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Im achtzehnten Jahrhundert wohnte in einem der größeren Gebirgstäler Norwegens ein Spielmann, der später bis zu einem gewissen Grade in die Volkssage übergegangen ist. Eine Menge Melodien und Märsche wurden ihm zugeschrieben, einige davon hatte er der Sage nach von den Unterirdischen gehört, eine Melodie vom Teufel selber, eine andere hatte er gemacht, um sein Leben zu retten usw. Einer seiner Märsche ist vor allen berühmt geworden; denn die Geschichte dieses Stückes endete nicht mit seinem Leben, sondern fing eigentlich erst hinterher recht an.
Der Spielmann Ole Haugen, ein armer Häusler, hoch oben unter der Felswand, hatte eine Tochter, Aslaug, die seinen guten Kopf und auch seinen Sinn für Musik geerbt hatte, und wenn sie auch selbst kein Instrument spielte, lag es doch in ihrem ganzen Wesen, denn sie war leicht und fröhlich in ihrer Art zu sprechen, im Singen, im Gang, im Tanz, und sie hatte wie das ganze Geschlecht, eine eigentümlich biegsame Stimme. Da kehrte von langen Reisen ein junger Bursch zurück, der der dritte Sohn des alten Familiensitzes Tingvold war. Zwei Brüder, beide älter als er, waren bei der Überschwemmung ertrunken, und nun sollte er den Hof haben. Er traf Aslaug auf einer großen Hochzeit und verliebte sich in sie. In jener Zeit war es noch etwas ganz Unerhörtes, daß der Sohn eines Hofbesitzers aus so großem, altem Geschlecht um ein Mädchen von Aslaugs Stand und Verhältnissen werben konnte. Aber dieser Bursch war lange draußen gewesen, und er erklärte seinen Eltern, daß er dort draußen genug zu leben fände, und könnte er es hier in der Heimat nicht so bekommen, wie er es haben wolle, so könne ihm der Hof gestohlen werden. Man prophezeite ihm von allen Seiten, daß eine solche Gleichgültigkeit gegen Geschlecht und angestammten Grund und Boden sich strafen würde; man sagte auch, Ole Haugen müsse das Ganze gemacht haben – und vielleicht durch Mittel, vor denen sich alle Menschen scheuen sollten.
Ole Haugen soll nämlich, während der Kampf zwischen dem Burschen und seinen Eltern stattfand, ganz ausgezeichneter Laune gewesen sein. Als aber der Sieg errungen war, hatte er gesagt, er habe schon einen Brautmarsch gemacht, der solle in dem Geschlecht auf Tingvold nicht aufhören zu klingen. Aber Gott sei der Braut gnädig, hatte er ferner gesagt, die nicht ebenso fröhlich unter seinen Klängen zur Kirche führe wie die Häuslertochter aus Haugen! Hierin hatten die Leute den Einfluß böser Mächte geahnt. So lautete die Sage, wie so viele andere. Was aber sicherer ist als diese Sage, das ist, daß sich noch heutigestags in dieser Gebirgsgegend wie in mehreren anderen ein lebhafter Sinn für Musik und Gesang erhalten hat, und in jenen Tagen mag er wohl noch größer gewesen sein. Man kann den Sinn für so etwas nicht bewahren, ohne daß man den ererbten Schatz vermehrt und aufputzt, und Ole Haugen mag das in hervorragender Weise getan haben.
Die Sage erzählt ferner, daß, wie Ole Haugens Brautmarsch der hinreißendste war, den man jemals gehört hatte, so auch das Brautpaar, das unter seinen Klängen zum erstenmal heimfuhr, das von ihm bis zur Kirchentür geführt und dort nach der Trauung von ihm wieder empfangen wurde, das glücklichste Paar war, das man jemals gesehen hatte. Und obwohl sich das Geschlecht auf Tingvold allezeit durch Schönheit ausgezeichnet hatte, und es nach dieser Zeit in noch erhöhtem Maße tat, so hielt doch die Sage mit Bestimmtheit daran fest, daß diesem Paare für alle Zeiten der Preis gebühre.
Wir kommen nun aus der Sage auf festern Grund; denn mit Ole Haugen sterben die Sagen, nach ihm beginnt die Geschichte. Diese erzählt, daß der Brautmarsch ein Erbstück wurde, aber ein anderes als alle die anderen, die nur selten benutzt werden. Denn dies wurde benutzt, d. h. der Marsch wurde auf Tingvold geträllert, gesungen, gepfiffen, geblasen, gespielt von der Stube bis zum Stall, vom Felde bis zur Gebirgsweide, und nach den Tönen dieses Brautmarsches wurde das einzige Kind, das sie bekamen, von der Mutter und vom Vater, von dem Kindermädchen und den übrigen Dienstboten gewiegt und auf den Armen geschaukelt, und das erste, was es nach seinen ersten Kunststücken und Worten von selber lernte, war der Brautmarsch. Das Kind hieß Astrid. Musik war im Blute des Geschlechts, und nicht am wenigsten in dieser kleinen lebhaften Dirne, die bald mit wahrer Meisterschaft den Brautmarsch trällern konnte, diesen Siegesruf ihrer Eltern, die Verheißung des Geschlechts. Da war es denn auch kein so großes Wunder, daß sie, als sie erwachsen war, ihren Bräutigam selber wählen wollte. Vielleicht ist es eine Übertreibung mit allen den Freiern, die Astrid gehabt haben soll, aber es mag nun wahr sein oder nicht, jedenfalls wurde das reiche Mädchen mit dem feinen Wesen über dreiundzwanzig Jahre alt und war noch immer nicht verlobt. Da kam es an den Tag, was der Grund gewesen war! Die Mutter hatte vor mehreren Jahren einen flinken Zigeunerburschen von der Landstraße aufgelesen; ein Zigeunerjunge war er wohl eigentlich nicht, aber er wurde so genannt, und von der Mutter nicht am wenigsten, als sie hörte, daß Astrid und er so toll gewesen waren, sich oben auf der Gebirgsweide zu verloben und seither dastanden und sich den Brautmarsch vorträllerten, sie vom Boden des Vorratshauses und er vom Bergabhang herab. Der Bursche kam sofort aus dem Hause, denn jetzt zeigte es sich, daß niemand so strenge auf das Geschlecht hielt wie die ehemalige Häuslertochter. Und der Vater mußte an die Prophezeiung denken, als er selber die Sitte des Geschlechts durchbrochen hatte; das Geschlecht holte sich den Bräutigam schon von der Landstraße herein, wo würde das enden? Das Kirchspiel urteilte nicht milder. Der Zigeunerjunge – Knud hieß er sonst – hatte sich auf den Handel gelegt, namentlich auf den Viehhandel, und war überall bekannt. Er war der erste, der ihn im Kirchspiel, ja im weiten Umkreise im großen betrieb. Er war der Bahnbrecher und verschaffte den Bewohnern dieser Gegend dadurch bessere Preise und vielen Familien ein Kapital. Aber es ließ sich nicht leugnen, daß es Trinkgelage und Schlägereien gab, wo er war, und das war das einzige, wovon man sprach, denn was er als Handelsmann war, verstanden sie noch nicht. Als Astrid nun dreiundzwanzig Jahre alt geworden war, standen die Sachen so, daß der Hof entweder für die gerade Geschlechtsfolge verlorengehn, oder daß er hineintreten mußte, denn die Eltern hatten durch ihre eigene Heirat die moralische Macht verloren, die hier vielleicht zwingend hätte eingreifen können. So setzte denn Astrid ihren Willen durch, der fröhliche, hübsche Knud fuhr eines schönen Tages in unermeßlichem Gefolge mit ihr zur Kirche. Der Brautmarsch des Geschlechts, das Meisterstück des Großvaters, schallte über den Zug hin, und die beiden saßen da, als trällerten sie ihn leise mit, denn sie sahen sehr fröhlich aus. Die Leute wunderten sich, daß auch die Eltern fröhlich aussahen. Sie hatten doch so lange und so hartnäckig Widerstand geleistet.
