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Der Arzt befürchtete lange, Krog würde auch sterben. Rein an Überanstrengung. In seiner langen Einsamkeit war er nicht daran gewöhnt gewesen, sich so hinzugeben oder so unendlich viel zu empfangen, wie ihm das Zusammenleben mit ihr gebracht hatte. Erst ihr Tod offenbarte, wie schwach er geworden war, wie wenig Widerstandskraft er noch hatte. Der schwache Rest brauchte Monate, um sich so weit zu erholen, daß er die Nähe anderer Menschen ertrug. Man erzählte ihm, das Kind sei zu seiner Schwester gebracht. Sie fragten ihn, ob er es sehen möchte. Fast unwillig wandte er sich ab. Das erste, was er ernstlich erwog, als er sich kräftiger fühlte, war, sich von dem Geschäft zu befreien. Er beriet sich darüber mit »Onkel Klaus«, einem Verwandten, einem wunderlichen alten Junggesellen, der allgemein so genannt wurde. Durch seine Vermittlung wurde das Geschäft veräußert. Nicht aber das Haus, in dem es sich befand, – das sollte in allen Teilen zur Erinnerung an sie unverändert bleiben.
Anders Krogs erster Gang war zur Kapelle und zum Grabe, und das griff ihn so an, daß er wieder krank wurde. Sobald er sich erholt hatte, gab er seine Absicht kund, auf Reisen zu gehen und fortzubleiben. Seine Schwester kam erschrocken zu ihm herüber; das sei doch wohl nicht wahr? »Du willst uns und das Kind doch nicht verlassen?« – »Ja, ich kann es in meinen eigenen Stuben nicht aushalten«, antwortete er und brach in Tränen aus. – Aber er müsse doch auf jeden Fall das Kind erst sehen? – »Nein, nein! Das am allerwenigsten.«
Er reiste ab, ohne es gesehen zu haben.
Aber natürlicherweise war es das Kind, das ihn wieder nach Hause zog. Als es drei Jahr alt war, wurde es photographiert, – und diese Photographie ... solch einer Ähnlichkeit mit der Mutter, solchem kindlichen Liebreiz konnte er nicht widerstehen. Von Konstantinopel aus, wo er sich gerade aufhielt, schrieb er: »Jetzt habe ich bald drei Jahre gebraucht, um das, was ich in einem erlebt habe, noch einmal zu durchleben. Ich kann nicht sagen, daß ich es mir schon ganz zu eigen gemacht habe. Namentlich wird viel Neues hinzukommen, wenn ich die Stätten wiedersehe, wo wir zusammen waren. Aber soweit bin ich durch das tiefere Hineinleben dieser Jahre doch gekommen, daß ich diese Stätten nicht mehr scheue; im Gegenteil, ich sehne mich jetzt nach ihnen.«
Die Begegnung mit der neuen Marit wurde ein Fest für ihn. Nicht sofort; denn zuerst hatte sie natürlich Angst vor dem fremden Mann mit den großen Augen. Aber es erhöhte seine Freude, wie sie vorsichtig, nach und nach ihm näher kam. Als sie schließlich auf seinen Knien saß mit den beiden neuen Puppen, einem Türken und einer Türkin, und ihm diese in die Nase steckte, damit er niesen sollte, weil die Tante das auch getan hatte, da sagte er mit Tränen in den Augen: »Ich habe nur eine Begegnung erlebt, die noch herrlicher war.«
Sie siedelte also mit dem Kindermädchen in sein Haus über. Ihr erster gemeinschaftlicher Gang war zum Grabe der Mutter, auf das sie Blumen legen sollte. Das tat sie auch; aber sie wollte sie wiederhaben. Nichts half, was sie auch versuchten. Das Mädchen pflückte ihr schließlich andere; aber die wollte sie nicht; sie wollte ihre eignen. Sie mußten ihr also die Blumen lassen und die neuen aufs Grab legen. Er dachte: »Das ist nicht die Mutter.«
Der Versuch wurde wiederholt. Jeden Tag sollte das Grab der Mutter mit Blumen geschmückt werden, und von ihr. Er teilte die Blumen in zwei Teile; die eine Hälfte trug er, die andere sie. Er wünschte, sie solle ihre hinlegen und seine wieder mit nach Hause nehmen. Aber es gelang nicht. Ja, schlimmer als das; denn als sie den Kirchhof verließen, bestand sie darauf, er sollte seine Blumen auch wieder mit nach Hause nehmen. Und er mußte nachgeben. Am nächsten Tage versuchte er etwas anderes. Sie trug ihre Blumen zu der Mutter Grab, er aber gab ihr Zuckerwerk, damit sie die Blumen liegen lassen sollte. Wirklich, sie gab die Blumen gegen das Zuckerwerk ab, das sie in den Mund steckte. Aber als sie gingen, wollte sie die Blumen auch noch haben. Das verstimmte ihn.
