief im Sündenschlamm,
bin ich dein Kind doch, du Gotteslamm.
»Herr, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach kommst; aber sprich nur ein Wort –« Er warf sich vornüber, verbarg das Gesicht in den Händen und weinte wie in Krämpfen. Lange lag er so da, und dann deklamierte er wortgetreu aus der Bibel her, wie er's wohl vor über zwanzig Jahren gelernt haben mochte: »Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sagte: ›Herr, hilf mir!‹ Er aber antwortete und sprach: ›Es ist nicht fein, daß man den Kindern das Brot wegnehme und werfe es vor die Hunde –‹ Sie aber sprach: ›Ja Herr; aber doch essen die Hündlein von den Brosamen, die von ihres Herren Tische fallen.‹«
Er schwieg, weinte jetzt aber befreiter und leiser.
Die Mutter war längst wach, wagte aber nicht aufzusehen. Jetzt aber, als er wie ein Erlöster weinte, stützte sie sich auf die Ellenbogen und sah auf.
Doch kaum wurde Nils sie gewahr, als er sie anschrie: »Na, was guckst du denn, – willst wohl sehen, wie du mich zugerichtet hast, he? Ja, so sehe ich aus, genau so!« – – Er erhob sich, und sie verbarg sich unter dem Fell. »Nu, man nicht verkriechen,« sagte er, »ich finde dich doch,« und er hielt die rechte Hand mit ausgestreckten: Zeigefinger tastend vor sich hin. – »Kille, kille,« sagte er, indem er ihr die Bettdecke wegzog, und den Zeigefinger auf ihre Gurgel preßte.
»Vater!« rief Arne.
»Ei guck mal, wie verschrumpelt und mager du geworden bist. Hier ist der Weg hinein nicht weit. Kille, kille.« Die Mutter packte krampfhaft seine Hand mit ihren beiden Händen, konnte sich jedoch nicht losreißen und krümmte sich wie ein Knäuel zusammen.
»Vater!« rief Arne.
»Na, kommt wieder Leben in die Bude? Wie sie sich windet, das alte Gerippe! Kille, kille!«
»Vater!« schrie Arne. Die Stube fing vor ihm auf und ab zu tanzen an.
»Kille, kille, sage ich« – Sie ließ seine Hände fahren und ergab sich drein.
»Vater!« rief Arne. Er stürzte nach der Ecke, in der eine Axt stand.
»Du schreist wohl nur aus Trotz nicht, he ? Nimm dich ja in acht; mich packt eine ganz fürchterliche Lust. Kille, kille.«
»Vater!« schrie Arne und griff nach der Axt, blieb aber wie angewurzelt stehen; denn in demselben Augenblick richtete sich der Vater auf, stieß einen gellenden Schrei aus, griff sich an die Brust und fiel um; »Jesus Christus,« sagte er, und dann lag er ganz still.
Ein Schwindel ergriff Arne; er hatte keine Ahnung, wo er stand oder wovor er stand; er wartete nur darauf, daß die Stube bersten würde und von irgendwo her ein helles Licht hereinfalle. Die Mutter fing an, schwer zu atmen, als wälze sie etwas Schweres von sich. Endlich richtete sie sich halb auf, und da sah sie den Vater ausgestreckt auf dem Boden liegen und den Sohn danebenstehen mit einer Axt.
»Barmherziger Gott, was hast du getan?« schrie sie und fuhr aus dem Bette auf, warf ihren Rock über und kam herbei. Da war ihm, als löse sich seine Zunge. »Er ist von selbst umgefallen,« sagte er leise. – »Arne, Arne, ich glaube dir nicht,« sagte die Mutter mit mächtiger, strafender Stimme; »nun gnade dir Gott!« und sie warf sich jammernd über die Leiche. Doch der Knabe kam aus seiner Betäubung wieder zu sich und fiel nun auch auf die Knie: »So wahr ich Gottes Gnade erwarte, er fiel um, so wie er dastand.« – – »Dann ist der allmächtige Gott selbst hier gewesen,« sagte sie leise, kauerte sich zusammen und starrte vor sich hin.
Nils lag unverändert, steif mit offenen Augen und offenem Munde da. Die Hände hatten sich einander genähert, als ob sie sich hätten falten wollen, aber nicht dazu imstande gewesen wären, »Komm Arne, du bist stark, faß deinen Vater mit an und hilf mir, ihn aufs Bett legen.« Und sie nahmen ihn und trugen ihn aufs Bett. Sie schloß ihm Augen und Mund, streckte ihn und faltete ihm die Hände.
Dann standen sie beide vor dem Toten und sahen ihn an. Nichts, was sie bisher erlebt hatten, war so bedeutungsvoll und inhaltsschwer wie dieser Augenblick. Wohl war der Böse leibhaftig hier gewesen, aber auch Gott der Herr war gegenwärtig, kurz war die Begegnung. Alles Vorangegangene war nun abgetan.
Es war kurz nach Mitternacht, und sie mußten bis Tagesanbruch bei dem Toten wachen. Arne machte ein großes Feuer auf dem Herd an, und die Mutter setzte sich daneben. Und wie sie da so saß, ging es ihr durch den Sinn, wie manchen bösen Tag sie doch mit Nils gehabt habe, und sie dankte Gott in heißem, inbrünstigem Gebet für das, was er getan. »Aber ich habe doch auch manch guten Tag gehabt,« sagte sie und weinte, als bereue sie ihr Dankgebet, und zuletzt nahm sie die Hauptschuld auf sich, da sie ja aus Liebe zu dem Toten wider Gottes Gebot gehandelt hatte und ihrer Mutter ungehorsam gewesen war, und eben für diese sündige Liebe bestraft worden sei.
Arne setzte sich ihr gegenüber. Die Mutter sah nach dem Bett hinüber: – »Denk dran, Arne, daß ich nur deinetwillen alles das ausgehalten habe,« und sie weinte, hungernd nach einem lieben Wort als Stütze in ihren Selbstanklagen und als Trost für kommende Zeit. Der Knabe zitterte und konnte nicht antworten. »Du darfst mich nie verlassen,« schluchzte sie. – Da wurde ihm mit einem Male klar, was sie in all dieser Zeit des Jammers gewesen und wie grenzenlos verlassen sie sein würde, wenn er sie jetzt zum Lohn für ihre große Treue verließe. »Nie, nie,« flüsterte er und wollte zu ihr hinüber, aber hatte nicht die Kraft dazu. So saßen sie, und ihre heißen Tränen vereinten sich. Sie betete laut, betete für den Toten, betete für sich und ihr Kind, und sie weinten und sie beteten wieder, und dann weinten sie wieder. Dann sagte sie: »Arne, du kannst so schön singen, setz dich dort zum Vater und sing etwas für ihn.«
Und gleich war ihm, als ob er die Kraft dazu wieder bekäme. Er stand auf und holte das Gesangbuch, zündete einen Kienspan an und setzte sich, in der einen Hand den Span, in der anderen das Gesangbuch, an das Kopfende des Bettes. und sang mit klarer Stimme den 127. Choral von Kingo:
Herr, o laß deinen Zorn jetzt fahren,
wolle die blutige Zuchtrute sparen,
die deines Grimmes Wucht uns kündigt,
weil wir gesündigt.
Arne wurde wortkarg und menschenscheu; er hütete das Vieh und machte Verse. Er lieh sich Bücher vom Pfarrer und las; aber das war auch das einzige, was er tat.
Der Pfarrer ließ ihn fragen, ob er nicht eine Lehrerstelle annehmen wolle, »denn die Bygde müsse aus seinen Fähigkeiten und Kenntnissen Nutzen ziehen«. Arne antwortete nichts darauf; aber am Tage drauf machte er, als er die Schafherde vor sich hertrieb, folgendes Lied:
Ziegenböckchen, Lämmchen mein,
Klettern macht zwar manchmal Pein,
doch auf den Füßchen, den schnellen,
spring nach dem Klingeln der Schellen.
Ziegenböckchen, Lämmchen mein,
paß auch auf dein Fellchen fein,
Mutter macht draus 'ne Decken,
will sich des Abends drin strecken.
Ziegenböckchen, Lämmchen mein,
pfleg' auch hübsch dein Bäuchelein;
weißt du denn nicht, mein Püppchen,
Mutter kocht von dir ein Süppchen?
Eines Tages, er war jetzt zwanzig Jahr alt, wurde er aus Versehen Zeuge eines Gespräches zwischen der Mutter und der Frau des früheren Hofbesitzers; sie zankten sich über das Pferd, das sie gemeinschaftlich besaßen. »Ich will erst hören, was Arne dazu sagt,« meinte die Mutter. »Ach, der Faulpelz,« antwortete die andere; »der will wohl, das Pferd soll sich im Wald herumtreiben, wie er selbst tut.« Da verstummte die Mutter, so beredt sie auch vorher gewesen war.
Arne wurde feuerrot. Daß die Mutter um seinetwillen höhnische Worte anhören müßte, das war ihm doch noch nie eingefallen, und wer weiß, wie viele sie schon hatte ertragen müssen, warum hatte sie ihm denn das nie gesagt?
Er dachte darüber nach, und nun fiel es ihm ein, daß die Mutter fast nie mit ihm sprach. Aber auch er sprach ja nicht mit ihr; mit wem sprach er überhaupt? –
Manchen Sonntag, wenn er so still zu Hause saß, hätte er seiner Mutter gern die Predigt vorgelesen; denn ihre Augen waren schwach geworden, sie hatte in ihrem Leben zu viel geweint. Aber es kam nicht dazu. Manch liebesmal hatte er ihr auch anbieten wollen, ihr etwas aus seinen eigenen Büchern vorzulesen, wenn es gar zu still im Zimmer war, und er dachte, sie müsse es doch langweilig finden. Aber es kam eben nicht dazu.
's ist mir auch einerlei, ich kann ja das Ziegenhüten lassen und zu Mutter herunterziehen, Er wartete noch einige Tage, um den Entschluß fest werden zu lassen; die Herde trieb er weit im Walde umher und machte dabei ein Gedicht:
Im Kirchspiel, da ist Unruh, im Wald ist's friedlich still,
hier gibt es keinen Schulzen, der stets gleich pfänden will,
das Streiten um die Kirche man hier durchaus nicht liebt,
doch kommt's wohl davon, weil 's hier noch keine Kirche gibt.
Wie ruhig ist's im Walde, der Habicht nur entdeckt
ein Spätzlein und zerzupft es, weil ihm der Braten schmeckt,
der Adler würgt mit Wonne ein junges Tier zu Tod,
weil sonst an Langeweile er zu krepieren droht.
Der eine Baum verwittert, den andern haut man um,
Rotfuchs im Abenddämmern macht schnell ein Lämmchen stumm,
den Fuchs zerriß der Wolf, doch bald ward er sein Genoß,
denn noch vor Tagesgrauen Jung-Arne ihn erschoß.
Im Wald, sowie im Tale gar mancherlei geschieht.
Da heißt's nur acht zu geben, daß man nichts Falsches sieht.
Sah einen Bursch im Traume, der schlug den Vater tot,
ich glaub, 's war in der Hölle, da litt er große Not.
Dann ging er heim und sagte der Mutter, sie könne sich nach einem anderen Hirtenbuben umsehen; er wollte sich von jetzt an lieber des Hofes annehmen. Und so wurde es; aber die Mutter kam stets mit Ermahnungen, er dürfe sich ja nicht zu sehr anstrengen. Sie setzte ihm auch in dieser Zeit so gutes Essen vor, daß er oft ganz beschämt darüber war; aber er sagte nichts.
Er trug sich mit einem Gedicht, das den Refrain hatte: »Über die hohen Berge«. Er konnte aber nicht damit fertig werden, hauptsächlich deshalb, weil er den Refrain in jeder zweiten Zeile haben wollte; zuletzt gab er es auf.
Aber einige von den Liedern, die er gemacht hatte, kamen unter die Leute und wurden dort sehr beliebt; manch einer hätte gerne mit ihm gesprochen, besonders die, die sich seiner noch aus der Kindheit her erinnerten. Aber Arne fürchtete sich vor allen, die er nicht kannte, und traute allen Böses zu, hauptsächlich weil er glaubte, sie trauten ihm auch nur Böses zu.
Bei den Feldarbeiten ging ihm ein Mann in mittleren Jahren zur Hand, der Oplands-Knut genannt, und dieser hatte die Angewohnheit, mitunter zu singen; aber es war immer dasselbe Lied. Als das ein paar Monate immer so weitergegangen war, meinte Arne, er müsse ihn doch mal fragen, ob er nicht noch andere könne. »Nein,« antwortete der Mann, wieder gingen einige Tage hin, und als der Mann wieder einmal sein Lied sang, fragte Arne: »Wie kam denn das, daß du gerade dies eine gelernt hast?« – »Ei, das machte sich so,« sagte der Mann.
Gleich darauf ging Arne hinein; da saß die Mutter und weinte, und das hatte er seit des Vaters Tode nicht gesehen. Er tat, als merke er es nicht, und ging wieder nach der Tür; aber er fühlte der Mutter kummerschweren Blick und blieb unwillkürlich stehen. – »Warum weinst du denn, Mutter?« – Eine Zeitlang waren seine Worte der einzige Laut im Zimmer, und darum fragten sie sich selber immer wieder und immer wieder, bis er zuletzt fühlte, daß sie nicht lieb genug geklungen hätten. Er fragte also noch einmal: »Warum weinst du denn, Mutter?«
»Ach, ich weiß selbst nicht recht;« und dabei weinte sie noch heftiger. Er stand eine ganze Weile, und dann sagte er so mutig, wie er konnte: »Du weinst über etwas Bestimmtes.« Wieder wurde es still. Er fühlte sich sehr schuldbewußt, obwohl sie nichts gesagt hatte und er nichts wußte. »Es kam nur so über mich,« sagte die Mutter. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich bin ja im Grunde so glücklich,« und dann weinte sie wieder.
Aber Arne lief schnell hinaus, und es zog ihn nach der Felswand hinunter. Er setzte sich und sah in die Schlucht hinab, und während er so dasaß, fing er auch zu weinen an. »Wüßte ich nur, weshalb ich weine,« sagte Arne.
Aber über ihm auf dem neugepflügten Acker saß der Oplands-Knut und sang sein Lied:
Ingerid Sletten von Sillejor
war wohl an Gold reich,
nur ein buntes Häubchen von Wolle weich
zog allem Schmucke sie vor.
Ein kleines Häubchen, schlicht und arm,
Mütterlein hat einst ihr's gebracht,
und wenn sie an Vater und Mutter dacht',
ward ihr's um's Herze so warm.
Sie barg das Häubchen wohl zwanzig Jahr,
hütet' es so liebevoll;
»ich trage dich einst, wenn ich knien soll
vor Gottvaters Hochaltar.«
Sie barg das Häubchen wohl dreißig Jahr,
barg es im Kämmerlein traut;
»ich trage dich einst als selige Braut
vor Gottvaters Traualtar.«
Sie barg das Häubchen wohl vierzig Jahr,
dachte noch an Mütterlein;
»ach Häubchen, du liebstes Häubchen mein,
wir stehen wohl nie vorm Altar.«
Das Herz ward ihr so weit und schwer,
feierlich war ihr Gang,
so trat sie zur Truhe und suchte lang,
da war nicht ein Fädchen mehr.
Arne saß da, als kämen die Töne fern von der Halde her. Er ging zu Knut hinauf. »Hast du eine Mutter?« fragte er. – »Nein.« – »Aber einen Vater?« – »Ach nein, einen Vater auch nicht.« – »Sind sie schon lange tot?« – »Ja, schon sehr lange.« –
»Du hast wohl nicht viele, die dich lieb haben?« – »Nein nicht arg viele.« – »Hast du denn jemanden hier?« – »Nein, hier habe ich keinen.« – »Aber in deiner Heimat?« – »Nein, da auch nicht.« – »Hast du denn gar keinen, der dich lieb hat?« –
»Nein, gar keinen.«
Aber Arne ging von ihm und hatte seine Mutter so lieb, als ob ihm sein Herz zerspringen sollte, und es war ihm, als ob es plötzlich über ihm leuchtete.
Himmlischer Vater, dachte er, du hast sie mir gegeben, und mit ihr so unsagbar viel Liebe, und ich lasse sie achtlos liegen, – und einmal später, wenn ich sie haben will, dann ist sie vielleicht nicht mehr! Er mußte hin zu ihr, mußte sie wenigstens sehen. Aber auf dem Wege fiel es ihm mit einem Male schwer auf die Seele: Nun wirst du vielleicht, weil du sie nicht genug schätzt, bald dadurch bestraft, daß du sie verlierst. – Er blieb stehen, wo er grade war; allmächtiger Gott, was sollte dann aus ihm werden?
Ihm war, als müsse grade jetzt, in diesem Augenblick, zu Hause ein Unglück geschehen; er lief in großen Sprüngen nach Hause, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, und die Füße berührten kaum den Boden. Er riß die Haustür auf; doch da drinnen war es wie Ruhe in der Luft.
Er machte leise die Stubentür auf. Die Mutter war zu Bett gegangen, der Mond schien voll auf ihr Gesicht; sie lag und schlief wie ein Kind.
Einige Tage drauf beschlossen Mutter und Sohn, die seitdem inniger zusammen gelebt hatten, eine Hochzeit bei Verwandten auf einem der Nachbargehöfte mitzumachen. Seit ihrer Mädchenzeit war die Mutter auf keinem Fest mehr gewesen.
Sie kannten die meisten der Gäste nur bei Namen, und Arne fand es besonders so merkwürdig, daß man ihm überall, wo er ging, nachblickte.
Einmal im Flur hatte man etwas hinter ihm hergesagt; er war nicht ganz sicher; aber er glaubte, es aufgefangen zu haben, und jeder Bluttropfen geriet ihm in Wallung, jedesmal, wenn ihm das wieder einfiel.
Dem Mann, der es gesagt hatte, ging er von da an unabläßlich nach und beobachtete ihn, und zuletzt setzte er sich neben ihn. Aber als er an den Tisch trat, schien es ihm, als gäbe man dem Gespräch schnell eine andere Wendung.
»Nun paßt mal auf, jetzt werde ich euch aber 'ne Geschichte erzählen, die deutlich zeigt, wie nichts so fein gesponnen ist, es kommt doch an die Sonnen,« sagte der Mann, und Arne kam es vor, als sähe er ihn dabei an. Der Mann sah garstig aus, hatte dünne, rote Haare um eine hohe, gewölbte Stirn. Darunter ein paar kleine Schlitzaugen und eine kleine Klumpnase; aber der Mund war sehr groß, und die wulstigen Lippen waren weißlich. Wenn er lachte, sah man beide Kiefer. Seine Hände lagen auf dem Tisch, sie waren plump und groß, aber das Handgelenk war dünn. Er blickte scharf und sprach schnell, aber sehr angestrengt; die Leute nannten ihn das »Schandmaul«, und Arne wußte, daß Nils Schneider ihm in alten Tagen oft übel mitgespielt hatte.
»Ja, ja, 's gibt viel Sünde in dieser Welt; oft sitzt sie einem näher, als man glaubt. – – Nun ja, gleichviel; jetzt sollt ihr von einer garstigen Tat zu hören kriegen. Die älteren unter uns wissen wohl noch vom Alf, dem Ränzel-Alf. ›Komme schon wieder,‹ sagte er immer; die Redensart stammt von ihm; jedesmal, wenn er einen Handel abgeschlossen hatte, – und der Kerl verstand zu handeln! – schmiß er sein Ränzel über den Rücken und rief: ›Komme schon wieder.‹ 'n Teufelskerl, 'n Prachtkerl, 'n Hauptkerl war das, der Ränzel-Alf.
Na ja, da kam die Geschichte mit ihm und dem großen Faulpelz. Der Faulpelz – ja, ihr kennt doch den Kerl, was? – groß war er und faul war er auch. Der hatte sich in ein kohlrabenschwarzes Pferd vergafft, mit dem der Ränzel-Alf einhergaloppiert kam; das hopste umher wie 'n Grashupper, und eh' der große Faulpelz sich's versah, hatte er fünfzig Taler für den Gaul gegeben. Der Faulpelz schleunigst auf ein Karjol gesprungen, so lang wie er war, um mit dem Fünfzigtalerpferd zu protzen; aber er mochte peitschen und fluchen, so viel er wollte, bis der ganze Hof eine einzige Staubwolke war, – – der Gaul rannte beharrlich gegen alle Türen und Wände, die es nur gab, denn er war stockblind! Von Stund' an lagen sich die beiden überall in der Bygde in den Haaren, des Gaules wegen, wie zwei wütende Köter. Der Faulpelz wollte sein Geld wieder haben; aber meint ihr, er hätte auch nur einen roten Heller zurückgekriegt? Der Ränzel-Alf verhaute ihn so, daß die Borsten stoben. ›Komme schon wieder,‹ sagte Alf. – Ein Teufelskerl war er, der Alf, 'n Prachtkerl, 'n Hauptkerl, der Ränzel- Alf.
Na, endlich kam er aber jahrelang durchaus nicht wieder.
Etwa zehn Jahre mochten verstrichen sein, da wurde am Kirchberg eines Tages ausgerufen, daß er sich einfinden müsse; denn es war ihm eine riesige Erbschaft zugefallen. Der Faulpelz stand dabei. ›Hab' ich's nicht gewußt?‹ sagte er, »was nach dem Ränzel-Alf sucht, mußte Geld sein, nicht Leute.«
Nun sprach man hin und her über den Alf, und so lange wurde geschwatzt, bis man glücklich heraus hatte, man habe ihn zuletzt diesseits des Rörenberges gesehen, und nicht jenseits. Ja, ihr kennt wohl noch den Weg über den Rören, den alten Weg?
Der große Faulpelz war aber inzwischen zu Macht und Herrlichkeit gekommen mit Hof und Haus und allem Möglichen. Außerdem hatte er sich auf die Gottesfurcht verlegt, und das wußte ein jeder, daß der nicht um nichts und wieder nichts fromm wurde, der, – frommer als andere, nee. Man fing an, sich allerlei zuzuraunen.
Es war damals, als man den neuen Weg über den Rören anlegte; die Alten hatten es so an sich gehabt, daß sie am liebsten gradeaus wollten, und darum ging der Weg direkt über den Rören; wir dagegen wollen es lieber hübsch eben haben, und darum geht jetzt der Weg am Fluß entlang. Nun wurde gesprengt und gewirtschaftet, als ob der ganze Rören 'runter sollte. Oft fuhren auch Wegbauleute da umher. Aber am häufigsten der Herr Amtmann, denn der Herr Amtmann hat ja doppelt freie Fahrt. Und wie sie da nun eines Tages im Geröll umhergruben und einer grade einen Stein aufheben wollte, kriegte er auf einmal statt des Steines eine Hand zu packen, die aus dem Steinhaufen hervorragte, und so stark war diese Hand, daß der, der sie ergriffen hatte, mit ihr zurücktaumelte. Und wer war der Mann? Der große Faulpelz. – Der Vogt war in der Nähe; er wurde herbeigeholt, und nun grub man die Gebeine eines ganzen Menschen heraus. Der Doktor wurde auch geholt, und der setzte das Gerippe so kunstfertig zusammen, daß nur das Fleisch fehlte. Aber die Leute behaupteten, das Gerippe habe ganz die Größe vom Ränzel-Alf. ›Komme schon wieder,‹ sagte Alf.
Dem einen und dem anderen kam es sonderbar vor, daß eine tote Hand einen Kerl wie den großen Faulpelz so mir nichts dir nichts umschmeißen konnte, trotzdem sie doch gar nicht schlug. Der Vogt drang ohne viel Fisimatentchen auf ihn ein – versteht sich, ohne daß jemand es hörte. Aber da fing der Faulpelz so zu fluchen an, daß es dem Vogt schwarz vor den Augen wurde. ›Nun gut,‹ sagte der Vogt, ›bist du's nicht gewesen, dann bist du wohl der rechte Mann dazu, heut nacht mit dem Gerippe zusammenzuliegen, was?‹ ›Ei, das wollt' ich meinen,‹ antwortete der Faulpelz. Und nun band der Doktor das Gerippe in den Gelenken zusammen und legte es in das eine Bett in der Baracke; in das andere sollte sich der Faulpelz legen. Aber draußen dicht an der Wand lag in seinen Mantel gehüllt der Vogt. – Als es dunkel wurde und der Faulpelz zu seinem Schlafkameraden hineinsollte, war es, als ob die Tür sich von selbst hinter ihm schlösse, und er stand im Finstern da. Nun fing der Faulpelz an, Choräle zu singen; denn er hatte eine starke Stimme. ›Warum singst du denn?‹ fragte der Vogt draußen an der Wand, ›Wer weiß, ob er kirchlich begraben ist,‹ antwortete der Faulpelz. Dann fing er zu beten an, so laut er nur konnte. ›Warum betest du denn?‹ fragte der Vogt draußen. ›Er ist doch sicherlich ein arger Sünder gewesen,‹ antwortete der Faulpelz. Nun war es eine ganze Weile still, und der Vogt war schon nahe am Einschlafen. Plötzlich schrie es drinnen, daß die Hütte erbebte: ›Komme schon wieder.‹ – Ein Höllenspektakel und Rumoren erhob sich: ›Her mit meinen fünfzig Talern!‹ brüllte der Faulpelz, und dann schrie es und klapperte es; der Vogt stieß die Tür auf, Leute stürzten mit Stangen und Windlichtern herbei, und da lag der Faulpelz mitten in der Stube auf dem Boden und über ihm das Gerippe.« –
Es war ganz still am Tisch. Endlich sagte einer, der seine Pfeife grade anzünden wollte: »Er ist ja an dem Tag verrückt geworden, nicht wahr?« – Freilich. –
Arne fühlte, daß alle ihn ansahen, und war daher unfähig, die Augen zu erheben, »wie ich gesagt habe,« nahm der erstere wieder das Wort, »nichts ist so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen.« –
»Und ich will euch jetzt was von einem Sohn erzählen, der seinen eigenen Vater schlug,« sagte ein dicker, blonder Mann mit rundem Gesicht. Arne wußte kaum, wo er war.