Nach der Hochzeit übernahm Knud den Hof, und die Alten wurden auf das Altenteil gesetzt; aber dies war so groß, daß niemand begreifen konnte, wie Knud und Astrid dabei zu bestehn vermochten; denn wohl war der Hof der größte im Kirchspiel, aber er war durchaus nicht gut bewirtschaftet. Und nicht genug damit: es wurde eine dreifache Arbeiterschaft angenommen und alles nach neuer Mode mit einem in dieser Gegend ganz unerhörten Kostenaufwande betrieben. Man prophezeite Knud den sichern Ruin. Aber der Zigeunerjunge, wie er noch immer genannt wurde, war nach wie vor fröhlich, und seine gute Laune hatte Astrid längst angesteckt. Das früher so feine, stille Mädchen war jetzt eine tüchtige, dralle Hausfrau geworden. Die Eltern waren sehr zuversichtlich dabei. Endlich begriffen es die Leute, daß Knud nach Tingvold mitgebracht hatte, was bisher niemand dort besessen hatte – Betriebskapital! Er hatte außerdem infolge seines Wanderlebens große Erfahrungen, und dazu hatte er die Gabe, mit Waren und Geld umzugehn, Arbeiter und Dienstboten in guter, fröhlicher Stimmung zu erhalten, so daß, ehe zwölf Jahre verflossen waren, Tingvold gar nicht wiederzuerkennen war. Die Gebäude waren neu, der Viehbestand dreimal so stark und dreimal so gut, und Knud selber ging im langen Tuchrock mit einer Meerschaumpfeife umher und trank am Abend sein Glas Grog mit dem Pastor, dem Hauptmann und dem Vogt. Astrid bewunderte ihn als den klügsten und geschicktesten Mann auf Erden, und sie erzählte selbst, daß er sich in seiner Jugend hin und wieder betrunken und geprügelt hätte, nur daß man von ihm rede und sie bange werden sollte: denn er sei »so ausspekuliert«! Sie folgte ihm in allem, nur nicht darin, daß sie ihre Kleider und ihre Gewohnheiten änderte; sie wollte an Bauernsitte und Bauerntracht festhalten. Knud ließ alle so leben, wie es ihnen am besten zusagte, und so veruneinigten sie sich denn auch hierüber nicht. Er lebte, wie es ihm gefiel, und sie wartete ihm auf. Übrigens führte er ein ganz einfaches Leben; er war zu klug, Staat zu machen und Unkosten zu verursachen. Manche behaupteten, daß er beim Kartenspiel und durch das Ansehen und die Verbindung, die es ihm verschaffte, mehr verdiene, als er verbrauche; aber das war wohl nur Verleumdung.
Sie hatten mehrere Kinder, deren Geschichte uns nichts angeht; aber der älteste Sohn Endrid, der den Hof erben sollte, mußte ja auch dessen Ehre aufrechterhalten. Er war schön wie das ganze Geschlecht, aber sein Kopf war zu nicht mehr als zum Alltagsgeschäft fähig, wie man das oft bei Kindern begabter Eltern findet. Der Vater bemerkte das schon früh und wollte dem Mangel durch eine ausgezeichnete Erziehung abhelfen. Aus diesem Grunde gab er den Kindern einen Hauslehrer und schickte den Jungen, sobald er erwachsen war, auf eine der landwirtschaftlichen Schulen, die gerade jetzt in Schwang kamen, und später in die Stadt. Er kam als ein stiller, ein wenig vom Lernen angegriffener Bursch heim, mit weniger städtischen Gewohnheiten, als man geglaubt haben sollte und der Vater gehofft hatte. Endrid war eben überhaupt kein großes Licht.
Auf diesen Burschen spekulierten nun sowohl der Hauptmann als auch der Pfarrer, die beide unglaublich viele Töchter hatten; aber wenn dies auch der Grund zu der immer größeren Aufmerksamkeit war, die sie Knud erwiesen, so hatten sie sich doch arg verrechnet, denn Knud verachtete eine Heirat mit einer armen Hauptmanns- oder Propstentochter ohne die für die Bewirtschaftung eines großen Bauernhofs erforderliche Vorbildung so sehr, daß er es nicht einmal für der Mühe wert hielt, den Sohn zu warnen. Er hatte es auch nicht nötig; der Bursch sah ebensogut ein wie er, daß das Geschlecht in anderer Beziehung, als was Wohlstand anlangte, gehoben werden mußte, daß es jetzt des Blutes der ihm an Alter und Ansehen ebenbürtigen Familien bedürfe. Nun wollte aber das Unglück, daß der Junge ein wenig linkisch war, wenn er zu solchen Zwecken ausfuhr, so daß die Leute sofort mißtrauisch wurden. Das hätte sich nun wohl ertragen lassen, aber er kam in den Ruf, auf eine gute Partie aus zu sein, und wer in irgendeinem Rufe steht, den meidet der Bauer. Endrid selber merkte das bald; denn wenn er auch nicht besonders scharfsichtig war, so war er dafür um so feinfühliger. Er erkannte, daß es seine Stellung keineswegs verbessere, daß er in städtischer Kleidung und »zigeunergelehrt«, wie man es nannte, auftrat. Und da der Bursch im Grunde seiner Seele brav war, bewirkte die erlittene Kränkung, daß er nach und nach die städtische Kleidung und die städtische Sprache ablegte und auf dem umfangreichen Gute seines Vaters als Knecht zu arbeiten begann. Der Vater begriff das alles – ja längst bevor der Sohn es selber begriffen hatte –, und er bat die Mutter, zu tun, als merke sie nichts. Sie sprachen deswegen nicht mir dem Sohne vom Heiraten, niemand beachtete die Veränderung, die mit ihm vorging, weiter, als daß der Vater ihn immer liebevoller in seine Pläne für die Bewirtschaftung des Gutes und in alles übrige einweihte und allmählich dem Sohne die Leitung des Gutes vollständig überließ. Er hatte das nicht zu bereuen.
So lebte der Sohn, bis er einunddreißig Jahre alt geworden war; er vermehrte seines Vaters Vermögen und seine eigene Erfahrung und Sicherheit. In dieser ganzen Zeit hatte er auch nicht den geringsten Versuch gemacht, um ein Mädchen zu freien, weder im Kirchspiel noch außerhalb, und die Eltern fingen an, ernstlich besorgt zu werden, daß er es sich gänzlich aus dem Sinne geschlagen habe. Aber das war keineswegs der Fall.
Auf dem benachbarten Hofe lebte in guten Verhältnissen eine Familie aus einem der ersten Geschlechter des Kirchspiels, die auch wiederholt in das alte Geschlecht auf Tingvold hineingeheiratet hatte. Dort wuchs ein Mädchen heran, gegen das Endrid von ihrer Kindheit an freundlich gewesen war; vermutlich hatte er sie sich in aller Stille ausersehen, denn kaum ein halbes Jahr nach ihrer Konfirmation hielt er um sie an. Sie war damals siebzehn Jahre alt und er einunddreißig. Randi, so hieß sie, war nicht gleich mit sich darüber im reinen, was sie antworten sollte; sie wandte sich an ihre Eltern, diese aber überließen ihr ganz allein die Entscheidung. Sie meinten, er sei ein braver Mann, und was das Vermögen beträfe, so sei er die beste Partie, die sie machen könne. Der Altersunterschied sei groß, und wenn sie, jung wie sie sei, den Mut habe, sich in den großen Hof und die vielen für sie ganz ungewohnten Verhältnisse einzuleben, so müsse sie das mit sich selbst abmachen. Sie merkte deutlich, daß die Eltern lieber wollten, daß sie ja sagte als nein; aber sie war wirklich ängstlich dabei. So ging sie denn zu seiner Mutter hinüber, von der sie immer viel gehalten hatte. Sie glaubte, die Mutter habe darum gewußt, sah aber zu ihrer Verwunderung, daß sie nichts wußte. Die Mutter war so erfreut, daß sie sie mit aller Macht dahinzubringen suchte, ja zu sagen. – Ich will dir schon helfen, sagte sie. Vater will auf das Altenteil verzichten; er hat genug an dem seinen, und er will nicht, daß die Kinder sich auf seinen Tod freuen. Hier wird gleich alles geteilt, und das Wenige, wovon wir in Zukunft leben werden, kann geteilt werden, wenn wir tot sind. Daraus kannst du sehen, daß ihr unsertwegen keine Lasten zu übernehmen habt. – Ja, Randi wußte ja, daß Astrid und Knud gute Menschen seien. – Und der Junge, fuhr Astrid fort, ist gut und verständig. – Ja, das hatte Randi selbst erfahren, sie fürchte sich nicht davor, daß sie nicht mit ihm auskommen würde – wenn sie selber nur genügte!
Ein paar Tage später war die Sache abgemacht, und war Endrid froh, so waren es seine Eltern erst recht; denn dies war eine geachtete Familie, und das Mädchen war so hübsch und so gescheit, daß es in dieser Beziehung im ganzen Kirchspiel wohl keine bessere Partie gab. Die Hochzeit, über die sich die beiden Elternpaare beredeten, sollte kurz vor der Ernte stattfinden, denn hier lag kein Grund zum Warten vor.