Dann kam er auf den Einfall, die Mutter fröre, Marit müsse sie zudecken. Da meinte sie, Mutter solle doch heraufkommen, in ihr eigenes Bett. Er hatte ihr nämlich gesagt, das leere Bett neben seinem sei Mutters, und sie fragte beständig, ob Mutter nicht bald komme. Sie könne nicht kommen, sagte er; sie liege da draußen und fröre. Das führte schließlich zum Ziel. Sie breitete selbst die Blumen über die Grabstätte und ließ sie liegen. Auf dem Heimweg wiederholte sie mehrmals: »Jetzt friert Mutter nicht mehr.«
Er überlegte, was sie unter Mutter verstehen mochte. Er wünschte, sie solle die Bilder ihrer Mutter kennen, übte aber vorher ihren Sinn an Bildern von Tieren und Gegenständen. Dann ging er zu Bildern von seiner Schwester und von sich selbst und von Personen über, die sie kannte. Als sie damit ziemlich vertraut war, kam das erste Bild der Mutter an die Reihe. Es machte keine Schwierigkeiten; sie durfte noch mehrere sehen und lernte sie schnell von anderen unterscheiden. Nach Tisch, als sie schlafen ging, wollte sie Mutter im Arm haben. Er verstand sie erst nicht, und sie wurde ungeduldig. Da brachte er ihr das erste Bild der Mutter; sie nahm es gleich in den Arm, deckte es zu und schlief ein. Aber erst als sie mit vier Jahren einmal in der Küche eine Mutter sich um ihr krankes Kind mühen sah, überzeugte er sich, daß sie wußte, was eine Mutter sei; denn sie sagte: »Warum kommt meine Mutter nicht und zieht mich an und aus?«
Mit der Zeit wurden Vater und Tochter sehr gute Freunde. Noch mehr Freude aber machte es ihm, als sie groß genug war, daß er ihr von Mutter erzählen konnte. Von Mutter, die übers Meer herüber zu Vater gekommen sei und Maritchen mitgebracht habe. Wo Vater und Mutter zusammengegangen waren, gingen sie nun beide; jeden Spazierweg. Er ruderte sie, wie Mutter ihn gerudert hatte; sie fuhren zusammen zur Stadt, wie sie beide getan hatten. Dort saß Marit auf den Stühlen, die Mutter gekauft, und auf denen sie gesessen hatte. Bei Tisch hatte sie Mutters Platz, bei den Blumen im Treibhaus und im Garten war sie die Mutter, und sie half, wie Mutter es getan hatte. Ein gar kluges, schönes Kind! Mit dem roten Haar und der schimmernd weißen Haut der Mutter, mit ihren großen Augen und denselben fein geschwungenen Brauen. Vermutlich würde sie auch ihre gebogene Nase bekommen. Die Hände mit den langen Fingern hatte sie nicht von der Mutter, auch die Gestalt nicht. Der Übergang vom Kopf zum Nacken mit der sanften Neigung stammte eher vom Vater. Die Schultern hatten nicht die schöne geschwungene Linie wie der Mutter Schultern, sondern waren mehr abfallend, und die Arme flossen sanfter daraus hervor. Es trieb ihn jeden Abend nach oben, zuzusehen, wenn sie ausgezogen wurde. Die Verschmelzung des männlichen und des weiblichen Typus der Krogs, die bisher so selten gewesen, die aber schon teilweise von der Mutter repräsentiert worden war, gab es hier in der Vollendung. Marit schoß hoch auf, ihre Augen waren groß und der Kopf fein geformt.
Er konnte sie nicht dazu bewegen, mit Kindern umzugehen; das langweilte sie. Sie gingen nicht schnell genug auf ihre Ideen ein, die freilich recht eigentümlich waren. Die Felder hier waren doch ein Zirkus; der Vater hatte ihr von Buffalo Bill erzählt. Indianer sprengten durch die Arena, sie selbst an der Spitze auf einem weißen Pferde. Die Hügel waren die Logen, die voll Menschen waren. Das konnten die anderen Kinder nicht sehen. Auch das Reisenspielen auf dem Tisch, das ihr Vater sie gelehrt hatte, verstanden sie nicht.
Als Siebenjährige nötigte sie ihren Vater, ihr ein Rad zu kaufen und sie fahren zu lehren; er selbst fuhr ausgezeichnet. Das war aber doch der Tropfen, der den Becher zum Überlaufen brachte und ihn bestimmte, sich nach Unterstützung umzusehen.