»Es war einmal ein Raufbold aus einer angesehenen Familie in Hardanger; der hatte schon manchen untergekriegt. Er lag mit seinem Vater im Streit wegen des Altenteils, und so kam es, daß der Mann weder im noch außer dem Hause Frieden hatte.
Dadurch wurde er selbst immer schlimmer, und der Vater stellte ihm nach.
›Ich lasse mir von keinem Menschen was sagen,‹ sagte der Sohn, ›Aber von mir, so lang' ich lebe,‹ antwortete der Vater. ›Schweig, oder ich hau' dir eine 'runter.‹ – ›Ja, wag' es nur, dann soll's dir auf dieser Welt nimmermehr gut gehen,‹ antwortete der Vater und stand auch auf. – ›Meinst du?‹ – Und der Sohn warf sich auf ihn und schmiß ihn zu Boden. Aber der Vater wehrte sich nicht, sondern kreuzte nur die Arme und ließ ihn machen, was er wollte.
Der Sohn schlug ihn, packte ihn und schleppte ihn zur Tür: ›Ich will Hausfrieden haben!‹ Aber als sie bis an die Tür gekommen waren, richtete der Vater sich auf. ›Nicht weiter als bis zur Tür,‹ sagte er. ›So weit habe ich meinen Vater auch geschleift.‹ Doch der Sohn achtete nicht darauf und zerrte den Kopf über die Schwelle. ›Nicht weiter als bis zur Tür!‹ sage ich. Der Alte sprang auf, warf den Sohn vor seine Füße und züchtigte ihn wie einen Buben.«
»Pfui, wie abscheulich!« sagten mehrere. »Hand an seinen Vater zu legen,« meinte Arne einen sagen zu hören. Aber ganz sicher war er nicht.
»Nun will ich euch etwas erzählen,« sagte Arne. Totenblaß stand er auf und wußte gar nicht, was er sagen wollte. Er sah nur die Worte wie große Schneeflocken um sich her wirbeln; »es geht ganz aufs Geratewohl,« und er fing an:
»Ein Troll begegnete einmal einem Jungen, der weinend einherging. ›Vor wem fürchtest du dich am meisten,‹ sagte der Troll, ›vor dir selbst oder vor anderen?‹ Aber der Junge weinte, weil er in der Nacht geträumt hatte, er habe seinen bösen Vater erschlagen, und darum antwortete er: ›Ich fürchte mich am meisten vor mir selbst.‹ – ›Von nun an sollst du Frieden mit dir selbst haben und nicht mehr weinen; denn von jetzt an sollst du nur noch mit anderen im Krieg liegen.‹ Und damit zog der Troll seines Weges. Aber der erste, dem der Bursch begegnete, lachte ihn aus, drum mußte der Bursch ihn auch auslachen. Der zweite, der ihm begegnete, schlug ihn. Der Bursch mußte sich verteidigen und schlug wieder. Der dritte, der ihm begegnete, wollte ihn umbringen; drum blieb dem Burschen nichts anderes übrig, als ihn selbst umzubringen. Aber alle Leute redeten Böses von ihm, und darum wußte auch er nichts anderes als Böses von ihnen zu reden. Sie verschlossen ihre Türen und ihre Schränke vor ihm, so daß er alles, was er brauchte, stehlen mußte, ja sogar seine Nachtruhe mußte er sich stehlen. Da er also nichts Gutes tun durfte, mußte er immerzu Böses tun. Da sagte die Gemeinde: Den Bengel müssen wir los werden; der ist zu schlecht. Und eines schönen Tages schafften sie ihn aus dem Wege. Aber der Junge wußte durchaus nicht, daß er etwas Böses getan hatte, und deshalb kam er nach dem Tode graden Weges zu Gott hinein. Da saß auf einer Bank der Vater, den er gar nicht umgebracht hatte, und gegenüber auf einer anderen Bank saßen alle die, die ihn gezwungen hatten, Böses zu tun. ›Vor welcher Bank fürchtest du dich?‹ fragte der liebe Gott, und der Junge zeigte auf die lange. ›Nun, so setz dich zu deinem Vater,‹ sagte Gott, und der Junge wollte es tun. Da stürzte der Vater mit einer klaffenden Wunde im Nacken von der Bank herab. Auf seinem Platz sah der Bursch sein eigen Spiegelbild mit totenblassem, von Reue verzerrtem Gesicht; noch ein anderes, mit aufgedunsenem Säufergesicht und schlotterndem Körper; und noch eins mit wahnsinnigem Gesicht, zerrissenen Kleidern und fürchterlichem Lachen. ›So hätte es dir auch ergehen können,‹ sagte der liebe Gott. – ›Ach, wär's möglich,‹ sagte der Knabe und griff nach dem Saum von Gottes Gewand. Da fielen die beiden Bänke vom Himmel herunter, und nur der Knabe allein stand bei Gott und lachte. ›Denk daran, wenn du aufwachst,‹ sagte Gott, – und in demselben Augenblick erwachte der Junge. Aber der Junge, der all das geträumt hat, bin ich, und die, die ihn in Versuchung führen, dadurch, daß sie Böses von ihm glauben, das seid ihr. Vor mir selbst ist mir nicht mehr bange; aber vor euch ist mir bange. Hetzt nicht das Böse in mich hinein; denn ich bin nicht so sicher, ob ich einst Gottes Gewand ergreifen kann.«
Damit stürzte er hinaus, und die Männer blickten einander an.
Es war am Tage drauf in der Scheune desselben Hofes, Arne war zum erstenmal in seinem Leben betrunken gewesen, war infolgedessen krank geworden und hatte die Nacht und fast den ganzen Tag oben in der Scheune gelegen. Jetzt saß er aufrecht, stützte sich auf die Ellenbogen und führte folgendes Selbstgespräch:
– – Alles, was ich anfasse, wird zu Feigheit: Daß ich als Junge nicht durchbrannte, war Feigheit; daß ich mehr auf den Vater hörte wie auf die Mutter, war Feigheit; daß ich ihm die garstigen Lieder vorsang, war Feigheit. Das Vieh hab ich gehütet, nur aus Feigheit; – zu lesen hab' ich angefangen – ach ja, auch nur aus Feigheit: ich wollte mich bloß vor mir selbst verkriechen. Daß ich als erwachsener Mensch der Mutter nicht gegen den Vater beistand – Feigheit; daß ich ihn in jener Nacht nicht – hu! – Feigheit! Ich hätte wahrscheinlich gewartet, bis er sie umgebracht hätte; – – nachher konnte ich's zu Haus nicht aushalten – Feigheit; aber davonlaufen tat ich auch nicht – Feigheit? ich tat überhaupt nichts, nur das Vieh hüten, das tat ich – aus Feigheit. Freilich hatte ich der Mutter versprochen, zu bleiben; aber ich wäre schon feig genug gewesen, den Schwur zu brechen, wenn ich nicht zu feig gewesen wäre, um unter die Leute zu gehen. Denn ich habe Angst vor den Leuten, hauptsächlich wohl, weil ich glaube, daß sie sehen, wie garstig ich bin. Aber weil ich Angst vor ihnen habe, rede ich Böses von ihnen – verdammte Feigheit! Lieder mache ich – auch aus Feigheit. Ich wage nicht, über meine eigenen Dinge nachzudenken, und schwenke darum ab in andere Dinge, – und das nennt man dichten!
Am liebsten hätt' ich mich hinsetzen mögen und weinen, bis die Hügel zu Wasser zerfließen; aber statt dessen sage ich nur: »Still, still,« und lulle mich in Nichtstun ein. Und selbst meine Verse sind feig; denn wären sie mutig, dann wären sie besser. Ich habe Angst vor starken Gedanken, Angst vor allem Starken; und wenn ich mal in etwas Starkes hineinkomme, ist's aus Wut, und Wut ist Feigheit. Ich bin klüger, tüchtiger, belesener, als ich aussehe. Ich bin besser, als mein eigen Geschwätz mich macht; aber aus Feigheit wage ich nicht, zu sein, wie ich bin. Pfui, und Branntwein habe ich gesoffen, auch aus Feigheit, ich wollte den Schmerz betäuben! – Pfui! Weh tat's, aber ich trank, trank trotzdem; trank meines Vaters Herzblut; aber ich trank doch! Meine Feigheit ist nämlich ganz grenzenlos; aber das Feigste von allem ist doch, daß ich hier sitze und mir alles das vorsage.
. . . . Mich töten? Prost Mahlzeit! Bin zu feig dazu. Und außerdem glaube ich an Gott, – ja, an Gott glaube ich. Ich möchte gerne zu ihm hin; aber die Feigheit hält mich davon ab. 's wär' ein zu großer Umzug, und um so was drückt sich ein Feigling gern. Aber wenn ich's nun versuchte, so gut ich kann? Allmächtiger! Wenn ich versuchte? Mich kurieren, so gut mein Milchsuppenleben es eben verträgt, denn ich hab' überhaupt keine Knochen mehr im Leibe, nicht mal Knorpeln, nur was Flüssiges, Wabbeliges. – Wenn ich's versuchte – mit guten, milden Büchern, – hab' Angst vor den starken –; mit schönen Märchen und Sagen, und allem, was sanft ist, – und dann jeden Sonntag eine Predigt und jeden Abend ein Gebet. Und ordentliche Arbeit, so daß die Religion Ackerland bekäme, denn in Faulheit kann sie nicht säen. Wenn ich versuchte; o du lieber, gütiger Gott meiner Kindheit, wenn ich's versuchte!
Doch da öffnete jemand die Scheunentür und stürzte, totenblaß im Gesicht, obwohl der Schweiß heruntertropfte, durch den Raum; und das war die Mutter. Es war schon der zweite Tag, daß sie ihren Jungen suchte. Sie rief ihn beim Namen, hielt aber nicht inne, um zu lauschen, sie rief nur und stöberte umher, bis er hinten aus dem Heuhaufen, wo er lag, Antwort gab. Da stieß sie einen lauten Schrei aus, hüpfte, leichtfüßig wie ein Knabe, in den Heuhaufen hinein und warf sich über ihn: –
»– Arne, Arne, hier bist du? Endlich habe ich dich; seit gestern habe ich gesucht, die ganze Nacht durch habe ich gesucht! Mein Junge, mein armer Junge! Ich hab's gesehen, wie schlecht sie alle zu dir waren! Ich hätte so gerne mit dir geredet und dich getröstet; aber ich darf ja nie mit dir reden! – – Arne, ich hab' gesehen, daß du getrunken hast! Ach Gott, allmächtiger Gott! Laß mich das nie, nie wieder sehen!« – Es dauerte lange, ehe sie weitersprechen konnte, »Gott helfe dir, mein Kind, mein Junge, ich hab' gesehen, daß du getrunken hast! – Du warst mir auf einmal verschwunden, betrunken und von Leid überwältigt, wie du warst, und dann lief ich in allen Häusern umher; weit draußen auf dem Felde war ich; aber ich fand dich nicht; in jedem Busch habe ich gesucht; alle Leute habe ich gefragt; auch hier bin ich gewesen; aber du antwortetest mir nicht – Arne, Arne! auch am Fluß bin ich entlang gegangen; aber, der schien mir nirgends tief genug – –« Sie drückte sich dicht an ihn.
»Da wurde mir auf einmal wohl ums Herz: Du warst natürlich heimgegangen, und ich lief nach Haus, machte den Weg gewiß in einer Viertelstunde; ich öffnete die Tür und suchte in allen Stuben und allen Ecken, und da fiel mir ein, daß ich ja selbst den Schlüssel hatte; du konntest also nicht drin sein. – Arne! Heute nacht hab' ich den ganzen Weg entlang gesucht auf beiden Seiten; an die Rampenschlucht wagte ich mich aber nicht! – Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin; keiner hat mir's gesagt; aber der liebe Gott hat mir eingegeben, daß du hier wärest!«
Er versuchte, sie in ihrer Aufregung zu beruhigen, »Arne, aber du trinkst doch nie, nie wieder Branntwein, nicht wahr?« – »Nein, darauf kannst du dich verlassen.« – »Sie waren gewiß schlecht zu dir, nicht? Waren sie schlecht zu dir?« – »Ach nein. Ich war nur feig.« Er legte Nachdruck auf das Wort. – »Ich kann gar nicht begreifen, wie jemand schlecht zu dir sein kann. Was haben sie dir denn getan? Nie willst du mir was erzählen.« Und sie fing wieder an zu weinen. – »Du erzählst mir ja auch nie was,« sagte Arne sanft. – »Aber du trägst doch die größte Schuld, Arne; ich bin so ins Stummsein hineingekommen, siehst du, von Vater her, und da hättest du mir eben ein bißchen auf den Weg helfen sollen; Herrgott, wir beiden, wir haben doch nichts als uns; und wir haben soviel zusammen ausgestanden.« – »Wir wollen mal sehen, ob's damit nicht besser werden kann,« flüsterte Arne. – – –
»Nächsten Sonntag lese ich dir die Predigt vor.« – »Ach, Gott segne dich dafür.«
»– Du, Arne!« – »Ja?« – »Ich hab' etwas auf dem Herzen, was ich dir sagen möchte.« – »Sag's nur, Mutter.« – »Ich trage an einer großen Sünde wider dich; ich habe etwas Unrechtes getan.« – »Du, Mutter?« Und das rührte ihn so, daß seine herzensgute, so unendlich geduldige Mutter sich einer Sünde gegen ihn anklagen wollte, gegen ihn, der ihr doch nie etwas wirklich Gutes getan hatte, daß er sie umarmte und streichelte und in Tränen ausbrach. – »Ja, ganz sicher; aber ich konnte eben nicht anders.« – »Ach, du hast nie ein Unrecht gegen mich begangen.« – »Doch, ganz sicher; – aber Gott weiß es: es war nur, weil ich dich so sehr lieb hatte. Du mußt mir verzeihen, hörst du?« – »Ja, ich verzeihe dir.« – »Und dann möchte ich's dir lieber ein andermal sagen; – aber du mußt mir auch wirklich verzeihen!« – »Ja, Mutter, ja!« – »Siehst du, darum ist es mir wohl immer so schwer geworden, mit dir zu reden; weil ich gegen dich gesündigt habe.« – »Herrgott! Mutter sprich doch nicht so!« – »Jetzt bin ich froh, daß ich wenigstens das von der Seele 'runter habe.« – »Wir wollen mehr miteinander sprechen, wir zwei, nicht?« – »Ja, das wollen wir, – und dann liest du mir ja die Predigt vor, nicht wahr?« – »Ja, das tue ich.« – »Mein armer Junge, Gott segne dich.« – »Jetzt gehen wir am liebsten heim, nicht wahr?« – »Ja, heim.« – »Du siehst dich ja so um, Mutter?« – »Ja, hier in der Scheune hat einst dein Vater gelegen und geweint.« – »Vater?« fragte Arne und erblaßte. – »Der arme Nils! Es war an dem Tage, als du zur Taufe getragen wurdest.« – –
»Du siehst dich ja so um, Arne?«
Von jenem Tage an, da Arne so recht von Herzen versuchte, inniger mit seiner Mutter zusammenzuleben, wurde auch sein Verhältnis zu den Leuten ein anderes. Er sah sie mehr mit den milden Augen der Mutter an. Doch oft genug wurde es ihm schwer, seinem Vorsatz getreu zu bleiben; denn für das, was er im tiefsten Innern dachte, hatte die Mutter nicht immer Verständnis, – und hier ist ein Lied aus jener Zeit:
»Es war solch ein köstlicher Sommertag,
schier wollt' mich die Enge erdrücken,
ich schlenderte träumend im lauschigen Hag
und warf mich vergnügt auf den Rücken;
doch die Mücke stach und die Wespe surrt,
und die Ameise kroch und die Bremse burrt.«
»Arne, mein Junge, willst du nicht bei dem schönen Wetter ein bißchen hinaus?« sagte die Mutter, die auf der Diele saß und sang.
»Es war solch ein köstlicher Sommertag,
schier wollt' mich die Enge erdrücken,
ich ging auf die Wiese in vollem Behag,
lag singend im Gras auf dem Rücken.
Da kamen Schlangen, drei Ellen lang,
die wollten sich sonnen – hei, wie ich da sprang.«
»Bei dem herrlichen Wetter kann man gut barfuß gehen,« sagte die Mutter und zog ihre Socken aus.
»Es war solch ein köstlicher Sommertag,
schier wollt' mich die Enge erdrücken,
ich stieg in das Boot, das am Strande lag,
und legte mich faul auf den Rücken.
Doch da hat mir die Sonne die Nase verbrannt,
›das ist doch zu toll‹ – und ich rudert' an Land.«
»Feines Heuwetter,« sagte die Mutter und fuhr mit dem Rechen ins Heu.
»Es war solch ein köstlicher Sommertag,
schier wollt' mich die Enge erdrücken,
hoch oben im schattigen Baum ich lag,
das soll mich doch endlich erquicken.
Da purzelt 'ne Raupe mir aufs Gesicht,
zum Teufel, du kriechendes Wurmgezücht.«
»Ja, gehen die Kühe heut nicht durch, dann gehen sie überhaupt nicht durch,« sagte die Mutter und stierte nach der Halde hinauf.
»Es war solch ein köstlicher Sommertag,
schier wollt' mich die Enge erdrücken,
zum Wasserfall lief ich, so schnell ich vermag,
dort mag mich die Ruhe beglücken.
Doch ich, ich ertrank und die Sonne, die lacht,
nun weiß ich nicht mehr, wer dies Lied gemacht.«
»Nur noch drei solche Tage und alles ist unter Dach,« sagte die Mutter und ging, sein Bett zu machen.
Trotzdem wurde ihm das Zusammenleben mit der Mutter mit jedem Tags eine größere Herzensfreude. Das, was sie nicht verstand, stand ebensogut im Verhältnis zu ihm, wie das, was sie verstand. Denn just, weil sie es nicht verstand, durchdachte er es um so gründlicher, und sie selbst wurde ihm dadurch, daß er an allen Seiten ihre Begrenzung sah, nur um so lieber. Ja, sie wurde ihm unendlich lieb.
Arne hatte sich als Kind wenig aus Märchen gemacht. Jetzt, als erwachsener Mensch, sehnte er sich nach Märchen, und die Märchen hatten Volkssagen und Heldenlieder im Gefolge. Ein seltsames Sehnen ergriff seine Seele; er trieb sich oft allein umher, und gar manche Stelle draußen in der Natur, auf die er früher kaum geachtet hatte, schien ihm auf einmal so schön. Damals, als er zum Konfirmandenunterricht ging, hatten er und seine Kameraden oft an einem großen See unterhalb des Pfarrhauses gespielt, der Schwarzesee genannt, weil sein Wasser so tief und dunkel war. Dieser See fiel ihm jetzt wieder ein, und eines Abends zog er dort hinauf.
Er setzte sich unter einen Busch nahe dem Pfarrhaus; dieses lag an einem sehr steilen Abhang, der weiter hinauf zu einer hohen Felswand wurde; ebenso war's am andern Ufer, und daher warfen sich von beiden Seiten mächtige Schlagschatten über den See hin; nur in der Mitte war ein Streifchen Wasser schön silberglitzernd. Alles lag in tiefer Ruhe; die Sonne neigte sich dem Untergange zu; fernes Herdengeläute klang vom anderen Ufer herüber; sonst war alles still. Arne schaute nicht geradeaus, sondern hinunter auf den Grund des Sees, über den die Sonne jetzt kurz vor dem Sinken glühende Strahlen gebrochenen Rots hingesprengt hatte. Dort drinnen bogen die Berge ein wenig auseinander, und ein langgezogenes, niedrig liegendes Tal lag dazwischen, gegen das die Wellen anschlugen. Doch es sah aus, als ob die Berge langsam ineinander hinüberflössen, um das dazwischenliegende Tal wie in einer Schaukel zu wiegen, Gehöft an Gehöft lag das Tal hinauf; Rauch wirbelte auf und verschwand; die Wiesen lagen grün und dampfend; Boote, mit Heu beladen, legten an. Er sah Leute hin und her gehen, aber er konnte keinen Ton hören, von dort schweiften seine Augen weiter den Strand entlang, bis dahin, wo nur Gottes dunkler Wald emporstieg. Durch den Wald und am See entlang hatte der Mensch sich wie mit einem Finger einen Weg gezogen; denn man sah einen Staubstreifen sich gleichmäßig hindurchschlängeln. Diesen verfolgte er mit den Augen bis zu dem Punkt, der seinem Plätzchen gegenüberlag; dort hörte der Wald auf; die Berge gewährten etwas mehr Raum, und sofort lag da Hof an Hof. Hier waren die Häuser noch größer als im Talgrunde, rot gemalt und mit höheren Fenstern, die in der Sonne glitzerten. Die Halden dort lagen im vollen Sonnenlichte; man konnte deutlich selbst das kleinste der spielenden Kinder sehen. Am Wasser lag trockner Sand, schimmernd weiß, und im Sande hüpften Kinder mit ihren Hündchen umher. Doch mit einem Male lag alles schwer und sonnenverlassen da, die Häuser dunkelrot, die Wiesen schwarzgrün, der Sand grauweiß, die Kinder wie kleine Klümpchen; eine Nebelwand war über den Bergen aufgestiegen und hatte die Sonne verdunkelt. Arnes Augen flüchteten ins Wasser hinab, doch dort fand er alles wieder. Die Felder wogten, der Wald trat stumm heran, die Häuser schauten vor sich nieder, die Türen waren offen, und Kinder gingen aus und ein. Märchen und kindische Vorstellungen kamen angeschwommen, wie Fischlein nach der Angel, huschten weg, kamen wieder, umspielten die Angel, aber schnappten nicht zu.
»Hier können wir uns hinsetzen, bis die Mutter nachkommt; einmal wird doch die Pastorsche endlich fertig werden.« – Arne schrak auf. Dicht hinter ihm hatte sich jemand gesetzt. »Aber ich könnte doch ganz gut nur noch die eine einzige Nacht hier bleiben,« sagte eine flehende Stimme, die mit dem Weinen kämpfte; sie mußte einem halberwachsenen Mädchen gehören. »Hör doch auf mit dem dummen Geplärre; es ist wirklich garstig von dir, zu weinen, weil du nach Haus zu deiner Mutter sollst.« Es war eine sanfte Stimme, die langsam sprach und einem Manne gehörte. »Darüber wein' ich ja gar nicht.« – »Worüber weinst du denn?« – »Weil ich nicht länger mit Mathilde zusammen sein darf.« –
So hieß die einzige Tochter des Pastors, und nun fiel Arne ein, daß ein Bauernmädchen mit ihr zusammen aufgewachsen war. »Ewig konnte es ja doch nicht dauern.« – »Ja, aber nur noch einen einzigen Tag!« Und sie heulte. – »Es ist das allerbeste für dich, daß du jetzt nach Haus kommst; – wer weiß, ob es nicht schon zu spät ist.« – »Wie so denn zu spät? Nein, aber so was.« – »Du bist zum Bauernmädel geboren und sollst ein Bauernmädel bleiben; wir sind nicht reich genug, um uns eine Zierpuppe zu halten.« – »Ich kann doch ebensogut ein Bauernmädel bleiben, ob ich nun hierbleibe oder nicht.« – »Davon verstehst du nichts, Kind.« – »Ich habe doch immer Bauernkleider getragen.« – »Die machen's nicht aus.« – »Und spinnen kann ich auch, und weben und kochen.« – »Darin liegt's auch nicht.« – »Ich kann doch genau so sprechen, wie du und Mutter.« – »Auch das ist's nicht.« – »Na, dann weiß ich nicht, was es ist,« sagte das Mädchen und lachte. – »Das wird sich schon zeigen; übrigens fürchte ich, du hast dir schon jetzt viel zu viele Gedanken in den Kopf gesetzt.« – »Gedanken, Gedanken! Das sagst du immer. Ich habe überhaupt keine Gedanken,« – und sie weinte wieder. – »Ach was; du bist ein Windbeutel; weiter nichts.« – »Das hat der Herr Pastor nie gesagt.« – »Nein, aber jetzt sage ich's.« – »Windbeutel? – So was! Ich will aber kein Windbeutel sein.« – »Was willst du denn sein?« – »Was ich sein will? So was! Gar nichts will ich sein.« – »Gut, denn sei gar nichts.« – Jetzt lachte das Mädchen. Nach einer Weile sagte es ernsthaft: »Es ist abscheulich von dir, daß du mich ein Nichts nennst.« – »Mein Gott, du hast es doch aber selbst gewollt!« – »Ich will aber nicht ›Nichts‹ sein.« – »Gut, dann sei alles.« – Das Mädchen lachte. Nach einer Weile wieder mit betrübter Stimme: »So zum Narren gehabt hat mich der Herr Pastor nie.« – »Nein, er hat dich nur zum Narren gemacht.« – »Der Herr Pastor? Ach du bist nie so lieb zu mir gewesen, wie der Herr Pastor.« – »Das wär' auch noch besser.« – »Saure Milch kann nie süß werden.« – »Doch, wenn man sie zu Käse kocht.« – Da platzte das Mädchen heraus vor Lachen. – »Da kommt deine Mutter.« – Und nun wurde sie wieder ernsthaft.