Das Kirchspiel jedoch nahm diese Nachricht nicht so auf wie die, die sie anging. Man fand, das junge, schöne Mädchen habe »sich verkauft«. Sie war so jung, daß sie wohl kaum wußte, was heiraten war, und der schlaue Knud hatte den Sohn angetrieben, um das Mädchen zu werben, noch ehe es heiratsfähig war. Einiges von alledem kam dem jungen Mädchen zu Ohren; aber Endrid war liebevoll, und war es in so stiller, fast demütiger Weise, daß sie nicht mit ihm brechen wollte, wenn sie auch ein wenig kühl wurde. Beide Eltern hatten auch wohl dies oder das gehört, taten aber, als ob alles gut sei.
Die Hochzeit sollte in großartiger Weise gefeiert werden, vielleicht gerade, um dem Gerede zu trotzen, und dies war aus demselben Grunde auch Randi nicht unangenehm. Knuds Freunde, der Pfarrer, der Hauptmann, der Vogt mit ihren großen Familien, waren auch eingeladen und sollten mit dem Brautzuge zur Kirche fahren. Aus diesem Grunde wünschte Knud keinen Spielmann – das sei zu altmodisch und zu bäurisch; aber Astrid hielt darauf, daß der Familienbrautmarsch sie zur Kirche und von da wieder nach Hause begleiten solle; sie waren selber zu glücklich bei seinen Klängen gewesen, daß sie ihn nun am Hochzeitstage ihrer lieben Kinder nicht hätten wieder ertönen hören wollen. Knud befaßte sich nicht gern mit Poesie und was dahin gehörte und ließ seiner Frau ihren Willen. So erhielten denn die Eltern der Braut einen Wink, daß die Spielleute bestellt werden könnten, und der alte Marsch, der jetzt eine Weile verstummt gewesen war, weil dieses Geschlecht ohne Sang und Klang gearbeitet hatte, wurde wieder begehrt.
Der Hochzeitstag brach leider mit einem heftigen Herbstregen an. Die Spielleute mußten die Fiedeln bedecken, nachdem sie den Brautzug vom Hofe heruntergespielt hatten, und sie holten sie nicht wieder hervor, bis sie so weit gekommen waren, daß sie die Kirchenglocken hören konnten. Ein Bursche mußte sich hinten auf den Wagen stellen und einen Regenschirm über sie halten, und darunter saßen sie dicht zusammengekauert und fiedelten drauflos. Der Marsch klang bei einem solchen Wetter natürlich nicht, und das Brautgefolge, das hinterdrein kam, sah auch nicht sehr lustig aus. Der Bräutigam hielt den Hochzeitshut zwischen den Beinen und hatte einen Südwester auf dem Kopf; er hatte eine große Lederjacke übergezogen und hielt einen Regenschirm über die Braut, die, ein Tuch über dem andern, um die Krone und den übrigen Staat zu schonen, mehr einem nassen Heuhaufen glich als einem Menschen. So kamen sie Wagen auf Wagen daher, die Männer triefend, die Frauen versteckt und eingepackt; es war wie ein verzauberter Brautzug, worin man kein bekanntes Gesicht, sondern nur eine Menge zusammengebeugter, zusammengestauter Woll- und Pelzbündel sah. Die besonders zahlreich versammelte Volksmenge, die dastand und auf den reichen Brautzug wartete, mußte lachen, anfangs wider Willen, aber dann bei jedem Wagen lauter und lauter. Vor dem großen Hause, wo das Gefolge aussteigen und den Hochzeitsstaat ein wenig zum Kirchgang ordnen sollte, stand ein Hausierer, ein lustiger Gesell, namens Aslak, auf einem Heuwagen, der am Beischlag in die Ecke geschoben war. Er rief, gerade als die Braut vom Wagen herabgehoben wurde: Nein, Schwerenot, ob Ole Haugens Brautmarsch heute nicht doch noch klingen wird!
Die Menge lachte – wenn es die meisten auch nur verstohlen taten; man fühlte darum nur um so besser, was alle dachten und zu verheimlichen suchten.
Als sie der Braut die Tücher abgenommen hatten, sahen sie, daß sie weiß war wie ein Laken. Sie weinte, versuchte zu lachen, weinte dann wieder – und dann kam auf einmal heraus, daß sie nicht in die Kirche wollte! Während der Aufregung, die jetzt entstand, mußte sie in einem Nebenzimmer auf ein Bett gelegt werden, denn es befiel sie ein so heftiges Schluchzen, daß alle ganz ängstlich wurden. Ihre würdigen Eltern standen neben ihr, und als sie bat, sie möchten sie doch mit dem Gang in die Kirche verschonen, da sagten sie, sie müsse tun, was sie selbst wolle. Da gewahrte sie Endrid. Etwas so Unglückliches, ja Hilfloses hatte sie nie zuvor gesehen, denn ihm hatte ihr Verhalten die volle Wahrheit gezeigt. Ihm zur Seite stand seine Mutter; sie sagte nichts, und ihr Gesicht war unbeweglich. Aber Träne auf Träne rann ihr an den Wangen hinab, und ihre Augen hingen an denen Randis. Da richtete sich Randi auf den Ellenbogen auf, sah eine Weile vor sich nieder, während sie noch vom Weinen schluchzte: Ach nein, sagte sie, ich gehe in die Kirche. – Sie warf sich abermals hintenüber und weinte eine Weile bitterlich; dann aber stand sie auf. Ein wenig später fügte sie noch hinzu, daß sie keine Musik mehr haben wolle, und es geschah so, wie sie es wünschte. Aber die verabschiedeten Spielleute machten die Sache nicht besser, als sie unter die Leute hinauskamen.
Es war ein trübseliger Brautzug, der jetzt auf die Kirche zuschritt. Der Regen machte es ja möglich, daß Bräutigam und Braut ihre Gesichter vor der Neugier der Menge verbergen konnten, bis sie in der Kirche angelangt waren; aber sie fühlten, daß sie Spießruten liefen, und sie fühlten, daß ihr eigenes großes Gefolge schlecht bei Laune darüber war, daß es mit einem solchen Spottzuge genarrt worden war.
Das Grab des bekannten Spielmanns Ole Haugen lag dicht neben der Kirchentür. Stillschweigend war es in Ordnung gehalten worden: einer aus der Familie hatte ein neues Kreuz gesetzt, als das alte unten verfault war. Das Kreuz hatte nach oben zu die Form eines Rades, Ole hatte das selber so angeordnet. Das Grab lag an einer sonnigen Stelle, eine Fülle wilder Blumen wuchs hier. Jeder Kirchgänger, der einmal an diesem Grabe gestanden hatte, wußte durch irgendeinen Bekannten, daß einmal ein Mann, der dort im Tal und auf den Bergen ringsumher Kräuter und Blumen auf Staatskosten gesammelt hatte, auf diesem Grabe Blumen gefunden hätte, wie man sie sonst in meilenweitem Umkreise nicht fand. Das bewirkte, daß die Bauern, die sonst wenig Achtung vor dem hatten, was sie Unkraut nannten, eine neugierige Freude, vielleicht auch eine neugierige Scheu beim Anblick dieser Blumen empfanden; einige von diesen Blumen waren ungewöhnlich anmutig. Als aber das Brautpaar hier vorüberkam, merkte Endrid, der Randis Hand in der seinen hielt, daß sie schauderte; denn es war ihr, als sei Ole Haugen heute aus seinem Grabe erstanden, um Spuk zu treiben. Gleich darauf fing sie wieder an zu weinen, und so kam sie weinend in die Kirche und ward weinend in ihren Stuhl geführt. So war seit Menschengedenken keine Braut in diese Kirche gekommen.
Sie fühlte, wie sie so dasaß, daß sich jetzt das Gerücht, das im Umlauf war, bestätigte, daß sie wirklich verkauft sei. Die entsetzliche Schande für die Eltern, die hierin lag, bewirkte, daß sie eine Weile ganz kalt wurde und das Weinen zurückhalten konnte. Vor dem Altar aber geriet sie infolge einer Äußerung des Pfarrers abermals in Erregung, und sofort stürmte alles, was sie heute durchgemacht hatte, auf sie ein; es war ihr einen Augenblick, als könnte sie den Leuten nie wieder in die Augen sehen, und am allerwenigsten ihren Eltern.