Er hatte in Paris eine entfernte Verwandte kennen gelernt, eine Frau Dawes; sie war in England verheiratet gewesen; als aber ihr einziges Kind starb, hatte sie sich scheiden lassen und lebte in Paris als Pensionsinhaberin. In dieser Pension hatte er sie täglich bewundert. Er war kaum je einem klügeren Menschen begegnet. Er fragte bei ihr an, ob sie zu ihm kommen, seinem Hause vorstehen und sein Kind erziehen wolle. Sie sagte ohne Zögern telegraphisch zu, und in weniger als einem Monat hatte sie alles verkauft, war abgereist und hatte sich in ihren neuen Wirkungskreis begeben. Ein Hüftleiden, das sie schon lange plagte, hatte sich verschlimmert, so daß ihr das Gehen schwer fiel. Aber von ihrem Rollstuhl aus, den sie mitgebracht hatte, und den ihre behäbige Person vollständig ausfüllte, leitete sie das ganze Haus, ihn selbst inbegriffen. Er war ganz erschrocken über ihre Tüchtigkeit. Sie kam selten aus ihrem Stuhl heraus, aber trotzdem wußte sie alles, was geschah. Wände hemmten ihren Blick nicht, eine Entfernung gab es nicht für sie. Größtenteils ließ sich das aus der Schärfe ihrer Sinne erklären, aus ihrer Fähigkeit, Worte und Zeichen zu deuten, in Mienen und Augen zu lesen, zu riechen und zu hören, Schlüsse zu ziehen aus dem, was sie wußte, – und siebentens und letztens daraus, daß sie zu fragen verstand. Aber einiges war auch nicht zu erklären. Drohte einem, den sie lieb hatte, eine Gefahr, so fühlte sie das, wo sie auch war. Sie schrie auf – in solchen Augenblicken sprach sie immer englisch – und war auf den Beinen und Feuer und Flamme. So zum Beispiel an dem denkwürdigen Tage, da Marit mit ihrem Rad in den Fluß gefallen war und durch Männer vom Dampfer aus aufgefischt wurde; denn unten an der Landungsbrücke, wohin sie gewollt hatte, war das Unglück geschehen. Da stießen sie und Frau Dawes aufeinander, die eine triefend von Nässe und heulend, die andere triefend von Schweiß und auch heulend.
Frau Dawes machte täglich ihre Runde durch das Haus und, wenn es nötig war, auch um das Haus herum. Weiter kam sie selten. Auf diesem Rundgang sah sie alles, auch das, was erst später geschah, versicherten die Mägde.
Sie hatte etwas Schwimmendes an sich. Sie schwamm beständig in Papier. Ihre Korrespondenz, die, wie Anders Krog behauptete, alle Personen umfaßte, die sie einmal in Pension gehabt hatte, setzte sie ununterbrochen fort. In allen Sprachen und über alle Dinge; denn ihre zweite Hauptbeschäftigung war: das, was sie las – und sie las bis tief in die Nacht hinein – in ihre Korrespondenz hineinzubringen. Sie drehte sich nach dem Tisch mit dem Schreibpult um, sie wandte sich fort vom Tisch, um zu lesen. An der Stuhllehne war eine Lesepultmechanik angebracht, worauf das Buch lag; in der Hand hielt sie es selten. Sie zog Memoiren jeder andern Lektüre vor, und davon plauderte sie nachher in ihren Briefen. In zweiter Reihe kamen Kunstzeitschriften und Reiseliteratur. Sie hatte ein kleines Vermögen und kaufte sich alles, was ihr gefiel.
Das Kind unterrichtete sie nebenbei. In der Wohnstube an dem großen Tisch saßen sie, »Tante Eva« in ihrem Thronsessel, die Kleine ihr gegenüber. Immer aber, wenn es nötig war, mußte Marit an Tante Evas Pult kommen. Der Unterricht ging so leicht vonstatten, daß die Kleine oft vergaß, daß es Schule war. Ja, selbst der Vater, der seine Bibliothek dicht daneben hatte, vergaß es oft, wenn er hereinkam und das Gespräch oder die Erzählung mit anhörte.
War der Unterricht leicht, so waren andre Dinge sehr schwierig und führten zu Kämpfen. Das ganze Verhalten des Kindes wollte sie ändern, und da war ihr der Vater im Wege. Aber er wurde natürlich geschlagen, und noch ehe er ahnte, was Frau Dawes beabsichtigte. Marit sollte gehorchen lernen, sie sollte einen Begriff von bestimmter Zeiteinteilung, von Ordnung, von Höflichkeit, von Takt bekommen. Sie sollte jeden Tag Klavier üben, sie sollte bei Tisch hübsch gerade sitzen und sich die Hände unzählige Male am Tage waschen; sie sollte immer sagen, wohin sie gehe. Und nichts von all dem wollte sie. Eigentlich auch der Vater nicht.