»So ein redseliges Frauenzimmer wie die Pastorsche hab' ich mein Lebtag nicht getroffen,« gellte eine scharfe, geläufige Stimme. »Nun aber schnell, Baard, mach das Boot klar. Die Pastorsche hat gesagt, ich soll aufpassen, daß die Eli immer trockene Füße hat. Da kannst du meiner Treu selbst drauf passen! Und jeden Morgen spazieren gehen, von wegen der Bleichsucht! Bleichsucht hin, Bleichsucht her! Steh auf, Baard, mach das Boot klar. Ach Gott, und ich muß heut abend noch den Teig anrühren!« – »Aber der Koffer ist ja noch nicht da,« sagte er und blieb ruhig liegen. – »Der Koffer, der soll ja gar nicht mit; der soll bis zum nächsten Kirchsonntag stehen bleiben. Eli, hör doch, steh auf! Nimm dein Bündel und komm! Komm doch nun endlich, Baard!« – Sie lief davon, und das Mädchen hinterher. »Komm doch; aber so komm doch nur,« klang es von unten. »Hast du nachgesehen, ob der Schlüssel im Boot ist?« fragte Baard und blieb ruhig liegen. »Ja, der steckt ja drin.« Und Arne hörte, wie sie ihn mit der Schöpfkelle festklopfte. »Aber so steh doch nur auf, Baard. Sollen wir vielleicht die ganze Nacht hier bleiben?« – »Ich warte auf den Koffer.« – »Ach, du gerechte Güte; hab' ich dir denn nicht gesagt, der soll bis zum nächsten Kirchsonntag hier bleiben.« – »Da kommt er ja,« sagte Baard. Und man hörte Wagengerassel. – »Ich habe aber doch gesagt, er soll bis zum nächsten Kirchsonntag hier bleiben.« – »Und ich habe gesagt, er soll mit.« – Ohne weiteres lief die Frau nun an den Wagen, nahm Korb, Bündel und andere Kleinigkeiten und trug sie ins Boot hinunter. Dann stand endlich auch Baard auf, ging hinauf und trug den Koffer allein hinunter.
Aber hinter dem Wagen her kam ein Mädchen gelaufen, mit Strohhut und flatternden Haaren. Es war das Pfarrertöchterlein. »Eli, Eli,« rief sie schon von weitem. »Mathilde, Mathilde,« rief es zurück, und die andere flog ihr entgegen. Oben auf der Höhe trafen sie zusammen, fielen sich um den Hals und weinten. Nun nahm Mathilde etwas auf, was sie ins Gras niedergesetzt hatte. Es war ein Vogelbauer. »Du sollst meinen Narrifas mitnehmen. Mutter will es auch, du sollst ihn haben. Du sollst, und sollst ihn haben . . . ganz sicher! – Und dann sollst du an mich denken – und furchtbar oft zu mir herüberru–hu–hudern.« – Und sie schluchzten beide herzbrechend. – »Eli! So komm doch, Eli! wo bleibst du denn nur?« klang es von unten. »Ich will aber mit,« sagte Mathilde, »ich will mit hinüber und heute nacht bei dir schlafen!« – »Ja, ja, ja!« Und eng umschlungen liefen sie ans Ufer hinunter. Nach einer Weile sah Arne das Boot draußen auf dem Wasser. Eli stand mit dem Vogelbauer hoch aufgerichtet im Achtersteven und winkte, Mathilde saß einsam am Landungsplatz und weinte.
Dort blieb sie sitzen, solange das Boot auf dem Wasser war. Die Entfernung bis zu den roten Häusern hinüber war wie gesagt nur kurz, und Arne blieb auch sitzen. Auch er folgte dem Boot mit den Augen. Bald kam es in das Schwarze hinein, und er wartete, bis es anlegte; er sah alles sich im Wasser spiegeln; und im Wasser verfolgte er sie bis zu den Häusern hinauf, und zwar zu dem schönsten von allen. Die Mutter sah er zuerst hineingehen, dann den Vater mit dem Koffer, und zuletzt die Tochter, soweit er sie der Größe nach unterscheiden konnte. Nach einer Weile kam das Mädchen wieder heraus und setzte sich vor die Tür des Staburs, wahrscheinlich um noch einmal hinüberzusehen, da jetzt die Sonne gerade ihre letzten Strahlen hinüberwarf. Aber das Pfarrertöchterlein war schon weg; nur Arne saß noch da und sah ihr Bild im Wasser. »Ob sie mich wohl sieht?« – –
Er stand auf und ging; die Sonne war untergegangen, aber der Himmel war lichtblau und klar, so wie es der nordischen Sommernacht eigen. Dunstwölkchen von Wasser und Land krochen zu beiden Seiten an den Berghängen hinauf; aber die Gipfel lagen frei und schauten zueinander hinüber. Er stieg höher hinauf. Das Wasser wurde immer schwärzer und unergründlicher, es wurde gleichsam dichter. Das Tal dort drinnen im Grunde wurde kürzer und zog sich mehr nach dem Wasser hin; die Berge rückten dem Auge näher und verschmolzen in einen Klumpen; denn Sonnenlicht zerstreut. Der Himmel selbst kam tiefer herab, und alles wurde ruhig und traut.
Liebe und Frauen begannen in seinen Gedanken zu spielen; die Heldenlieder und die alten Geschichten zeigten es ihm in einem Zauberspiegel, so wie das Bild des Mädchens im Wasser. In den starrte er immerfort hinein, und seit jenem Abend hatte er Lust bekommen, davon zu singen; denn seitdem war ihm das alles gleichsam nähergerückt. Und der Gedanke entschlüpfte ihm und kam zurück mit einem Liede, von dem er selbst nichts wußte; es war, als ob jemand anders es für ihn gemacht hätte:
Klein Venevil hüpfte mit lachendem Sinn
zum Liebsten hin.
Sie sang, daß es schallt übern Kirchenplatz:
»Grüß Gott, mein Schatz,«
und lustig mit ihr jubelten wohl Lerch', Fink und Spatz:
»Sankt Hans, Sankt Hans
bringt Lachen und Tanz,
doch nachher weiß ich nimmer, ob sie flicht ihren Kranz.«
Sie flocht einen Kranz aus Blaublümelein:
»Meine Äuglein fein.«
Er nahm ihn, verwarf ihn und nahm ihn geschwind:
»Lebwohl, süßes Kind,«
und jubelt hell und sprengte durch die Felder wie der Wind.
»Sankt Hans, Sankt Hans usw.«
Sie flocht einen andern und bot ihm den dar:
»Mein goldenes Haar,«
sie flocht und sie bot ihm in seliger Stund'
ihren roten Mund,
er nahm ihn und besiegelte errötend ihren Bund.
»Sankt Hans, Sankt Hans usw.«
Sie flocht einen weißen am Lilienband:
»Meine rechte Hand,«
sie flocht einen andern wie blutroter Brand:
»Meine linke Hand,«
er nahm sie alle beide hin, das Antlitz abgewandt,
»Sankt Hans, Sankt Hans usw.«
Sie pflückte in Feld und Wald und am Strand:
»Alle die ich fand.«
Sie pflückte und flocht und gab es ihm hin:
»Sieh deinen Gewinn.«
Er nahm es schweigend und er floh mit wildem Sinn.
»Sankt Hans, Sankt Hans usw.«
Sie flocht einen großen ohn' Farbe und Glanz:
»Mein Hochzeitskranz.«
Die Finger erstarren, sie flicht immerfort:
»Ach, eh er verdorrt,«
so schmück mein Haupt – doch er verschwand ohn' Gruß und Abschiedswort.
»Sankt Hans, Sankt Hans usw.«
Sie flocht am Brautkranz ohn' Unterlaß,
so traurig und blaß,
doch jetzt war es lange nach Sankte Hans,
die Felder öd und gestorben ganz,
sie fand keine Blumen und flocht doch den Kranz.
»Sankt Hans, Sankt Hans
bringt Lachen und Tanz,
doch nachher weiß ich nimmer, ob sie flicht ihren Kranz.«
Es war die Wehmut in seiner Seele, die das erste Liebesbild, das über seine Seele dahinglitt, so dunkel machte. Ein doppeltes Sehnen: die Sehnsucht, jemanden lieb zu haben, und die, etwas Großes zu werden, schmolzen in eins zusammen. In jener Zeit arbeitete er wieder an dem Liede: »Über die hohen Berge«, änderte und sang und dachte still bei sich: »Einmal geht's doch hinaus; ich singe so lange, bis ich den Mut finde.« Er vergaß bei diesen Wandergedanken die Mutter durchaus nicht; er tröstete sich nämlich damit, daß er, sobald er in der Fremde festen Fuß gefaßt habe, sie holen und ihr dann ein Los bieten würde, wie er daheim nie daran denken konnte, sich oder ihr eins zu schaffen. Aber mitten in dieses mächtige Sehnen hinein spielte etwas Stilles, Frisches, Feines; das kam und ging, verschwand und tauchte wieder auf, haschte und floh, und träumerisch, wie er geworden war, war er, ohne es selbst recht zu wissen, ganz in der Gewalt dieser unwillkürlichen Gedanken.
In der Bygde lebte ein munterer Mann, der Einar Aasen hieß; als er zwanzig Jahre war, hatte er das Bein gebrochen; seitdem ging er an der Krücke, aber wo er mit seiner Krücke hinkam, gab's immer Leben und Lustigkeit. Der Mann war reich; ein großer Nußbaumwald lag auf seinem Besitz, und jedes Jahr, an einem der schönsten sonnigsten Herbsttage, pflegte sich eine Schar lustiger Mädchen bei ihm zu versammeln, um Nüsse zu pflücken. Da gab's den ganzen Tag lang reichliche Bewirtung und am Abend Tanz. Bei den meisten dieser Mädchen hatte er Gevatter gestanden; denn er war bei der halben Bygde Gevatter; alle Kinder nannten ihn Pate, und mit ihnen alt und jung.
Der Pate und Arne waren gute Bekannte, und der Pate mochte ihn um seiner Lieder willen wohl leiden. Nun lud er ihn ein, das Nußfest mitzumachen. Arne wurde rot und weigerte sich; er sei nicht dran gewöhnt, mit Frauenzimmern zusammen zu sein, sagte er. »Dann mußt du dich eben dran gewöhnen,« sagte der Pate.
Arne konnte nächtelang davor nicht schlafen; Schüchternheit und Sehnsucht kämpften in ihm; aber wie's nun auch kam, er machte wirklich mit und war so gut wie der einzige Bursch unter allen diesen Weiblein. Er konnte sich nicht verhehlen, daß er enttäuscht war. Das waren nicht die Frauen, die er besungen hatte, auch nicht die, vor denen er sich gefürchtet hatte. Sie machten einen Lärm, wie er seiner Lebtag nichts gehört hatte, und das erste, worüber er sich wunderte, war, daß sie über alles und nichts lachen konnten; wenn drei lachten, lachten fünf, nur weil die drei lachten. Alle miteinander benahmen sich, als ob sie täglich zusammen wären; und doch waren viele dabei, die sich noch nie in ihrem Leben gesehen hatten. Wenn sie nach einem Zweig emporhüpften und ihn erhaschten, lachten sie, und erhaschten sie ihn nicht, lachten sie auch darüber. Sie schlugen sich um den Haken zum Hinabziehen der Zweige; die, die ihn kriegten, lachten, und die, die ihn nicht kriegten, lachten auch. Der Pate humpelte mit seiner Krücke hinterher und tat ihnen allen nur erdenklichen Schabernack an. Die Mädchen, die er erwischte, lachten, weil er sie erwischte, und die, die er nicht erwischte, lachten, weil er sie nicht erwischte. Aber alle miteinander lachten über Arne, weil er so ernsthaft war, und als er dann auch lachen mußte, lachten sie, weil er endlich auch lachte.
Zuletzt setzten sie sich auf einen Hügel, der Pate in der Mitte und alle Mädel drum herum. Dort hatte man einen weiten Blick; die Sonne stach, aber sie kümmerten sich nicht drum, bewarfen sich mit Nußschalen und Hülsen und gaben dem Paten die Kerne. Der Pate versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, und schlug mit der Krücke um sich, soweit er reichte; denn jetzt wollte er gern, daß sie ihm etwas erzählten, am liebsten etwas Lustiges. Aber die Mädchen zum Erzählen zu bringen schien schwieriger, als einen bergab sausenden Wagen zum Halten zu bringen. Der Pate fing an; die meisten wollten nicht zuhören, denn sie kannten seine Geschichten schon; aber zuletzt hörten sie doch alle zu. Und ehe sie sich's versahen, waren sie mitten im lebhaftesten Erzählen. Nun wunderte sich Arne wieder über eins: so lärmend sie auch vorhin gewesen waren, so ernsthaft waren ihre Geschichten. Meist handelten sie von Liebe.
»Du, Aase, du kannst ja solch 'ne hübsche Geschichte; das weiß ich noch vom vorigen Jahr,« sagte der Pate und wandte sich an ein kleines Dickchen mit einem guten, rundlichen Gesicht; sie saß und flocht einer jüngeren Schwester, die ihren Kopf in ihren Schoß gelegt hatte, die Zöpfe. »Ach, die werden wohl alle schon kennen,« antwortete sie. »Schad't nichts, erzähl sie nur ruhig,« baten die Mädchen. »Ich laß mich nicht lange nötigen,« antwortete sie und erzählte und sang, während sie weiterflocht:
»Es war einmal ein Bursch, der hütete das Vieh und trieb seine Herde gern an einem breiten Fluß entlang. Wenn er höher hinaufkam, war da ein Felsen, der so weit in den Fluß hinausragte, daß er nach der anderen Seite hinüberrufen konnte. Denn dort drüben auf der anderen Seite war ein Hirtenmädchen, das er den ganzen Tag lang sehen, aber nicht ereichen konnte:
Wie hoaßt denn du Hirtenmadei da vorn,
die am Sock'n strickt und bläst auf'm Horn?
Tagaus tagein stellte er immer und immer wieder dieselbe Frage, und endlich eines Tages kam die Antwort:
Mei Nam', der schwimmt wie a Ent' am Teich,
komm rüba g'schwomma, du Bua, komm gleich.
Dadurch war aber der Bursch noch immer nicht klüger geworden, und er nahm sich vor, sich nicht weiter um das Mädel zu kümmern. Das ging nun freilich nicht so leicht; denn er mochte seine Herde hintreiben wo er wollte, immer zog es ihn wieder nach jenem Felsvorsprung hin. Da wurde dem Knaben bange, und er rief:
Wo hat denn dei Vota sei Hütt'n gebaut,
no nimma hob' i di in d'r Kirchen drschaut.
Der Knabe glaubte nämlich halb und halb, es sei eine Huldin:
Mei Vota isch gschtorbe, mei Hütt'n is brennt,
den Pfad zur Kirch' hob' i nimma kennt.
Daraus wurde der Bursche ebensowenig klug. Tagsüber war er auf dem Felsen, und nachts träumte er, daß sie um ihn herumtanzte, und mit einemmal, wenn er sie erhaschen wollte, mit einem langen Kuhschwanz nach ihm schlüge. Bald konnte er überhaupt nicht mehr schlafen; arbeiten konnte er auch nicht, und es stand jämmerlich mit dem Burschen:
Und bischt du a Waldhex, so schon mir mei Leben,
doch bischt a Dirndl, magst Antwort mir geben.
Aber niemand antwortete, und nun wurde es ihm zur Gewißheit, daß sie eine Huldin wäre. Er gab das Viehhüten auf, aber auch das half nichts; wo er ging und stand, mußte er an die wunderschöne Huldin denken, die das Alphorn blies.
Eines Tages, als er beim Holzhauen war, kam ein Mädchen an seinem Hof vorbei, das leibhaftig wie die Huldin aussah; aber als sie näherkam, war sie es wieder nicht. Das ging ihm im Kopf herum. Da kam das Mädchen zurück, und von weitem war es wieder die Huldin, und er lief ihr entgegen. Aber sowie sie näherkam, war sie es wieder nicht.
Seitdem mochte der Bursch sein, wo er wollte, in der Kirche, beim Tanz oder in Gesellschaft, – das Mädchen war auch da; von weitem sah sie aus wie die Huldin; in der Nähe war sie eine andere. Er fragte sie, ob sie es sei oder nicht sei; aber sie lachte ihn nur aus. Einerlei, ob man hineinspringt oder hineinkriecht, dachte der Bursch, und heiratete das Mädel.
Als das aber geschehen war, mochte der Bursch das Mädchen nicht mehr leiden, war er fern von ihr, sehnte er sich nach ihr, wenn er aber bei ihr war, sehnte er sich nach einer, die er nicht sah. Deshalb behandelte der Bursch seine Frau schlecht, und sie ertrug es und schwieg.
Eines Tages, als er die Pferde holen wollte, kam er wieder auf seinen Felsen hinaus, und dort setzte er sich nieder und rief:
Du spielst mir im Sinn wie der Mondschein im Weiher,
du brennst in der Fern wie Johannsfeuer.
Es tat dem Burschen wohl, dort zu sitzen, und von da an ging er immer, wenn er zu Haus übler Laune war, dorthin. Die Frau weinte, wenn er gegangen war.
Aber als er eines Tages wieder dort saß, wer saß da am anderen Ufer? Die Huldin saß da, leibhaftig, und blies auf ihrem Horn.
O schau, bischt als komma, o blos' no amol,
i sitz hier und wein, und mei Herz isch so voll.
Da antwortete sie:
E blos' dir die Träum' aus'm Sinn mit mei'm Horn,
lauf heim!, sust fault auf dem Feld dir dei Korn.
Doch da wurde dem Knaben bange, und er ging heim. Es dauerte jedoch nicht lange, da wurde er seiner Frau so überdrüssig, daß er wieder in den Wald und zu seinem Felsenplatz mußte. Da klang es zu ihm herüber:
Mir träumte, du kämst – nu fang mi – juchhei,
nei net da hinüba – i steh dicht dabei.
Der Knabe fuhr auf und sah sich um, und da schlüpfte ein grüner Rock zwischen den Büschen hindurch. Er hinterher. Nun gab es eine Jagd durch den ganzen Wald. So schnellfüßig wie die Huldin konnte kein menschliches Wesen sein. Er warf ein über das anderemal die Schlinge nach ihr; doch sie lief ebenso rasch. Nach einer Weile aber fing sie müde zu werden an, das merkte der Bursche an ihren Sprüngen, aber er sah auch an ihrer ganzen Gestalt, daß es niemand anders als die Huldin sein konnte. ›Jetzt hab' ich dich,‹ dachte der Bursch, und warf sich plötzlich so heftig auf sie, daß er mit der Huldin ein ganzes Stück den Abhang hinunterkugelte, ehe sie liegen blieben. Da lachte die Huldin so hell, daß es ihm vorkam, als sänge es in den Bergen; er nahm sie auf den Schoß, und so holdselig war sie, genau so, wie er sich seine eigne Frau gewünscht hätte. ›Ach Gott – wer bist du nur, – du Holde?‹ fragte der Knabe und streichelte sie, und ihre Wangen glühten. ›Aber mein Gott, ich bin ja deine Frau,‹ sagte sie.« –
Die Mädchen lachten und machten sich über den Burschen lustig. Aber der Pate fragte Arne, ob er auch wirklich genau zugehört hätte.
»Nein, nun will ich euch aber was erzählen,« sagte ein kleines Ding mit einem runden Gesichtchen und einem ganz kleinen Näschen:
Es war einmal ein kleiner Bub', der wollte gern eine kleine Dirne freien; erwachsen waren sie alle beide; aber sie waren so furchtbar klein. Und wie sollte der Bub' das nur anfangen, zu freien? In der Kirche hielt er sich zu ihr, aber da wurde nur immerzu vom Wetter gesprochen; auf dem Tanzboden ging er auf sie zu und tanzte sie fast kaputt; aber sagen tat er nichts. »Du mußt schreiben lernen, dann geht's besser,« sagte er zu sich, – und fing zu schreiben an; nie wurde es ihm schön genug, und darum probierte er ein ganzes Jahr, ehe er sich an einen Brief wagte. Nun galt es, ihn ihr zuzustecken, so daß niemand es sah, und einmal traf es sich so hinter der Kirche, daß sie allein standen. »Ich hab' da einen Brief für dich,« sagte der Junge. »Ich kann aber Geschriebenes nicht lesen,« antwortete das Mädchen.
Da stand er.
Nun ging er bei dem Vater des Mädchens in Dienst und wich ihr den lieben, langen Tag nicht von der Seite. Einmal war er ganz dicht daran, zu reden: er hatte schon den Mund aufgemacht; aber da flog ihm eine dicke Fliege hinein. – »Wenn nur keiner kommt und sie mir wegschnappt,« dachte der Junge. Aber keiner kam und schnappte sie ihm weg; denn sie war gar zu klein.
Aber endlich kam doch einer; der war nämlich ebenso klein. Der Bursch merkte gleich, was er wollte, und als sie miteinander die Treppe hinaufgingen, setzte der Bursch sich draußen hin und guckte durch das Schlüsselloch. Jetzt freite der da drinnen. »O jemine, ich Schafskopf, warum hab' ich nicht schneller gemacht,« dachte der Bursch. Der da drinnen küßte das Mädel mitten auf den Mund. – »Das hat gewiß gut geschmeckt,« dachte der Bursch. Aber jetzt nahm der da drinnen das Mädel auf den Schoß. »Ach, du Jammerwelt,« sagte der Bursch und fing zu weinen an. Das hörte das Mädchen und ging nach der Tür: »Was willst du denn von mir, du dummer Bengel, kannst du mich denn nie in Ruhe lassen?« – »Ich? – Ich wollte nur bitten, ob ich nicht dein Brautführer sein dürfte.« – »Nein, das sollen meine Brüder sein,« antwortete das Mädchen und schmiß ihm die Tür vor der Nase zu.
Na, da stand er. – –
Die Mädchen lachten sich halb tot über die Geschichte und fingen sich dann wieder mit Nußschalen zu werfen an.
Nun sagte der Pate zu Eli Böen, sie solle doch auch etwas erzählen. »Aber was denn nur?« – »Ei nun, sie könne ja erzählen, was sie ihm neulich auf dem Hügel erzählt hätte, als er sie besucht hätte und sie ihm die neuen Strumpfbänder gegeben hätte. Es dauerte lange, ehe Eli dran wollte, denn sie mußte so furchtbar lachen; aber dann erzählte sie:
Ein Mädel und ein Bursch gingen miteinander spazieren. »Ach, sieh mal die Drossel, die da hinter uns herfliegt,« sagte das Mädchen. – »Hinter mir fliegt sie her,« sagte der Bursch. – »Kann ebensogut hinter mir sein,« antwortete das Mädchen. – »Das werden wir ja bald sehen,« meinte der Bursch; »jetzt gehst du mal den unteren Weg, und ich den oberen, und da hinten kommen wir wieder zusammen.« – Das taten sie. – »Na? flog sie vielleicht nicht mit mir?« fragte der Bursch, als sie sich wieder trafen. – »Nein, mit mir flog sie,« antwortete das Mädchen. – »Dann müssen es zwei sein.« – Sie gingen wieder ein Stückchen zusammen; aber es war doch nur eine; der Bursch behauptete, sie flöge auf seiner Seite, und das Mädchen behauptete, sie flöge auf ihrer. »Ach was, ich scher' mich den Teufel um die Drossel,« sagte der Bursch. – »Und ich auch,« sagte das Mädel.
Aber kaum hatten sie das gesagt, so verschwand auch die Drossel. »Auf deiner Seite ist sie weggeflogen,« sagte der Bursch. »Nein, danke schön; ich hab's ganz deutlich gesehen, es war auf deiner.« – – »Aber guck! Da ist sie ja wieder,« rief das Mädchen. »Ja, auf meiner Seite,« rief der Bursch. Aber da wurde das Mädchen wütend. »Nein, alle Klagen der Welt mögen über mich kommen, aber länger mit dir – nein, das tu ich nicht.« Und sie ging ihres eigenen Wegs. – Da kam aber dem Burschen die Drossel weg, und es wurde ihm so öde, daß er zu rufen anfing. Und sie rief wieder. »Ist die Drossel bei dir?« rief der Bursch. »Nein, bei dir?« – »Ach nein, komm nur wieder her, dann kommt sie vielleicht mit.« – Und das Mädchen kam wieder zurück; sie nahmen einander bei der Hand und gingen zusammen. Quiwitt, quiwitt, quiwitt, quiwitt, zwitscherte es auf des Mädchens Seite. Quiwitt, quiwitt, quiwitt, quiwitt klang es auf des Knaben Seite. Quiwitt, quiwitt, quiwitt, quiwitt, quiwitt, quiwitt, quiwitt, quiwitt!! rief's von allen Seiten, und als sie sich umschauten, waren da hunderttausend Millionen Drosseln um sie her. »Wie seltsam!« sagte das Mädchen und sah zu dem Burschen auf. »Gott segne dich,« sagte der Bursch und streichelte sein Mädel. – –
Die Geschichte fanden die Mädchen wunderhübsch.
Dann schlug der Pate vor, sie sollten alle erzählen, was sie heute nacht geträumt hätten, und er wolle dann entscheiden, wer den schönsten Traum gehabt hätte. »Nein, aber so was! Erzählen, was sie geträumt hätten! So was!« Und nun gab's ein Kichern und Tuscheln ohne Ende. Aber nach und nach fing die eine nach der anderen zu versichern an, sie habe heut nacht so was Wunderhübsches geträumt; wieder andere meinten, so schön wie ihr Traum könne das aber auf keinen Fall gewesen sein. Und zuletzt bekamen sie alle Lust, ihre Träume zu erzählen. Aber laut erzählen, das mochten sie nicht, und auch nur einem ganz allein, und beileibe nicht dem Paten. Arne saß ganz still ein Stückchen von ihnen, und er wurde dazu auserlesen, ihre Träume anzuhören.