Alles, was folgte, war nur eine Wiederholung desselben, und deswegen wollen wir hier nur noch mitteilen, daß sie während des Mittagessens nicht mit am Tische sitzen konnte, und als man sie mit Bitten und Drohungen dazu vermocht hatte, am Abendessen teilzunehmen, verdarb sie das nur und mußte zu Bett gebracht werden. Die Hochzeit, die mehrere Tage hatte dauern sollen, löste sich noch an demselben Abend auf. Die Braut ist krank geworden, hieß es.
Obwohl niemand von denen, die dies sagten oder sagen hörten, es glaubte, so war es doch nur allzu wahr. Sie war nicht mehr gesund, und sie wurde auch nicht wieder gesund. Und eine Folge hiervon war, daß ihr erstes Kind kränklich war. Die Liebe der Eltern zu diesem Kinde wurde natürlich nicht verringert dadurch, daß sie gewissermaßen selbst Schuld trugen an seinem Leiden. Sie verkehrten mit niemand als mit diesem Kinde, in die Kirche kamen sie nicht, sie waren menschenscheu geworden. Zwei Jahre ließ ihnen Gott die Freude an dem Kinde; aber dann nahm er ihnen auch die.
Der erste Gedanke, in dem sie sich nach diesem Schlage zurechtzufinden vermochten, war der, daß sie dieses Kind zu sehr geliebt hätten, deswegen hätten sie es verloren. Und als sie dann wieder eins bekamen, war es, als ob keins von ihnen wagte, sich ihm hinzugeben. Aber das Kind, das anfänglich ebenfalls schwächlich zu sein schien, blühte auf und war viel munterer als das erste, so daß es unwiderstehlich für sie wurde. Sie vermochten sich einer neuen, reinen Freude hinzugeben; es war ihnen möglich, zu vergessen, was geschehen war, wenn sie bei dem Kinde saßen. Aber als es zwei Jahre alt war, nahm Gott auch dieses zu sich.
Manche Menschen scheinen ausersehen zu sein, Schmerz zu leiden. Es sind gerade die, die ihn unserer Ansicht nach am wenigsten verdienen. Aber es sind auch die, die das Zeugnis des Glaubens und des Entsagens am wahrhaftigsten verbreiten können. Diese beiden hatten früh Gott miteinander gesucht; hinfort fanden sie ihre einzige Zuflucht bei ihm. Das Leben auf Tingvold war lange still gewesen, jetzt war es wie in einer Kirche, ehe der Pfarrer eintritt. Die Arbeit ging ihren ununterbrochenen Gang, zwischen jeder Arbeitsstunde aber hielten die beiden eine kleine Erbauungsstunde ab, in der sie mit den Heimgegangenen vereint waren. Das änderte sich nicht, als Randi bald nach dem letzten Verlust eine Tochter bekam; die beiden Verstorbenen waren Knaben gewesen, und ein Mädchen war ihnen schon aus diesem Grunde keine Freude. Sie wußten ja auch nicht, ob sie es behalten würden. Aber die Gesundheit und das Glück, dessen sich die Mutter bis zu dem Verlust des letzten Knaben erfreut hatte, war dem Kinde, das sie unter dem Herzen getragen hatte, zugute gekommen; es zeigte sich bald, daß es ein ungewöhnlich lebhaftes Mädchen war, mit dem schönen Gesicht der Mutter in Knospengestalt. Wieder trat an das einsame Paar die Versuchung heran, sich diesem Kinde in Hoffnung und in Freude hinzugeben; aber das verhängnisvolle zweite Jahr war noch nicht vergangen, und als es vergangen war, da war es ihnen, als sei ihnen nur eine Gnadenfrist geschenkt worden. Sie wagten es nicht.
Die beiden Alten hatten sich sehr zurückgehalten; denn das Gemüt jener war dem Trost und der Freude anderer nicht zugänglich. Knud war außerdem viel zu weltlich lebhaft, als daß er lange in einem Trauerhause hätte sitzen oder sich regelmäßig zur Andacht hätte einfinden können. Deswegen siedelte er nach einem Gehöft über, das ihm gehörte, das er aber bisher verpachtet hatte; jetzt übernahm er es selber und richtete alles so leicht und so schön für seine liebe Astrid ein, daß diese, die doch am liebsten auf Tingvold gewesen wäre, blieb, wo er war, und mit ihm lachte, statt mit den Kindern zu weinen.
Da kam Astrid eines Tages zu der Schwiegertochter hinüber; sie sah die kleine Mildrid, und sie sah, daß das Kind ganz für sich allein umherging; die Mutter wagte es kaum anzurühren. Sie sah, als der Vater hereinkam, an ihm dieselbe schwermütige Zurückhaltung gegen sein eigenes, einziges Kind. Sie verbarg ihre Gedanken; als sie aber nach Hause zu ihrem lieben, guten Knud zurückkam, stellte sie ihm vor, wie schlecht es auf Tingvold stünde; dort sei jetzt ihr Platz. Die kleine Mildrid müsse jemand haben, der sich über sie zu freuen wage; denn es erwüchse dem Geschlecht in diesem Kinde etwas ungemein Feines und Liebliches. Knud wurde von ihrem lebhaften Eifer hingerissen, die beiden Alten packten zusammen und zogen wieder heim.
So kam denn Mildrid zu den Großeltern, und die Alten lehrten die Eltern sie lieben. Als aber Mildrid fünf Jahre alt war, bekamen sie noch eine Tochter, die sie Beret nannten, und dies hatte zur Folge, daß sich Mildrid meist zu den Alten hielt.
Jetzt wagten die verschüchterten Eltern wieder an das Leben zu glauben! Hierzu trug nicht wenig die veränderte Stimmung rings um sie her bei. Nach dem Verlust des zweiten Kindes sahen die Leute immer, daß sie geweint hatten, aber nie, daß sie weinten; ihr Schmerz war ganz still gewesen.
Das gute, gottesfürchtige Leben auf Tingvold hatte die Dienstboten auf dem Hofe festgehalten, und von ihnen ging eitel Lob über die Herrschaft aus. Sie hatten selber ein Gefühl davon. Auch Freunde und Verwandte fingen wieder an, sie zu besuchen, und fuhren damit fort, selbst als die Leute von Tingvold die Besuche nicht erwiderten.
In der Kirche aber waren sie seit dem Hochzeitstage nicht wieder gewesen! Sie empfingen das Abendmahl zu Hause, sie hielten selber Andachten. Als sie aber das zweite Mädchen bekamen, wünschten sie selbst Gevatter zu stehen, und da wagten sie sich zum erstenmal wieder in die Kirche. Da besuchten sie miteinander die Gräber ihrer Kinder, da gingen sie zusammen an Ole Haugens Grab vorüber, ohne ein Wort zu sagen oder Bewegung zu zeigen, und die ganze Gemeinde erzeigte ihnen Ehrfurcht. Sie aber fuhren fort, für sich zu leben, und eine fromme Ruhe lag über ihrem Hofe.
Aber bei der Großmutter sang die kleine Mildrid eines Tages den Brautmarsch. Im höchsten Entsetzen hielt die alte Astrid mit der Arbeit inne und fragte, wo in aller Welt sie das gelernt habe. Das Kind antwortete, sie habe es ja von ihr gelernt. Der alte Knud, der dabei saß, brach in lautes Lachen aus, denn er wußte ja, daß Astrid die Gewohnheit hatte, die Melodie vor sich hinzusummen, wenn sie still bei ihrer Arbeit saß. Jetzt hießen beide aber die kleine Mildrid, sie niemals zu singen, wenn es die Eltern hörten. Kinder pflegen ja zu fragen: Warum? Aber auf ihre Fragen bekam sie keine Antwort. Da hörte sie, daß der neue Hirtenjunge die Melodie eines Abends beim Holzhacken sang. Sie sagte das der Großmutter, die es auch gehört hatte, diese aber antwortete nur: Ach, der wird hier nicht alt! – und am nächsten Tage mußte er auch wirklich fort. Es war ihm kein Grund angegeben worden, aber er erhielt seinen Lohn und den Abschied. Nun wurde Mildrid so neugierig, daß die Großmutter versuchen mußte, ihr die Geschichte des Brautmarsches zu erzählen. Die achtjährige Kleine verstand sie sehr wohl, und was sie jetzt nicht verstand, ging ihr später auf. Die Geschichte wurde von einem Einfluß für das Leben ihrer Kindheit, wie nichts anderes ihn gehabt hatte oder haben konnte, er wurde die Grundlage für ihr Verhältnis zu den Eltern.