Frau Dawes hatte einen einzigen festen Punkt, von dem sie ausgehen konnte. Das war der unerschütterliche Glaube des Kindes an die Vollkommenheit seiner Mutter. Frau Dawes wußte sie davon zu überzeugen, daß die Mutter nie später als um acht Uhr schlafen gegangen sei. Sie habe immer vorher ihre Kleider ordentlich auf einen Stuhl gelegt und ihre Schuhe vor die Tür gestellt.
Von dem, was die Mutter getan und bis zur Vollkommenheit getan hatte, ging sie zu dem über, was die Mutter getan hätte, wenn sie an Marits Stelle gewesen wäre; und vor allem, was sie _nicht_ getan hätte, wenn sie Marit wäre. Das war schwieriger. So als Frau Dawes versicherte, die Mutter sei immer nur so weit geradelt, wie man sie sehen konnte. »Woher weißt Du das?« fragte Marit. – »Ich weiß es daher, daß Dein Vater und Deine Mutter nie voneinander getrennt waren.« – »Das ist wahr, Marit«, fiel der Vater ein, froh, daß er auch einmal zu dem ja sagen konnte, was Frau Dawes einfiel; denn das meiste war doch durchaus nicht wahr.
Je weiter der Unterricht fortschritt, desto mehr Freude machte es Frau Dawes selbst, und desto größeren Einfluß gewann sie auf das Kind. Sie machte es sich zur Aufgabe, das Traumleben Marits auszuroden, das ein Erbteil der Mutter war und in üppiger Blüte stand, solange der Vater zuhörte und seinen Spaß daran hatte.
Einmal im Frühjahr kam Marit schnell herein und erzählte ihrem Vater, in dem alten Baum zwischen den Gräbern der Mutter und der Großmutter sei ein kleines Nest und in dem Nest seien ganz, ganz kleine Eier. »Das ist ein Gruß von Mutter, nicht?« Er nickte und ging mit ihr, um es zu besehen. Als sie aber näher kamen, flog der Vogel auf und piepte jämmerlich. »Mutter sagt, wir sollen nicht näher heran?« fragte sie ihren Vater. – Er bejahte es. »Dann würden wir Mutter stören?« fragte sie weiter. Er nickte. — Sie gingen seelenvergnügt wieder nach Hause und sprachen den ganzen Weg von Mutter. Als Marit Frau Dawes hiervon erzählte, sagte sie: »Das sagt Dein Vater nur, um Dich nicht zu betrüben, Kind. Könnte Deine Mutter Dir eine Botschaft senden, so käme sie selbst.« – Die Revolution, die diese wenigen grausamen Worte anrichteten, war nicht abzusehen. Sie veränderten auch das Verhältnis zum Vater. —
Die Schule ging ihren regelrechten Gang, die Erziehung auch, bis Marit nahezu dreizehn Jahr alt war, lang und dünn und großäugig mit üppigem, rotem Haar und weißer, zarter Haut ohne Sommersprossen, was Frau Dawes' besonderer Stolz war.
Da kam der Vater eines Tages aus der Bibliothek herein und unterbrach den Unterricht. Das war in den ganzen Jahren nicht ein einzigesmal geschehen. Marit bekam frei; Frau Dawes ging mit dem Vater in die Bibliothek. »Bitte lesen Sie diesen Brief!« –
Sie las und erfuhr, – wovon sie nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte, – daß der Mann, der vor ihr stand und ihr Gesicht während des Lesens beobachtete, ein Millionär war, kein Kronen-, nein, ein Dollarmillionär. Er hatte seit dem Tode des Onkels nach der ersten vorläufigen Ausbezahlung der Bankguthaben und Aktien als Kompagnon des Bruders nichts wieder abgehoben, – und dies war das Resultat.
»Ich gratuliere Ihnen«, sagte Frau Dawes und faßte seine rechte Hand mit ihren beiden. Ihr standen die Tränen in den Augen. »Ich verstehe Sie, lieber Krog; Sie wünschen, daß wir jetzt auf Reisen gehen?« Er sah sie mit seinen leuchtenden Augen lachend an. »Haben Sie etwas dagegen, Frau Dawes?« – »Durchaus nicht, wenn wir die nötige Bedienung mitnehmen; ich bin ja einmal so schlecht zu Fuß.« – »Das sollen Sie haben, und überall halten wir uns einen Wagen. Der Unterricht kann fortgesetzt werden, nicht wahr?« – »Ob er kann! Nur um so besser!« Sie lachte und weinte zugleich, und sie sagte selbst, so glücklich sei sie noch nie gewesen.
Vierzehn Tage später hatten die drei mit einem Diener und einem Mädchen Krogskog verlassen.