Arne setzte sich unter einen Haselstrauch, und nun kam die zu ihm, die vorhin als erste erzählt hatte. Sie besann sich lange, doch dann erzählte sie:
»Ich träumte, ich stände an einem großen See. Da sah ich einen gewissen jemand auf dem Wasser gehen, ich sage aber nicht, wen. Er kletterte auf eine große Wasserrose hinauf, setzte sich hinein und sang. Da stieg ich auf eins von den großen Blättern, die die Wasserrose hat und die auf dem Wasser schwimmen. Auf dem wollte ich zu ihm hinüberrudern. Aber sowie ich auf das Blatt gekommen war, fing es mit mir zu sinken an, und ich bekam große Angst und fing zu weinen an. Da kam er auf der Wasserrose zu mir herübergerudert, hob mich zu sich hinein, und wir fuhren zusammen über das ganze Wasser. War das nicht ein hübscher Traum?«
Jetzt kam die Kleine, die vorhin die kleine Geschichte von den kleinen Leutchen erzählt hatte:
»Ich träumte, ich hatte einen kleinen Vogel gefangen, und ich freute mich so und wollte ihn nicht loslassen, ehe ich daheim in der Stube wäre. Aber da mochte ich ihn nicht fliegen lassen, weil sonst vielleicht Vater oder Mutter gesagt hätten, ich solle ihn wieder ins Freie lassen. Dann ging ich auf den Boden hinauf; da schlich die Katze umher und lauerte, also konnte ich ihn da auch nicht loslassen. Nun wußte ich mir gar nicht zu helfen und ging mit dem Vogel in die Scheune; o weh, da waren so viele Ritzen, wie leicht hätte er da durchschlüpfen können! Ich ging also wieder hinaus auf den Hof, und dann kam es mir so vor, als stände da ein gewisser jemand, den ich nicht nennen mag. Er spielte mit einem großen, großen Hund. ›Ich will lieber mit deinem Vögelchen spielen,‹ sagte er und kam mir ganz nahe. Aber ich glaube, ich lief ihm weg, und er und der große Hund hinterher, und ich lief um den ganzen Hof herum; aber da machte die Mutter die Flurtür auf, riß mich hinein und warf die Tür zu. Aber draußen stand der Bursch und lachte und drückte das Gesicht gegen die Scheiben. ›Guck mal, hier hab' ich den Vogel,‹ sagte er – und denk mal, er hatte wirklich den Vogel! – War das nicht ein komischer Traum?«
Nun kam die, die vorhin die Geschichte von den vielen Drosseln erzählt hatte. Eli hatten sie sie genannt. Es war dieselbe Eli, die er an jenem Abend im Boot und im Wasser gesehen hatte. Es war dieselbe, und doch wieder nicht dieselbe. So groß und so schön saß sie da mit dem feinen Gesichtchen und der schlanken Gestalt. Sie konnte sich vor Lachen kaum halten, und darum dauerte es lange, bis sie sich erholen konnte. Aber dann erzählte sie:
»Ich hatte mich so furchtbar darauf gefreut, heute mit in den Nußwald zu gehen, und darum träumte ich heute nacht, ich säße hier auf dem Hügel. Die Sonne schien, und ich hatte den Schoß voll von Nüssen. Aber da war ein Eichhörnchen mit unter die Nüsse geraten, und das hockte mir im Schoß und aß alle miteinander auf. – War das nicht ein komischer Traum?«
Und noch viele Träume wurden ihm erzählt; aber dann sollte er sagen, welcher von allen der schönste wäre. Er bat sich Bedenkzeit aus und inzwischen zog der Pate mit der ganzen Mädchenschar nach dem Hof hinunter, und Arne sollte nachkommen. Sie sprangen den Hügel hinunter, ordneten sich, als sie in die Ebene gekommen waren, in Reihen und zogen singend auf das Haus zu.
Er saß allein auf dem Hügel und hörte dem Gesänge zu; die Sonne schien auf die Mädchenschar, die weißen Blusenärmel leuchteten. Dann und wann faßte eine die andere um, und sie tanzten über die Wiese hin. Der Pate mit erhobener Krücke hinterher, weil sie ihm das Grummet niedertraten. Arne dachte nicht mehr an die Träume; sah auch bald den Mädchen nicht mehr nach; wie zarte Sonnenfäden spannen sich seine Gedanken über das Tal, und er saß allein dort oben auf dem Hügel und spann. Ehe er sich's versah, saß er in einem dichten Gewebe von Schwermut; mächtiger denn je zog sein Sehnen ihn hinaus in die Welt. Er gelobte sich fest, sowie er daheim war, mit der Mutter zu reden, mochte es gehen wie es wollte.
Immer gewaltiger wurden seine Gedanken, und sie trieben ihn hinein in das Lied: »Über die hohen Berge«. Nie waren die Worte ihm so schnell gekommen, auch hatten sie sich nie so sicher ineinander gefügt; sie waren fast wie Mädchen, die im Kreise auf dem Hügel saßen. Er hatte ein Stückchen Papier bei sich und schrieb auf dem Knie. Und als er das ganze Lied geschrieben hatte, stand er wie erlöst auf. Mochte nicht unter Leute, sondern machte sich auf den Heimweg durch den Wald, obwohl er wußte, daß er dann die Nacht mit zu Hilfe nehmen mußte. Später auf dem Heimweg, als er sich einmal hinsetzen wollte, um zu rasten, wollte er das Lied herausnehmen und es über die ganze Bygde hinaussingen. Doch sieh, er hatte es liegen lassen da oben, wo er es niedergeschrieben hatte. –
Als eins der Mädchen auf dem Hügel nach ihm suchte, fand sie ihn nicht, wohl aber sein Lied.
Mit der Mutter zu reden, war freilich leichter gedacht als getan. Er machte Anspielungen auf Kristian und die Briefe, die nicht kamen. Aber die Mutter ging von ihm weg, und viele Tage lang meinte er, sie habe verweinte Augen. Auch noch ein anderes Merkzeichen hatte er, das ihm verriet, wie es mit ihr stand, nämlich, daß sie ungewöhnlich gutes Essen für ihn machte.
Eines Tages mußte er in den Wald hinauf, um Holz zu hauen. Der Weg führte durch den Wald, und eben da, wo er hauen sollte, pflegten im Herbst die Leute Preißelbeeren zu pflücken. Arne hatte die Axt beiseite gelegt, um seine Jacke auszuziehen, und wollte grade anfangen, als zwei Mädchen mit ihren Beerentöpfen daherkamen. Wenn er Mädchen traf, versteckte er sich am liebsten, und das tat er jetzt auch.
»Guck doch mal, guck doch, alle die Beeren! Eli, Eli!« – »Ja doch, ja, ich sehe sie ja.« – »Aber so geh' doch nicht weiter, hier gibt's ja Eimervoll!« – »Du, raschelt's nicht hier im Busch?« – »Um Gottes Willen!« – und die Mädchen liefen zusammen und umfaßten sich. So standen sie lange ganz still und wagten kaum zu atmen. »Ach, es war gewiß gar nichts; komm, wir pflücken weiter!« »Ja, komm, wir pflücken« – und so pflückten sie. »Wie lieb von dir, Eli, daß du heute nach dem Pfarrhaus herübergekommen bist. Hast du mir denn gar nichts zu erzählen?« – »Ich bin beim Paten gewesen.« – – »Ja, das hast du mir schon erzählt; – aber hast du mir denn gar nichts von dem Bewußten zu erzählen?« »O doch!« »O, Eli, Eli, ist's wahr? schnell erzähle!« – »Du, der Bewußte ist wieder dagewesen!« – »Ist nicht wahr!« – »Doch, ganz sicher, Vater und Mutter stellten sich alle beide, als sähen sie ihn nicht, aber ich lief auf den Boden und versteckte mich.« – »Weiter, weiter, kam er hinterher?« – »Ich glaube, Vater hat ihm verraten, wo ich war; Vater ist immer solch ein Schlingel, weißt du.« – »Und dann kam er?« »Komm, setz dich her, hier, ganz dicht neben mich! – Also dann kam er?« – »Ja, aber viel gesagt hat er grade nicht, denn er war zu schüchtern.« – »Jedes Wort mußt du mir sagen, hörst du, jedes Wort!« – »Hast du Angst vor mir?« sagte er. »Warum sollte ich denn Angst haben?« sagte ich. »Du weißt ja, was ich von dir will,« sagte er und setzte sich auf die Truhe neben mich. – »Neben dich?« – »Und dann faßte er mich um.« – »Faßte dich um? bist du närrisch!« – »Ich wollte mich gern wieder losmachen, aber er ließ mich nicht. ›Liebe Eli,‹ sagte er.« – Sie lachte, und die andere lachte auch. – »Na, und?« – »Willst du meine Frau sein?« – Ha, ha, ha! – Ha, ha, ha. – Und dann alle beide: Ha, ha, ha, ha, ha, ha, ha! –
Endlich mußte das Lachen doch ein Ende nehmen, und dann blieb es lange still; da fragte die erste wieder, aber leise: »Du, – war's nicht komisch, wie er dich so umfaßte?« –
Entweder antwortete die andere nicht darauf, oder doch so leise, daß man es nicht hören konnte; vielleicht war es auch nur mit einem Lächeln. Nach einer Weile fragte die erste: »Haben denn dein Vater und deine Mutter nachher gar nichts gesagt?« – »Vater kam herauf und sah mich an, aber ich versteckte mich in einemfort vor ihm; denn er lachte immer so, wenn er mich anguckte.« – »Aber deine Mutter?« – »Nein, die sagte gar nichts; aber sie war nicht so streng wie sonst.« – »Du hast ihm doch einen Korb gegeben, nicht?« – »Natürlich.« – Dann wurde es wieder lange still.
– »Du, Eli?« – »Ja –?« – »Glaubst du, daß so einer auch mal zu mir kommt?« – »Ja, natürlich!« – »Bist du närrisch?« – Hi, hi, hi, hi! – »Du, Eli! Wenn er mich dann auch umfaßte?« – Sie verbarg ihr Gesicht.
Nun gab es viel Gelächter, und dann Flüstern und Tuscheln.
Bald darauf gingen die Mädchen; sie hatten weder Arne, noch die Axt, noch die Jacke gesehen, und keiner war froher als er.
Einige Tage darauf nahm er den Oplands Knut als Pächter zu sich nach Kampen. »Du sollst nicht mehr so allein sein,« sagte Arne. Arne selbst nahm sich etwas Festes vor. Er hatte früh gelernt, die Handsäge zu gebrauchen, denn er hatte an den Häusern auf Kampen tüchtig mitgebaut. Jetzt wollte er dies als Handwerk betreiben; denn er fühlte, es tat gut, eine bestimmte Arbeit zu haben; es tat ihm auch gut, unter die Leute zu kommen, denn er hatte sich allmählich so verändert, daß er sich mitunter gradezu danach sehnen konnte, wenn er mal eine Zeitlang für sich allein gewesen war. Es traf sich, daß Arne den Winter über viel im Pfarrhause zu tischlern bekam, und da waren die beiden Mädchen oft zusammen. Wenn er sie sah, dachte er: »Wer weiß, wer jetzt um Eli Böen freit.« –
Einmal traf es sich, daß er Eli und das Pfarrertöchterlein fahren mußte; er hatte gute Ohren, aber trotzdem konnte er nichts von dem, was sie sprachen, aufschnappen; ein paarmal redete Mathilde ihn an. Dann lachte Eli, und versteckte ihren Kopf. So fragte Mathilde einmal, ob es wahr sei, daß er Verse machen könne. »Nein,« sagte er schnell; da lachten sie beide, und schwatzten und kicherten, von da an war er ihnen nicht mehr hold, und er tat, als wären sie Luft.
Einmal saß er in der Gesindestube, während die Leute dort tanzten; da kamen Mathilde und Eli hinein, um zuzusehen. Sie standen in der Ecke und stritten um etwas; Eli wollte nicht, aber Mathilde wollte, und sie siegte. Dann kamen sie beide auf ihn los, machten einen Knix und fragten, ob er tanzen könne. Er antwortete: nein, und da machten sie beide kehrt und gingen lachend davon. Dieses ewige Gelache, dachte Arne und wurde ernst. Aber der Pfarrer hatte einen kleinen Pflegesohn von zehn, zwölf Jahren, den Arne sehr gut leiden mochte, von dem lernte Arne tanzen, wenn niemand es sah.
Eli hatte einen kleinen Bruder im gleichen Alter wie des Pfarrers Pflegesohn. Die zwei waren Spielkameraden, und Arne machte ihnen Schlitten, Schneeschuhe und Schlingen, und mit ihnen sprach er viel von ihren Schwestern, besonders von Eli. Eines Tages brachte ihm Elis Bruder die Bestellung, er möchte doch nicht immer mit so zottigen Haaren gehen. »Wer hat denn das gesagt?« – »Eli aber ich sollte ja nicht sagen, daß sie's gesagt hat.« – Ein paar Tage darauf ließ er Eli ausrichten, sie möchte doch ein bißchen weniger lachen. Der Junge kam zurück und richtete aus, Arne möchte lieber ein bißchen mehr lachen.
Einmal wollte der Junge etwas haben, was Arne geschrieben hatte. Arne ließ es ihn nehmen und dachte nicht weiter darüber nach. Nach einiger Zeit wollte der Junge Arne mit der Nachricht erfreuen, daß die beiden Mädchen seine Schrift so gern leiden möchten. »Haben sie die denn gesehen?« – »Ja, für die habe ich doch nur drum gebeten.« Arne bat nun die Jungens, ihm etwas zu bringen, was ihre Schwestern geschrieben hätten; das taten sie. Mit einem Zimmermannsbleistift verbesserte Arne die Schreibfehler darin und bat die Jungens, es so hinzulegen, daß es leicht zu finden wäre. Später fand er das Papier wieder in seiner Rocktasche; aber darunter stand geschrieben: Verbessert von einem eingebildeten Gecken.
Am Tage darauf war Arnes Arbeit im Pfarrhaus beendet, und er fuhr nach Hause. So sanft wie diesen Winter hatte die Mutter ihn seit jener traurigen Zeit kurz nach des Vaters Tode nicht gesehen. Er las ihr die Predigt vor, begleitete sie zur Kirche und war sehr lieb zu ihr. Aber sie wußte nur zu gut, daß er alles nur tat, um ihre Einwilligung zu bekommen, daß er im Frühling auf Reisen gehen dürfte. Da kam eines Tages ein Bote von Böen mit der Aufforderung, ob er nicht hinüberkommen wollte, um dort einige Tischlerarbeiten zu besorgen.
Arne wurde ganz beklommen zumut, und er antwortete: ja, als ob er nicht weiter darüber nachdächte. Sowie der Bote fort war, sagte die Mutter: »Ja, du magst dich freilich wundern! Von Böen?« – »Was ist denn so wunderliches dabei,« fragte Arne, doch ohne sie anzusehen, »Von Böen?« rief die Mutter noch einmal. – »Na, ja, warum denn nicht ebensogut von da, wie von einem anderen Hof?« Er sah ein wenig auf. – »Von Böen, und Birgit Böen? – Wo doch der Baard Böen deinen Vater zum Krüppel geschlagen hat, und um Birgits willen!« – »Wie?« rief nun auch der Bursch, »das war Baard Böen?« – Mutter und Sohn standen einander gegenüber. Ein ganzes Leben stieg zwischen ihnen auf, und einen Augenblick lang sahen sie den schwarzen Faden, der sich durch alles hindurchgesponnen hatte. Später fingen sie an, von jener Glanzzeit des Vaters zu reden, als die alte Eli Böen selbst für ihre Tochter Birgit um ihn geworben und einen Korb bekommen hatte; sie gingen alles durch, bis zu jenem Augenblick, da Nils stürzte, und beide wurden einig, daß Baard nur geringe Schuld gehabt hatte. Und doch, es war eben doch er, der den Vater zum Krüppel geschlagen hatte, er war es.
»Bin ich denn immer noch nicht fertig mit dem Vater?« dachte Arne und beschloß, sofort hinüberzugehen.
Als Arne mit der Handsäge über der Schulter quer übers Eis auf Böen zuschritt, fand er, es sei ein prächtiger Hof. Das Haus sah immer aus, als wär es neu gemalt; ihn fror ein wenig, und vielleicht schien es ihm deshalb so traulich. Er ging nicht direkt hinein, sondern oben um den Kuhstall herum; dort stand eine Schar langhaariger Ziegen im Schnee und knabberte an der Borke von ein paar Tannenzweigen; ein Schäferhund lief auf der Scheunenbrücke hin und her und bellte, als ob der Teufel käme; aber sobald Arne stehen blieb, wedelte er mit dem Schwanz und ließ sich streicheln. Die Küchentür auf der oberen Seite des Hauses ging oft auf, und Arne sah jedesmal hin; aber entweder war es die Milchmagd, die mit ihren Eimern herauskam, oder die Köchin, die den Ziegen etwas hinwarf. Drinnen auf der Tenne wurde lustig gedroschen, und links vor dem Holzschuppen stand ein Knecht und hackte Holz. Hinter ihm waren viele Holzstapel aufgeschichtet. – Arne setzte die Handsäge ab und ging in die Küche hinein; dort war der Fußboden mit weißem Sand und feingehacktem Wacholder bestreut; von den Wänden herunter glänzten Kupferkessel, und Töpfe und Krüge standen in langer Reihe. Das Mittagessen wurde gekocht. Er fragte, ob Baard zu sprechen sei. »Geh nur in die Stube hinein,« sagte jemand und wies nach der Tür; Arne ging. An der Tür war keine Klinke, sondern nur ein Messinggriff. Drinnen war alles hell. Die Decke mit lauter Rosen bemalt, die Schränke rot, mit dem Namen der Besitzer in schwarz. Die Bettstelle ebenso, nur mit blauen Streifen am Rande. Beim Ofen saß ein breitschultriger Mann mit sanftem Gesicht und langem, gelbem Haar und band Reifen um ein paar Eimer. An dem langen Tisch saß eine Frau mit einer Haube auf dem Kopf und enganschließendem Kleide; hoch und schlank; sie teilte einen Haufen Korn in zwei Teile. Außer den beiden war niemand in der Stube.
»Grüß Gott, und gute Verrichtung,« sagte Arne und nahm die Mütze ab. Beide sahen auf; der Mann lächelte und fragte, wer er wäre. »Der bestellte Tischler.« – Der Mann lächelte noch mehr und sagte, indem er den Kopf wieder über seine Arbeit neigte: »So? also Arne Kampen.« – »Arne Kampen?« rief die Frau und starrte ihn mit großen Augen an. Der Mann sah nur flüchtig auf und lächelte wieder. »Dem Nils Schneider sein Sohn,« dann machte er sich wieder an die Arbeit. Nach einer Weile war die Frau aufgestanden, war nach dem Gesims gegangen, hatte sich wieder umgedreht, war zum Schrank gegangen, hatte sich wieder umgedreht und sagte schließlich, im Tischkasten kramend, ohne aufzusehen: »Soll der hier arbeiten?« »Freilich,« sagte der Mann, auch ohne aufzusehen, »Keiner bietet dir einen Sitz an,« sagte er, zu Arne gewandt. Dieser setzte sich auf die Bank dicht an der Tür; die Frau ging hinaus, und der Mann arbeitete weiter. Arne fragte daher, ob er gleich anfangen könne? – »Erst wollen wir Mittag essen.«
Die Frau kam nicht wieder herein; aber das nächstemal, als sich die Küchentür wieder öffnete, war es Eli. Sie tat zuerst, als sähe sie Arne nicht; als er dann aufstand, um auf sie zuzugehen, blieb sie stehen und wandte sich halb zur Seite, um ihm die Hand zu reichen, aber dabei sah sie ihn nicht an. Sie wechselten ein paar Worte; der Vater arbeitete. – Sie trug das Haar in Flechten, trug ein engärmeliges Kleid, war zierlich und schlank, mit runden Handgelenken und kleinen Händen. Sie deckte den Tisch; die Knechte saßen in der Nebenstube, aber Arne aß bei der Familie in der Wohnstube. Ausnahmsweise wurde nämlich heute getrennt gegessen, sonst aßen alle an demselben Tisch in der großen, hellen Küche. – »Kommt Mutter nicht?« fragte der Mann. – »Nein, sie ist auf dem Boden und wägt Wolle.« – »Hast du sie nicht gerufen?« – »Doch, aber sie will nichts haben,« sagte sie. – Eine Weile herrschte Schweigen. »Es ist aber doch zu kalt oben auf dem Boden!« – »Ja, ich wollte auch einheizen, aber sie wollte es nicht.«
Nach dem Mittagessen arbeitete Arne; am Abend war er wieder drinnen bei den andern. Jetzt war die Frau auch da. Die beiden Frauen nähten; der Mann bastelte an allerlei kleinen Sachen herum und Arne half ihm. Stundenlang sagte keiner eine Silbe, denn Eli, die sonst das Wort zu führen schien, war jetzt auch stumm. Mit Entsetzen dachte Arne: so ist es wohl oft auch bei uns daheim, aber es war, als fühle er es jetzt zum ersten Male. Einmal holte Eli tief Atem, als könne sie sich nicht länger halten, und darüber fing sie zu lachen an. Da lachte auch der Vater, und Arne kam die ganze Sache auch so komisch vor, daß er mit einstimmte, von da an plauderten sie über allerlei, zuletzt sprachen er und Eli fast immer zusammen, und der Vater warf nur dann und wann ein Wort dazwischen. Aber einmal, als Arne gerade recht lange gesprochen hatte, sah er zufällig auf, und da begegnete er Mutter Birgits Augen; sie hatte ihre Arbeit sinken lassen und starrte ihn unverwandt an. Gleich beugte sie sich wieder über die Arbeit, aber sowie er wieder etwas sagte, sah sie wieder auf.
Nun war Schlafenszeit, und jeder ging auf sein Zimmer. Arne wollte sich den Traum, den er die erste Nacht im fremden Hause hatte, merken; aber es war gar kein Sinn darin. Er hatte den ganzen Tag über wenig oder nichts mit dem Hausherrn geredet, und doch träumte er die ganze Nacht nur von ihm. Das letzte, was er träumte, war, daß Baard mit Nils Schneider Karten spielte. Dieser war sehr zornig und blaß im Gesicht, Baard aber lächelte und zog die Karten zu sich herüber.
Nun kam eine Reihe von Tagen, an denen wenig gesprochen, aber desto mehr gearbeitet wurde. Nicht allein die in der Stube waren schweigsam, nein, auch die Knechte, die Tagelöhner, ja sogar die Mägde. Auf dem Hofe war auch ein alter Hund, der jedesmal, wenn ein Fremder kam, zu bellen anfing; aber nie konnten ihn die Hausbewohner bellen hören, ohne sofort zu sagen: »scht!«, und dann legte er sich knurrend wieder hin. Daheim auf Kampen war auf dem Dach eine große Wetterfahne, die sich im Winde drehte; hier war eine noch viel größere Wetterfahne, die Arne aber dadurch auffiel, daß sie sich nicht drehte. Wenn der Wind heftig war, arbeitete die Wetterfahne, um loszukommen, und das sah Arne solange mit an, bis er es nicht mehr lassen konnte, aufs Dach zu klettern und sie loszumachen. Sie war nicht festgefroren, wie er dachte, sondern durch einen eingekeilten Pflock zum Stillstehen gebracht. Arne zog ihn heraus und warf ihn hinunter; der Pflock traf Baard, der gerade vorbeiging. Er schaute hinauf. »Was machst du denn da?« – »Ich mache die Wetterfahne los.« – »Tu das ja nicht; die kreischt so, wenn sie sich dreht.« – Arne saß rittlings auf dem Dachfirst. »Das ist doch besser, als daß sie ganz stumm ist.« – Baard sah zu Arne empor und Arne auf Baard hinab. Da fing Baard zu lächeln an: »Wer nicht sprechen kann, ohne zu kreischen, tut, sollt' ich meinen, besser, er schweigt.«
Nun kann es mitunter vorkommen, daß ein Wort noch lange, nachdem es gesagt ist, nachspukt, besonders, wenn es das letzte war. Diese Worte verfolgten Arne, wie er da in der Kälte vom Dache herunterkletterte, und sie gingen ihm immer noch im Kopfe herum, als er am Abend in die Wohnstube kam. Drinnen stand Eli in der Abenddämmerung am Fenster und schaute über das Eis hin, das blank im Mondschein lag. Er ging an das andere Fenster und sah gleich ihr hinaus. Drinnen im Zimmer war es mollig und still, draußen war es kalt; ein scharfer Abendwind strich durch das Tal und rüttelte an den Bäumen, so daß die Schatten, die sie im Mondschein warfen, nicht still lagen, sondern zitternd über den Schnee hinkrochen. Vom Pfarrhause her blendete ein Licht herüber, erweiterte sich und zog sich zusammen und nahm allerlei Gestalten und Farben an, wie es einem immer scheint, wenn man zu lange darauf hinstarrt. Darüber erhob sich das Gebirge, düster und märchenhaft im Innern, doch mondhell auf den Schneeflächen oben. Der Himmel war sternhell, und dort in der einen Ecke flackerte ein schwaches Nordlicht, das aber nicht weiter wollte. Wenige Schritte vom Fenster entfernt standen, nach dem Seeufer zu, Bäume, und ihre Schatten schlichen zueinander hinüber; nur die große Esche stand allein und zeichnete Figuren auf den Schnee.