Kinder haben unglaublich früh Verständnis und Teilnahme für den, der nicht glücklich ist. Mildrid fühlte, daß es bei den Eltern still sein mußte. Es wurde ihr nicht schwer, sich dahinein zu schicken, denn sie waren so sanft, sprachen so unablässig, aber leise mit ihr von dem großen Kinderfreund im Himmel, daß sich ein Zauberglanz über das Zimmer legte. Die Geschichte des Brautmarsches aber verlieh ihr ein rührendes Verständnis für das, was die Eltern durchgemacht hatten. An den schmerzlichen Erinnerungen ging sie vorsichtig vorüber, und sie bekundete eine schüchterne, aber innige Liebe in allem, was sie mit ihnen teilen durfte, und das war ihre Gottesfurcht, ihre Wahrhaftigkeit, ihre Sanftmut, ihre Arbeitsamkeit. Nachmals, als Beret heranwuchs, lernte diese dasselbe; denn der erziehende Beruf des Weibes erwachte schon in frühester Kindheit in Mildrid.
Bei den Großeltern strömte das Leben, das sich in der Wohnstube nicht Luft machen durfte. Hier wurde gesungen und getanzt, hier wurde gespielt und wurden Märchen erzählt. Und so wurde die Zeit während des Heranwachsens der Schwestern zwischen der tiefen Liebe zu ihren schwermütigen Eltern in der stillen Stube und dem fröhlichen Leben in der der Großeltern geteilt; aber in so zarter Weise fand diese Teilung statt, daß die Eltern selbst sie hießen, wieder hinüberzugehn »und recht liebe Mädchen zu sein«.
Wenn ein Mädchen im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren eine Schwester im Alter von sieben bis elf Jahren in ihr ganzes Vertrauen zieht, so erhält sie als Gegengabe eine große Hingebung. Aber die Kleine wird dadurch leicht ein wenig frühreif. Mildrid selbst gewann dagegen viel dadurch, daß sie nachsichtig, trostreich, mitteilsam und empfänglich war, und sie war der Eltern und der Großeltern stille Freude.
Es ist nichts weiter zu berichten, bis Mildrid in ihr fünfzehntes Jahr eintrat, denn da starb der alte Knud schnell und leicht. Es war kaum ein Übergang gewesen zwischen den beiden Augenblicken, wo er noch im Zimmer gesessen und gescherzt hatte, und wo er als Leiche dalag.
Das Schönste, was die Großmutter fortan kannte, war, Mildrid auf dem Kinderschemel zu ihren Füßen sitzen zu haben, wie sie es gewohnt gewesen waren, seit Mildrid noch ganz klein war, und ihr dann entweder selber von Knud zu erzählen, oder Mildrid den Brautmarsch leise vor sich hinträllern zu lassen. Bei seinen Tönen sah Astrid den kräftigen, dunkeln Kopf in ihrer eigenen Kindheit auftauchen; bei ihnen konnte sie ihm auf die Bergabhänge über dem Hofe folgen, wo er als Hirte den Marsch blies; bei ihnen fuhr sie an seiner Seite zur Kirche, bei ihnen lebte sein munteres, kluges Bild am klarsten wieder auf. In Mildrids Seele aber begann diese Melodie auf neue Weise anzuklingen. Während sie dasaß und der Großmutter vorsang, fragte sie sich: Wird er mir jemals gespielt werden?
Von dem Augenblick an, wo diese Frage in ihr erwacht war, stand sie immer größer vor ihr; der Brautmarsch barg ein stillstrahlendes Glück in seinen Tönen. Sie sah eine Brautkrone in seinem Sonnenschein glänzen, der eine lange, lichte Fahrt in die Zukunft verhieß. Sechzehn Jahre – und sie fragte sich: Werde ich – ja, werde ich selber jemals bei seinen Tönen dahinfahren, Vater und Mutter hinter mir drein, an einer Volksmenge vorüber, die nicht lacht, fröhlich aussteigen, wo die Mutter weinte, an Ole Haugens blühendem Grabe vorübergehn und in strahlender Freude zum Altare schreiten, zur Genugtuung von Vater und Mutter?
Dies war die erste Gedankenreihe, die sie Beret nicht anvertraute. Nachmals wurden es mehrere. Beret, die jetzt in ihr zwölftes Jahr trat, fühlte sehr wohl, daß sie mehr allein war, faßte aber nicht recht, daß sie allmählich hinausgedrängt worden war, bis eine andere in ihre Rechte eintrat. Es war dies die achtzehnjährige, jüngst verlobte Inga, ihre Base vom Nachbarhof. Wenn sie die beiden Arm in Arm, wie es die jungen Mädchen gern tun, flüsternd und lachend über die Felder dahingehen sah, konnte sie sich zu Boden werfen und vor Eifersucht weinen.
Mildrid ging zum Konfirmandenunterricht, dort lernte sie gleichaltrige Mädchen kennen, und einige von ihnen kamen des Sonntags nach Tingvold. Sie hielten sich draußen auf den Feldern oder drinnen in der Großmutterstube auf. Tingvold war ja ein verschlossener, aber ersehnter Ort für die Jugend gewesen. Es kamen aber auch jetzt nur solche dorthin, die ein gewisses stilles Wesen hatten; denn es ließ sich nicht leugnen, daß etwas Gedämpftes über Mildrid lag, das nur einzelne anzog.
Um diese Zeit wurde unter der Jugend sehr viel gesungen. So etwas ist niemals zufällig; aber es hat eben seine Zeiten, und diese Zeiten haben wieder ihre Vorsänger. Unter diesen befand sich merkwürdigerweise wieder einer aus dem Geschlecht der Haugen. In einem Volke, wo einstmals, wenn auch vor vielen hundert Jahren, fast jeder Mann und jede Frau im Gesang Ausdruck für das gesucht und gefunden hatte, was am stärksten in ihnen lebte und webte, und sie selber die Verse dichten konnten, worin sich diese Gefühle Luft machten – da kann die Kunst niemals ganz aussterben, sondern in der einen oder in der anderen Gegend muß sie weiterleben und kann auch leicht wiedererweckt werden, wo man sie nicht mehr hört. In diesem Kirchspiel war aber seit undenkbaren Zeiten immer viel gedichtet und gesungen worden; Ole Haugen war nicht aus nichts und ebensowenig für nichts gerade hier geboren worden. Der Sohn seines Sohnes aber war es, der gerade jetzt wieder die Gabe der Töne empfangen hatte. Ole Haugens Sohn war so viel jünger gewesen als die Tochter, die sich nach Tingvold verheiratet hatte, daß diese als Frau bei ihm Gevatter gestanden hatte. Nach vielen Wechselfällen des Schicksals hatte er als ganz alter Mann des Vaters kleine Freisassenstelle am Fuße des Berges erhalten und sich merkwürdigerweise erst dann verheiratet. Er bekam mehrere Kinder, und unter ihnen einen Jungen, der Hans genannt wurde, und dieser schien des Großvaters Gabe geerbt zu haben, jedoch nicht eigentlich für das Fiedelspiel, obwohl er spielte, sondern mehr für das Singen alter und das Dichten neuer Lieder. Der Sinn dafür wurde nicht wenig dadurch vermehrt, da ihn nur wenige kannten, obwohl er mitten unter ihnen lebte. Ja, es gab nicht einmal viele, die ihn überhaupt je gesehen hatten. Die Sache war die, daß sein alter Vater Jäger gewesen war, und die Söhne waren noch ganz klein, als der Greis auf dem Hügel saß und seine Jungen laden und zielen lehrte. Seine Freude soll über die Maßen groß gewesen sein, als sie mit ihrer Flinte das Pulver und den Hagel verdienen konnten, den sie verschossen. Weiter kam er nicht mit ihnen. Ihre Mutter starb bald nach ihm, und da mußten denn die Kinder sich selbst helfen, und das taten sie. Die Jungen gingen auf die Jagd, und die Mädchen bewirtschafteten ihre kleine Häuslerstelle am Fuße des Berges. Es erregte Aufsehen, wenn sie sich ausnahmsweise einmal unten im Tale zeigten; aber das geschah nicht oft, denn im Winter waren die Wege, die von ihnen hinabführten, schlecht, und sie beschränkten sich auf den Verkehr mit dem Kirchspiel, wenn sie hinabmußten, um ihr Wild zu verkaufen oder verschicken zu lassen; und im Sommer durchstreiften sie das Gebirge mit Reisenden. Von allen Höfen im Kirchspiel war der ihre der am höchsten gelegene, er war berühmt wegen seiner reinen Gebirgsluft, die Brustkranke und nervenschwache Leute besser heilen kann als irgendeine Arznei; deswegen hatten sie das Haus alljährlich voll von Leuten aus der Stadt und aus dem Auslande. Sie bauten mehrere Stuben an, aber alle wurden voll. Von armen, ja kümmerlich armen Leuten hatte sich diese Geschwisterfamilie dadurch zu Wohlstand emporgeschwungen. Der Verkehr mit allen den Fremden hatte ihnen ein eigentümliches Gepräge verliehen; sie verstanden sogar etwas von fremden Sprachen. Hans hatte seinen Geschwistern vor mehreren Jahren den Hof abgekauft, so daß das Ganze jetzt in seinem Namen betrieben wurde; er war zu dieser Zeit achtundzwanzig Jahre alt. Bei den Verwandten auf Tingvold hatte noch niemand von ihnen einen Fuß über die Schwelle gesetzt. Endrid und Randi Tingvold machten sich das gewiß nicht klar, aber sie konnten es ebensowenig ertragen, daß ein Name von dort genannt wurde, wie sie den Hochzeitsmarsch anhören konnten. Der arme Vater der Kinder hatte dies gelegentlich erfahren, und Hans hatte deswegen seinen Geschwistern verboten, dort zu verkehren. Aber die Mädchen von Tingvold, die Freude am Gesang hatten, sehnten sich unbeschreiblich nach ihm und schämten sich darüber, daß die Eltern den Umgang mit der Familie gemieden hatten. In dem neuen Mädchenkreise auf Tingvold wurde mehr nach Hans Haugen und seinen Geschwistern gefragt und von ihnen erzählt als von irgend etwas anderm.