Es war still ringsum, nur hin und wieder kreischte und heulte es draußen mit langem, klagendem Ton. »Was ist denn das?« fragte Arne. – »Die Wetterfahne,« antwortete Eli und fügte darauf leiser, wie für sich, hinzu: »Sie muß sich losgerissen haben.« – Aber Arne war wie einer, der etwas sagen will, es aber nicht kann. Endlich sagte er: »Weißt du noch das Märchen von den singenden Drosseln?« – »Ja.« – »Ach richtig, du hast es ja selbst erzählt. – – Ein hübsches Märchen.« – Nun sagte sie mit einer Stimme, so sanft, wie er sie zum ersten Male zu hören glaubte: »Wenn es ganz still ist, kommt es mir oft so vor, als singe etwas.« – »Das ist das Gute in uns selbst.« Sie sah ihn an, als läge etwas zu viel in der Antwort; und sie schwiegen nachher auch beide. Dann fragte sie, während sie mit einem Finger auf der Scheibe malte: »Hast du kürzlich wieder ein Gedicht gemacht?« Bei dieser Frage errötete er, aber sie sah es nicht. Deshalb fragte sie wieder: »Wie stellst du das denn an, wenn du dichtest?« – »Möchtest du das gern wissen?« – »Ach, ja!« – »Ich achte auf die Gedanken, die sich andere meist entschlüpfen lassen,« antwortete er ausweichend. – Sie war lange stumm; denn sie probierte im stillen an ein paar Liedern – ob sie vielleicht die Gedanken gehabt hätte und sie habe entschlüpfen lassen. »Das ist doch wunderlich,« sagte sie vor sich hin und fing wieder auf der Scheibe zu malen an. – »Als ich dich zum ersten Male gesehen hatte, habe ich ein Lied gemacht.« – »Wo war denn das?« – »Drüben beim Pfarrhaus, an dem Abend, als du fort solltest von da, – ich konnte dich im Wasser sehen.« – Sie lachte, wurde dann still und sagte endlich: »Laß mich doch das Lied hören, ja?« – Arne hatte noch nie so etwas getan; aber jetzt machte er sich wirklich daran, ihr das Lied vorzusingen:
»Klein Venevil hüpfte so windesschnell
zum liebsten Gesell« usw.
Eli hörte sehr aufmerksam zu, noch lange, nachdem er das Lied bereits beendet hatte, stand sie so da. Endlich rief sie: »Ach, sie tut mir aber zu leid!« – »Mir ist beinah, als hätte ich's gar nicht selber gemacht,« sagte er, denn er fing sich zu schämen an, daß er es ihr vorgesagt hatte. Er konnte auch gar nicht begreifen, wie er nur darauf hatte kommen können. Er blieb stehen und sah dem Liede nach. Da sagte sie: »Aber mir soll's doch wohl nicht so gehen?« – »Nein, nein, nein; – ich habe eigentlich dabei nur an mich gedacht.« – »Soll es dir denn so gehen?« – »Ich weiß nicht; – aber damals war meine Stimmung so; ich begreife es jetzt auch gar nicht mehr recht, aber ich war so schwermütig damals.« – – »Das ist doch wunderlich;« sie malte wieder auf der Scheibe. – –
Als Arne am folgenden Tage zum Mittagbrot ins Zimmer kam, trat er ans Fenster. Draußen war es grau und trüb, drinnen war es warm und traulich. Aber auf die Fensterscheibe hatte ein Finger geschrieben: »Arne, Arne, Arne,« und immer wieder »Arne«, und an diesem Fenster hatte Eli gestern abend gestanden.
Aber am Tag darauf kam Eli nicht herunter; sie war nicht wohl. Überhaupt war sie in dieser ganzen Zeit nicht recht frisch; sie sagte es selbst, und man konnte es ihr auch ansehen.
Am nächsten Tage kam Arne ins Zimmer und erzählte etwas, was er eben auf dem Hofe gehört hatte, nämlich, daß Mathilde, die Tochter des Pfarrers, nach der Stadt abgereist sei; sie selbst glaube, es sei nur auf einige Tage, aber nach dem Willen der Eltern solle sie ein oder zwei Jahre wegbleiben. Eli hatte bis jetzt keine Ahnung davon gehabt, sie wurde ohnmächtig und sank um.
Arne hatte nie zuvor dergleichen gesehen und geriet in große Angst. Er lief nach den Mägden, diese nach den Eltern, und die Eltern liefen aus dem Hause; auf dem ganzen Hofe entstand Tumult, und der Hofhund bellte auf dem Scheunenstege. Als Arne später wieder ins Zimmer kam, kniete die Mutter vor dem Bette, und der Vater hielt der Kranken den Kopf. Alle Mägde waren in Bewegung, die eine lief nach Wasser, die andere nach Tropfen, die in einem Schranke standen, eine dritte knöpfte der Kranken die Jacke am Halse auf. »Ach, Gott helfe dir!« sagte die Mutter, »es war doch verkehrt, daß wir ihr nichts gesagt haben; deine Schuld war's, Baard, du hast darauf bestanden. Gott helfe dir, Gott helfe dir!« Baard erwiderte nichts. »Ich hab' es ja gleich gesagt, aber nie geschieht etwas nach meinem Willen. Ach, Gott helfe dir, Gott helfe dir! Immer bist du so garstig gegen sie, Baard; du weißt nicht, wie sie behandelt sein will; du weißt nicht, was es heißt, jemanden lieb haben!« Baard erwiderte nichts. »Sie ist nicht wie andere, die ihren Kummer tragen können; Kummer wirft sie um, das arme Ding, sie ist ja so zart. Und besonders jetzt, wo sie so wie so nicht recht frisch ist. Wach auf, mein Kind, wir wollen dich auch immer lieb haben! Wach auf, meine Eli, mein Herzenskind, und mach uns nicht solchen Kummer!« Da sagte Baard: »Entweder schweigst du zu viel oder du schwatzt zu viel;« er sah zu Arne hinüber, als ob er nicht wollte, daß der solche Worte mit anhörte, und ihn fort wünschte. Doch da die Mädchen drinnen blieben, blieb Arne auch, aber er ging ans Fenster. Inzwischen hatte sich die Aranke soweit erholt, daß sie um sich schauen und die Anwesenden erkennen konnte; aber zugleich damit kehrte ihr auch die Erinnerung zurück. Sie schrie: »Mathilde!« und brach in krampfhaftes Weinen aus und schluchzte so, daß es allen ins Herz schnitt. Nun versuchte die Mutter, sie zu trösten, und der Vater stellte sich so, daß sie ihn sehen konnte; aber die Kranke stieß sie beide von sich. »Fort, fort!« rief sie, »ich habe euch nicht lieb, fort!« – »Gott im Himmel, deine Eltern hast du nicht lieb?« sagte die Mutter. – »Nein, ihr seid grausam gegen mich, ihr raubt mir die einzige Freude, die ich habe!« – »Eli, Eli, sprich nicht so heftige Worte!« bat die Mutter rührend. – »Doch, Mutter,« schrie sie, »jetzt muß ich's endlich mal sagen! Ja Mutter, ihr wollt mich mit dem garstigen Menschen verheiraten, und ich mag ihn nicht. Ihr sperrt mich hier ein, hier, wo ich nur froh bin, wenn ich hinaus darf! Und nun reißt ihr noch Mathilde von mir, die einzige in der ganzen Welt, die ich lieb habe und nach der ich mich sehne! O Gott, was soll aus mir werden, wenn Mathilde nicht mehr hier ist – und gar jetzt, wo ich so viel, so viel mit mir herumtrage, worin ich mir nicht zu helfen weiß, wenn ich mit keinem darüber sprechen kann!« – »Aber du warst doch so selten bei ihr?« sagte Baard. – »Was tat das, wenn ich sie nur da drüben am Fenster wußte!« erwiderte die Kranke und weinte so kindlich, daß es Arne war, als hätte er früher nie gewußt, was weinen ist.« – »Du konntest sie doch von hier aus gar nicht sehen,« sagte Baard. – »Ich sah doch das Haus!« antwortete sie, und die Mutter fügte hitzig hinzu: »Davon verstehst du nichts.« Von da an schwieg Baard. – »Nun kann ich nie mehr an mein Fenster!« klagte Eli, »jeden Morgen ging ich hin, sowie ich aufgestanden war, und abends saß ich dort im Mondschein, und immer, wenn ich niemanden hatte, zu dem ich gehen konnte, ging ich dahin. Mathilde, Mathilde!« Sie wand sich im Bett und bekam wieder einen Weinkrampf. Baard setzte sich auf einen Schemel und sah sie an.
Aber es ging nicht so schnell mit Eli, wie die Eltern vielleicht gedacht hatten. Gegen Abend sahen sie erst ein, daß eine schwere Krankheit im Anzug war, die ihr schon lange in den Gliedern gelegen haben mochte, und Arne wurde hineingerufen, um sie mit in ihr eignes Kämmerlein hinaufzutragen. Sie war ohne Bewußtsein und lag bleich und regungslos da. Die Mutter setzte sich an ihr Bett, der Vater stand am Fußende des Bettes und sah sie lange an, dann ging er hinunter an seine Arbeit. Arne tat dasselbe; aber am Abend, als er sich schlafen legte, betete er für sie, betete, daß es ihr, die ja so jung und schön sei, gut gehen möge auf Erden, und daß niemand sie um ihr Lebensglück bringen möge.
Am Tage darauf saßen Vater und Mutter beisammen und sprachen, als Arne eintrat; die Mutter sah verweint aus. Arne fragte, wie es ginge. Beide warteten, ob nicht vielleicht der andere antwortete, und deshalb dauerte es lange, ehe er Antwort bekam; endlich sagte der Vater: »Schlimm steht's!« – Später erfuhr Arne, daß Eli die ganze Nacht irre geredet oder, wie, der Vater sagte, dummes Zeug gesprochen hatte. Jetzt lag sie in starkem Fieber, erkannte niemand, wollte nichts essen, und die Eltern berieten sich gerade, ob sie den Arzt holen sollten. Als sie nachher wieder hinaufgingen, um nach der Kranken zu sehen, und Arne allein zurückblieb, war es ihm, als ob dort oben Tod und Leben wäre, und nur er sei ausgeschlossen.
Doch nach einigen Tagen trat eine Besserung ein. Einmal, als der Vater die Wache bei ihr hatte, geriet sie auf den Einfall, sie wolle Narrifas, den Vogel, den Mathilde ihr hatte schenken wollen, neben ihrem Bette haben. Da erwiderte Baard, wie es auch in der Tat der Fall war, in all dem Wirrwarr habe man den Vogel vergessen, und er wäre gestorben. In demselben Augenblick kam die Mutter hinzu und schrie schon von der Tür aus: »Ach je, ach je, Baard, wie kann man nur so rücksichtslos sein, dem kranken Kind so was zu erzählen! Siehst du, da wird sie uns schon wieder ohnmächtig! Gott verzeih' dir deine Sünde!« So oft die Kranke zur Besinnung kam, schrie sie nach dem Vogel, meinte, es ging Mathilden sicher schlecht, da er gestorben wäre, wollte zu ihr und fiel von neuem in Ohnmacht. Baard stand da und sah dies alles mit an, bis es ihm zu toll wurde; da wollte er auch helfen; aber die Mutter stieß ihn zur Seite und meinte, sie wolle die Kranke schon allein pflegen. Da sah Baard beide lange an, schob dann mit beiden Händen seine Mütze zurecht, drehte sich um und ging.
Der Pastor und die Frau Pastor kamen später auch hinüber, denn die Krankheit packte sie mit neuer Gewalt, und es wurde so schlimm, daß man nicht wußte, ob es zum Leben oder zum Tode ginge.
Der Herr Pastor und die Frau Pastor nahmen Baard unter vier Augen vor und hielten ihm vor, er sei zu hart gegen das Kind. Als sie die Geschichte mit dem Vogel hörten, sagte ihm der Pfarrer gerade heraus, so etwas wäre roh; er wollte das Kind selbst wieder mit hinübernehmen, sobald es hinübergeschafft werden könnte. Die Pfarrerin wollte ihn zuletzt gar nicht mehr sehen, sie weinte und saß bei der Kranken, holte den Arzt, nahm selbst seine Anordnungen entgegen und kam täglich mehrere Male herüber, um sie nach seiner Vorschrift zu pflegen, Baard ging draußen auf dem Hofe von einer Stelle zur anderen, am liebsten für sich allein, stand oftmals lange auf einem Fleck, rückte darauf seine Mütze mit beiden Händen zurecht und nahm irgendeine Arbeit vor.
Die Mutter sprach nicht mehr mit ihm; sie sahen einander kaum an. Ein paarmal am Tage ging er zu der Kranken hinauf; dann zog er unten an der Treppe die Schuhe aus, nahm die Mütze vor der Tür ab und öffnete vorsichtig. Sobald er eintrat, wandte Birgit sich ab, als hätte sie ihn nicht gesehen, saß zusammengekauert, den Kopf in die Hand gestützt, und starrte vor sich hin oder auf die Kranke. Diese lag regungslos und bleich, ohne zu wissen, was um sie her vorginge. Baard stand eine Weile am Fußende des Bettes, sah die beiden an und sagte nichts. Einmal, als die Kranke sich rührte, als ob sie erwachen wollte, schlich er sich augenblicklich leise, wie er gekommen war, wieder fort.
Oft dachte Arne daran, daß da zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kind Worte gefallen seien, die lange aufgesammelt wären und schwer vergessen werden könnten. Er sehnte sich fort, aber er wollte doch gern erst wissen, wie es mit Eli ginge. Doch er dachte, das könne er ja immer erfahren, er ging daher zu Baard und sagte, er wolle nach Hause; die Arbeit, derentwegen er gekommen sei, wäre fertig. Baard saß, als Arne zu ihm kam, draußen auf dem Hauklotz. Er saß gebückt da und scharrte mit einem Pflocke im Schnee. Arne erkannte den Pflock; es war derselbe, der die Wetterfahne festgehalten hatte. Ohne aufzusehen, sagte Baard: »Hier ist wohl jetzt nicht gut sein, aber mir ist, als sollte ich dich nicht fortlassen.« weiter sagte Baard nichts, und Arne auch nicht; er stand einen Augenblick, ging dann und nahm wieder eine Arbeit vor, als wäre es abgemacht, daß er bleiben solle.
Später, als Arne zum Essen gerufen wurde, saß Baard noch immer auf dem Hauklotz. Da ging Arne zu ihm hin und fragte, wie es heute mit Eli stände. »Es scheint heute wieder recht schlimm zu sein,« erwiderte Baard, »ich sehe, die Mutter weint.« Es war, als ob jemand Arne aufforderte, sich zu setzen, und er setzte sich Baard gegenüber auf einen Baumstamm. »Ich habe in diesen Tagen oft an deinen Vater denken müssen,« sagte Baard so unerwartet, daß Arne gar nichts erwidern konnte: »Du weißt wohl, was zwischen uns vorgefallen ist?« – »Ich weiß es.« – »Aber natürlich kennst du nur die eine Hälfte, was ja auch natürlich ist, und schreibst mir die ganze Schuld zu.« – Nach einer Weile entgegnete Arne: »Die Sache hast du wohl mit deinem Gott abgemacht, so gewiß wie mein Vater das jetzt getan hat.« – »Ach ja, wie man's nehmen will,« versetzte Baard. »Als ich da den Pflock hier wiederfand, kam es mir mit eins so wunderlich vor, daß du hierher kommen mußtest und die Wetterfahne losmachen. Ebensogut jetzt wie zuletzt, dachte ich.« Er hatte die Mütze abgenommen und saß nun da und guckte in sie hinein.
Arne begriff noch nicht, daß er damit meinte, er wolle jetzt mit ihm von seinem Vater reden. Ja, er verstand es immer noch nicht, als er schon anfing, so wenig sah das Baard ähnlich. Aber was vorher in seinem Herzen vorgegangen war, das merkte er, je weiter die Erzählung vorschritt, und hatte er vor diesem schwerfälligen, aber grundbraven Mann schon vorher Achtung gehabt, so wurde sie jetzt nicht geringer.
»Ich mochte ungefähr vierzehn Jahr alt sein,« begann Baard, sich, wie überhaupt im Verlaufe der ganzen Erzählung, dann und wann unterbrechend, dann wieder ein paar Worte sprechend und abermals innehaltend, so daß seine ganze Rede das Gepräge bekam, Wort für Wort gründlich abgewägt zu sein, »ich mochte ungefähr vierzehn Jahre alt sein, als ich deinen Vater, der gleichaltrig mit mir war, kennen lernte. – Er war sehr wild und duldete niemand über sich. Und da geschah's, was er mir nie vergessen konnte, daß ich bei der Einsegnung Nummer eins war, und er Nummer zwei. – Oft forderte er mich heraus, mich mit ihm zu messen, aber es wurde nie was daraus; vermutlich, weil keiner von uns seiner selbst so ganz sicher war. Merkwürdig war's jedoch, daß aus all den Schlägereien, die er tagtäglich hatte, doch nie ein Unglück entstand; das einzigemal, daß ich dran mußte, ging es so schlimm, wie es nur gehen konnte; aber freilich, – ich hatte auch lange gewartet. – –
Nils lief allen Mädels nach, und sie ihm. Mein Sinn stand nur nach einer, aber die nahm er mir bei jedem Tanz, bei jeder Hochzeit, bei jedem Feste fort; das war die, mit der ich jetzt verheiratet bin. – Oft fühlte ich im geheimen Lust, mich mit ihm zu messen; aber ich fürchtete, zu verlieren, und wußte, daß ich damit auch sie verlieren würde. – Wenn alle anderen gegangen waren, machte ich dieselben Kraftstreiche wie er, stieß mit dem Fuß gegen den Dachbalken, gegen den er gestoßen; aber das nächstemal, wenn er mir das Mädel vor der Nase wegschnappte, wagte ich's doch wieder nicht, mich mit ihm einzulassen, das heißt, einmal geschah es doch, als er gerade vor meinen Augen mit ihr scharwenzelte, da hob ich einen ausgewachsenen Burschen hoch und legte ihn, als wär's ein Kinderspiel, über den Dachbalken. Da wurde er aber auch ganz blaß.
Und wenn er nur wenigstens gut zu ihr gewesen wäre! Aber er betrog sie, und zwar Abend für Abend. Ich glaube beinah, sie liebte ihn mit jedem Male nur immer mehr. – Da kam das Letzte. Ich dachte, jetzt mag's biegen oder brechen. Und unser Herrgott da oben wollte auch nicht, daß er auf diesem Weg weiterginge, und deshalb fiel er etwas härter, als ich's ihm eigentlich gegönnt hatte. Ich hab' ihn nie wieder gesehen.«
Lange Zeit saßen sie schweigend da; endlich fuhr Baard fort:
»Ich bot ihr wieder meine Hand an. Sie antwortete weder ja noch nein, und da dachte ich, später wird's schon besser werden. Also verheirateten wir uns; die Hochzeit wurde unten im Tal bei einer Tante, deren Erbin sie war, gefeiert. Wir haben groß angefangen, und später hat sich unser Hab und Gut noch vermehrt. Unsere Höfe lagen nebeneinander und wurden nun zusammengebracht, wie ich's mir schon als Junge so schön ausgemalt hatte. Aber vieles wurde ganz anders, als wie ich mir's ausgemalt hatte.«
Lange saß er ganz still; eine Weile dachte Arne, er weinte, das war jedoch nicht so. Aber seine Stimme war noch sanfter, als er fortfuhr:
»Anfangs war sie still und sehr traurig. Ich wußte ihr nichts zum Trost zu sagen und darum schwieg ich leider. Später kam bei ihr dann und wann dieses Lärmende, Rastlose zum Vorschein, was du vielleicht auch schon bemerkt hast, es war immer eine Art Umschlag, und deshalb schwieg ich auch dazu. – Aber einen wirklich frohen Tag hab' ich nicht gehabt, seit ich verheiratet bin, und das ist jetzt an die zwanzig Jahre.« – –
Dabei zerbrach er den Stecken in zwei Stücke; dann guckte er die Stücke eine Weile an.
»– – Als die Eli heranwuchs, dachte ich mir, sie würde mehr Freude dran haben, unter fremde Leute zu kommen, statt hier bei uns zu sein. Ich hab' nur selten was durchzusetzen versucht, meistens war es ja auch verkehrt; – so ging's auch damit. Die Mutter saß da und sehnte sich nach dem Kinde, obwohl nur das bißchen Wasser zwischen ihnen lag, und zuletzt merkte ich, daß die da drüben im Pfarrhause es auch verkehrt anfingen, denn die Pastorschen sind doch im Grund nur recht gutherzige Hanswurste; aber ich sah es zu spät ein. Jetzt macht sie sich weder aus ihrem Vater noch aus der Mutter was.«
Die Mütze hatte er wieder abgenommen; nun hing ihm das lange Haar in die Augen hinein; er strich es zur Seite und setzte die Mütze mit beiden Händen wieder auf, als ob er gehen wollte. Aber wie er sich, um aufzustehen, nach dem Hause zu wandte, zögerte er und sah nach dem Fenster der Bodenkammer hinauf und fügte hinzu:
»Ich hielt es für das beste, wenn sie und Mathilde nicht Abschied nähmen: aber das war wieder mal verkehrt. Ich erzählte ihr, daß ihr Vögelchen tot sei, denn es war ja meine Schuld, und ich fand, es sei das beste, das ganz offen einzugestehen; aber das war natürlich auch verkehrt. Und so geht mir's mit allem. Ich hab' mir soviel Mühe gegeben, alles immer recht gut zu machen, aber immer ist es schlimm ausgefallen, und nun ist es so weit gekommen, daß Frau und Tochter schlecht von mir reden und ich hier allein und verlassen umhergehe.«
Eine Magd rief zu ihnen herüber, das Essen würde kalt. Baard stand auf. »Ich höre die Pferde wiehern,« sagte er, »'s wird sie wer vergessen haben.« Er ging nach dem Stall, um ihnen Heu zu geben.
Eli war nach ihrer Krankheit sehr matt; die Mutter war Tag und Nacht bei ihr und kam nie nach unten; der Vater machte seine gewohnten Besuche oben, auf Strümpfen, und immer legte er die Mütze erst draußen vor der Tür ab. Arne war noch immer da; er und der Vater saßen abends zusammen; er hatte Baard mit der Zeit sehr lieb gewonnen. Baard war ein wohlbelesener, gründlich denkender Mann, aber er war förmlich bange vor dem, was er wußte. Wenn dann Arne ihm zurechthalf und ihm Dinge erzählte, von denen er noch nichts wußte, dann war ihm Baard sehr dankbar.
Eli konnte bald ein wenig außer Bett sein, und je besser es mit ihr vorwärtsging, desto mehr Einfälle bekam sie. Eines Abends mal saß Arne in der Stube unter Elis Kammer und sang wieder mit kräftiger Stimme; da kam die Mutter herunter, Eli ließe ihn bitten, doch ein bißchen hinaufzukommen und ihr vorzusingen, damit sie die Worte besser verstehen könne. Arne hatte freilich wohl auch hier unten nur für Eli gesungen; denn als jetzt die Mutter das sagte, wurde er rot und stand auf, als ob er sein Tun ableugnen wollte, obgleich keiner was gesagt hatte. Er nahm sich aber bald zusammen und sagte ausweichend, er könne doch nur so sehr wenig singen. Aber die Mutter meinte, wenn er allein wäre, schiene das doch gar nicht so.
Arne gab nach und ging. Er hatte Eli nicht gesehen seit dem Tage, wo er sie mit hinaufgetragen hatte; er hatte ein Gefühl, als müsse sie sich sehr verändert haben, und das machte ihn ein wenig beklommen. Als er aber die Tür leise öffnete und hineinging, war es stockdunkel im Zimmer, und er sah niemand. Er blieb an der Tür stehen. »Wer ist da?« fragte Eli klar und leise. – »Arne Kampen,« antwortete er behutsam, damit die Worte recht weich herauskämen. – »Ach, das ist aber nett von dir, daß du kommst!« – »Wie geht's dir, Eli?« – »Danke, jetzt geht's schon besser.«
»Setz dich doch, Arne,« sagte sie nach einer Weile, und Arne tastete sich vorwärts, bis zu einem Stuhl am Fußende des Bettes. »Es war so hübsch, dich singen zu hören; du mußt mir hier oben was vorsingen, ja? – »Wenn ich nur was könnte, was hierher paßt.« – Eine Weile war es still, dann sagte sie: »Sing doch einen Choral,« und er tat es; er sang ein Stück aus einem Konfirmationslied. Als er endlich fertig war, hörte er, daß sie weinte, und wagte deshalb nicht, weiterzusingen. Aber nach einer Weile sagte sie: »Sing noch einen, ja?« Und er sang eins der bekanntesten Sonntagslieder. »An wie vieles hab' ich doch gedacht, wie ich hier so liegen mußte,« sagte Eli. Er fand keine Antwort und hörte wieder aus dem Dunkel heraus ihr Weinen. Eine Uhr tickte an der Wand, hob schnurrend zum Schlage aus und schlug. Eli atmete ein paarmal tief, als wollte sie ihre Brust erleichtern, und sagte dann: »Man weiß doch so wenig, nicht mal Vater und Mutter kennt man. – Ich bin gar nicht lieb zu ihnen gewesen, und darum ist mir's so wunderlich, jetzt das Konfirmationslied da zu hören.«
Wenn man im Dunkeln spricht, ist man immer wahrer, als wenn man einander sieht; man sagt überhaupt mehr.