In dieser schönen sangesreichen und geselligen Zeit wurde Mildrid im Alter von ungefähr siebzehn Jahren konfirmiert. Eine kurze Zeit vorher war alles still gewesen, eine kurze Zeit nachher war es ebenso. Aber zum Frühling oder vielmehr zum Sommer sollte sie, wie alle Mädchen, wenn sie konfirmiert waren, mit den Kühen auf die Alm ziehen. Sie freute sich unbeschreiblich darauf! Ihre verlobte Freundin sollte die benachbarte Alm beziehen.
Beret sollte sie auf die Alm hinaufbegleiten, und Mildrids Sehnsucht erfaßte auch sie. Aber als sie auf die Alm hinaufkamen, wo all das Neue Berets Gedanken in Anspruch nahm, peinigte Mildrid noch dieselbe Unruhe. Rastlos arbeitete sie mit dem Vieh und in der Milchwirtschaft – aber die lange Zeit, die ihr noch blieb, vermochte sie nicht befriedigend auszufüllen. Stundenlang weilte sie bei Inga und ließ sich von deren Geliebten erzählen; tagelang aber wollte sie dann gar nicht wieder zu ihr gehn. Wenn Inga zu ihr kam, war sie fröhlich und herzlich, als bereue sie ihre Treulosigkeit – ward ihrer dann aber sehr bald überdrüssig. Mit Beret sprach sie nur selten, und oft, wenn Beret mit ihr sprach, erhielt sie keine andere Antwort als ja und nein. Beret ging weinend zu der Herde hinauf und gesellte sich den Hirtenknaben zu. Mildrid fühlte, daß hier etwas zerbrochen war, aber sie konnte es mit dem besten Willen nicht wieder zusammenfügen.
Da saß sie eines Tages in der Nähe der Grasweide. Einige Ziegen hatten die Gelegenheit wahrgenommen, sich von der Kleinviehherde wegzustehlen, und die mußte sie nun hüten. Es war am Vormittag eines warmen Tages, sie saß im Schatten unterhalb eines mit Gesträuch und Birken bewachsenen Bergrückens; sie hatte die Jacke abgeworfen und das Strickzeug zur Hand genommen. Sie erwartete Inga. Es raschelte hinter ihr – da kommt sie, dachte sie und sah auf.
Aber es erhob sich ein stärkeres Geräusch, als Inga ihrer Ansicht nach verursachen konnte, das Gesträuch wurde niedergebrochen und zerknickt – Mildrid erbleicht und springt auf – und erblickt etwas Zottiges und ein paar blitzende Augen darunter: das muß ein Bärenkopf sein! Sie will schreien, bringt aber keinen Ton hervor; sie will aufspringen, vermag sich aber nicht zu rühren. Da richtet es sich ganz auf – es war ein großer, breitschultriger Mann mit einer Pelzmütze und einem Gewehr in der Hand. Er blieb wie angewurzelt mitten im Gestrüpp stehen und sah sie an. Ein scharfes Auge, das aber sogleich einen anderen Ausdruck annahm; er tat ein paar Schritte vorwärts, ein Sprung, und dann stand er auf der Wiese neben ihr. Es berührte sie etwas am Bein, sie stieß einen leisen Schrei aus: es war sein Hund, den sie bis dahin nicht gesehen hatte.
Ach! sagte sie, ich glaubte schon, es sei ein Bär, der durch das Gestrüpp bräche, deswegen erschrak ich so. – Sie versuchte zu lächeln. – Ja, das ist nicht weit vom Ziel vorbeigeschossen, sagte er, und er sprach auffallend leise: Kvas und ich waren gerade einem Bären auf der Spur, aber jetzt haben wir sie verloren – und wenn es ein wildes Tier gibt, das mir folgt,Der alte Glaube, daß jeder Mann von einem unsichtbaren wilden Tier begleitet wird, das seinen Charakter ausdrückt, findet sich noch häufig unter den Bauern. so ist es bestimmt ein Bär. – Er lächelte. Sie sah ihn an. Was war das nur für ein Mann? Hoch, breitschultrig, mit sich beständig verändernden Augen, so daß sie nicht hineinsehen konnte; und dann stand er ihr so nahe, der wie aus der Erde geschossen war mit seiner Flinte und seinem Hunde; sie hatte die größte Lust zu sagen: Geh fort! Statt dessen aber trat sie selbst ein paar Schritte zurück und fragte: Wer bist du? denn sie fürchtete sich wirklich. Hans Haugen! antwortete er zerstreut, denn er beobachtete den Hund, der offenbar die Spur wiedergefunden hatte. Er wandte sich schnell zu ihr, um ihr Lebewohl zu sagen; aber als er sie ansah, stand das Mädchen wie mit Blut übergossen da, Wangen, Hals, Brust, alles war rot. – Was hast du denn? fragte er verwundert. Sie wußte nicht, wo sie hin sollte, ob sie weglaufen, sich abwenden oder sich hinsetzen sollte. – Wer bist du? fragte er. Und nochmals wurde sie über und über rot; denn ihm sagen, wer sie war, hieß ja, ihm alles sagen. – Wer bist du? fragte er noch einmal, als sei das die natürlichste Frage von der Welt, die doch Antwort verdiente; und sie konnte sich ja nicht weigern, sie schämte sich ihrer selbst und ihrer Eltern, weil sie ihr eigenes Geschlecht verleugnet hatten, aber der Name mußte heraus: Mildrid Tingvold! flüsterte sie und brach in Tränen aus.
Es war wahr: aus freien Stücken hätte er wohl niemals jemand von den Leuten von Tingvold begrüßt. Aber das, was jetzt geschah, war ganz anders, als er es sich gedacht hatte. Er sah sie mit großen Augen an: da schwebte etwas in seiner Erinnerung vorüber, daß ihre Mutter an dem Tage, wo sie getraut worden war, so in der Kirche geweint hatte; vielleicht liegt das in der Familie, dachte er und wollte sich entfernen. – Du mußt mir verzeihen, wenn ich dich erschreckt habe, sagte er und folgte seinem Hunde; er ging hastig die Höhe hinan.