»Es ist mir lieb, das von dir zu hören,« erwiderte Arne; er dachte daran, was sie damals gesagt hatte, als sie krank wurde. Auch sie dachte an dasselbe und sagte deshalb: »Wäre mir das hier nicht widerfahren, so mag Gott wissen, wie lange ich da noch so umhergegangen wäre, ohne Mutter zu finden.« – »Hat sie jetzt mit dir gesprochen?« – »Alle Tage, sie hat überhaupt nichts anders getan.« – »Da hast du wohl manches zu hören gekriegt?« – »Magst schon recht haben – –«
»Da hat sie wohl auch von meinem Vater gesprochen?« – »Ja.« – – »Denkt sie noch an ihn?« – »Sie denkt noch an ihn.« – »Er ist nicht gut zu ihr gewesen!« – »Arme Mutter!« – »Aber gegen sich selbst war er doch am schlechtesten.«
Der eine dachte, was er dem andern nicht aussprechen wollte. Eli spann zuerst wieder Worte zwischen ihnen. »Du sollst ja deinem Vater ähnlich sein.« – »Man sagt es,« erwiderte er ausweichend; der Ton, in dem er das sagte, fiel ihr nicht auf, und deshalb fügte sie nach einer Pause noch hinzu: »Konnte er auch Verse machen?« – »Nein.« –
»Sing mir doch ein Lied vor, – – eins, das du selbst gemacht hast.« Aber Arne hatte die Gewohnheit, nicht gern einzugestehen, daß die Lieder, die er sang, seine eignen waren. »Ich weiß keins,« sagte er. – »Du weißt schon welche, und du singst sie mir auch vor, wenn ich dich drum bitte.« Und was er nie für andere getan hätte, das tat er nun ihr zuliebe. Er sang dieses Lied:
Bäumchen stand fertig mit Knospen besät,
»Soll ich's nehmen?« sagt der Frost, der prustend sich bläht,
»O Lieber, rühr's nicht an,
bis Blüten sitzen dran,«
bat's Bäumchen, das eiskalter Schrecken durchweht.
Bäumchen kriegt Blüten unter Vogelgesang.
»Soll ich's nehmen?« sagt der Wind und rüttelt und rang.
»O Lieber, rühr's nicht an,
bis Beeren sitzen dran,«
bat's Bäumchen; im Winde es zitternd sich schwang.
Und Bäumchen kriegt Beeren, in Sonnenblicks Glut.
»Soll ich's nehmen,« sagt's Mädel, das jungfrische Blut.
»Ja, Liebe, nimm hin
den ganzen Gewinn,«
sagt's Bäumchen und bot ihm das schwellende Gut.
Das Lied benahm ihr fast den Atem. Er machte nachher auch ein Gesicht, als hätte er mehr gesungen, als er je gesagt hätte.
Die Dunkelheit lastet schwer auf zweien, die beisammen sitzen und nicht reden wollen; nie sind sie einander so nahe als gerade dann. Er hörte es, wenn sie sich nur regte, wenn sie nur mit der Hand über die Decke strich, wenn sie nur etwas tiefer atmete als gewöhnlich. –
»Arne, – könntest du mich nicht dichten lehren?« – »Hast du's noch nie versucht?« – »Doch, in den allerletzten Tagen, aber ich krieg's nicht 'raus.« – »Was hast du denn hineinhaben wollen?« – »Was von Mutter, die deinen Vater so lieb hatte.« – »Das ist ein schweres Thema,« – »Ich hab' auch drüber geweint.« – »Nach einem Thema muß man nicht suchen, das muß von selber kommen.« – »Wie kommt es denn?« – »Wie alles andere Liebe: wenn du's am wenigsten erwartest.« – Sie schwiegen beide. »Ich finde es so merkwürdig, Arne, daß du dich von hier fortsehnst; einer, der so viel Schönes in sich trägt.« – »Woher weißt du denn, daß ich mich fortsehne?« – Sie antwortete nichts, sie lag nur still in Gedanken versunken da. »Arne, du darfst nicht fortreisen,« sagte sie, und es drang ihm warm zu Herzen. – »Manchmal hab' ich auch viel weniger Lust.« – »Deine Mutter hat dich gewiß sehr lieb. Darf ich deine Mutter nicht mal kennen lernen?« – »Komm' doch mal nach Kampen hinüber, wenn du wieder gesund bist.« – Und nun stellte er sie sich mit einem Male vor, in der hellen Stube auf Kampen sitzend und nach den Bergen hinausschauend. Seine Brust begann sich zu heben, und sein Blut kam in Wallung, »'s ist warm hier im Zimmer,« sagte er und stand auf.
Sie hörte es. »Ach, willst du denn schon gehen?« sagte sie, und er setzte sich wieder.
– – »Du mußt recht oft zu uns kommen; – Mutter mag dich so gern leiden,« – »Ich möchte auch gern; – – aber ich muß doch hier was zu tun haben.« – Eli schwieg eine Weile, als dächte sie darüber nach. »Ich glaube,« sagte sie dann, »Mutter will dich um etwas bitten.« – –
Er hörte, wie sie sich im Bette aufrichtete. Außer der Uhr, die an der Wand tickte, war kein Laut in der Kammer, auch nicht von unten her. Da brach es plötzlich aus ihr heraus:
»Ach, wenn doch erst Sommer wäre!«
»Wenn doch Sommer wäre!« Und vor seiner Seele stieg es auf wie feuchtes Laub und Herdengeläute, Jodeln von den Bergen her und Gesang aus den Tälern, der Schwarze See lag da und blinkte in der Sonne, und die Gehöfte schaukelten sich drin. – Eli kam aus der Tür und setzte sich hin wie an jenem Abend. »Wär's doch erst Sommer,« sagte sie, »und ich säße auf dem Hügel; ich glaube ganz sicher, dann könnte ich jetzt ein Lied machen!«
Er lachte und fragte: »Wovon sollte es denn handeln?« »Von etwas ganz, ganz Leichten, von – ach, ich weiß selbst nicht recht – –«
»Sag's doch, Eli!« Er erhob sich in seiner Freude, besann sich aber wieder und setzte sich.
»Um alles in der Welt möchte ich dir's nicht sagen!« Sie lachte. – »Ich Hab' dir aber doch was vorgesungen, als du mich batest.« – »Das ist wahr, aber – es geht nicht, nein, nein!« – »Eli, glaubst du, ich würde mich über den kleinen Vers, den du gemacht hast, lustig machen?« – »Nein, das glaube ich nicht, Arne; aber ich hab's doch gar nicht selbst gemacht.« – »Es ist also von einem andern?« – »Ach, es ist mir so zugeweht.« – »Dann kannst du mir's doch sagen!« – »Nein, nein, so ist es ja auch nicht, wie du denkst, Arne; bitte mich nicht mehr!« – Sie mußte wohl den Kopf unter die Decke versteckt haben, denn das letzte war kaum zu hören. »Eli, jetzt bist du gar nicht so lieb zu mir, wie ich gegen dich gewesen bin.« Er stand auf. – »Aber Arne, das ist doch was ganz anderes! – Du verstehst mich nicht – es ist – ich weiß selbst nicht – ein andermal – sei mir nicht böse, Arne! geh' nicht fort!« Sie fing zu weinen an.
»Eli, was fehlt dir denn?« Er lauschte. »Bist du krank?« Er glaubte es selbst nicht. Sie weinte noch immer; jetzt meinte er, er müsse entweder vorwärts oder zurück. »Eli!« – »Ja.« – Sie flüsterten beide. »Gib mir die Hand!« Sie antwortete nicht; er horchte gespannt, kurz, – tastete über die Decke hin und bekam eine kleine, warme Hand, die bloß lag, zu fassen.
Da hörten sie etwas auf der Treppe gehen, und schnell ließen sie einander los. Die Mutter war's, die mit Licht kam. »Ihr sitzt mir doch ein bißchen zu lange im Dunkeln,« sagte sie und setzte den Leuchter auf den Tisch. Aber weder Eli noch Arne konnten das Licht ertragen, sie verbarg das Gesicht in den Kissen, und er hielt die Hand vor die Augen. »Na ja, es tut im ersten Augenblick ein bißchen weh,« sagte die Mutter, »aber das gibt sich bald.«
Arne suchte auf dem Boden nach seiner Mütze, die er gar nicht mitgehabt hatte, und dann ging er.
Tags darauf hörte er, daß Eli nach dem Essen ein wenig nach unten kommen wollte. Er packte sein Werkzeug zusammen und sagte Lebewohl. Als sie herunterkam, war er fort.
Spät kommt der Frühling in die Berge hinein. Die Post, die zur Winterszeit wöchentlich dreimal den Königsweg entlangfährt, geht jetzt im April nur noch einmal, und die Bergbewohner fühlen dann, daß draußen der Schnee abgeworfen und das Eis gebrochen ist, daß die Dampfschiffe im Gange sind und der Pflug wieder im Erdreich wühlt. Hier liegt der Schnee noch drei Ellen hoch, das Vieh brüllt in den Ständen, und die Vögel kommen geflogen, verkriechen sich aber und frieren. Ein vereinzelter Wanderer erzählt, er habe seinen Wagen unten im Tal gelassen, und er bringt Blumen mit, die er am Wegrande gepflückt hat, und zeigt sie vor. Da schwillt denen in den Bergen das Herz vor Sehnsucht, und sie gehen unruhig umher und plaudern, blicken nach der Sonne und beobachten, wieviel sie täglich schafft. Sie streuen Asche auf den Schnee und denken an die, die jetzt Blumen pflücken.
Zu einer solchen Zeit war es, als die alte Margit Kampen im Pfarrhause erschien und mit dem Hausvater sprechen wollte. Sie wurde in sein Studierzimmer hinaufgebeten, wo der Pfarrer, ein schmächtiger, hellblonder Mann mit großen, bebrillten Augen, sie freundlich empfing, sie gleich erkannte und aufforderte, Platz zu nehmen. »Nun, ist etwa mit Arne wieder etwas los?« fragte er, als hätten sie dieses Thema schon öfter behandelt. – «Ach ja, Gott helfe mir,« sagte Margit. »Ich hab' ja nie was anderes als Gutes über den Jungen zu sagen, und doch ist es so schwer.« Sie sah tief traurig aus. – »Ist etwa die alte Sehnsucht wieder über ihn gekommen?« fragte der Pfarrer. – »Schlimmer als je,« entgegnete die Mutter. »Ich glaube nie und nimmer, daß er länger als bis Frühlingsanfang bei mir bleibt.« – »Er hat aber doch versprochen, dich nie zu verlassen?« – »Das schon, aber du lieber Gott, er kann ja selber nichts dafür, wenn ihm der Sinn in die Welt hinaussteht, dann muß er eben ziehen. Aber was soll dann aus mir werden?«
»Trotz alledem bin ich fest überzeugt, daß er dich nicht verläßt,« sagte der Pfarrer. – »Freilich nicht; aber wenn er's zu Hause nun nicht mehr aushalten kann? Soll ich's dann auf mein Gewissen laden, ihm im Wege zu stehen? Mitunter mein' ich fast, ich müßte ihn selbst auffordern, zu reisen.«
»Woran merkst du denn, daß seine Sehnsucht jetzt wieder heftiger ist als früher?« – »Ach, – an so mancherlei. Seit Mittwinter hat er nicht einen einzigen Tag draußen in der Bygde gearbeitet. Aber dreimal ist er nach der Stadt gefahren und jedesmal lange weggeblieben. Bei der Arbeit spricht er fast nie, und das tat er sonst doch oft. Oben an dem kleinen Bodenfenster kann er stundenlang allein sitzen und nach den Bergen hinüberschauen, über die Kampenschlucht hinaus. Da kann er den lieben langen Sonntagnachmittag sitzen, und oft, wenn Mondschein ist, sitzt er da bis tief in die Nacht hinein.« – Liest er dir nie mehr vor?« – »Doch, jeden Sonntag liest und singt er mir vor, das versteht sich; aber es ist immer etwas Hastiges dabei, nur ab und zu mal tut er wieder fast zu viel des Guten.« – »Spricht er denn nie mit dir?« – »Oft sind die Pausen so lang, daß ich ganz heimlich für mich weinen muß. Das merkt er wohl und fängt dann an, aber immer über die leichteren Dinge, nie über das Schwere.« Der Pfarrer ging auf und ab, blieb dann stehen und fragte: »warum sagst du denn aber nichts zu ihm?« – Es dauerte lange, ehe sie hierauf etwas antwortete; sie seufzte mehrmals, sah vor sich nieder und zur Seite, legte das Taschentuch, das sie in der Hand hielt, in Falten und sagte endlich: »Ich komme heut' hierher, um mit dir, lieber Vater, über etwas zu reden, was mir wie ein Stein auf dem Herzen liegt.« – »Sprich dich nur offen aus, das wird dich erleichtern.« – »Ich weiß, daß es mich erleichtern wird, denn jahrelang hab' ich mich nun allein damit herumschleppen müssen, und es wird mir von Jahr zu Jahr schwerer.« – »Nun, was ist es, gute Frau?« – Es dauerte wieder ein geraumes Weilchen, dann sagte sie: »Ich hab' mich schwer gegen meinen Sohn versündigt.« Sie fing zu weinen an. Der Pfarrer trat dicht an sie heran. »Bekenne mir's, dann wollen wir miteinander zu Gott beten, daß deine Sünde dir vergeben werde.«
Margit schluchzte und trocknete ihre Tränen, fing aber jedesmal, wenn sie ansetzen wollte, zu weinen an, und so ging es mehrere Male. Der Pfarrer tröstete sie und meinte, es sei gewiß kein so schweres Verbrechen, jedenfalls sei sie zu streng gegen sich selbst usw. Aber Margit weinte und bekam kein Wort heraus, bis sich der Pfarrer dann neben sie setzte und ihr freundlich zusprach, und da kam es stoßweise heraus: »Der Junge hat's in seiner Kindheit gar schlecht gehabt, und da hat die Wanderlust ihn gepackt. So lernte er den Christian kennen, den, der jetzt so schwer reich geworden ist, da drüben, wo sie Gold graben. Der Christian gab Arne so viele Bücher, daß er ganz anders wurde als wir; sie hockten ganze Nächte lang zusammen; und als Christian fortzog, wollte der Junge ihm nach. Aber da kam das mit dem Vater, wie der plötzlich tot umfiel, und da versprach mir der Junge, mich nie zu verlassen. Aber ich war wie 'ne Henne, die ein Entenei ausgebrütet hat. Als das Kücken Luft gekriegt hatte, wollte es auf das große Wasser hinaus, und ich lief am Ufer hin und her und gackerte, wenn er auch selbst nicht hinaus konnte, seine Lieder konnten doch hinaus, und jeden Morgen hatte ich Angst, sein Bett mal leer zu finden.
Da kam eines Tages ein Brief an ihn von ganz furchtbar weit her; und der muß von Christian gewesen sein. Gott verzeih mir die Sünde, aber ich nahm den Brief und versteckte ihn. Ich dachte nun, damit wär's genug, aber nein, es kam noch einer an, und hatte ich den ersten versteckt, so mußte ich den zweiten auch verstecken. Aber war es nicht, als wollten sie ein Loch durch die Truhe brennen, in der sie lagen! Denn von früh, wenn ich die Augen aufschlug, bis ich sie wieder schloß, mußte ich immer nur dahin denken. Und denk nur an, was das Allermerkwürdigste war: es kam noch ein dritter. Eine Viertelstunde lang hielt ich ihn in der Hand; drei Tage lang trug ich ihn auf der Brust mit mir herum und überlegte hin und her, ob ich ihm den Brief geben oder ob ich ihn zu den andern legen sollte. Aber wer konnte wissen, ob er nicht die Macht hätte, meinen Jungen von mir fortzulocken, und – ich konnte mir nicht helfen – ich legte ihn zu den andern. Nun ging ich in täglicher Angst umher, sowohl wegen denen in der Truhe, als wegen denen, die noch kommen könnten. Jeden Menschen, der auf den Hof kam, fürchtete ich. Saßen wir beide in der Stube, und es klopfte, so zuckte ich zusammen, denn es konnte ja ein Brief sein, und dann bekäme er ihn. War er draußen in der Bygde, ging ich zu Hause umher und dachte: jetzt kriegt er da vielleicht einen Brief, und in dem steht was von den anderen, die früher gekommen sind! Wenn er nach Hause kam, so forschte ich schon von fern in seinen Mienen, und Gott, wie froh war ich, wenn er ein liebes Gesicht machte, denn dann hatte er nichts bekommen! Mit der Zeit war er auch so hübsch geworden; wie sein Vater, nur blonder und milder. Und dann hatte er eine so herrliche Singstimme; – wenn er in der Abendsonne vor der Tür saß und zu den Halden hinaufsang und auf Antwort lauschte, da fühlte ich's, – verlieren konnte ich ihn nicht! – Wenn ich ihn nur sah oder wußte, daß er irgendwo in der Nähe war und nur einigermaßen froh aussah und mir nur dann und wann mal ein gutes Wort gönnte, so wünschte ich mir hienieden nichts anders, und keine Träne hätte ich ungeweint wissen mögen.
Aber gerade als es schien, als ob er zufriedener wäre und sich auch unter den Leuten wohler fühlte, kam vom Postamt die Nachricht, der vierte Brief sei angekommen, und zweihundert Taler seien darin. Mir war, als müßte ich auf der Stelle umfallen. Was sollte ich nun tun? Den Brief konnte ich ja ganz gut aus dem Weg schaffen, aber das Geld? Mehrere Nächte lang konnte ich kein Auge zutun, von wegen dem Geld; eine Zeitlang hatte ich's auf dem Boden, eine Zeitlang im Keller hinter einer Tonne, und einmal war ich so fertig, daß ich es ins Fenster legte, damit er es fände. Aber als ich ihn kommen hörte, nahm ich's doch wieder fort. Zuletzt fand ich doch noch einen Ausweg: ich gab ihm das Geld und sagte, es wäre noch von meiner Mutter her. Er vergrub es, wie ich mir gedacht hatte, in die Erde, und da kam es nicht weg. Aber gerade in dem Herbste mußte es auch noch kommen, daß er eines Abends sich darüber wunderte, daß Christian ihn so ganz vergessen hätte.
Da brach die Wunde wieder auf, und das Geld brannte wie Feuer. Eine Sünde war es, und die Sünde hatte zu rein gar nichts genützt!
Eine Mutter, die eine Sünde gegen ihr eigenes Kind auf dem Herzen trägt, ist die unglückseligste von allen Müttern; – – und doch hab' ich's nur aus Liebe getan. – – Nun werde ich wohl zu guter Letzt noch bestraft werden, dadurch, daß ich mein Liebstes hergeben muß. Denn seit Mittwinter hat er die Melodie wiedergefunden, die er immer singt, wenn er sich fortsehnt, die hat er von Kind auf gesungen, und ich kann sie nicht hören, ohne daß ich blaß werde. Dann bin ich zu allem möglichen imstande, und hier sollst du sehen,« – sie zog bei diesen Worten ein kleines Papier aus ihrem Busen, faltete es auseinander und gab es dem Pfarrer, – »hier ist etwas, woran er bisweilen schreibt; das geht gewiß nach der Melodie. – Ich habe es mitgebracht, weil ich solche feine Schrift nicht lesen kann; lieber Herr Pfarrer, sieh doch, ob nicht was vom Reisen drin steht. –«
Es stand nur ein Vers auf dem Papier. Vom zweiten Verse nur hier und da eine Zeile oder eine halbe, als wäre es ein Lied, das er vergessen gehabt und sich nun Vers für Vers wieder ins Gedächtnis zurückzurufen suchte. Aber der erste Vers lautete:
Möchte wohl wissen, was dort zu sehn
über den hohen Bergen?
Schnee, so weit hier die Augen gehn,
grüne Bäume ringsum wohl stehn.
Möchte hinüber so gerne,
wag' ich die Fahrt in die Ferne?
»Steht was vom Reisen drin?« fragte Margit und hing an des Pfarrers Augen. – »Ja, es steht was vom Reisen drin,« erwiderte er und ließ das Papier sinken. – »Dacht' ich's nicht gleich! O Gott, ich kannte ja die Melodie!« Mit gefalteten Händen stand sie da und schaute den Pfarrer an, lange, gespannt, während Träne auf Träne ihr über die Backe hinunterrollte. Hier wußte der Pfarrer ebensowenig Rat wie sie. »Das muß der Junge eben mit sich allein abmachen,« sagte er. »Das Leben verändert sich nicht um seinetwillen; alles kommt darauf an, daß er selbst einst etwas Höheres darin finden kann. Jetzt scheint es fast, als ob er es draußen erjagen wollte.« – »Aber, du lieber Gott, das ist ja ganz genau wie mit dem alten Weibchen.« – »Mit welchem alten Weibchen?« fragte der Pfarrer. – »Ei, das Weibchen, das auszog, um sich Sonnenschein zu fangen, anstatt Fenster in ihre Wand zu machen.« Der Pfarrer war über ihren Scharfsinn verwundert, aber das war nicht das erstemal, wenn sie auf dies Gebiet kamen, denn Margit hatte eben sieben oder acht Jahre an nichts anderes gedacht. »Glaubst du, daß er fortgeht? Was soll ich tun? Und das Geld? Und die Briefe?« Alles drängte mit einem Male auf sie ein. »Ja, das mit den Briefen, das ist freilich nicht in der Ordnung. Daß du ihm etwas, was ihm gehört, vorenthalten hast, dafür gibt es kaum eine Entschuldigung. Noch schlimmer ist es indessen, daß du vor deinem Sohne einen Mitchristen in schlechtes Licht gestellt hast, obwohl dieser es gar nicht verdient hat, und am allerschlimmsten ist, daß es einer war, den er sehr lieb hatte und der ihm ebenso innig zugetan war. Aber wir wollen zu Gott beten, daß er dir vergebe; wir wollen beide zu ihm beten.« Margit ließ ihr Haupt sinken; noch immer saß sie mit gefalteten Händen da. »wie gern würde ich ihn um Verzeihung bitten, wenn ich nur erst wüßte, ob er bleiben wollte!« – Sie brachte anscheinend den lieben Gott und Arne ein bißchen durcheinander. Der Pfarrer tat, als ob er das nicht bemerkte. »Hast du vor, ihm gleich alles zu gestehen?« fragte er, Sie senkte die Augen tief und sagte leise: »Wenn es ginge, möchte ich gern noch ein klein wenig warten.« Aber der Pfarrer lächelte, ohne daß sie es sah und fragte: »Glaubst du nicht, daß deine Sünde größer wird, je länger du zögerst mit dem Geständnis?« – Sie nestelte hastig mit beiden Händen an ihrem Taschentuche, faltete es zu einem ganz kleinen Viereck zusammen und versuchte es zu einem noch kleineren zusammenzulegen, aber das ging nicht, »wenn ich ihm das mit den Briefen sage, dann fürchte ich, er reist.« – »So wenig also vertraust du auf deinen Gott?« – »Ei doch, das versteht sich,« versetzte sie schnell, aber leise fügte sie hinzu: »Aber wenn er nun doch von mir ginge?« – »Davor, daß er von dir geht, fürchtest du dich also mehr, als davor, in deiner Sünde zu verharren?« Margit hatte ihr Taschentuch wieder auseinandergefaltet; sie führte es jetzt an die Augen, denn die Tränen kamen ihr. Der Pfarrer saß eine Weile da und betrachtete sie; dann sagte er weiter: »Warum erzählst du mir dies alles, wenn du nicht eine bestimmte Absicht damit verbindest?« Er wartete lange, aber sie antwortete nicht. »Glaubst du vielleicht, deine Sünde würde geringer werden, wenn du sie bekenntest?« – »Das dachte ich!« sagte sie leise und mit noch tiefer auf die Brust gesenktem Haupte. Der Pfarrer lächelte und erhob sich. »Ja, ja, meine liebe Margit, du mußt dich bemühen, so zu handeln, daß du einst auf deine alten Tage Freude davon haben kannst,« – »Wenn ich nur die festhalten könnte, die ich habe!« entgegnete sie, und der Pfarrer mußte annehmen, daß sie sich gar kein größeres Glück zu denken vermöchte, als in ihrer steten Angst zu bleiben. Er lächelte, während er sich die Pfeife stopfte. »Wenn wir nur gleich ein nettes Mädchen hätten, das ihn erobern könnte; da solltest du schon sehen, daß er bliebe!« – Sie sah schnell auf und folgte dem Pfarrer mit den Blicken, bis dieser vor ihr stehen blieb, »Eli Böen –? was –?« Sie wurde rot und sah wieder vor sich nieder; aber sie antwortete nicht. Der Pfarrer, der jetzt stehen blieb und wartete, sagte endlich, aber diesmal ganz leise: »Wenn wir es so einrichten könnten, daß die beiden hier im Pfarrhaus öfter zusammenkämen?« Sie guckte zum Pfarrer empor, um sich zu überzeugen, ob es auch sein voller Ernst wäre. Allein sie wagte ihm nicht recht zu trauen. Der Pfarrer fing nun wieder auf und ab zu wandern an, machte jedoch bald wieder halt und sagte: »Hör mal, Margit, zu guter Letzt war es vielleicht gar das, was dich hierher geführt hat?« Sie schaute nieder, steckte ein paar Finger in das zusammengelegte Taschentuch und zupfte einen Zipfel hervor. »Ach Gott, ach Gott, ja, das wird's wohl gewesen sein, was ich wollte.« – Der Pfarrer lachte laut auf und rieb sich die Hände. »Vielleicht wolltest du, als du das letztemal hier warst, auch dasselbe?« – Sie zog den Zipfel weiter heraus, zupfte und zupfte und sagte endlich: »Da du's nun doch mal sagst, so wird's wohl so sein.« – »Ha, ha, ha, ha! O, Margit, Margit, du bist mir eine Nette! – Na, wir wollen mal sehen, was wir tun können, denn, um die Wahrheit zu sagen, meine Frau und meine Tochter haben schon längst denselben Gedanken gehabt wie du.« – »Ist's möglich?« – Sie blickte auf, so glücklich und zugleich so verschämt, daß der Pfarrer so recht seine Freude an ihrem offenen, hübschen Gesicht hatte, in dem sich das Kind durch allen Kummer und alle Angst hindurch gerettet hatte. »Ja, ja, Margit, da du so große Liebe trägst, so wird dir wohl auch um deiner Liebe willen verziehen werden, was du verbrochen hast, sowohl von Gott wie von deinem Sohne. Die stete große Angst, in der du gelebt hast, wird dich wohl auch hinreichend bestraft haben; nun wollen wir sehen, ob Gott ihr ein baldiges Ende bereiten will, denn will er das, dann hilft er uns jetzt auch ein wenig.« Sie seufzte tief auf, und noch einmal, und noch einmal, stand dann auf, dankte, und machte einen Knix, und ging, und knixte in der Tür noch mal. Aber kaum war sie zur Tür hinaus, so war sie ganz wie verändert. Mit einem kurzen, aber von Dankbarkeit strahlendem Blick schaute sie zum Himmel hinauf und eilte die Treppe hinunter, und je weiter sie vom Pfarrhaus wegkam, desto schneller flog sie dahin, und so leicht wie sie an diesem Tage nach Kampen ging, hatte sie den Weg seit vielen, vielen Jahren nicht gemacht. Als sie so weit war, daß sie sehen konnte, wie der Rauch sich dick und lustig aus dem Schornstein herauswälzte, segnete sie das Haus und den ganzen Hof, und den Herrn Pfarrer und Arne, – und dabei fiel ihr ein, daß es Rauchfleisch zu Mittag gab, was ihr Lieblingsessen war.
Kampen war ein schöner Hof. Er lag mitten auf der Hochebene, deren untere Grenze die Kampenschlucht und deren obere die Landstraße war; an der oberen Seite des Weges stand dichter Wald, etwas weiter hinauf ragte die Bergwand empor, und dahinter sah man blaue Berge mit Schneefeldern. Auch jenseits der Kampenschlucht war eine breite Bergkette, die sich erst rings um den ganzen Schwarzen See, auf der Seite, wo Böen lag, herumzog, dann in der Richtung nach Kampen hin immer höher wurde und sich gleichzeitig nach der breiten Talsenkung herumbog, die die Untere Bygde genannt wurde und die hier unten begann, denn Kampen war der letzte Hof in der Oberen Bygde.
Die Haupttür des Wohnhauses ging auf die Straße hinaus; von da bis zum Wege war es wohl einige tausend Schritt; ein Pfad, auf beiden Seiten mit dichten Birken bepflanzt, führte hinauf. Zu beiden Seiten der Rodung lag Wald; die zum Gute gehörenden Äcker und Wiesen ließen sich nach Belieben vergrößern; kurz, es war eine fast in jeder Beziehung vorzügliche Ackerwirtschaft. Ein kleiner Garten lag vor dem Haus. Den bestellte Arne nach Anleitung seiner Bücher; links vom Hause lagen die Ställe und andere Wirtschaftsgebäude; sie waren größtenteils neu aufgeführt und bildeten ein Viereck mit dem Wohnhause. Dieses selbst war rot gestrichen, mit weißen Fensterrahmen und Türen, hatte zwei Stockwerke und war mit Torf gedeckt, so daß kleines Buschwerk auf dem Dache wuchs; der eine Giebel trug eine Wetterstange, auf der sich ein eiserner Hahn mit hohem Schwanze drehte.
Der Frühling war in die Bergtäler eingezogen; es war ein Sonntagmorgen; die Luft war etwas schwer, aber ruhig und ohne Kälte; der Nebel hing tief bis auf die Wälder herab, Margit meinte aber, er würde sich im Lauf des Tages lichten. Arne hatte seiner Mutter die Predigt vorgelesen und Choräle gesungen, und das hatte ihm selbst wohlgetan; jetzt stand er in vollem Sonntagsstaate da, um nach dem Pfarrhaus zu gehen. Er öffnete die Tür; Duft von frischem Laub schlug ihm entgegen; taufrisch stand der Garten, gebeugt unter der Schwere des Morgennebels, aber von der Kampenschlucht her brauste stoßweise mächtiges Gedröhn herüber, so daß es einem vor Augen und Ohren zitterte.
Arne schritt bergan. Je weiter er sich vom Wasserfall entfernte, desto mehr verlor das Gedröhn alles Grausige, und zuletzt legte es sich wie ein tiefer Orgelton über die ganze Landschaft.
»Gott sei mit ihm, auf dem Wege, den er da geht!« sagte die Mutter, wie sie das Fenster öffnete und ihm nachsah, bis die Büsche ihn verdeckten. Der Nebel lichtete sich mehr und mehr, die Sonne brach hindurch, und auf den Feldern und im Garten wurde es lebendig. Dort sproßte nun schon Arnes Werk in frischem Wachstum und trug Duft und Frohsinn zur Mutter hinauf. Der Frühling ist schön für den, der lange Winter gehabt hat.
Arne hatte auf dem Pfarrhof nichts Bestimmtes zu tun, aber er wollte doch mal nach den Zeitungen fragen, die er zusammen mit dem Pfarrer hielt. Er hatte unlängst die Namen mehrerer Norweger gelesen, die in Amerika durch Goldgraben emporgekommen waren, und unter diesen stand auch Christian. Jetzt hatte Arne obendrein noch das Gerücht vernommen, daß Christian in der Heimat erwartet würde. Darüber konnte er wohl gleichfalls im Pfarrhause Bescheid bekommen, und wenn Christian etwa schon jetzt in der Stadt wäre, wollte ihn Arne zwischen den Frühlingsarbeiten und der Heuernte besuchen. Diese Gedanken erfüllten ihn ganz, bis er dahin kam, wo man den Schwarzen See und Böen auf dem jenseitigen Ufer sehen konnte. Der Nebel lichtete sich auch dort, die Sonne spielte auf den Wiesenhängen, die Berge standen mit sonnigen Gipfeln, während sie im Schoß noch den Nebel liegen hatten, der Wald verdunkelte das Wasser auf der rechten Seite, aber dort vor den Häusern war es etwas seichter, und da schimmerte der weiße Sand im Sonnenschein. Mit einem Male weilten seine Gedanken in dem roten Hause mit den weißen Türen und Fensterrahmen, wonach er sein eigenes angestrichen hatte. Er dachte nicht an die ersten schweren Tage, die er dort verlebt, er dachte nur an den Sommer, von dem sie beide, er und Eli, dort oben vor ihrem Krankenbette geträumt hatten. Seitdem war er nicht mehr dort gewesen, seitdem wollte er nicht mehr dahin, um alles in der Welt nicht. Sowie nur seine Gedanken daran rührten, wurde er rot vor Scham, und trotzdem geschah es, jeden Tag und viele Male am Tage, und gab es irgend etwas, was ihn aus der Bygde treiben konnte, so war es eben dies.
Er ging rasch, als wollte er weit, weit von dort wegkommen; aber je länger er ging, desto näher kam er Böen, und desto häufiger sah er auch hinüber. Der Nebel war ganz verschwunden, der Himmel klar von einem Bergrahmen bis zum andern, die Vögel schwebten in der sonnenfrohen Luft und riefen einander lustig zu, die Felder antworteten mit Millionen Blumen, kein Wasserfall zwang die Freude aufs Knie wie zu Unterwerfung und Andacht; lebensfroh und ausgelassen sang, blitzte, jubelte sie himmelwärts ohne Ende!
Arne hatte sich glühend heiß gegangen, nun warf er sich am Fuße eines Hügels ins Gras, schaute nach Böen hinüber und wälzte sich auf die andere Seite, um nicht mehr hinüberzuschauen. Da hörte er Gesang über sich, so glockenrein, wie er nie hatte singen hören; das floß über die Wiese hin, mitten in all das Vogelgezwitscher hinein, und kaum daß er die Melodie recht wiedererkannte, kannte er auch schon die Worte. Denn die Melodie war die, die ihm die liebste von allen war, und die Worte waren die, mit denen er sich seit der Kindheit getragen hatte, und die er an demselben Tage, da er sie endlich herausgebracht hatte, auch wieder vergessen hatte. Er sprang auf, als wollte er sie wieder fangen, blieb aber stehen und lauschte. Und es kam der erste Vers, dann der zweite, der dritte, der vierte Vers zu ihm herniedergeflossen, all die Verse seines eigenen vergessenen Liedes:
Möchte wohl wissen, was dort zu sehn
über den hohen Bergen?
Schnee, so weit hier die Augen gehn,
grüne Bäume ringsum wohl stehn.
Möchte hinüber so gerne,
wag' ich die Fahrt in die Ferne?
Adler hebt sich mit starkem Schlag
über die hohen Berge,
fliegt in den jungen, kraftvollen Tag,
kühlt seinen Jagdmut im wilden Hag,
rastet nach seinen Gelüsten,
schaut nach den fremden Küsten.
Laubschwerer Apfelbaum, den nichts zieht
über die hohen Berge,
sprießt, sobald er den Sommer sieht,
hofft nur, daß immer, wenn er blüht,
Vöglein in jubelndem Reigen
schaukeln sich in seinen Zweigen.
Wer sich gesehnt wohl zwanzig Jahr
über die hohen Berge,
weiß, daß sein Sehnen fruchtlos war,
fühlt sich kleiner von Jahr zu Jahr,
hört, was die Vöglein singen,
die sich im Apfelbaum schwingen.
Plauderndes Vöglein, was hält dich hier fest
über den hohen Bergen?
Fändest du dort nicht ein besseres Nest,
Höhen, wo frei es sich hausen läßt?
Willst du nur Sehnsucht bringen
ohne die tragenden Schwingen?
Darf ich denn nimmer, nimmermehr
über die hohen Berge?
Soll der Gedanken kämpfendes Heer,
soll mir dies eisige Schreckenswehr
ewig versperren die Erde,
daß sie zum Sarge mir werde?
Fort will ich, fort, o so weit, weit, weit
über die hohen Berge.
Hier verzehrt mich mein Herzeleid,
jung ist mein Mut und kampfbereit,
Mag er den Anstieg nur wagen,
nicht an der Mauer zerschlagen.
Einmal, das weiß ich, komm' ich hinaus
über die hohen Berge.
Quillt aus dem Türspalt schon Licht heraus?
Himmlischer Vater, ist schön auch dein Haus,
laß doch dein Tor noch verschlossen,
bis ich mein Sehnen genossen.
Arne stand da, bis der letzte Vers, das letzte Wort verhallt war; wieder hörte er die Vögel schelmisch und neckisch lachen, aber er wußte nicht, ob er sich regen dürfte. Aber wissen, wer es war, wollte er doch zu gern, er hob den Fuß und ging so behutsam, daß er das Gras nicht mal rascheln hörte. Ein kleiner Schmetterling setzte sich gerade vor seinen Füßen in eine Blume, mußte wieder auf, flog wieder ein kleines Stückchen, mußte wieder auf, und so ging es den ganzen Abhang, den er hinaufklomm. Aber dort oben stand ein dicker Busch; da er jetzt von seinem Platze aus alles sehen konnte, wollte er nicht weiter; ein Vogel flog aus dem Busche auf, schrie erschrocken und flog über den Bergabhang weg. Da sah sie auf, sie, die dort saß; er duckte sich tief nieder, hielt den Atem an, das Herz klopfte ihm, jeden Schlag hörte er. Er lauschte und wagte kein Blättchen anzurühren, denn sie war es ja – Eli! – Lange, lange nachher guckte er ein klein wenig in die Höhe, hätte sich gar zu gern noch einen Schritt nähergeschlichen, aber der Vogel hätte ja unter dem Strauch sein Nest haben können, und das durfte er doch nicht zertreten. Er lugte durch die Blätter hindurch, je nachdem sie zur Seite wehten oder zusammenhockten. Die Sonne schien gerade auf das Mädchen, sie saß in einem schwarzen Mieder ohne Ärmel da und hatte einen Strohhut auf, wie ihn die Burschen zu tragen pflegten; er saß locker und wollte immer auf die Seite rutschen. Im Schoße hatte sie ein Buch liegen, obendrauf jedoch einen ganzen Haufen Feldblumen; ihre rechte Hand kramte wie in Gedanken in den Blumen, die linke war auf das Knie gestützt und daran lehnte sie ihren Kopf. Ihre Augen sahen dem Vogel nach, wie er wegflog, und es war nicht ganz sicher, ob sie geweint hatte.
Etwas Schöneres hatte Arne sein Lebtag weder gesehen, noch geträumt. Die Sonne warf auch all ihr Gold über sie und ihr Plätzchen, und der Gesang umwob sie, trotzdem er längst verklungen war, so daß sich seine Gedanken, ja, sein Herz und sein Atem, nur nach dem Takte des Liedes bewegten.
Sie nahm das Buch und öffnete es, schloß es jedoch gleich wieder und saß wie vorher da, während sie zu summen begann. Es war das Lied: Bäumchen stand fertig mit Knospen besät.
Er konnte es hören, obwohl sie sich weder der Worte noch der Melodie ordentlich entsann und sich oft irrte. Den letzten Vers kannte sie noch am besten, darum sang sie ihn mehrere Male; aber sie sang ihn so:
Und Bäumchen kriegt Beeren so reif und so gut.
»Darf ich nehmen?« sagt's Mädchen, das süße Blut.
»Nimm, Mägdelein fein,
alle sind dein,«
sagt Bäumchen. – Tralla la la gut.
Und dann mit einemmal sprang sie auf, schüttelte alle Blumen von sich und jodelte so, daß der Ton durch die Luft schmetterte und bis nach Böen hinüberdrang. Und dann lief sie. – – Sollte er rufen? Nein! – Da sprang sie die Hügel hinab, singend und trällernd; da fiel der Hut hin, jetzt nahm sie ihn wieder auf, nun stand sie mitten im höchsten Grase. – »Soll ich rufen? Sie sieht sich um!« – Schnell heruntergeduckt. Es dauerte lange, ehe er sich traute, wieder hervorzulugen, zuerst hob er nur den Kopf, sah sie aber nicht; – dann auf die Knie, sah sie noch immer nicht; – jetzt ganz auf, – nein, sie war fort!
Nach dem Pfarrhaus mochte er nun nicht mehr. Er wollte überhaupt nichts! – Später setzte er sich dorthin, wo sie gesessen hatte, und saß noch da, als die Sonne schon im Mittag stand. Auf dem See nicht ein Wellchen, von den Höfen begann der Rauch in die Höhe zu wirbeln, die Wachteln verstummten eine nach der anderen, die Vögel schäkerten zwar noch, zogen sich aber mehr und mehr nach dem Walde hin zurück, der Tau war fort, und das Gras war ganz ernsthaft geworden, kein Lüftchen regte sich, und die Blätter hingen ganz still, die Sonne mußte in einer Stunde im Mittag stehen. Er wußte selbst nicht, wie es zuging, daß er da saß und an einem Liedchen arbeitete; eine weiche Melodie kam und bot sich von selber dazu an, und da ihm die Brust so voll von allem Süßen und Holden war, ging und kam die Melodie so lange, bis sie ein ganzes Bild mit sich hatte.
Still, wie er's gemacht hatte, sang er es vor sich hin:
Im Wald ging Jung-Knabe wohl tagelang,
tagelang,
er hatte gehört so seltsamen Sang,
seltsamen Sang.
Aus Weidenrohr eine Flöte er schnitzt,
Flöte er schnitzt,
versucht, ob die Weise da drin nicht sitzt,
drin nicht sitzt.
Die Weise flüstert bald hier, bald dort,
hier, bald dort,
doch wie er ihr lauschte – husch, war sie fort,
war sie fort.
Oft, wenn er schlief, sie leis' ihn umschlich,
leis' ihn umschlich,
und über die Stirn ihm liebreich strich,
liebreich strich.
Wollte sie fangen, doch jäh er erwacht,
jäh er erwacht,
die Weise hing fest in der bleichen Nacht,
bleichen Nacht.
Herr, o mein Gott, so nimm mich hin,
nimm mich hin,
die Weise hat ganz mir verzaubert den Sinn,
ganz den Sinn.
Der Herr erwidert: »sie ist dein Freund,
ist dein Freund,
wenngleich sie sich nimmer mit dir vereint,
dir vereint.«
Keine der andern so weit doch reicht,
weit doch reicht,
wie diese, die eine, die stets von dir weicht,
von dir weicht.
Es war ein Sonntagabend im Sommer; der Pastor war aus der Kirche heimgekehrt, und Margit hatte bis jetzt, bis gegen sieben Uhr, bei ihm gesessen. Nun sagte sie adieu und lief die Treppe hinunter und auf den Hof hinaus, denn dort hatte sie soeben Eli Böen bemerkt, die dort mit dem Sohn des Pfarrers und ihrem Bruder zusammen gespielt hatte.
»Grüß Gott!« sagte Margit, und blieb stehen. – »Grüß Gott!« sagte Eli; ihr Gesicht glühte, und sie wollte jetzt mit dem Spiel aufhören, obgleich die Jungens sie bestürmten; sie bat jedoch so herzlich, daß sie sie für heute abend freigäben. – »Ich meine fast, ich sollte dich kennen,« sagte Margit. – »Das ist wohl möglich,« entgegnete Eli. – »Du bist doch nicht am Ende Eli Böen?« – Doch, die sei sie. – »Nee, aber so was! – Also du bist Eli Böen! Ja, nun sehe ich's auch, du siehst deiner Mutter ähnlich.« – Elis rötlichbraunes Haar hatte sich gelöst und hing lang herunter. Ihr Gesicht war heiß und rot wie eine Erdbeere, ihre Brust flog auf und nieder, sie konnte kaum sprechen und lachte sich selbst aus, daß sie so außer Atem war. – »Ach ja, das gehört sich so für die Jugend.« – Margit verliebte sich ganz in den Anblick des Mädchens. »Aber mich kennst du wohl nicht?« Eli hätte gern gefragt, ließ es aber lieber, weil jene die ältere war; jetzt sagte sie nur, sie könne sich nicht erinnern, sie schon gesehen zu haben. – – »Ach nein, das ist auch nicht zu erwarten; alte Leute kommen nur selten mal heraus aus ihrem Nest. – Aber meinen Sohn kennst du vielleicht ein wenig, den Arne Kampen; ich bin seine Mutter.« Sie lugte zu Eli hinüber, und diese war auch auf einmal ganz verändert. »Hat er nicht mal da drüben bei euch auf Böen gearbeitet?« – Ja, das hätte er. – »'s ist solch ein schönes Wetter heut abend; wir haben gegen mittag geheut und eingefahren; bevor ich ging; wirklich ein gottgesegnetes Wetter.« – »Es wird gewiß ein gutes Heujahr?« meinte Eli. – »Ja, das darf man wohl sagen; – auf Böen steht's wohl auch fein?« – »Da sind wir schon fertig damit.« – »Natürlich, versteht sich! Viel Hilfe, tüchtige Leute! – Willst du heute abend noch hinüber?« – »Nein, heute nicht mehr.« – Sie plauderten nun von diesem und jenem und wurden allmählich so vertraut, daß Margit wagen konnte, sie zu fragen, ob sie nicht ein Stückchen mitgehen wolle. »Willst du nicht ein paar Schritte mitkommen?« sagte sie, »man trifft so selten einen, mit dem man mal 'nen kleinen Schwatz halten kann, und dir geht's wohl ebenso, nicht?« – Eli entschuldigte sich, aber sie habe ihre Jacke nicht an. »Ach natürlich, 's ist ja auch zum Schämen, gleich das erstemal, wo man einen Menschen sieht, ihn um so was zu bitten; aber mit alten Leuten muß man eben nachsichtig sein.« – Eli sagte, sie könne sie ja gern begleiten, aber dann müsse sie schnell erst ihre Jacke holen.
Es war ein enganschließendes Jäckchen; wenn es zugehakt war, sah es fast wie ein Kleid aus; weil sie so warm war, hakte sie aber nur die beiden untersten Haken zu. Die feine Leinenbluse hatte einen überfallenden Kragen und wurde am Halse von einem silbernen Knopf in Gestalt eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln zusammengehalten. Gerade so einen hatte Nils Schneider getragen, als Margit Kampen zum erstenmal mit ihm tanzte. – »Ei, was für'n hübscher Knopf,« sagte sie, und betrachtete ihn. – »Den hab' ich von der Mutter,« sagte Eli. – »Ja, ja, so ist's wohl,« sie half ihr, ihn feststecken.
Jetzt gingen sie den Weg entlang. Das Heu war gemäht und lag in Haufen; Margit griff in einen der Heuhaufen, roch dran und fand das Heu gut. Sie erkundigte sich nach dem Viehstand auf dem Pfarrhof, bei welcher Gelegenheit sie dann auch nach dem auf Böen fragen und erzählen konnte, wie groß der von Kampen wäre. »In den letzten Jahren ist der Hof tüchtig vorwärts gegangen, und er läßt sich erweitern, soviel man selber will. Er füttert jetzt zwölf Milchkühe und könnte noch mehr füttern, aber er hat so viele Bücher, in denen er studiert und nach denen er alles einrichtet, und da will er sie so großartig gefüttert haben.« – Wie zu erwarten war, antwortete Eli auf dies alles nichts; aber nun fragte Margit sie, wie alt sie sei. »Neunzehn Jahre.« – »Hast du denn schon im Haushalt mit Hand angelegt? Du siehst mir so fein aus, 's ist auch wohl nicht allzuviel gewesen.« – Doch, sie habe allerlei mit tun müssen, besonders in der letzten Zeit. – »Ja, ja, 's ist gut, an alles gewöhnt zu sein; wenn man selbst nachher ein großes Haus kriegt, da tut's schon not. Aber freilich, wenn man genug Hilfe vorfindet, braucht man sich nicht zu arg zu placken.« – Eli wäre jetzt freilich gern umgekehrt, da sie schon weit über die Feldmark des Pfarrhofes hinaus waren. »Die Sonne geht noch lange nicht unter; – es wär' lieb von dir, wenn du noch ein bißchen mit mir plaudern wolltest,« – und Eli ging mit.
Nun fing Margit an, von Arne zu sprechen. »Ich weiß nicht, ob du ihn genauer kennst. Von dem kann man alles mögliche lernen; du liebe Zeit, was der alles gelesen hat!« Eli gestand, sie wüßte, daß er viel gelesen habe. – »Und das ist noch das wenigste an ihm; wie der sein ganzes Leben lang gegen seine alte Mutter gewesen ist, das ist noch viel mehr! Wenn das wahr ist, was ein altes Sprichwort sagt: wer gegen seine Mutter gut ist, ist auch gegen seine Frau gut, dann wird die, die er mal wählt, sich nicht viel zu beklagen brauchen. – Wonach schaust du dich denn um, Kind?« – »Ach, ich hab' bloß einen kleinen Zweig fallen lassen, den ich in der Hand hatte.« – Sie wurden beide still und gingen, ohne einander anzusehen. »Er hat so was Sonderbares an sich,« begann die Mutter von neuem, »als Kind ist er immer so geduckt worden, und deshalb hat er sich dran gewöhnt, alles mit sich allein abzumachen, und solche Leute haben immer 'n bißchen was Eignes.« – Jetzt wollte Eli durchaus umkehren, aber Margit meinte, nun hätten sie nur noch ein ganz kleines Stückchen bis Kampen, und da müsse sie sich Kampen doch ansehen, weil sie nun mal hier wäre. Aber Eli meinte, für heute würde es zu spät werden. »I was, es wird sich schon wer finden, der dich nach Hause begleitet,« sagte Margit. – »Nein, nein!« erwiderte Eli hastig und wollte gehen, – »Arne ist freilich nicht zu Hause,« sagte Margit, »der kann's also nicht, aber es wird sich schon wer anders finden,« und nun hatte Eli weniger dagegen einzuwenden; sie wollte Kampen ja auch gern sehen, »wenn es nur nicht zu spät wird!« – »Ja, wenn wir hier noch lange darüber hin und her schwatzen, kann's freilich zu spät werden,« – und sie gingen. »Du hast wohl auch viel gelesen, du bist ja doch beim Herrn Pastor erzogen, nicht?« – Ja, das hätte sie schon. – »Das wird dir zugute kommen,« meinte Margit, »wenn du einen kriegst, der weniger kann.« – Nein, so einen wollte Eli aber nicht. – »O nein, das wär' wohl auch nicht das richtige; aber hier in der Bygde sind die Leute nicht gar zu gelehrt!« – Eli fragte, von wo der Rauch da drüben im Walde aufstiege. – »Das ist ein neues Pächterhaus, das zu Kampen gehört. Da wohnt der Oplands-Knut. Er war immer so einsam, und da hat ihm Arne den Platz da zum Ausroden gegeben. Der Arne weiß, was Einsamkeit zu bedeuten hat, der arme Kerl!« – Nach einer Weile kamen sie so hoch, daß sie den Hof sehen konnten. Die Sonne schien ihnen grade ins Gesicht, sie hielten die Hände über die Augen und schauten hinab. Mitten auf der Hochebene lag das Gehöft, rot, mit weißen Fensterrahmen; ringsum war die Wiese gemäht, ein Teil des Heus stand in Haufen, die Äcker lagen grün und üppig inmitten der blaßgrünen Wiese. Bei den Ställen ging's lebhaft zu; Kühe, Schafe und Ziegen kamen gerade heim, die Schellen bimmelten, die Hunde bellten, die Milchmagd rief, aber alles übertönend brauste das furchtbare Getöse des Wasserfalls in der Kampenschlucht. Je länger Eli schaute, desto mehr hörte sie nur diesen Ton, und er wurde ihr zuletzt so entsetzlich, daß sie Herzklopfen bekam, es brauste und sauste durch ihren Kopf, bis sie ganz taumelig wurde, und dann wurde ihr wieder so weich und warm ums Herz, daß sie unwillkürlich ganz behutsam auftrat und kleine Schritte machte, so daß Margit sie bitten mußte, doch etwas schneller zu gehen. Sie schrak zusammen. »Ich hab' nie so was gehört wie diesen Wasserfall,« sagte sie; »mir wird fast bange.« – »Daran gewöhnst du dich bald,« antwortete die Mutter; »zuletzt würdest du ihn sogar vermissen.« – »Ach wirklich?« fragte Eli. – »Ja, ja, wirst schon sehen,« sagte Margit; dabei lächelte sie.