Als sie aufzublicken wagte, hatte er gerade den Kamm erreicht und wandte sich um und sah zu ihr herüber. Es war nur ein Augenblick, denn plötzlich bellte der Hund auf der anderen Seite, er zuckte zusammen, hob das Gewehr und eilte davon. Mildrid stand noch da und sah nach der Stelle hinauf, wo er gestanden hatte, als ein Schuß sie aufschreckte. Sollte der Bär ihr so nahe gewesen sein? Und sie kletterte da hinauf, wo er eben noch geklettert war, und stand da, wo er gestanden hatte, beschattete ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne – und wirklich: halb von einem Busch versteckt lag er auf den Knien über einem großen Bären! Ehe sie sich dessen bewußt war, war sie zu ihm hinabgesprungen; er lachte ihr entgegen und erzählte ihr, aber immer mit leiser, weicher Stimme, wie es zugegangen sein könnte, daß sie die Spur verloren hatten, obgleich er doch ganz in der Nähe gewesen war. Er erklärte ihr, warum der Hund den Bären nicht eher habe wittern können, als bis er ihm ganz nahe gewesen war – und währenddes hatte sie Tränen und Scheu vergessen, und er hatte das Messer herausgezogen; er wollte ihm gleich das Fell abziehen. Das Fleisch war um diese Zeit ungenießbar, er wollte es sofort eingraben; das Fell aber wollte er mitnehmen. Und sie hielt fest, und er zog die Haut ab; dann lief sie nach der Alm hinauf, um Axt und Spaten für ihn zu holen, und obwohl sie sich vor dem Bären fürchtete, und obwohl er übel roch, fuhr sie fort, ihm zu helfen, bis er fertig war. Inzwischen war es Mittag geworden, und er lud sich selber zum Essen bei ihr ein. Er wusch erst sich und das Fell, was eine schwere Arbeit war, und als er damit fertig war, setzte er sich zu ihr in die Hütte, denn sie war zu ihrer Beschämung noch nicht fertig. Er plauderte über dies und das, leicht und behaglich, aber mit leiser Stimme, wie es Leute zu tun pflegen, die viel allein umherstreifen. Mildrid gab so kurze Antworten wie nur möglich; als sie ihm aber am Tische gerade gegenübersaß, konnte sie weder sprechen noch essen, so daß es oft ganz still um sie her wurde. Als er fertig war, drehte er sich auf seinem Schemel um, stopfte sich eine Pfeife und zündete sie dann an. Er war auch wortkarg geworden, und nach einer Weile erhob er sich: Ich habe einen weiten Weg heim, sagte er, und indem er ihr die Hand gab, fügte er noch leiser hinzu: Sitzt du jeden Tag da, wo du heute saßt? Er behielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen, als erwarte er eine Antwort. Sie wagte nicht aufzusehen, geschweige denn zu antworten. Da fühlte sie einen kräftigen Druck seiner Hand: Hab Dank für den heutigen Tag, sagte er, und ehe sie sich noch fassen konnte, sah sie ihn mit der Bärenhaut über der Schulter, das Gewehr in der Hand, den Hund an der Seite durch das Heidekraut dahingehn. Seine Gestalt hob sich von der Luft ab, denn die Berge lagen seitwärts; sein leichter, kräftiger Gang trug ihn rasch davon; sie ging hinaus und sah ihm nach, bis er verschwunden war.
Jetzt erst fühlte sie es, daß ihr das Herz so schlug, daß sie die Hände darauf pressen mußte. Nach einer Weile lag sie auf dem Rasen, das Gesicht auf ihrem Arm, und auf das genaueste durchlebte sie die Ereignisse des Tages noch einmal im Geiste. Sie sah ihn im Gebüsch über ihr auftauchen, sie sah ihn breitschultrig mit dem sich rasch verändernden Auge gerade vor sich stehen; sie fühlte, wie ihre Furcht und das verlegene Weinen sie überkam. Sie sah ihn auf dem Kamm im Sonnenschein, sie hörte den Schuß, sie lag vor ihm auf den Knien, während er den Bären abzog; sie vernahm noch einmal jedes Wort, das er gesagt hatte, und seine leise Stimme, die so vertraulich geklungen hatte, daß ihr das Herz still stand, wenn sie daran dachte – sie hörte die Stimme wieder von dem Schemel her vor dem Herde, während sie kochte, und am Tische, während er aß; sie fühlte, wie sie ihm da nicht mehr in die Augen zu sehen gewagt hatte, und sie fühlte, wie sie schließlich auch ihn verlegen gemacht hatte, denn er hatte geschwiegen. Sie hörte ihn noch einmal sprechen, während er ihre Hand ergriff, und sie fühlte den Druck seiner Hand – es ging ihr durch den ganzen Körper bis in die Fußspitzen! Sie sah ihn über das Heidekraut davongehn, davon, davon! – Ob er jemals wiederkehren würde? So wie sie sich benommen hatte – unmöglich! Nein, wie stark, wie schön, wie selbständig war nicht alles, was sie von ihm gesehen hatte – und wie dumm und jämmerlich war nicht alles, was er von ihr gesehen hatte! Ja, jämmerlich von dem ersten Schrei wegen des Hundes bis zu der Schamröte und dem Weinen, von der ungeschickten Hilfe, die sie ihm geleistet hatte, bis zu dem Essen, das sie nicht früh genug fertig bekam! Und daß sie ihm nicht antworten konnte, ja nicht einmal, wenn er sie ansah – und dann zuletzt, als er sie gefragt hatte, ob sie jeden Tag unter der Höhe säße, daß sie da nicht nein gesagt hatte, denn sie saß ja nicht jeden Tag unterhalb der Höhe! Mußte ihr Schweigen nicht so ausgelegt werden, als bitte sie ihn, als bitte sie ihn stillschweigend, sich wieder nach ihr umzusehen? – Ihre ganze jämmerliche Hilflosigkeit – mußte die nicht ebenso gedeutet werden? – – Ach, wie sie sich schämte! Ihr ganzer Körper glühte, und vollends ihr Gesicht, das sie tiefer und tiefer vergrub – und dann rief sie sich doch wieder das ganze Bild vor die Seele, seine Herrlichkeit, ihre Jämmerlichkeit, und dann schämte sie sich noch mehr!
Als schon die Herdenglocken meldeten, daß das Vieh heimkehre, lag sie noch immer da, beeilte sich jetzt aber und machte sich an die Arbeit. Als Beret kam, sah sie sofort, daß hier etwas losgewesen sei; denn Mildrid tat so wunderliche Fragen und gab so verkehrte Antworten und benahm sich überhaupt so eigentümlich, daß Beret mehrmals stillstand und sie ansah. Und als sie Abendbrot essen wollten und Mildrid sagte, sie könne nicht essen, und sich statt dessen draußen hinsetzte, da fehlte wenig, daß sich Berets Ohren vorrichteten, so daß sie völlig einem Jagdhund geglichen hätte, der etwas wittert. Beret aß und entkleidete sich; sie schliefen in einem Bett, und als Mildrid nicht kam, stand Beret mehrmals leise auf und sah nach, ob die Schwester noch immer dort säße, und ob sie allein säße. Ja, sie saß da und immer allein! Es wurde elf, es wurde zwölf, es wurde eins, und Mildrid saß draußen, und Beret schlief nicht. Sie stellte sich freilich so, als Mildrid endlich kam, und Mildrid bewegte sich leise, ach so leise; aber die Schwester hörte sie seufzen, als sie ins Bett gekommen war, sie hörte sie ihr gewohntes Abendgebet so schweren Herzens beten, hörte sie flüstern: Ach, stehe mir hierin bei, lieber, lieber Gott! – Worin soll er ihr beistehn? dachte Beret. Sie konnte nicht einschlafen, sie hörte auch, wie sich die Schwester vergebens zum Schlafen zurechtlegte, bald auf die eine, bald auf die andere Seite; sie sah, wie sie schließlich völlig verzweifelt die Bettdecke zurückschob, die Hände unter den Kopf legte und mit offenen Augen vor sich hinstarrte. Mehr sah oder hörte sie nicht, denn dann schlief sie ein. Als sie am nächsten Morgen erwachte, war die Schwester nicht mehr im Bette. Sie sprang auf; die Sonne stand schon hoch am Himmel. Das Vieh war längst auf der Weide. Sie fand ihr Essen bereitgestellt, beeilte sich, es zu verzehren, ging hinaus und fand Mildrid bei der Arbeit; aber sie sah sehr angegriffen aus. Beret sagte ihr, sie wolle sogleich zur Herde und dort bleiben. Die Schwester antwortete nicht, warf ihr aber einen Blick zu, als danke sie ihr. Beret sann eine Weile nach und ging dann.
Mildrid sah sich um; ja, sie war allein. Da beeilte sie sich, die Milchgefäße zurechtzusetzen, mit dem übrigen mochte es gehn, wie es wollte. Sie wusch sich und kämmte sich und eilte in die Hütte, um die Kleider zu wechseln, dann nahm sie ihr Strickzeug und begab sich nach der Höhe.
Sie hatte nicht die neue Kraft des neuen Tages, denn sie hatte ja fast nicht geschlafen und seit vierundzwanzig Stunden so gut wie nichts gegessen. Sie ging völlig wie im Traume dahin, und es war ihr, als könnte sie nicht eher Klarheit dahinein bekommen, als bis sie wieder an demselben Platze war, wo er gestern gesessen hatte.