»Komm, nun sehen wir uns zuerst mal das Vieh an,« sagte sie, vom Wege abbiegend; »die Bäume hier auf beiden Seiten hat Nils gepflanzt. – Er wollte es gern hübsch haben, der Nils, – das will Arne auch; da sieh dir mal den Garten an, den er angelegt hat.« – »Ach, wie hübsch, wie hübsch!« rief Eli, und lief schnell nach dem Zaun. Sie hatte Kampen öfter gesehen, aber noch nie so in der Nähe, und deshalb auch nicht den Garten. – »Später wollen wir ihn uns angucken,« sagte Margit. – Eli lugte flüchtig durch die Fenster hinein, als sie an dem Hause vorübergingen; es war niemand drinnen.
Sie stellten sich beide auf den Scheunensteg und betrachteten die Kühe, wie sie muhend an ihnen vorüber in den Kuhstall trotteten. Margit nannte Eli jede einzelne beim Namen, erzählte, wieviel Milch jede gäbe, welche trächtig wären und welche nicht. Die Schafe wurden gezählt und eingelassen, sie waren von einer großen, fremden Rasse. »Arne hat sich mal zwei Lämmer aus den südlichen Provinzen kommen lassen. Er hat viel Lust zu so was, das sollte man ihm gar nicht zutrauen.« – Sie gingen nun in die Scheune hinein und besahen das Heu, das schon eingefahren war, und Eli mußte dran riechen, – »solches Heu gibt's nicht überall.« – Sie zeigte durch die Scheunenluke nach den Äckern hinaus und erzählte, was jeder trüge, und wieviel von jeder Sorte gesät sei. – Von der Scheune gingen sie nach dem Hause. Eli, die bis jetzt auf nichts etwas erwidert hatte, bat jetzt aber, als sie an dem Garten vorübergingen, ob sie nicht hineindürfe. Und als sie drin war, bat sie später, ob sie sich nicht ein Blümchen oder zwei pflücken dürfe. In der einen Ecke war eine kleine Bank, da setzte sie sich einen Augenblick hin, aber nur wie zur Probe, denn sie stand sofort wieder auf.
»Jetzt müssen wir aber ein bißchen schnell machen, damit es nicht zu spät wird,« sagte Margit, als sie vor der Tür standen. Und nun gingen sie hinein. Margit fragte, ob sie ihr nicht etwas vorsetzen dürfe, das erstemal, wo sie hier einträte, aber Eli wurde rot und sagte kurz danke. Sie sah sich nun um, wo sie stand; hier gingen die Fenster nach dem Wege hinaus, und hier hielten sie sich tagsüber auf; die Stube war nicht groß, aber gemütlich, mit Wanduhr und Kachelofen. Dort hing Nils Fiedel, alt und dunkel, aber mit neuen Saiten. Hier hingen ein paar Gewehre, die Arne gehörten, englische Angelruten und andere seltsame Dinge, die Mutter Margit herunternahm und zeigte. Eli besah sie und rührte sie leise an. Das Zimmer war nicht gemalt, weil Arne das nicht mochte; auch das andere Zimmer nicht, das nach der Kampenschlucht mit den frischgrünen Bergen geradeüber und dem Blauen in der Ferne hinausging. Diese Stube, die wie die ganze eine Hälfte des Hauses ein Anbau war, war größer und vornehmer. Die beiden kleinen Zimmer im Flügel aber waren gemalt, denn da sollte die Mutter wohnen, wenn sie alt würde, – und eine junge Frau ins Haus zöge. Sie gingen in die Küche, nach dem Stabbur und in die Holzschuppen; Eli sagte nicht ein einziges Wort, ja, sie sah sogar alles nur aus einem gewissen Abstand an; nur wenn ihr Margit etwas hinreichte, rührte sie es an, aber immer nur ganz flüchtig. Margit, die die ganze Zeit plauderte, führte sie jetzt wieder in den Hausflur; nun wollten sie noch den Boden besehen.
Da oben waren auch noch wohleingerichtete Zimmer, die denen im unteren Stockwerke entsprachen, aber sie waren neu und noch nicht in Gebrauch genommen, mit Ausnahme eines einzigen, das nach der Kampenschlucht hinauslag. In diesen Stuben hingen und standen allerlei Dinge, die im täglichen Leben nicht benutzt wurden. Eine ganze Menge fertig genähte Schaffelldecken und anderes Bettzeug. Die Mutter befühlte sie, hob sie auf, und Eli mußte dasselbe tun. Sie schien inzwischen ein wenig mutiger geworden zu sein, oder sie fand an diesen Sachen mehr Gefallen; denn zu einigen kehrte sie mehrmals wieder zurück und fragte, und die Sache machte ihr mehr und mehr Spaß. Da sagte die Mutter: »Nun wollen wir zuletzt auch noch in Arnes Zimmer gehen.« Sie kamen in das Zimmer, das nach der Kampenschlucht hinaus lag. Das furchtbare Brausen schlug ihnen hier wieder entgegen; denn das Fenster stand offen. Hier waren sie höher und konnten den Gischtstrahl des Gießbaches zwischen den Felsen emporspritzen sehen, aber den Wasserfall selbst konnte man nur höher oben, wo ein Felsblock hinabgestürzt war, sehen, wie er sich mit furchtbarer Gewalt zum letzten Sprung in die Tiefe anschickte. Frischer Rasen deckte die obere Fläche des Felsblockes, ein paar Tannenzapfen hatten sich hineingebohrt und schossen mit frischen Wurzeln aus den Felsritzen hervor. Der Wind hatte arg in den Bäumen gezaust und gezerrt, der Gießbach hatte sie gewaschen, so daß sich vier Ellen von den Wurzeln keine Zweige fanden; sie waren ins Knie gesunken, und die Zweige waren gekrümmt, aber fest auf den Beinen standen sie, und hoch schossen sie auf zwischen den Felswänden. Das war das erste, was Eli vom Fenster aus gewahrte, und dann die blendend weißen Schneefirnen über dem Grünen. Sie wandte ihr Auge ab: über den Feldern ruhte Friede und Fruchtbarkeit, und nun erst schaute sie sich auch im Zimmer um; der Wasserfall hatte es bisher verboten.
Wie still und traulich und fein war es hier gegen das Wilde da draußen! Sie sah nichts Einzelnes, weil eins immer in das andere verschmolz und das meiste ihr neu war. Denn diesem Zimmer hatte Arne seine ganze Liebe zugewandt; und so ärmlich es auch war, zeigte es doch in allem, selbst in den kleinsten Dingen, Kunstverständnis. Es war, als kämen, wie sie so dastand und sich umschaute, all seine Lieder angesungen, oder als lächelte er selbst sie aus jedem Gegenstande an. Das erste, was sie unterscheiden konnte, war ein großes, breites, reich geschnitztes Bücherbrett. Da waren so viele Bücher, daß sie meinte, selbst der Herr Pfarrer könne nicht mehr haben. Das nächste war ein schöner Schrank. Da drin habe er viele Raritäten, sagte die Mutter; da habe er auch sein Geld, fügte sie flüsternd hinzu. Zweimal hätten sie geerbt, sagte sie später, und wenn alles ginge, wie es sollte, würden sie noch einmal erben. »Aber das Geld ist nicht das beste in der Welt; er kann etwas kriegen, was noch besser ist.« – Es waren da viele Dinge im Zimmer, die vergnüglich anzuschauen waren, und Eli betrachtete sie alle fröhlich wie ein Kind. Margit klopfte ihr auf die Schulter. »Ich hab' dich heut zum ersten Male gesehen, Kindchen, und habe dich doch schon so lieb,« sagte sie und sah ihr gutmütig in die Augen. Ehe Eli noch Zeit hatte, verlegen zu werden, zupfte Margit sie und sagte ganz leise: »Siehst du da das kleine, rotgemalte Kästchen? – da ist was Feines drin – na – ich sage dir – –!« Eli sah hin, es war ein kleines viereckiges Kästchen, so niedlich, daß sie Lust bekam, es zu haben. »Ich darf eigentlich nicht wissen, was in dem Kästchen ist,« flüsterte die Mutter, »er versteckt jedesmal den Schlüssel.« Sie ging nach der Wand, wo einige Kleidungsstücke hingen, nahm eine Samtweste herunter, suchte in der Uhrtasche, und richtig, der Schlüssel war drin. »Komm, jetzt gucken wir's uns an,« flüsterte sie. Eli hatte allerdings ein Gefühl, als ob die Mutter da durchaus nicht recht täte, aber Weiber sind nun mal Weiber, sie gingen also beide ganz leise hin und knieten vor dem Kästchen nieder. So wie die Mutter den Deckel öffnete, strömte ihnen ein Wohlgeruch entgegen, so daß Eli in die Hände klatschte, ehe sie noch etwas gesehen hatte. Obenauf lag ein Tuch, das die Mutter abnahm. »Jetzt paß nur auf!« flüsterte sie und holte ein feines schwarzseidenes Halstuch heraus, so wie die Männer es nicht tragen. »Es ist grad wie für ein Mädel,« sagte die Mutter. »Hier ist noch eins,« sagte sie. Eli faßte es an, sie konnte sich kaum bezwingen, und die Mutter mußte es ihr auch obendrein noch umprobieren, obgleich Eli nicht wollte und den Kopf abwandte. Die Mutter legte es sorgfältig wieder zusammen. »Und guck mal, hier!« sagte sie dann und nahm schöne seidene Bänder heraus, »alles wie für ein Mädchen!« Eli wurde feuerrot, aber kein Laut kam über ihre Lippen; ihr Busen flog, ihre Augen flatterten scheu umher; sonst keinen Muck. »Da ist noch mehr!« Die Mutter holte einen schönen, schwarzen Kleiderstoff hervor; – »der ist aber fein,« sagte sie und hielt ihn gegen das Tageslicht. Eli zitterten die Hände ein wenig, als die Mutter sie aufforderte, den Stoff doch mal anzufühlen; sie fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß, sie hätte sich am liebsten abgewandt, aber das ging doch nicht an. »Jedesmal, wenn er nach der Stadt gereist ist, hat er etwas gekauft,« sagte die Mutter. Eli konnte jetzt kaum mehr, ihre Augen liefen von einem Ding im Kästchen zum andern, und dann wieder zurück zu dem Kleiderstoff; eigentlich sah sie gar nichts mehr. Aber die Mutter ließ sich nicht stören und holte einen Gegenstand heraus, der in Papier eingewickelt war. Ein Papier nach dem andern wurde abgewickelt; das lockte wieder, Eli war sehr gespannt: es waren ein paar kleine Schuhe. So etwas Niedliches hatten sie alle beide doch ihr Lebtag noch nicht gesehen; die Mutter hätte es nie für möglich gehalten, daß man so was machen könne. Eli sagte keinen Ton, aber sie konnte es nicht lassen, sie mußte die Schuhe doch mal anfassen, ach, da standen alle ihre fünf Finger drauf abgedrückt. Sie schämte sich so, daß sie dem Weinen nahe war; am liebsten wäre sie gegangen, aber sie wagte nicht zu reden, wagte nicht einmal die Blicke der Mutter darauf zu lenken. Die war aber ganz von ihrem eignen Tun in Anspruch genommen. »Ist es nicht akkurat, als hätte er das alles nach und nach für eine gekauft, der er sich's nicht zu geben getraute?« sagte sie und legte alles wieder genau so zusammen, wie es gelegen hatte; darin schien sie Übung zu haben. »Nun wollen wir mal sehen, was da in der Schublade ist!« Sie zog sie langsam auf, als sollten sie erst jetzt etwas ganz besonders Hübsches zu sehen kriegen. Da lag eine Schnalle, breit, wie zu einem Gürtel; die zeigte sie Eli zuerst, dann zeigte sie ihr ein paar zusammengebundene, goldene Ringe, und dann noch ein Gesangbuch in Samt mit silbernem Beschlag; aber dann sah sie auch gar nichts mehr, denn auf dem Silberbeschlage des Gesangbuches hatte sie mit seiner Schrift eingraviert gelesen: »Eli Baardstochter Böen«. – – Die Mutter wollte gern, daß sie es sähe, sie bekam keine Antwort, sah nur Träne auf Träne auf das Seidenzeug hinuntertropfen und darauf verlaufen. Da legte die Mutter die Brosche, die sie gerade in der Hand hielt, hin, machte die Schublade zu, wandte sich um und nahm Eli in ihre Arme. Da weinte die Tochter an ihrem Herzen, und die Mutter weinte mit ihr, ohne daß eine von ihnen noch ein Wort gesagt hätte.
* * *
Eine Weile drauf ging Eli allein im Garten spazieren; die Mutter ging in die Küche, sie wollte irgend was Gutes bereiten; denn jetzt mußte Arne bald kommen. Dann ging sie in den Garten, um nach Eli zu sehen; diese hockte auf der Erde und malte im Sande. Als Margit kam, wischte sie es aus, sah auf und lächelte; sie hatte geweint. – »Kein Grund zum Weinen, mein Herz,« sagte Margit und streichelte sie. – Nun sahen sie etwas Schwarzes zwischen den Büschen oben am Wege. Eli schlich sich hinein, und die Mutter hinter ihr her. Da war ein leckeres Mahl bereit: Rahmbrei, Schinken und Kringel; aber Eli mochte nichts davon, sie setzte sich in die Uhrecke auf einen Stuhl dicht an der Wand und zitterte, sobald sich nur eine Katze regte. Die Mutter stand am Tische. Feste Schritte ertönten auf den Steinfliesen, dann ein kurzer leichter auf dem Flur, die Tür ging auf, und Arne trat ein. Das erste, was er sah, war Eli in der Uhrecke; er ließ die Tür los und blieb stehen. Das machte Eli noch verlegener. Sie stand auf, bereute es aber gleich wieder und drehte sich nach der Wand um. – »Du hier?« sagte Arne leise und wurde glühend rot, wie er fragte. Sie hob die Hand und hielt sie vors Gesicht, wie wenn einem die Sonne zu stark in die Augen blendet. – »Aber wie – –?« Er vollendete nicht, ging einen oder zwei Schritte auf sie zu; da ließ sie die Hand wieder sinken, wandte sich ihm zu, neigte aber den Kopf und brach in Tränen aus. – »Gott segne dich, Eli!« sagte er und umfaßte sie; sie lehnte sich an ihn. Er flüsterte etwas zu ihr hinunter; sie antwortete nicht, sondern schlang ihre beiden Arme um seinen Hals.
Lange standen sie so da; keinen Laut vernahm man, nur den Wasserfall mit seinem ewig mahnenden Brausen. Da hörten sie hinten am Tische etwas schluchzen; Arne sah auf; es war die Mutter; die hatte er vorhin gar nicht gesehen. »Jetzt bin ich sicher, daß du nicht von mir gehst, Arne,« sagte sie und kam durch die Stube auf ihn zu; sie weinte sehr, aber das täte wohl, sagte sie.
* * *
Als sie in der hellen Sommernacht zurückwanderten, konnten sie nicht viel reden in all ihrer jungen Herrlichkeit. Sie ließen die Natur selbst still und groß und leuchtend, wie sie mit ihnen schritt, das Wort führen. Aber auf dem Heimwege von dieser ihrer ersten Sommernachtwanderung, der erwachenden Sonne entgegen, ging er und legte den Grund zu einem Liede, das auszubauen er jetzt freilich keine Ruhe hatte, das aber später, nachdem er es vollendet hatte, eine Zeitlang sein Lieblingslied war. Es lautete so:
Ich dachte, ich würde einst wahrhaft groß,
sobald ich nur mutig mich risse los.
Vergaß mich selbst und die andern
und all mein Gedanke war Wandern.
Da sah mir ins Auge ein Mägdelein,
und zahm ward das wilde Streben.
Nun scheint mir das höchste Ziel zu sein:
in Frieden mit ihr zu leben.
Ich dachte, ich würde einst wahrhaft groß,
sobald ich nur mutig mich risse los.
In der Geister jubelndem Reigen
meine junge Kraft wollt' ich zeigen.
Sie lehrte mich, sie, eh sie noch sprach:
Das Höchste auf dieser Erden,
ist nicht die Jagd dem Ruhme nach,
nein, ein ganzer Mensch zu werden.
Ich dachte, ich würde einst wahrhaft groß,
sobald ich nur mutig mich risse los.
Kalt ward mir die Heimat im Norden,
mißtrauisch und fremd war ich worden.
Doch als ich sie sah, hat jeder Blick
nur Liebe und Güte gegeben.
Auf mich nur hat es gewartet, das Glück,
und neu ward geboren mein Leben.
Und später kam noch manch eine Sommernachtwanderung und noch manches Lied hinterher. Eins davon möge noch aufgezeichnet werden:
Ich weiß nicht, wie alles nur so gekommen,
es kam nicht auf wilden Wogen geschwommen;
wie spielend ein glitzerndes Waldbächlein,
so bog's in den breiten Strom hinein,
der mächtig und groß zum Meere gegangen.
Es klingt ein Weckruf durch dies Leben,
an alle, denen das Heimweh gegeben,
die sehnende Macht, die liebende Brust,
die Trauer und Scheu und Wanderlust
in bräutlich seligem Jubel umfangen.
O da mir das Leben als Boten schickte,
dies Kind, das mich rief und so unschuldig blickte,
da fühlt' ich: hier schafft eine ordnende Hand,
die alles in Gottesgesetze gebannt;
still trägt mich mein Glück nach dem ewig Guten.
Aber wohl keines drückte seine Dankbarkeit so tief aus wie dieses:
Die Macht, die mir gab mein kleiner Sang,
bewirkte, daß Lebens Lust und Sehnen
glückselig perlten wie Sonnentautränen
auf der Seele wogendem Frühlingsdrang.
Was mich auch brannte
als Herzeleid,
mein Lied es wandte
in Seligkeit.
Die Macht, die mir gab mein kleiner Sang,
macht mich der Sehnsucht zum Vertrauten,
so daß alle Hemmnisse, die sich stauten,
mich flüchtig nur hielten wie krankhafter Hang.
Es trieb mich vorwärts,
die Welt ist weit;
und zog doch heimwärts
zur Seligkeit.
Die Macht, die mir gab mein kleiner Sang,
die gibt mir auch die Macht über andre,
so daß ich sie am Weg, wo ich wandre,
beglücken darf ein Weilchen lang.
Denn schönstes Gelingen
ist allezeit
gemeinsam zu singen
in Seligkeit.
Es war Herbst geworden, die Leute fingen an, das Korn einzufahren. Es war ein klarer Tag; in der Nacht und gegen Morgen hatte es geregnet, darum war die Luft mild wie im Sommer. Es war ein Sonnabend, aber trotzdem steuerten viele Boote über den Schwarzen See nach dem Kirchufer hinüber; die Männer saßen in Hemdärmeln und ruderten, die Weiber saßen vorn oder hinten im Boot und hatten helle Kopftücher auf dem Kopf. Aber noch viel mehr Boote steuerten nach Böen hinüber, um von dort aus in langem Zuge nach der Kirche zu rudern; denn heute feierte Baard Böen die Hochzeit seiner Tochter Eli mit Arne Nilsson Kampen.
Alle Türen standen offen, Leute strömten aus und ein, Kinder mit Kuchen in der Hand standen auf dem Hofe, ängstlich ihre neuen Kleiderchen schonend, und guckten sich gegenseitig fremd an. Eine alte Frau saß ganz allein oben auf der Stabburtreppe; es war Margit Kampen. Sie trug einen großen silbernen Ring, an dessen oberer Platte mehrere kleine Ringe befestigt waren; den sah sie mitunter an. Sie hatte ihn von Nils bekommen, an jenem Tage, da sie mit ihm als Braut vor dem Altare gestanden hatte; seitdem hatte sie ihn nicht mehr getragen.
In den zwei, drei Stuben gingen der Tafelmeister und die beiden jungen Brautführer, der Sohn des Pfarrers und Elis Bruder, umher, um die Gäste, die sich allmählich sammelten, zu bewirten. Oben auf Elis Zimmer saß die Braut mit der Frau Pastorin und Mathilde, die eigens aus der Stadt gekommen war, um sie als Braut zu schmücken; denn das hatten sie sich schon als Kinder gegenseitig versprochen. Arne in seinem Tuchanzug, mit der runden, enganschließenden Jacke und mit einem von Eli selbst gestickten Kragen, stand unten in einem der Zimmer, an dem Fenster, auf das Eli damals »Arne« geschrieben hatte. Das Fenster stand offen, er stützte sich auf das Fensterbrett und blickte über das stille Wasser nach dem Pfarrhofe und der Kirche hinüber.
Draußen auf dem Gange begegneten sich zwei, die beide von ihren verschiedenen Pflichten herkamen, der eine vom Landungsplatze, wo er mit geholfen hatte, die Kirchboote zu ordnen; er hatte eine runde Jacke von schwarzem Tuch an, aber die Hosen waren von blauem Fries und färbten ab, so daß er ganz blau an den Händen war; der weiße Kragen stand dem hellen Gesichte und den langen blonden Haaren gut; die hohe Stirn war ruhig, und um den Mund spielte ein Lächeln. Es war Baard; im Flur stieß er auf eine Frau, die gerade aus der Küche kam. Sie war hochzeitlich geschmückt, hoch und schlank, und schritt sicher und etwas eilig durch die Tür; als sie mit Baard zusammentraf, blieb sie stehen, und ihr Mund verzog sich ein wenig nach der einen Seite. Es war Birgit, die Frau. Beide hatten sich etwas zu sagen, aber das drückten sie nur dadurch aus, daß sie beide stehen blieben. Baard war noch verlegener als sie, er lächelte mehr und mehr, aber gerade seine große Verlegenheit kam ihm zu Hilfe, indem er nämlich ohne weiteres einfach die Treppe hinaufzugehen begann und sagte: »Vielleicht kommst du ein bißchen mit?« Und sie ging ihm nach. Hier oben in der Bodenkammer waren sie ganz allein, aber Baard schloß doch die Tür hinter ihnen und ließ sich gute Zeit. Als er sich endlich umdrehte, stand Birgit am Fenster und sah hinaus. Baard nahm aus der Brusttasche ein Fläschchen und einen kleinen silbernen Becher. Er wollte seiner Frau einschenken. Aber sie wollte nichts, obgleich er versicherte, der Wein sei aus dem Pfarrhause geschickt. Er trank also selbst, aber während er trank, bot er ihr noch mehrmals an. Dann korkte er die Flasche zu, steckte sie mit dem Becher wieder in die Brusttasche und setzte sich auf einen Koffer. Es tat ihm offenbar weh, daß seine Frau nicht mit ihm trinken wollte.
Mehrere Male holte er tief Atem. Birgit stützte sich mit der einen Hand auf das Fensterbrett. Baard hatte etwas auf dem Herzen, aber jetzt drückte es ihn noch schwerer. »Birgit,« begann er, »du denkst heute wohl an denselben Tag wie ich.« – Er hörte sie von der einen Seite des Fensters nach der andern gehen, und dort stützte sie sich wieder auf ihren Arm. – »Na ja, du verstehst schon, wen ich meine. – – Er hat uns beide getrennt, ja, er; – – ich dachte, es würde nur bis zur Hochzeit reichen, aber es hat länger gereicht.« Er hörte sie tief atmen; er sah, wie sie wieder ihre Stellung änderte, aber ihr Gesicht sah er nicht. Ihm selbst machte die Geschichte solche Pein, daß er sich mit dem Jackenärmel die Stirn abtrocknen mußte. Nach einem langen Kampf fing er wieder an: »Heute haben wir nun einen Sohn von ihm, einen hübschen, gescheiten Jungen, bei uns aufgenommen und haben ihm unsere einzige Tochter gegeben. – – – Was meinst du nun, Birgit, wenn wir zwei heute auch Hochzeit hielten?« – Seine Stimme zitterte, und er räusperte sich. Birgit, die sich bewegt hatte, legte jetzt den Kopf wieder auf ihren Arm, aber sie sagte nichts. Baard wartete lange, aber keine Antwort kam, und nun hatte er auch nichts mehr zu sagen. Er sah auf und wurde sehr blaß, denn sie wendete nicht einmal den Kopf. Da stand er auf. In demselben Augenblick klopfte es leise an die Tür, und eine sanfte Stimme fragte: »Kommst du jetzt, Mutter?« – es war Eli. Es lag etwas in dieser Stimme, daß Baard unwillkürlich stehen blieb und unwillkürlich zu Birgit hinübersah. Birgit hob gleichfalls den Kopf; sie sah nach der Tür, und sah Baards blasses Gesicht, »Kommst du jetzt, Mutter?« fragte es draußen noch einmal. – »Ja, jetzt komme ich!« sagte Birgit mit gebrochener Stimme, indem sie fest und stolz zu Baard hinüberging, ihm die Hand gab und in heftiges Weinen ausbrach. Die beiden Hände umklammerten sich fest; beide waren alt und abgenutzt, aber sie hielten einander so fest, als hätten sie sich zwanzig Jahre lang gesucht. Sie hielten sich noch bei den Händen, als sie auf die Tür zugingen, und als kurz darauf der Brautzug nach dem Landungsplatz hinabzog, und Arne Eli die Hand reichte, um mit ihr voranzugehen, und Baard dies sah, da nahm er gegen alle Sitte und Gewohnheit seine Frau bei der Hand und ging mit seligem Lächeln hinterher, aber hinter ihnen kam Margit Kampen, allein, wie sie's gewohnt war. Baard war heute ganz ausgelassen; er saß da und plauderte mit den Bootsknechten. Einer von ihnen blickte an der Felsenwand hinter ihnen hinauf und meinte, es sei doch merkwürdig, daß selbst so steile Felsen sich mit Grün bekleiden könnten. »Was kommen soll, kommt doch, es mag nun wollen oder nicht,« sagte Baard und überschaute den Hochzeitszug, bis seine Augen an dem Brautpaare und seiner Frau hängen blieben; »so was hätte mal jemand vor zwanzig Jahren sagen sollen!« sagte er.