Aber sie hatte sich dort kaum hingesetzt, als sie auch schon dachte: Wenn er käme und fände mich hier – er müßte ja glauben? – Sie sprang unwillkürlich auf. Da sah sie seinen Hund auf der Höhe; er blieb stehen und sah sie an, sprang dann herunter und kam wedelnd auf sie zu. All ihr Blut stockte. Da! da stand er mit dem Gewehr in der Sonne, ganz so wie gestern; er war heute einen anderen Weg gekommen! Er lächelte ihr zu, stand eine Weile unschlüssig da, dann kletterte er herunter und stand bald vor ihr. Sie hatte einen leisen Schrei ausgestoßen und war dann auf ihren Sitz zurückgesunken. Sie war trotz der Aufbietung aller Kräfte nicht imstande, sich zu erheben. Das Strickzeug fiel hin, sie wandte ihr Gesicht ab. Er sprach kein Wort. Aber sie spürte, wie er sich dicht vor ihr ins Gras legte, die Augen zu ihr erhoben, und auf der anderen Seite sah sie den Hund, der seine Augen auch auf sie gerichtet hatte. Sie fühlte, daß er, obwohl sie sich abgewandt hatte, ihr Erröten, ihre Augen, ihr Gesicht sehen konnte. Sein rasches Atemholen steckte sie an; sie glaubte seinen Atem auf ihrer Hand zu fühlen, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie wünschte nicht, daß er reden möchte, und doch war es schrecklich, daß er schwieg. Er mußte ja wissen, weshalb sie jetzt hier saß, und eine größere Scham, als sie empfand, hatte wohl noch niemals jemand empfunden. Aber es war auch nicht recht von ihm, daß er gekommen war, und noch weniger recht war es, daß er jetzt dasaß. Da wurde plötzlich ihre eine Hand ergriffen und festgehalten, und dann auch die andere, und da mußte sie sich ein wenig umwenden – und gut und stark zog er sie mit Auge und mit Hand sanft zu sich. Sie glitt zur Erde nieder an seine Seite, so daß ihr Kopf an seine Brust sank. Sie fühlte, wie er ihr mit der einen Hand über das Haar strich, aber sie wagte nicht, aufzusehen. Ihr ganzes Benehmen war so tief unwürdig – und dann brach sie in heftiges Weinen aus! – Ja, weine du nur, dann werde ich lachen, sagte er; denn das, was uns beiden geschehen ist, ist beides, zum Lachen und zum Weinen! – Aber seine Stimme bebte. Und nun flüsterte er zu ihr herab, daß er gestern, als er von ihr gegangen sei, ihr doch beständig nähergekommen wäre. Und dieses Gefühl sei so stark geworden, daß er, als er zu seiner Berghütte gekommen wäre, nicht anders gekonnt hätte, als den Deutschen, seinen Gast, sich selber zu überlassen und ins Gebirge zu wandern. So habe er einen Teil dieser Nacht im Hochgebirge gesessen, einen Teil sei er umhergewandert; zum Morgenbrot sei er zu Hause gewesen, habe sich dann aber sofort wieder aufgemacht. Er sei achtundzwanzig Jahre alt, sei also kein Knabe mehr, das aber habe er gefühlt, entweder müsse das Mädchen die Seine werden, oder er wisse nicht, was daraus werden solle. Es habe ihn an den Ort von gestern getrieben, er habe nicht gedacht, daß er sie treffen werde, habe aber gern eine Weile für sich allein hier sitzen wollen. Als er sie gesehen habe, sei er zuerst erschrocken, habe dann aber begriffen, daß es ihr wohl ebenso ergehen müsse wie ihm, und da sei er sofort entschlossen gewesen, sein Glück zu wagen – und jetzt, wo er sähe, daß es ihr wirklich ebenso ergehe wie ihm, da – ja da – – und er bog ihren Kopf in die Höhe, und sie weinte nicht, und seine Augen glänzten hell, und sie mußte ihm hineinsehen, und sie errötete und senkte das Haupt wieder. Er aber sprach wieder mit der flüsternden, leisen Stimme. Die Sonne stand hinter den Baumwipfeln auf dem Abhange, die Birken erschauerten in einer leichten Brise, das Vogelgezwitscher mischte sich in das Murmeln des Baches, der an ihrer Seite über Steingeröll floß. Wie lange sie hier nebeneinandersaßen, darüber hatten sie alle Berechnung verloren, aber der Hund schreckte sie beide auf. Er hatte mehrere Reisen in die Umgebung gemacht und sich jedesmal wieder an seinen Platz gelegt; jetzt aber rannte er bellend hinab. Sie sprangen beide auf, standen einen Augenblick still und lauschten. Es zeigte sich aber nichts. Sie sahen einander wieder an, und da nahm er sie auf seinen Arm. Sie war seit ihrer Kindheit niemals getragen worden, und es war etwas dabei, was sie hilflos machte. Er war ihr Schutz, ihre Zukunft, ihr ewiges Glück, sie mußte ihrem Gefühl gehorchen. Es wurde nicht gesprochen. Er hielt sie, und sie hielt ihn. Er ging mit ihr dorthin, wo er zuerst gesessen hatte; da setzte er sich hin und zog sie sanft zu sich herab. Sie beugte den Kopf tiefer herab, um jetzt, wo sie so ergriffen war, nicht von ihm gesehen zu werden. Er wollte sie gerade zu sich herumwenden, als unmittelbar vor ihnen ganz verwundert der Ruf: Mildrid! ertönte. Es war Inga, die dem Hunde gefolgt war. Mildrid sprang auf, sie sah die Freundin einen kurzen Augenblick an, ging dann zu ihr hin, schlang den einen Arm um ihren Hals und legte den Kopf auf ihre Schulter. Inga umarmte sie. – Wer ist er? fragte sie, und sie fühlte, wie sie zitterte. Aber Mildrid rührte sich nicht. Inga wußte ja, wer er war, denn Inga kannte ihn, aber sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu dürfen! Da kam Hans näher heran. – Ich dachte, du kennst mich, sagte er ruhig; ich bin Hans Haugen. – Als sie seine Stimme vernahm, erhob Mildrid das Haupt. Er streckte die Hand aus, und sie ging hin und ergriff sie und sah die Freundin erglühend vor Scham und Freude an.
Hans nahm sein Gewehr und sagte Lebewohl, indem er Mildrid zuflüsterte: Du kannst dir wohl denken, daß ich jetzt bald wiederkomme. Beide folgten ihm bis auf die Alm hinauf und sahen ihn davongehen in derselben Richtung, die er gestern eingeschlagen hatte. Sie standen solange sie ihn sehen konnten. Mildrid schmiegte sich an Inga, und diese fühlte, daß sie sich nicht bewegen, daß sie nicht sprechen durfte. Als er aber um eine Ecke gebogen war, ließ Mildrid den Kopf auf Ingas Schulter sinken: Frage mich nicht danach, sagte sie, denn ich kann es nicht erzählen. – Sie stand eine Weile an sie gelehnt, und dann gingen sie in die Hütte. Da ward Mildrid eingedenk, daß sie alles unfertig hatte stehn und liegen lassen, und nun half ihr Inga. Während dieser Arbeit sprachen sie nicht sonderlich viel miteinander, jedenfalls über nichts anderes als über die Arbeit.
Sie trug ein wenig Mittagessen auf, konnte aber selber nichts genießen, obwohl sie das Bedürfnis nach Speise und Schlaf empfand. Inga verließ sie, sobald sie konnte, sie sah ein, daß Mildrid am liebsten allein sein mußte. Als Inga gegangen war, legte sich Mildrid auch aufs Bett und war schon im Begriff einzuschlafen. Aber noch einmal wollte sie von allen Erlebnissen des Tages sich doch das eine vor die Seele rufen, was er gesagt hatte, und was das Schönste gewesen war. Sie kam dadurch dazu, sich zu fragen, was sie denn eigentlich darauf geantwortet hätte. Und da stand es vor ihr, daß sie kein Wort gesagt hatte – nein, während ihrer ganzen Begegnung kein einziges Wort! Sie richtete sich im Bette auf. Er konnte nicht viel Schritte allein zurückgelegt haben, ehe das auch ihm zum Bewußtsein gekommen war – und was mußte er dann denken? Daß sie ein Wesen sei, das wie im Schlafe willenlos einherging! Wie konnte er sich auf die Dauer zu ihr hingezogen fühlen! Es war auch erst, als er sich von ihr entfernt gehabt hatte, gewesen, daß er zu der Erkenntnis gelangt war, daß er sie liebe – sie bebte bei dem Gedanken, zu welcher Erkenntnis er heute gelangen möchte! – Sie setzte sich wieder draußen hin wie gestern.